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Vierter Teil

Still war es in dem großen Hause geworden über Sommer und Herbst. Es war eine kranke, flutende Stille und Versunkenheit des Schmerzes, die sich vor dem eigenen Wundsein erschreckt und doch nicht den Mut und nicht die Kraft findet, zu erwachen und zu entbrennen zur Erneuerung des eigenen inneren Lebens.

Alles war anders.

Janina hatte darauf bestanden, bei Heino zu bleiben, vorläufig wenigstens, und Heinz war ihr dafür dankbar. Sie wußten es beide: Heino bedurfte jetzt einer Menschenseele dringender als je, ein Zuhause gab es für ihn nicht mehr.

So war Heinz mit ihr und seinem Knaben nach Deutschland gereist. Es war ihm gelungen, den Sohn auf Grund seines Versprechens, ihn in den deutschen Untertanenverband eintreten zu lassen, in Bremen in der Marineschule zu internieren, denn die russischen Schulverhältnisse sagten ihm nicht zu. Überdies hatte Heino den Vater angefleht, ihn nur ja recht weit von der Mama fortzuschicken. Janina mußte sich natürlich außerhalb des Internates einrichten, doch durfte sie Heino jeden Sonntag bei sich sehen.

Seitdem Heinz zurück war, wurde die Stille daheim fast geisterhaft. Über den Räumen lag jene scheue Müdigkeit, die nach ungezählten zurückgehaltenen Tränen um ein unwiederbringlich Verlorenes bleibt. Verenas Geige schwieg. Eines Herbstabends trug sie sie in den Garten, grub ein Loch in die Erde und versenkte sie in die Grube.

Ein paar Tage später erzählte sie es beiläufig Heinz, denn sie empfand es wie ein Unrecht, ihm etwas zu verschweigen.

Es dämmerte. Ihr weißes Gesicht hob sich erstarrt in seiner Qual kalt von der Tapete des Musikzimmers.

Er sah sie voll Trauer an. »Ich habe noch etwas für dich, Lieb, ehe Janina fortfuhr, hat sie es mir gegeben.«

Sie schauerte in sich zusammen. »Von – ihm?«

Heinz nickte, trat ans Fenster und zog ein Notizbuch aus der Tasche.

»Es war lange bevor du mit ihm verreistest. Janina hat seinen Traum wörtlich aufgeschrieben. Soll ich lesen?«

»Ja ...!« schluchzte sie wie eine Verdurstende.

Er las: »Du, Janina, ich will dir mal was sagen: Die weiße Frau kam wieder; sie war schön und sie hatte eine Geige wie Mama. Aber sie war noch viel schöner – ganz schön. Und sie sagte: ›Ich will nicht mehr spielen, Erik kann nichts mehr hören, ich will die Geige vergraben.‹ Da grub sie ein tiefes Loch in die Erde und legte die Geige hinein und war sehr traurig. Aber in der Nacht, da spielte die Geige von alleine, und Heino hat sich sehr gefürchtet und geweint, aber ich hab' mich gar nicht gefürchtet, und was ich wollte, das hat die Geige gespielt, und gesungen hat sie auch: Stille Nacht und O Tannenbaum und Kinderlein kommt!«

Er schlug das Buch zu und starrte vor sich nieder.

Nach Verena hinzuschauen wagte er nicht.

Aus der Sofaecke im Dämmerdunkel tauchte ein wundes, verzweifeltes Weinen – es schien Fesseln zu sprengen, zu zerreißen ... doch es wurde stiller und stiller.

Langsam erhob sich die zarte, überschlank gewordene Frauengestalt und schritt auf ihn zu.

»Heinz ... unser Liebling soll recht behalten ... komme mit mir ... die Geige ausgraben ...«

Sie gingen miteinander, sie hielten sich eng umschlungen.

»Auferstehung ...?« flüsterte Heinz.

An diesem Abend spielte Verena die süßen Kinderlieder. Erik hatte sie ja hören wollen – ach, und vielleicht hörte er sie jetzt!

*

Janinas Berichte über Heino lauteten sehr verschieden. Gewöhnlich sei er von einer dumpfen, finsteren Schwermut, schrieb sie, von einer Niedergeschlagenheit, die an Verzweiflung grenze, dann wieder von einer müden, wehen Hast. Wie das Rauschen schwerer, schwarzer Flügel sei es über ihm, sie könne sich nicht anders ausdrücken. Dazwischen aber zucke eine wilde Ausgelassenheit, eine tolle Lustigkeit auf, die den Eindruck schmerzlichen Ingrimms mache. In der Schule müsse er sich gewaltsam zusammennehmen, denn die Berichte seiner Lehrer lauteten befriedigend.

Zum Schreiben an den Papa aber war er durchaus nicht zu bewegen. Heinz hatte ihm diese bittere Pflicht in Rücksicht auf die innere Qual, unter der jetzt ein Brief hätte geschrieben werden müssen, erlassen, sandte ihm aber seinerseits regelmäßig einige gute, kräftige Vaterworte.

Und Heino antwortete mit Postkarten. Es gehe ihm gut, und er gebe sich Mühe.

Einmal war ein großes Paket, an Verena adressiert, aus Deutschland angekommen. Sie hatte sich nicht entschließen können, es zu öffnen, Heinz mußte es für sie tun. Aus der sorgfältigen Umhüllung schälte er die kleine bronzene Standuhr mit den beiden Knabengestalten, die Verena kurz nach Eriks Geburt Heino geschenkt hatte.

»Ich kann sie nicht mehr behalten, ich hab' sie nicht verdient«, stand auf einem Zettel. Sonst nichts.

Verena wurde tief blaß. »Er hat nur zu recht«, sagte sie bitter. »Was soll ich aber jetzt mit der Uhr? Meinen Liebling macht er mir damit nicht mehr lebendig!«

Heinz nahm die kleine Uhr, die sorgfältig gehalten worden war, und zog sie vorsichtig auf. Seine Finger strichen liebkosend über die beiden Knabenfiguren hin. Er verstand, welch ungeheures Opfer für Heino die Rückgabe dieses Geschenks bedeutete und was ihn dazu getrieben.

Schweigend trug er sie auf seinen Schreibtisch.

Als er wiederkehrte, fand er Verena in heißen Tränen.

»Oh, du bist gut!« murmelte sie – »ich aber, ich kann ihm nicht vergeben. Mir ist oft, als haßte ich ihn!«

Er nahm sie still in seine Arme und hielt sie umschlungen. Nach einer langen Weile sagte er: »Mir ist es einst ähnlich wie Heino gegangen. Mich selbst verloren hatte ich, wie er. Da kamst du und schenktest mir deine große, heilige Liebe, und ich wurde wieder ein lebendiger Mensch ...«

»Ich kann Heino nichts mehr schenken«, erwiderte sie matt.

Mit einem eigenen stillen Lächeln küßte er ihre Hände. –

Und die Zeit strich hin. Janinas Ausfall in der Schule wurde schmerzlich fühlbar. Immer noch war ein geeigneter Lehrer nicht gefunden worden. Heinz wandte sich schließlich an Iwan, ob der ihm nicht einen Freund oder Bekannten empfehlen könne. Inzwischen begann sich Verena um die Schule zu kümmern. In Kinderaugen zu schauen war ihr ein schmerzliches Bedürfnis geworden. Stundenlang pflegte sie dem Unterricht beizuwohnen, dem ungeschickten gutmütigen Lehrer Stepan Petrowitsch gab sie nützliche Winke, und so verwuchs sie immer enger mit dieser Tätigkeit. Unter den Bauernkindern war auch nicht eines, das die schlanke Frau nicht verehrt und geliebt oder ihr nicht aufs Wort gehorcht hätte, aber unter all den sorgenvollen und fröhlichen Augen, in die sie hineinblickte, gab es keine, die Eriks strahlenden Tiefen nur nahe gekommen wären. Und sie war immer, immer auf der Suche.

Ein kleiner siebenjähriger Bub Fedjka, ein Bruder der verstorbenen buckligen Aniuta, hatte eine besondere Liebe zu ihr gefaßt. Er wußte sie ihr nicht anders kundzutun, als indem er seinen Finger in den Mund steckte und sie strahlend und verschmitzt anstarrte.

Eines Tages brachte er ihr mitten im Winter einen kleinen Tannensteckling in einem Blumentopf. Tannen waren selten in jener Steppengegend.

»Das will ich auf des kleinen Jungherrn Grab pflanzen!« hatte sie weinend gesagt.

Eriks Ruhestätte war das Ziel ihrer täglichen Wanderungen. Oft fand sie seinen Hügel bekränzt, von unsichtbaren Händen mit Zeichen der Liebe bedeckt. Stundenlang verweilte sie bei ihm und kehrte dann müde und zerschlagen zurück.

»Ich finde ihn dort nicht ...« sagte sie einst wehmütig zu Heinz.

»Er ist ja auch nicht dort ... sondern hier und überall, vor allem in uns ...« hatte Heinz erwidert.

Da warf sie sich in seine Arme. »Heinz, Heinz, hilf mir!« stöhnte sie. »Wo nimmst du die Kraft her und die restlose Güte?«

Und er sagte: »Weil wir verloren haben, besitzen wir. Nur der Bettler ist König. Nicht mehr an Form gebunden, lebt unser Erik in mir, mit ihm mein göttliches Selbst, meines Lebens und meiner Seele Einheit. Ich hab's oft besessen, Lieb, und oft verloren. An dem Tage aber, wo ich Heino in seiner Verzweiflung fand, stand es leuchtend in mir auf, um mich nie mehr zu verlassen.«

»Ja – du kannst fliegen!« sprach sie wehmütig.

»Und du –« flüsterte er voll Liebe, »kannst du's etwa nicht?«

Sie senkte den Kopf. »Ich kann nicht vergeben«, murmelte sie.

»Die Zeit wird kommen – sie ist nicht mehr fern.«

»Ach Heinz, sieh, wir haben's ja immer gefühlt: unser Liebling war nicht von dieser Welt, nicht für diese Welt, aber daß er so von Bruderhand –« sie schluchzte heiß auf und sprach mit einem harten Entschluß weiter – »gemordet werden mußte – – das ist das Unerbittliche, das ist der Tod in mir!«

»Sein Tod ist Leben ... ist nur ein Übergang zu einem vollkommeneren Leben.«

»Heinz, wie reiße ich dieses Furchtbare aus meiner Seele?«

» Du fragst: wie? Lieb! Künstlerin, Kind, mit der großen Liebe des Weibes – – gabst du nicht einst meiner toten Seele Leben?«

»Durch Liebe – ach, aber Heino ist nicht du.«

»Ein armes, gehetztes Kind – ein Teil von mir – –«

Sie sank in sich zusammen. Noch konnte sie nicht.

*

Aber etwas webte in ihr, etwas geschah und wuchs, etwas Stilles, Großes, Letztes.

Es war an einem Winterabende. Schon pochte der Märzschnee weich an die Fensterscheiben und rann in großen, weinenden Tropfen daran nieder; Verena saß am Kaminfeuer, die abgezehrten Hände im Schoß verschränkt, in ihren eingesunkenen Augen einen Ausdruck überströmenden Sehnens.

»Heinz ...« flüsterte sie, »ich hab' einen Wunsch.«

Er sprang auf und trat aus seiner dunklen Ecke.

»Vielleicht ... vielleicht lern' ich vergeben, wenn – Erik ein Schwesterchen hat.«

»Aber Kind!« murmelte er erschüttert, »du weißt doch, das darf nicht sein, dein Leben –«

»Mein – Leben!« sprach sie mit zorniger Geringschätzung. »Was ist denn das wert – so wie es ist?! Heinz, Heinz, gib mir ein Kind!«

Er schüttelte den Kopf. »Ich darf nicht.«

»Heinz!« schrie sie gellend auf, und noch einmal: »Heinz!«

Und sie warf sich auf den Boden nieder, vor seine Füße. »Heinz – es ist mein letzter, einziger Wille, meine Rettung – – vielleicht, ach vielleicht hat es Eriks Augen – ich verdurste nach Eriks Augen!«

Er hob sie hoch in seine Arme und trug sie, als sei sie ein Kind, im großen Raum hin und her.

»Und willst du denn all die Not und Todesqual – noch einmal ...?«

»Ja!« flüsterte sie heiß, fast jauchzend, »tausendmal ja!«

*

An einem windigen Frühlingstage hielt ein Expreßreisewagen vor der Tür des Oberverwalters. Und wie ein Wind auch sauste ein elegant gekleideter rothaariger junger Mann die Treppen aufwärts und weigerte sich heftig, dem Diener seinen Namen zu sagen. Er wolle und müsse und werde die gnädige Frau persönlich überraschen.

Noch unter dem Wortwechsel öffnete sich die Tür, und Verena stand auf der Schwelle.

Ein mattes Lächeln flog über ihr todblasses Gesicht. »Willkommen daheim, Maestro!« sagte sie tonlos.

Er starrte sie an wie geblendet. »W – wwa – was ist geschehen, Gn – Gnäd – Gnädigste?«

Sie hob nur die Hand und ließ sie mit einer Gebärde grenzenlosen Wehs fallen. »Wissen Sie denn nicht ...? Haben Sie nicht gehört? Erik ist –«

Der kleine Mann stand wie vor den Kopf geschlagen. Die Wahrheit blitzte in ihm auf, er wandte sich ab und brach in Tränen aus.

Sie zog ihn in das Kaminzimmer.

»Ertrunken!« sagte sie hart. »Das übrige sagt Ihnen Ihr Onkel Silberstein.«

Sein eckiger, magerer Körper ward von Schluchzen geschüttelt.

»Ww – wann?« stieß er rauh hervor.

»Schon im Sommer. Mir ist's, als sei's gestern geschehen.«

Ephraim Rosenblüt warf sich vor ihr nieder und verbarg sein Gesicht in die Falten ihres weißen Gewandes.

»Ihn und Sie – – und m ... meine Musik – – hab' ich geliebt,« stöhnte er, »n ... n ... nichts mehr.«

Sie beugte sich zu ihm nieder und strich mit einer mütterlichen Gebärde über seine Stirn. »Stehen Sie auf, Ephraim,« sagte sie müde, »ich danke Ihnen.«

Er erhob sich und ließ sich mit verzerrten Zügen auf einen Sessel fallen.

Die Erregung rann lähmend durch seine Glieder, das Entsetzen, der Jammer saß ihm wie ein Fieber im Blut. Völlig betäubt starrte er vor sich hin.

»Ww ... wo ist Ihr Flügel?« stotterte er endlich verloren.

Sie verstand ihn und stieß die Tür zum Nebenzimmer auf.

Wie ein Schlafwandelnder ging er voraus, öffnete den Flügel, setzte sich davor, und indem er ungeschickt und genial zugleich die Begleitung markierte, hob er an zu singen aus dem Requiem von Bach.

Er gab alles, was er zu geben hatte, auf einmal. Mit einer lähmenden Gewalt strömten die Töne, getragen und geheimnisvoll dahin, und dabei weinten seine Augen, weinten unaufhaltsam. Sein Gesang wurde zum Mysterium.

Verena stand da, festgewurzelt, und lauschte. Sie weinte nicht, ihre Augen hingen wie gebannt an dem kleinen, häßlichen Gesellen, der jetzt schön geworden war.

Ja – schön war er geworden von innen heraus, und ihre Augen leuchteten auf und strahlten wie in alter Zeit, ihr Mund lächelte, die Spannung wich aus ihren Zügen. Es war so etwas Heilig-Linderndes über sie gekommen.

Als er geendet hatte, trat sie auf ihn zu, nahm seinen Kopf in die Hände, als sei er ein Kind, und küßte ihn auf den Mund.

Ephraim Rosenblüt wurde weiß wie Kreide. Zitternd, mit gesenkten Augen blieb er sitzen, dann lehnte er sein Haupt auf die Tasten und weinte wie ein Knabe.

*

Ephraim Rosenblüt blieb einige Wochen. Es verstand sich von selbst, daß er im Oberhof wohnte.

Aber er gab sich nur eigentlich Verena. Kam Heinz dazu, oder traf er mit seinem alten Oheim zusammen, so überkam ihn wieder etwas von seiner linkischen verstockten Scheu von ehemals. Verbunden mit einer angeeigneten Routine, wirkte sie überaus seltsam und komisch.

Den Namen Eriks hütete er sich auszusprechen, besonders seit er von Moses Silberstein erfahren hatte, wie sich das Unglück zugetragen, aber in jedem gesungenen Ton, der seiner begnadeten Kehle entströmte, lag eine scheue und innige Hingabe an das tiefe und vornehm getragene Leid der Frau, die er verehrte, lag ein zartes Verstehen und ein hinreißendes Mitfühlen. Wo man stark und mit Unschuld empfindet, müssen sich verbindende Fäden von Seele zu Seele schlingen, und so war es natürlich, daß Verena ihrerseits dem wunderlichen Künstler gut wurde.

Ihre Macht über ihn ward ohne Grenzen, Mitleid, Liebe und Ehrfurcht zugleich flößte sie ihm ein.

Also blühte das Leben in seinen Wirkungen von Mensch zu Mensch weiter auf den Trümmern eines verlorenen, mit blutender Sehnsucht betrauerten Glückes, und leise, ganz leise begann in Verena die alte Liebe zu ihrer Kunst von neuem zu erwachen. Der arme, kleine Ephraim Rosenblüt hatte sie zu wecken gewußt.

In der Musik hatte sie ihren Erik zunächst wiedergefunden. So ward ihr Spiel zu einem Tempeldienst ihrer trauernden Seele, zu einem heiligenden Traum und beseligenden Rausch.

Heinz war beglückt. Diese Wandlung verdankte er dem kleinen, rothaarigen Meister. Er begann, ihn wie einen Freund und Bruder zu behandeln.

An einem warmen Abende saßen sie auf der Gartenterrasse beieinander und schauten in das weite, leise ergrünende Land hinaus. Der Frühling, noch nackt und arm, saß doch schon neckisch in den Bäumen und hatte ihnen ganz winzig kleine Knöspchen angezaubert.

Ephraim Rosenblüt seufzte sehnsüchtig auf. »Ja, a ... also morgen«, hob er an, »muß ich fort. Z ... zw ... zwei Tage für meine Leut, und dann – nach N ... N ... orddeutschland – die Tournee!«

Über Verenas Züge rieselte ein wunderliches Leuchten. »Hamburg, Lübeck, Kiel, Bremen –« zählte sie auf.

Er nickte gepreßt.

»Wollten Sie wohl ein Paket für mich über die Grenze mitnehmen, Maestro?«

»U ... unbesehen!« stotterte er hastig.

Heinz durchblitzte ein freudiger Schreck. War es möglich, gedachte sie Heinos? Hatte sie sich so weit über sich selbst hinausgerungen?

Aber Verena verriet nichts von dem, was in ihr vorging. Mit einer eigenen Weichheit im Ton sagte sie nur: »Es war gut, daß Sie gekommen waren, gut, gut!«

Sie streckte dem Sänger die Hand entgegen.

Beglückt und verlegen beugte sich Ephraim über ihre Hand und begann hastig zu sprechen: »Hamburg soll ja sein eine eminent m ... mmusi ... kalische Stadt, – – den Sommer w ... werd ich verbringen in d ... der Stille und stu ... d ... dieren, und im W ... Winter ist wieder die Tournee in Italien.«

»Die Ihrigen werden aber böse sein, daß Sie so wenig Zeit für sie haben.«

Er lachte pfiffig und machte die bekannte reibende Fingerbewegung zwischen Daumen und Zeigefinger.

»Ww ... wenn ich nur hab' was mitzubringen! Nu, die alte Mutter wird sich schw ... schwer wundern! K ... k ... kann sich kaufen auf ihre alten Tage ein Häuschen. D ... d ... das ist der unnütze Ephraim.«

Er schluckte vor Gemütsbewegung.

»Da wird sie aber doch eine große Freude haben«, meinte Heinz.

»Z ... z ... zu spät! Für mich!« sagte er bitter.

»Zur Umkehr und Einsicht ist's nie zu spät«, erwiderte Heinz und warf einen leuchtenden Blick auf Verena.

Sie fing ihn auf und lächelte. Es war fast ein heimlich-glückliches Lächeln.

*

Wie aus geheimnisvollen, dunklen Brunnentiefen stiegen in Heinz täglich neue Kräfte auf, erfüllten ihn mit Zuständen unendlicher Mannigfaltigkeit, mit Weisheit, vor allem mit Liebe. Jetzt lebte er ein wirkliches, lebendiges Leben. Das tiefe Bewußtsein seiner endlich erlangten Einheit mit dem All, in die er froh und demütig versank wie ein stillgewordenes Kind in seine Wiege, hatte ihm einen inneren Reichtum, einen Frieden, eine Spannkraft gegeben, die ihn stark und frei machte wie nie zuvor. Es war, als hätte sein Liebling Erik ihm durch seinen Tod die eigenen wunderbaren, jungen Kräfte übertragen.

Ja, er fühlte sich dem Leben gewachsen, was es auch bringen möge, und seine Liebe zu Verena gab seinem unablässigen Streben ein immer größeres Maß von Seele. Wie er sich einrichtete, um Zeit für sie zu haben, war ihr oft überwältigend. Früh vor der Sonne war er schon auf, in der Wirtschaft tätig oder unterwegs auf seinen Revisionsritten. Kam er dann nach Hause, so saß er still bei ihr, während sie übte, und er teilte seine Gedanken und Pläne mit ihr und suchte ihre Nähe ebensosehr um seinet- wie um ihretwillen.

Aus der Blume der früheren leidenschaftlichen, jubelnden Liebe war eine köstliche Frucht, ein höheres Liebesleben, eine ewige Ehe der Seinsverschmelzung gereift.

Verena fühlte sich Mutter. An einem strahlenden Maientag war ihr die beglückende Gewißheit gekommen.

Zu all der sorgenden Liebe um sie kam jetzt die bange Frage: wie lange noch würde sie ihm bleiben? Heinz begann ernstlich den Plan zu erwägen, seine Stellung als Oberverwalter aufzugeben und mit ihr nach Baluschta auf Eriks Erbe zu ziehen.

Aber Verena wollte nichts davon hören. Hier, wo Erik seine kleinen Glieder der Sonne entgegengereckt, hier, wo er die ersten, unsicheren Schrittchen getan hatte, hier wollte sie bleiben, leben, und wenn es sein mußte, sterben. Die Orte, die er betreten, die Weiten, auf denen seine Augen geruht, sollten auch das kleine Geschwisterchen umgeben und zur Ähnlichkeit mit ihm weihen.

Dieser Gedanke begann sich bei ihr mit einer seltsamen Zähigkeit festzusetzen. Dazu kam ein anderes: sie wurde völlig wortkarg und schweigsam. Wie in einem Glashause von der Welt draußen abgeschieden und getrennt, lebte sie dahin in beständiger innerer Tätigkeit. Es war, als fürchtete sie sich vor einem jeden unnütz gesprochenen Wort. Selbst wo Antworten nötig gewesen wären, umging sie sie durch eine Gebärde oder ein stilles Lächeln. Heinz wußte in ihrer Seele zu lesen. Wer durfte sich vermessen, das Weben dieser wehen Mutterseele zu stören, wenn sie ihre geheimnisvollen Fäden spann und ihren toten Liebling und das ungeborene kleine Wesen miteinander in Beziehung zu setzen strebte? In dieses verborgene Heiligtum weiblichen Empfindens zu dringen, war dem Manne und auch ihm verwehrt. Er hatte nur das Vorrecht, zu schonen, zu stützen und vor der unwillkommenen Berührung mit der Außenwelt zu bewahren.

Der Verkehr mit dem Doktorshause wurde aus diesen Gründen sehr eingeschränkt. Nur Eliane war Verena immer gleich willkommen. Sie fragte nichts, war zufrieden, still bei Verena sitzen zu dürfen oder ihr vorzulesen. Das junge Mädchen bereitete sich jetzt mit Hilfe ihres Vaters zu einer Prüfung für eine obere Gymnasialklasse vor.

In diese Zeit traf der erste ausführliche Brief von Heino an den Vater. Dabei war eine Einlage an Verena. Heino bat den Papa ausdrücklich, ihr die wenigen Zeilen nur dann zu übergeben, wenn er es für recht hielte. Das Schreiben lautete:

»Liebe, liebe, liebe Mama!

Wie ich Dir danke für das Kuchenpaket, ich kann es Dir nicht sagen! Es ist so furchtbar gut von Dir – ich habe so geweint. Ich will ein anständiger Junge werden, ich will alles, was du willst, nur vergib mir einmal. Ich kann es nie vergessen, nie, nie! Ich will der beste, der fixeste und tüchtigste Kadett werden, wenn Du mir nur einmal ein gutes Wort sagen kannst. Ich hab' Dich tausendmal mehr lieb als früher, aber ganz anders.

Dein treuer Heino.«

Heinz gab Verena den Brief. Sie nickte nur still und schrieb mit Bleistift ein paar Zeilen nieder, die sie ihm überreichte.

»Darf ich lesen?« fragte Heinz.

Sie lächelte.

Er las:

»Mein lieber Sohn Heino!

Ich nehme Dich beim Wort. Vielleicht werde ich's Dir einmal sagen können, daß ich Dir vergeben habe. Werde wie Dein Vater!

Deine Mama.«

Heinz sah sie mit einem feuchten Blick an und küßte ihre Hände. »So spricht Erik aus dir!« flüsterte er.

Über ihr Antlitz ging ein heiliges Leuchten. Sie schwieg.

*

Ohne daß Heinz und Verena etwas davon wußten, hatte sich im Laufe der schwindenden Sommermonate eine rege und seltsame Korrespondenz zwischen Moses Silberstein und Janina entwickelt. Die Sehnsucht, von seinem Freund Heinchen zu hören, hatte den alten Mann getrieben, demütig bei Janina um Nachrichten über ihn zu bitten. Janina wurde es bald ein Bedürfnis, sich ihm mitzuteilen, denn sie war im Grunde ihrer Seele einigermaßen stolz auf Heino. Auch hatte sie auf die Art ab und zu Nachrichten über Verena, an der sie mit nimmermüder Liebe hing. Als der Herbst mit seinen Regengüssen einsetzte, schrieb sie dem alten Uhrmacher kurz und bündig:

»Lieber Herr Silberstein!

Tun Sie mir den Gefallen und fragen Sie bei dem Herrn Oberverwalter heimlich an, ob es ihm recht ist, daß ich jetzt zurückkehre. Meine Arbeit hier ist getan. Heino braucht mich nicht mehr. In seiner Klasse, auch sonst ist er einer der Tüchtigsten. Ich sprach vor ein paar Tagen seinen Direktor. Man ist sehr zufrieden mit ihm. Geben Sie mir so bald als möglich Nachricht. Ich glaube, man könnte mich daheim brauchen, besonders in der Schule. Mit herzlichem Gruß

Janina B.«

Schüchtern und strahlend vor Freude, war der alte Jude mit dem Brief an einem frühen bewölkten Morgen zu Heinz gekommen.

Er fand ihn bei dem Gestüt auf dem umfriedigten Übungsplatz. Terenti war mit ein paar Stallknechten eben dabei, einigen jungen Tieren an der Longe einen Begriff von Pflichten beizubringen.

»Sieh da – da geht ja die Sonne auf!« rief Heinz heiter, als er Silberstein gewahrte, »das war auch nötig bei dem trüben Wetter!«

Der alte Uhrmacher schmunzelte und streckte ihm den Brief entgegen. »Guten Morgen, gnädigster Herr Oberverwalter! Wie steht es mit der lieben Gnädigen ihrer Gesundheit?«

Heinz sah ihn gütig und vielsagend an. »Ich will Euch was im Vertrauen mitteilen, lieber Silberstein, um Weihnachten haben wir vielleicht eine kleine Erika oder –«, er schwieg umdüstert.

Der Greis hob mit einer freudigen Wallung beide Hände. »Was für 'n großer Segen! Was für 'ne Freude!« sagte er leise.

Heinz zögerte einen Moment, ehe er den Brief las. Das schnelle Vorüberfließen seines Lebens hatte ihn mit gespensterhafter Gewalt gepackt. Wohl hatte er sich gewöhnt, die Ereignisse, Dinge und Menschen auf seinem Lebenswege wie vorübergleitende Erscheinungen froh betrachtend zu genießen, ohne sich seelisch an etwas zu klammern, aber alles, was Verena betraf, mußte er davon ausnehmen. In ihr einten sich die höchsten Wünsche und Ziele seines Lebens. War er ihr auch vielleicht zeitweilig um ein paar Schritte voraus, so wußte er und hatte es nur allzu oft erfahren, daß sie mit der verschwiegenen Tiefe und Glut ihrer Empfindung ihn plötzlich einzuholen und zu überflügeln befähigt sei.

Er las den Brief und wandte sich freudig an den Alten. »Heute noch wollen wir depeschieren. Daß sie kommen will und kann, ist mir ein Geschenk!«

Moses Silberstein begann mit einem verhaltenen Stolz von Heino zu reden.

Heinz hörte ihm erfreut zu und geleitete ihn aus der Umfriedigung des Übungsplatzes zwischen den Scheunen und Ställen in den inneren Hof.

Da trat ihnen, krumm und tückisch, plötzlich die alte, verrückte Axinja wie eine unbekannte Drohung des Daseins entgegen und bückte sich tief und umständlich. Die grauen Lumpen schlotterten um die verwahrloste Gestalt.

»He – he, Zarchen,« gurgelte sie, »ist das neue Altenhaus nun bald fertig? Und bekomme ich dann auch mein Bettchen und Lehnstühlchen und ein neues Kleid?«

»Du bekommst es. Gib Raum«, sagte Heinz ruhig.

Ihre Augen funkelten auf, und mit der dürren Hand wies sie hämisch auf Moses Silberstein.

»Du verschnittener Jude, du hochmütiger Heidenknecht, du Christusmörder!« kreischte sie geifernd, »wie wagst du es, neben unserem Zar und großmächtigen Herrn herzugehen?«

Sie versuchte in einem wütenden Anfall von Eifersucht den alten, erschrockenen Mann von Heinz zu trennen und wegzudrängen. Ihre hellen, wahnsinnigen Augen tanzten vor Haß, ihr zahnloser Mund schäumte.

Mit fester Hand hatte Heinz sie gepackt und schob sie zur Seite. Ein unüberwindlicher Ekel, ein Grauen stieg in ihm auf. »Kommt, lieber Silberstein, Verrückten muß man aus dem Wege gehen, sie wird sich bald beruhigen.«

Aber wie eine Katze krallte sich die Alte an ihm fest und gluckste verzückt zu ihm empor: »Du mein stolzer Falke, ... mein hochschenkeliger Fürstensohn ... ja, du mein geliebter weißer Zar – – wann kommst du denn zu deiner demütigen Magd? Sie wartet und wartet ... Jahr um Jahr, durch Winter und Sommer ... sie lechzt nach dir, ach, ihr jungfräulicher Leib verzehrt sich ...«

Heinz schüttelte sie ab. Sie glitt zu seinen Füßen nieder und begann erbarmungswürdig zu winseln.

»Was hab' ich denn verbrochen? Warum verstößest du mich? Hat dich denn je eine so geliebt wie die alte krumme Axinuschka? Ach, du mein Liebster, mein Süßer ...«

»Schweig!« gebot Heinz und sah sie durchdringend an. »So spricht man nicht zu mir. Hast du verstanden? Der Herr bin ich –«

Sie reckte flehend die dürren Arme zu ihm auf, sie beugte den greisen Kopf in den Staub und bestrebte sich vergeblich, seinen Fuß auf ihr Haupt zu stellen, sie ächzte, jammerte und heulte.

»Ja, ja, der gnädige Herr bist du, der Herr und der Zar, der Gebieter über alle Lande und Völker, unser Väterchen! Mit dem verfluchten Juden aber mußt du nicht zusammengehen, ans Kreuz solltest ihn nageln lassen ... hat er denn nicht auch unsern heiligen Gott gekreuzigt? Ans Kreuz nageln, zuschanden peitschen, ausräuchern, verbrennen!« kreischte sie gellend, in aberwitziger Ekstase sich an den eigenen tollen Worten berauschend.

Heinz sah sich um, der Hof war in diesem Augenblick menschenleer. Es war auch besser, wenn niemand von den Leuten diese irren Reden vernahm. »Hohe Zeit, daß man dich einsperrt!« murmelte er zwischen den Zähnen. Laut und gebietend sprach er: »Steh auf und red' kein dummes Zeug. Was suchst du hier auf dem Hof?«

»Ein bißchen Speck wollte ich mir in der Küche erbetteln,« wimmerte sie demütig, »das Brot allein ist gar so hart, die Zähne tun's nicht mehr, und dann ...«, sie blinzelte listig, »wollt' ich auch meinen weißen Falken sehn –«

Sie kroch in sich zusammen. Sein strenger Blick hielt sie im Bann, und sie fürchtete sich. »Meinen – gnädigen Herrn – –« verbesserte sie sich verschüchtert.

»Gut. Dein gnädiger Herr gibt dir Geld, damit gehst du in den Laden und kaufst dir Speck und was du willst.«

Er drückte ihr ein Geldstück in die Hand. Sie umklammerte es gierig und sah ihn kichernd und glucksend an.

»Also, geh jetzt.«

»Ich geh' ja schon, geh' ja schon«, murmelte sie wieder verdrossen und humpelte, auf ihren Knotenstock gestützt, über den Hof. Vor der Pforte aber kehrte sie sich noch einmal um, ballte die Faust und schüttelte sie grimmig gegen Moses Silberstein.

Als Heinz sich mit einer drohenden Bewegung nach ihr hinwandte, erschrak sie und sank wieder in sich zusammen wie ein zerschlagenes Tier. Kaum aber fühlte sie sich in gefahrloser Entfernung, so drehte sie sich wieder nach Heinz um und schrie gellend und mit einem verzückten Grinsen: »Du mein Liebster! Mein Lieb–ster! Mein Hol–der! Mein Sü–ßer!«

Heinz zog Moses Silberstein in den Treppenflur des Hauses. »Die wird so bald wie möglich eingesperrt!« sagte er ärgerlich. »Bleibt noch ein wenig, Silberstein, Ihr müßt eine neue Begegnung vermeiden, tolle Hunde reizt man nicht. Wollt Ihr nicht zu meiner Frau hinaufgehen?«

Der alte Mann schüttelte gedrückt den Kopf. Die sinnlose Wut der schmutzigen Vettel hatte ihn unheimlich berührt. Kannte er nicht den Haß des niederen Volkes gegen seine Stammesgenossen, kannte er nicht den blöden Aberwitz des Pöbels? Von unsauberen Elementen, die die Gewalt über das Volk an sich zu reißen strebten, wurden Haß und Aberwitz methodisch geschürt. Der Trick hatte sich in kritischen Momenten immer wieder bewährt.

»Ich danke, gnädiger Herr Oberverwalter,« sagte er trübe, »besser wird es sein, zu warten hier.«

Heinz blieb bei ihm stehen, eine matte Schwere in den Gliedern, gedankenvoll starrte er in eine dunkle Flurecke. Auch in ihm war eine kummervolle Bangigkeit aufgestiegen, und plötzlich hatte er ein seltsames Gesicht:

Ihm war, als sehe er Verena auf der bloßen Straße kauern wie in Kummer und Not, mit erbärmlich zerfetzten Gewändern, kauern neben einer leblosen Gestalt, um sie her Feuerschein und Rauch. Ihre Hände waren mit einer Gebärde des vertieften Jammers an ihre Schläfen gepreßt. – –

Heinz beugte sich unwillkürlich und gespannt vor, ohne daß die sonderbare Erscheinung sich auflöste. Nach und nach erst zerflatterte sie wie im Nebel. Ihn überlief ein Grauen, er schüttelte die Vision ab und ärgerte sich über den verwirrten Zustand seiner Nerven, die ihm eine solche erschreckende Erscheinung hatten vorspiegeln können.

Moses Silberstein starrte ihn gepreßt an. »Was ist – was ist dem gnädigen Herrn Oberverwalter?« fragte er scheu.

Heinz lächelte matt. »Nichts ... nichts, alter Freund!«

*

Die Ankunft Janinas brachte Heinz eine frohe Zuversicht und Beruhigung, sowohl Verenas wie auch seines Knaben wegen. Heino war auf gutem Wege, das stand fest, und wer konnte außer Heinz sorglicher um Verena bedacht sein als Janina?

In Deutschland hatte Janina ihre Zeit gut genützt. Nicht nur war es ihr gelungen, sich mit den neuesten Strömungen der Medizin und Diätetik gründlich bekanntzumachen, sondern sofort hatte sie auch eine Umwandlung ihrer Lebensweise an sich selbst erprobt. Es war ihr glänzend bekommen. Zunächst war sie strenge Vegetarierin geworden, doch nicht in dem Sinne, daß sie bloß die Fleischkost vermied, sondern so, daß die Zusammenstellung der Speisen genau erwogen wurde. Unglaublich war, wie wenig sie zum Lebensunterhalt bedurfte. Ein paar Äpfel, eine Handvoll Mais, das war ihr Frühstück, mittags begnügte sie sich mit gekochtem Gemüse, Salat, Brot und Obst, abends schluckte sie vergnügt ein Schüsselchen saurer Milch und eine besondere Art Weizenbrot, das sie sich wie ein indischer Anachoret an der Sonne zu backen pflegte.

Und sie sah gut dabei aus. Ihr schlanker Körper war geschmeidig und kräftig wie nie zuvor, und durch regelmäßige Atem- und gymnastische Übungen harmonisch und ruhig in der Bewegung; ihre Augen leuchteten vor Lebensfreude, Kraft und Zuversicht. Für ihre Kleidung hatte sie begonnen, eine peinliche Sorgfalt zu hegen, die Heinz und Verena angenehm auffiel. Sie trug Hemdenblusen und kurze, einfache Röcke von mondänem Schnitt oder englische Kostüme, und konnte darin aussehen wie ein verkleideter schöner Knabe.

Es dauerte nicht lange, so hatte sie ihre Hausgenossen von der Ersprießlichkeit ihrer neuen Lebensweise überzeugt. Sie begannen sich dies und jenes daraus anzueignen, und Verena, die von jeher und namentlich in ihrem jetzigen Zustande keine Vorliebe für tierische Nahrung besaß, versuchte es mit der Kostveränderung und befand sich wohler dabei als zuvor. Was ihr diesen Wechsel besonders lieb und wert machte, das war der Umstand, daß Erik von klein auf Abneigung gegen Fleischkost gezeigt hatte. Mit Wehmut gedachte sie der Bitten und Kämpfe, um ihn zum Genießen eines kleinen Koteletts zu bewegen; jetzt sah sie ein, daß ihr Kind ihr gegenüber im Recht gewesen sei. Ein schmerzlicher Trost war es ihr freilich, daß sie Erik in dieser Beziehung häufiger nachgegeben hatte als er ihr, und sie versenkte sich mit zärtlicher Andacht in den reinen Instinkt dieser außergewöhnlichen Kindesseele, die so das Rechte für sich ahnungslos zu finden gewußt.

Aber auch sonst hatte Janina mancherlei Wandlungen durchgemacht. Die in regem Tun und Lernen verbrachte lange Einsamkeit schien ihr die Zunge gelöst zu haben. Sie konnte prägnant und trefflich erzählen und tat es im Gegensatz zu früher gern. Ihre Beobachtungen waren zuverlässig und klar. Das beseligende Gefühl, wieder daheim, wieder in Verenas Nähe zu sein, gab ihren Worten Kraft und Schwung. Auch pädagogische Kurse hatte sie Gelegenheit gefunden zu besuchen, war von dem deutsch-amerikanischen Unterrichtssystem sehr eingenommen und steckte voller kluger und praktischer Ideen für die Schule.

Vor allem war sie fast unfehlbar geworden in der Treffsicherheit, mit der sie seelische Zustände anderer erfaßte und begriff.

»Daß Sie im Frühling Heino das Paket schickten,« sagte sie einmal zu Verena, »das hat alle guten Geister in ihm aufgeweckt. Wenn Sie ihn gesehen hätten in seiner stillen Glückseligkeit!«

»Heino – still?« fragte Verena verwundert.

Janina bejahte energisch. »Und wie! Ich glaube, er hat noch von den Kuchen. Jeden Tag wurde nur ein winziges Stückchen davon abgeknabbert. Es waren ja nicht die Kuchen, die ihn so beglückten, die Tatsache war's, daß Sie seiner gedacht. Ach, Liebste, die Wahrheit, die er ein paar Tage zu spät erfuhr, hat einen anderen Menschen aus ihm gemacht!«

»Erik bringt sie nicht wieder!« sagte Verena schmerzlich.

Janinas Augen wurden feucht. »Unser süßer Liebling!« murmelte sie versunken und fuhr dann innig fort: »Glauben Sie mir, in allem, was ich denke und tue, steht mir dieses einzige Kind vor der Seele. Er hatte von Natur alles, was wir anderen uns mühsam erwerben: die wundervolle Selbstlosigkeit, die Liebe, das von selbst Verständliche ...«

Verena nickte. »Sage du zu mir, Janina«, sprach sie weich. Ihre stille Stirn, die von Wehmut und Liebe redete, ihre großen, ruhevollen Augen senkten sich Janina entgegen.

Janina ergriff bewegt die weißen, feingliedrigen Hände und küßte sie.

»In seinem Geschwisterchen wird er uns, wird er dir wiederkehren ...« flüsterte sie.

»Mir? – ach Janina!« sagte Verena mit zuckenden Lippen – »ach Janina!«

Sonst nichts.

War das Zweifel, war es Glaube? War es Schmerz oder Hoffnung? Vielleicht keines allein, vielleicht etwas von allem. Janina schien es, als hätte nie in zwei Worten so viel Sehnsucht gelegen.

*

Während nun allmählich der Winter einzog, wurde die Harmonie dieses stillgewordenen Hauses, wo eines für das andere lebte, durch kein Geschehnis von Bedeutung getrübt. Dem großen Ereignis einer neuen Menschwerdung sahen Heinz und Janina mit Fassung entgegen, obwohl wie eine schwere Wolke die Sorge um Verenas Leben auf ihnen lastete. Verena war die Gelassenheit selbst. Wie eine lichtgewordene Ruhe ging es von ihr aus; sie war ebenso bereit zu leben als zu sterben, wenn es sein mußte. Doch je näher die Zeit ihrer Entbindung heranrückte, desto mehr schien sie sich von der Schweigsamkeit zu lösen, in die sie sich durch die langen Monate eingesponnen hatte, vielleicht in dem Bewußtsein, daß sie nicht mehr lange viel zu sagen haben werde.

»Ich komme mir vor wie ein Botenknabe eines alten Fürstenhofs«, sagte sie einst mit ihrem stillen Lächeln zu Heinz, als sie in der Dämmerstunde bei ihm saß. »Mit allem bin ich einverstanden. Schickt mich mein Fürst in die blühenden Gärten, Blumen des Lebens zu pflücken, so eile ich dahin, sendet er mich in die tosende Schlacht, die mir das Leben kostet, so widerstrebe ich nicht. Hier hältst mich du und das Kleine – dort leuchtet mir Erik!«

Heinz wußte, es war so, da half kein Widerstreben. Aber er hatte heute seinen müden Tag, und darum bohrten sich ihre Worte schmerzlich in seine Seele.

Er zog sie an sich. »Lieb, nur um eins flehe ich dich an,« bat er mit schwankender Stimme, »wolle leben um meinetwillen, wolle leben, auch wenn der Kampf furchtbar wird. – Ach, der Wille vermag so viel. Einst bist du mir aus den Armen des Todes wiedergekehrt ...«

»Ja – einst!« wiederholte sie mit einem fernen Ton.

Er schwieg wie gebrochen, stützte das Haupt in die Hände und die Arme auf die Knie.

»Heinz,« bat sie leise, »Liebster ...«

»Bin ich's denn noch?« fragte er traurig.

»Heinz, wie kannst du das fragen? Du bist und bleibst mir das Liebste meines ganzen Lebens – aber Erik ist ein Stück von mir, ach, es ist ja eine so andere Liebe – mit ihm ist der lebendige Widerstand in mir gegen Not und Tod dahingegangen.«

»Und wenn Eriks Augen dich aus dem neuen kleinen Wesen anschauen?«

Sie erschauerte und wurde bleich.

»Ach Heinz,« flüsterte sie, »Eriks Augen gibt es in dieser Welt – nie wieder.«

Sie schwiegen lange.

Ihre kühle, weiße Hand glitt über seine Stirn. »Heinz,« murmelte sie, »ich will mit der letzten Kraft für dich kämpfen, um bei dir zu bleiben, mit der letzten Kraft, hörst du?«

Er hörte es wohl, aber aus seinen Augen tropften eilige Tränen nieder auf den Teppich, eine um die andere.

»Ich danke dir, ich glaube es ...«

»Heinz,« sprach sie mit einem hinreißenden Lächeln, »ich bin ja so stolz auf dich, du hast mir das Leben so schön gemacht!«

Er machte eine unwillkürliche Gebärde der Abwehr.

»Und doch – ist alles meine Schuld. Hätten wir Heino nicht zu uns genommen, Erik lebte noch.«

Sie sah ihn aus ihren abgrundtiefen Augen an und lächelte weh und fern. »Sag' das nicht, Liebster! Wer kann das wissen? Hättest du es denn verwunden, deinen kleinen Sohn bei Fremden zu lassen? Hätte ich das ertragen? Nein, nicht Schuld, Ursache und Wirkung spinnen hier ihre Schicksalsfäden. Erik war ja nicht für diese Welt. So oder so, wir hätten ihn einmal verloren. Heino aber ist durch diese unglückliche Tat – gerettet, dafür haben wir zu danken, Liebster.«

War sie es, die so sprach? Hörte er recht?

»Luwa!« rief er überwältigt, außer sich vor Staunen, Entzücken und Weh, »bist du soweit gekommen?«

»Ach, Liebster, mit dir ... ist ja das Fliegenlernen gar nicht so schwer, du reißest einen ja mit.«

Ihm wurde schwindlig, er warf sich vor ihr nieder und barg sein Haupt auf ihren Knien.

Wieder hatte sie ihn überflügelt.

*

An einem der nächsten Tage kam Heinz mit verzwicktem Gesichtsausdruck zu Verena, einen offenen Brief in der Hand.

»Hör' mal zu, Liebling, und rate, wer mir das schreibt«, sagte er lebhaft und begann zugleich zu lesen:

›Geehrter Jenrik Feodorowitsch!

Sie sind im Begriff, ein Verbrechen zu begehen, und ich warne Sie davor –‹«

Verena horchte hoch auf, ihre blassen Hände, mit denen sie an einem winzigen Jäckchen stichelte, sanken in den Schoß wie müde Blütenblätter. » Der Anfang ist vielversprechend; du – ein Verbrechen! Die muß dich gut kennen!«

»Wie kommst du denn darauf, daß es eine ›sie‹ ist?« fragte er verwundert.

»So exaltiert können nur Frauenzimmer schreiben.«

Er mußte lachen. »Nun, du hast wieder einmal recht. Die folgenden Sätze werden dich leider nur zu bald auf die richtige Spur lenken. Höre weiter:

›Wie können Sie es wagen, einen jungen, hoffnungsvollen Menschen von seinen Zielen abzulenken? Wie dürfen Sie diese Verantwortung auf sich nehmen?‹«

»Halt!« sagte Verena mit einem leisen Lachen, »so kann nur eine sprechen – Mara Pawlowna!«

Heinz blinzelte verschmitzt und fuhr fort:

»›Wie dürfen Sie eine liebende Mutter, einen strebsamen Bruder ihrer natürlichen Stütze berauben?‹«

»Aha!« meinte Verena, »da also liegt der Schwerpunkt, die alten Theaterfloskeln! Aber wann hättest du denn etwas Ähnliches getan?«

»Das ist ja eben das Ulkige. Mit keinem Wort habe ich Iwan jemals zu einer Änderung seiner Laufbahn bewogen, und doch schreibt diese Person so, als sei es für Iwan eine unumstößliche Tatsache, daß er hierherkommen und Volksschullehrer werden wolle. Ich habe nur vor langer Zeit bei ihm angefragt, ob er mir nicht einen tüchtigen Freund oder Bekannten für diesen Posten empfehlen könne.«

»Vielleicht ist der Brief von ihm an dich verlorengegangen.«

Heinz schlug sich vor die Stirn. »Ja natürlich, so wird es sein. Aber höre, es kommt noch besser:

›Wollen Sie den leiblichen Sohn Ihres herrlichen Vaters zu einem gemeinen Volksschullehrer erniedrigen? Es liegt unter meiner Würde, Sie daran zu erinnern, daß dieser, Ihres Vaters Sohn, auch Ihr Bruder ist, denn das würde Ihrem Selbstgefühl wahrscheinlich nur allzu peinlich sein.‹«

»Bravo!« warf Verena amüsiert ein. »Weiter!«

»›Nicht genug, daß Sie meinem Sohn und dem Ihres Vaters durch ein mühseliges Hauslehrertum Jahre seiner besten Jugend entzogen haben –‹«

»Was kommt noch? Nun bin ich aber wirklich gespannt!«

»›Nein, Sie wollen den Sohn Ihres Vaters im Gegensatz zu Ihrer eigenen bevorzugten Position in eine minderwertige Stellung hineinzwingen und so Ihre Herrengelüste ihm gegenüber hervorkehren und befriedigen.‹«

»Nun hört aber alles auf!« sagte Verena empört.

»Ärgere dich nicht, Lieb, das wäre viel zuviel Ehre für diese Frau. Es ist ja nur das Toben der Ohnmacht. Übrigens, für ihre Verhältnisse gar nicht schlecht stilisiert. Nun der Schluß:

›Ich aber sage Ihnen, ich durchschaue Ihre Pläne. Ich werde es nicht dulden, daß mein Sohn Volksschullehrer wird, und werde ihn daran zu hindern wissen, selbst wenn ich zu diesem Zwecke in Ihr Haus dringen müßte.

In der Achtung, die Ihnen gebührt
Marja Pawlowna Gurina.‹«

Verena saß eine Weile sprachlos. Dann lachte sie mit einem überaus lieblichen Ausdruck vor sich hin.

»Was tun wir nun mit dem Schriftstück?« fragte Heinz. »Das Stilisieren hat ihr unzweifelhaft viel Mühe und Denken gekostet, ihr oder ihrem Stellvertreter.«

»Gib her!« Sie ergriff das Papier mit spitzen Fingern, nahm einen Bleistift vom Tisch und schrieb das Wort: »Gelesen« drunter.

»Nun schicken wir es der streitbaren Dame wieder zurück«, sagte sie heiter. »Man soll niemanden des Erfolges seiner Mühen berauben.«

Es war das erste Mal nach Eriks Tode, daß Heinz sie so schalkhaft und heiter sah.

Eine Woche später stand Iwan vor den beiden.

Und so war es gut.

Seine Züge, seine Augen, seine Haltung gaben eine so klare Festigkeit, Entschlossenheit und Freudigkeit kund, daß Heinz vor Befriedigung lachen mußte.

»Aber Junge, Junge! Dein Brief ist zwar verlorengegangen, aber durch deine Mutter weiß ich dennoch, wozu du dich entschlossen hast. Ich warne dich, ich warne dich von ganzem Herzen, wie willst du mit dem armseligen Gehalt eines Volksschullehrers auskommen?«

Aber Iwan schien zu wissen, was er tat. Die Zeit und die Erfahrungen draußen hatten aus ihm einen vertrauensvollen und innerlich gesunden Menschen gemacht.

»Lieber, lieber Heinz,« sagte er warm, »das Gehalt macht mir keine Sorge, ich habe Mittel und Wege gefunden, mich davon unabhängig zu machen; zugleich ist damit eine alte Sehnsucht in mir erfüllt. Sieh!« Er zog eine russische Zeitung aus der Rocktasche und wies auf den feuilletonistischen Teil.

»Kinder der Liebe, Roman von Iwan Gurin«, las Heinz staunend.

»Bruder, ich gratuliere!«

Iwan sah ihn mit strahlenden Blicken an. »An euch hab' ich dabei gedacht, ihr habt mir immer vor Augen gestanden! Bei Kindern der Liebe zu weilen, mit ihnen in ihrem Sinn zu wirken, unseren armen, verwahrlosten Kindern des Volkes zu nützen, ist das nicht ein Ziel so hoch und schön, daß es das bißchen philologische Gelehrsamkeit aufwiegt?«

Heinz riß ihn in seine Arme. In Verenas mächtigen Augen standen Tränen tiefer Freude.

*

Das Altenheim stand nun auch vollendet neben dem neuen Schulhause, sauber und blitzblank. Ein eingezäunter Platz für ein Vorgärtchen belebte die ruhige Front. Auf der Rückseite streckte sich ein großer, offener Platz hin, der für einen Gemüsegarten bestimmt war und sich weiter in ein Maisfeld verzog.

Es war Heinz zuwider, in dieses für bäuerliche Verhältnisse außerordentlich gediegene Heim als Einwohnerin die alte verrückte Axinja zu internieren, die jetzt im Gemeindekrankenhaus einquartiert war und dort eine kleine Kammer bewohnte. Das wäre ihm fast wie eine üble Vorbedeutung erschienen. Weshalb sollte sie auch mit ihren wirren, gehässigen Reden die behaglich-freudige Eintracht der eben eingezogenen Greise und Greisinnen stören? Diese ergingen sich in Lobeserhebungen und Danksagungen ohne Ende und konnten ihr Glück kaum fassen, daß sie sich hier zu Hause fühlen durften, gepflegt und umsorgt, anstatt wie bisher von ihren eigenen Leuten nur gelitten und geduldet und oft wegen ihres Nichtstuns und ihrer Gebrechlichkeit gar verspottet oder beschimpft zu werden. Zudem lag noch über allen und allem der Reiz des Neuen, das noch durch keine eingenisteten üblen Gewohnheiten abgestumpft, durch keine Unverträglichkeiten hatte verbittert werden können. Die natürliche Bedürfnislosigkeit und Genügsamkeit der slawischen bäuerlichen Bevölkerung zeigte sich hier bei diesen armen Alten in ihrer liebenswürdigsten Form. Sie waren dankbar und gerührt, sie waren neugierig, wie Kinder es sind, den hübschen und praktischen Einrichtungen gegenüber; sie verstanden sich auch wie Kinder daran zu freuen und prahlten wie Kinder.

Den Männern hatte Verena durch Janina Tabak und Tee austeilen lassen, die Frauen erhielten Tee und Strickwolle. Mittags und abends saßen sie in dem gemeinsamen warmen Zimmer, je zu fünf an einem Tische, und löffelten ihre Kohlsuppe und ihren Buchweizenbrei aus den gemeinsamen Schüsseln, und nachts schliefen sie zu zweien oder dreien in kleinen sauberen Kammern, hatten reinliche Betten, und jedes hatte ein Kopfkissen und – man denke – eine neue Wolldecke und sogar einen Lehnstuhl!

War das nicht Anlaß genug zur vollkommenen Zufriedenheit?

Die naive Freude der ersten Bewohner des Altenheims hatte Heinz und Verena beglückt und erschüttert. Aber von den Dörfern im Umkreise gingen allmählich so viele Bitten um die Aufnahme auch ihrer Alten ein, daß sich das wohltätige Institut als viel zu beschränkt erwies und Heinz notgedrungen eine Altersgrenze festsetzen mußte, um nur den allzuvielen Forderungen einigermaßen zu genügen. Nur wer das siebzigste Jahr im Hauptdorf und das fünfundsiebzigste in den Nebendörfern erreicht hatte, durfte Anspruch auf Aufnahme erheben. So kam es, daß diese wohlgemeinte Veranstaltung zugleich der Anlaß von Streit und Hader wurde. Die Leute drängten sich förmlich hinzu, versuchten es, ihre Altersangaben zu fälschen und sahen mit Neid und Haß auf die Bevorzugten.

Wie mit den Alten, so ging es mit den Kindern und Kleinen. Nirgends im Umkreise waren die Schulen mit der von Heinz gegründeten neuen Volksschule, die zwar noch lange nicht seiner Vorstellung entsprach, an der er immer wieder zu tadeln und zu bessern fand, zu vergleichen. Viele Dörfer hatten überhaupt keine Schulen. Jammernde Mütter flehten ihn an, doch auch ihre Kinder aufnehmen zu lassen. Die Grenzbestimmungen, die nicht überschritten werden durften, machten ihm viel Kopfzerbrechen und Kummer. Dazu kam, daß böswillige und neidische Elemente den Haß und Hader schürten und eine unzufriedene Stimmung in den Nebendörfern gegen ihn entfachten.

Die bittere Wahrheit, daß jedes Gute auch sein Böses in sich trägt, mußte Heinz schmerzlich an sich erfahren. Als nun vollends Iwan von der Schulkommission als Lehrer aufgenommen und bestätigt wurde, kannte auch der Neid seiner Kollegen keine Grenzen. Aus Klugheit schon hatte Heinz seinem Halbbruder das Wohnen im Herrenhause versagt und ihn so behaglich als möglich im Schulhause eingerichtet, doch Iwans täglicher Verkehr mit dem gnädigen Herrn Oberverwalter, die Bevorzugung, die er dadurch vor den anderen Volksschullehrern genoß, machte ihn zum Gegenstande bitteren Übelwollens, und der junge begabte Idealist und Schriftsteller sah und fühlte, daß er in seinem neuen Wirkungskreise von vornherein nicht auf Rosen gebettet war.

Heinz hatte das alles kommen sehen, aber ein Zurück gab es weder für ihn noch für Iwan. Die Dornenkronen des Besserwissens, Besserwollens und Besserkönnens mußten eben getragen werden.

Eine dumpfe, unzufriedene Stimmung begann sich zu allem übrigen auch in den Kreisen der Unterverwalter und niederen Beamten zu regen, so beliebt Heinz auch war. Sie wollten nicht zugeben, daß der Fremdling, der eingewanderte »Deutsche« für ihre eigenen Volksgenossen mehr Liebe und Tatkraft an den Tag gelegt hatte als sie selber. Einem geborenen Russen hätten sie diese Neuerungen und philanthropischen Bestrebungen großmütig verziehen, dem Deutschen aber trugen sie seine Verdienste um das allgemeine Wohl gehässig nach und scheuten sich nicht, ihm selbstsüchtige Pläne und ein Trachten nach Auszeichnungen unterzuschieben.

Wer Heinz wirklich nähertrat, der mußte ja endlich einsehen, daß nichts anderes als die reinste Menschenliebe und ein einfacher Gerechtigkeitssinn die Triebfedern seines Wirkens waren. Wer aber trat ihm näher? Selbst diesen wenigen Wohlgesinnten, die ihm ihre Hochachtung zu bezeugen strebten und die sich mehr oder weniger offen mit ihm über seine Ziele auszusprechen gedrängt fühlten, selbst diesen wenigen war der hohe Flug seiner Auffassungen unverständlich.

»Was Menschenliebe! Was Gerechtigkeitssinn!« sagte er ironisch. »Was sind sie? Nur Stationen, nur Herbergen auf der Bahn der Einheitsverwirklichung. Menschenliebe und Gerechtigkeitssinn hat nur der, der den Wesen gegenübersteht, nicht der, der sie umfaßt, sie mit sich identifiziert, sich eins mit ihnen fühlt. Sie sind ich, ich bin sie – ist das etwa Menschenliebe und Gerechtigkeitssinn!«

Voll verstanden und erfaßt wurde er nur von Verena, in geringerem Grade auch von Iwan, Janina und Moses Silberstein. Verena aber war es allein, die es ahnend vorausempfand, daß nur der rein-erkennende Mensch auf dieser Bahn einsam und unangefochten dahinleben mag; der Tätige und Verwirklichende aber einem erbarmungslosen Gesetz gemäß jeden Schritt vorwärts mit neuen Hindernissen und Lasten erkaufen muß. Ihr Trost war ihres Mannes pekuniäre Unabhängigkeit. Er konnte fort, wenn er wollte.

Mittlerweile war es vollends Winter geworden. Verena wurde gewahr, daß ihr physischer Zustand sich zusehends besserte, je näher ihre bange Stunde heranrückte. Sie hatte fast gar keine Beschwerden mehr. Sonderbar leicht und kräftig fühlte sie sich, sonderbar befreit und von ihren schwermütigen Gedanken entlastet.

So kam es, daß sie von dem lange vorausgesehenen Ereignis gewissermaßen überrascht wurde.

Heinz war in Geschäften nach dem Städtchen Nikopol gefahren und hatte Verena wie immer Janinas Obhut anempfohlen. Kaum war er eine halbe Stunde fort, so begannen sich die ersten Anzeichen der Katastrophe einzustellen. Janina wollte sofort einen reitenden Boten abfertigen, der Heinz einholen sollte, aber Verena beschwor sie, das zu unterlassen. Es sei ein Irrtum, die Schmerzen würden gewiß bald nachlassen. Wozu ihren Mann in eine unnütze, qualvolle Aufregung versetzen?

So wurde denn nur nach dem Doktor geschickt. Wider alle Erwartung nahmen die Wehen einen regelrechten Verlauf. Verena hielt sich tapfer und bemühte sich heldenmütig, den andrängenden Schmerzensgewalten den seelischen Widerstand zu leisten, den sie ihrem Manne gelobt hatte. Endlich fiel sie in eine tiefe, wohltätige Ohnmacht.

Als Heinz spät am Abend wiederkehrte, fand er das Haus seltsam leer und verwaist. Er stürmte bis an Verenas Tür und hörte – fast sank er in die Knie vor atemloser Überraschung – er hörte eines Kindes spitzen Schrei.

Es war sein kleines Mädchen.

In noch ungläubiger, tief innerer Glückseligkeit stand er erstarrt vor ihrem Lager. Sie streckte ihm eine weiße Hand entgegen. »Sieh, Heinz, ich lebe ... es war nichts gegen damals – – und sie hat wirklich blaue Augen.«

Ihre matten Lider schlossen sich wie träumend zu einem tiefen Schlaf.

Heinz kniete an ihrem Bette und hörte nicht die sanft zuredende Stimme des Doktors. Ein Wunder war an ihm geschehen, ein Wunder!

Und alle Tage geschahen neue Wunder: das Kindchen hatte blaue Augen, Verena lebte und durfte es stillen, und sie empfand es als ein unbeschreibliches Glück.

Um diese zarte Blüte des vereinsamten Hauses begannen sich neue Hoffnungen, neue heimliche Wünsche, neue selige Träume zu ranken.

Die Kleine gedieh denn auch prächtig. In das stille, ausdruckslose Gesichtchen las die Mutter die so heiß ersehnte Ähnlichkeit mit Erik hinein.

Sie wurde Erika Ingeborg getauft. Aber aus einer ähnlichen Scheu, die Verena nach Eriks Geburt dazu bewogen hatte, Heino ihre kleine Bronzeuhr zu schenken, enthielt sie sich des geliebten Namens und nannte das kleine, feingliedrige Wesen Ingeborg.

Nach einigen Wochen schon begannen die blauen Augen des Kindes in ein tieferes Grau überzugehen. Die Härchen waren hellblond, dunkelten aber von Monat zu Monat nach und nahmen einen rötlichen, honigfarbenen Ton an, wie ihn Tizian in seinen Gemälden wiedergegeben hat.

Und trotz dieser äußerlichen Veränderungen war Verenas Zustand ein stilles Lauschen nach innen geworden. Sie wartete geduldig, daß sich in ihrem Töchterchen etwas von Eriks Art rege.

Sie wartete.

*

In diesen Sommerferien durfte Heino nach Hause kommen. Die Nachricht hatte ihn wie ein Blitz getroffen. Auf Verenas Wunsch war ihm die Geburt des Schwesterchens verschwiegen worden.

In einem wunderlichen Zustande, schwankend zwischen Glückseligkeit und herzbeklemmender Bangigkeit, hatte er die lange Reise zurückgelegt und stand zitternd, mit fiebernden Pulsen vor der heimatlichen Treppe. Das letzte Stück, vom Flußufer an, war er zu Fuß gegangen, der Wagen sollte ihm langsam folgen.

Beim Anblick des Flusses war er in Tränen ausgebrochen. Und er sah die zuckenden, emporgereckten Arme seines kleinen Bruders, wie so oft in marternden Träumen und quälenden Taggesichten, er hörte seine letzten flehenden Worte: »Heino, lieber, lieber Heino«, und die bitterste Verzweiflung schüttelte ihn aufs neue. Was hatte er, er, daheim noch zu suchen? Wie durfte er ein Zuhause haben? Hatte er nicht Erik für immer seines Heims beraubt?

In sich hineinschluchzend, stand er ans Treppengeländer gelehnt.

Janina war die erste, der er begegnete. Sie schrie laut auf vor freudiger Überraschung, schloß ihn in ihre Arme und flüsterte: »Papa ist nicht zu Hause, und die Mama ist oben in ihrem Zimmer. Es ist vielleicht besser, wenn ich dich anmelde.«

Damit eilte sie davon. Nach wenigen Augenblicken war sie wieder bei ihm und faßte ihn bei der Hand. »Komm!« murmelte sie, mit Tränen kämpfend.

»Laß ... laß mich allein hineingehen ...« stotterte Heino.

Er stand vor der Tür. Wie unzählige Male schon hatte er sich diesen Moment des Wiedersehens ausgemalt! Aber was er jetzt empfand, das hatte nichts mit Freude zu tun und nichts mit erfüllter Sehnsucht. Wie ein zermalmendes Felsengewicht drückte ihn das Bewußtsein seiner ungeheuren Schuld nieder, und er wußte: was er dieser Frau an Leid zugefügt hatte – das konnte er nimmer, nimmer wieder gutmachen.

An Mut hatte es ihm nie gefehlt. Unter seinen deutschen Kameraden war er seiner Tapferkeit wegen angesehen und rühmlichst bekannt. Jetzt knickten ihm die Knie ein.

Verzweifelt stieß er die Tür auf, leichenfahl stand er auf der Schwelle.

Verena, in einem weißen, schleppenden Morgenkleide, war ihm ein paar Schritte entgegengegangen.

»Heino ...?« sagte sie leise. Es klang wie ein fernes Echo.

Und er stürzte auf sie zu, warf sich vor ihr nieder und vergrub sein zuckendes Gesicht in den Falten ihres Gewandes.

»Mama ... kannst, ach kannst du mir vergeben?«

Sie hob ihn auf und zog ihn in ihre Arme. Ihre Tränen rannen ineinander. Sie faßte sich zuerst.

»Ich habe dir vergeben«, sagte sie sanft.

Wieder sank er vor ihr nieder. War es denn möglich? Gott, war es möglich? Gab es solche Wunder?

»Komm,« gebot sie leise, »komm, ich will dir etwas zeigen.«

Taumelnd erhob er sich. Sie führte ihn in das anstoßende Zimmer, wo der Korbwagen stand, und lüftete den Schleier, der ihn verhing.

»Das ist dein Schwesterchen, Heino – Erika Ingeborg – an ihr sollst du gutmachen.«

In einer tiefen, traumhaft-glückseligen Spannung starrte er das schlummernde kleine Wesen an. Hatte er denn recht gehört? Gutmachen ... hatte sie gesagt – – konnte er das – jemals? Gab es das noch für ihn?

Die ungeheure Macht eines ekstatischen Rausches kam über ihn. Seine jahrelang zurückgedrängten Empfindungen lösten sich in der verschwiegenen Inbrunst dieser Stunde.

Blaß und benommen stand er vor diesem neuen Wunder. »Ich will ...« stammelte er gänzlich fassungslos – »ich will ...«

Von diesem Augenblick an begann er das kleine Schwesterchen anzubeten. Alles Hohe und Große sah er in Verena vereinigt, nach wie vor, aber er fühlte sie sich magisch ferner gerückt durch ihr Leid und durch ihr Vergebenkönnen, wie ein lichtes Madonnenbild. Nur scheu wagte er es, mit ihr zu verkehren. An dem kleinen Kinde aber, dem Blut von ihrem Blute, das sie in ihrer unbegreiflichen Großmut seinem besonderen Schutze anbefohlen hatte, erwachte alles Zarte, Heilige in ihm, verstärkte sich alles um Erik erlittene Leid in seiner unbändigen Natur und verklärte sich zu einem Innenleben besonderer Art.

Er hatte ja gutzumachen ...

Als Heinz seinen großen Sohn wiedersah, standen sie beide betäubt voreinander still, ehe sie sich in die Arme sanken.

Heino war sich früher nie bewußt geworden, welch schönen Vater er besaß. Der stolze, vornehm getragene Kopf mit den schmalen, leicht ergrauten Schläfen, der einem römischen Aristokraten hätte gehören können, die tiefe Güte und Klarheit seines Ausdrucks berauschten und erschütterten ihn. Und ebenso betroffen war Heinz über die jugendlich edle Schönheit seines Sohnes.

Traumhaft ward ihnen der Augenblick, wie von einem goldenen Glanz überstrahlt. Ihre Beklemmung wich einer gerührten Freude, einem stillen, unausgesprochenen Stolz aufeinander.

Heino empfand es zum ersten Male: in seinem Vater hatte er seinen besten und treuesten Freund.

Aber er konnte sich in seinem schönen Elternhause nicht mehr einleben. In jedem Winkel hatte er mit Erik gespielt, aus jeder Ecke trat ihm eine schmerzliche Erinnerung entgegen, überall, wo er war, fühlte er Eriks unschuldigen, seelenvollen Blick auf sich gerichtet. Er war nie mehr allein.

Mit fast krampfhaftem Eifer bemühte er sich um das kleine Schwesterchen. Man sah die beiden ungleichen Geschwister häufig im Freien beisammen. Heino behandelte das kleine Ding mit einer Art von spröder Verliebtheit, die kleine Ingeborg war seines innersten Wesens sichtbares Heiligtum geworden.

In Verenas Augen suchte er ängstlich zu lesen – hatte sie ihm denn auch wirklich vergeben? Ihre ungezwungene, fürstliche Haltung, der reine, weibliche, menschliche Reiz ihres Wesens, ihre ruhige Güte gegen ihn erschütterten und beengten ihn. Still war er geworden und gedrückt. Er konnte das Glück, daß ihm vergeben worden war, ein Glück, wonach er sich seit Jahren heiß gesehnt hatte, nun nicht mehr ertragen.

Dem Verkehr mit dem Doktorshause, mit Eliane, Schanno und Bibse, ja auch mit Iwan wich er aus. Wenn er nicht weite Ritte in die blühende Steppeneinsamkeit machte, so saß er noch am liebsten bei seinem alten Freunde Moses Silberstein. Ihm schüttete er sein Herz aus.

Der alte Mann war sehr stolz auf seinen Freund Heinchen. Schon die Veränderung in seiner äußeren Erscheinung hatte ihn überrascht und beglückt. Der kraftvolle, halberwachsene Knabe glich fast der Statue eines griechischen Dionysos. Seine Züge waren energisch und markiert, doch von einer weichen, sinnlichen Schönheit gemildert. Über den feurigen braunen Augen wölbte sich eine edle Stirn, die an die seines Vaters erinnerte und einen neuen Zug von Leid und Reife trug. Sein schöngeschwungener Mund war von einer dämonisch fesselnden Beseelung.

»Moses, ich halt's nicht mehr aus!« sagte er einmal mit zuckenden Lippen, als er in der kümmerlichen Stube des alten Juden saß. »Sie sind alle – zu gut zu mir. Ich tu' noch was Verrücktes und lauf' davon!«

»Weshalb denn davonlaufen, Heinchen?« fragte der Alte erschreckt. »Wirst du doch nicht sein undankbar gegen die große Liebe.«

Heino stemmte die geballten Fäuste auf seine Knie. »Siehst du, Moses, sie sind gut, weil sie gut sein wollen, nicht aus Liebe zu mir. Aber ich seh' doch die Sehnsucht in Mamas Augen – sie hat nicht vergessen, sie kann nicht vergessen ...«

Der alte Jude schüttelte schwermütig den Kopf. »Wie kann denn vergessen eine Mutter ihr Kind? Aber sie hat vergessen deine Schuld, und sie kann gar nicht sein anders als gut, weil sie ist gut.«

Heino starrte verloren vor sich hin. »Und dann ist da noch etwas anderes, Moses, ich weiß nicht, wie ich das sagen soll – Erik selbst. Ich glaube, wenn ich ihn jetzt hätte, ich würd' ihn sehr liebhaben ... furchtbar lieb«, bekräftigte er leise. »Ich hab' ihn nur damals nicht verstanden, ach und wie oft hab' ich ihn gequält!«

Er drückte die Fäuste vor die Augen und schluchzte heiß auf.

Moses Silberstein wußte sich nicht anders zu helfen, er begann seinen jungen Freund zu streicheln, als sei dieser ein kleines Kind.

Heino sprang auf und schüttelte sich energisch. »Ich werde Papa bitten, daß er mich wieder fortschickt, ich halte es nicht mehr aus!«

Bekümmert sah ihn Moses Silberstein an. »Ja, wird vielleicht sein das beste«, sagte er leise.

Und Heino sprach mit seinem Vater, ehrlich, aufrichtig und ohne Rückhalt.

Heinz begriff sofort. Er empfand eine Achtung vor seinem Sohne, die er ihm nicht verhehlte.

»Dich in den Ferien wieder nach Deutschland zu schicken, hat keinen Sinn«, sagte er sachlich. »Du würdest unter Mangel an Beschäftigung leiden. Ich brauche aber eine Vertrauensperson, die in Baluschta nach dem Rechten sieht. Du bist jetzt wohl verständig genug dazu. Willst du hinfahren?«

»So gern, Papa!«

»Du mußt dich dort systematisch mit allen Dingen befassen – im Hause findest du dich bald zurecht. Zuerst also nachschauen, ob irgend etwas reparaturbedürftig ist – Heizung, Wasserleitung, Verschlüsse, Keller und Dachböden kontrollieren, dann die Weingärten und Felder übersehen. Im Hof und Stall weißt du ja Bescheid, ebenso bei den Ackergeräten. Dann teilst du mir schriftlich mit, was du auszusetzen gefunden. Dem dortigen Verwalter Maximowitsch mußt du gehalten und nicht vertrauensselig, aber auch nicht unnütz scharf und herrisch gegenübertreten. Laß dir die Rechnungen vorlegen, prüfe die Bilanzen und teile mir alles genau mit. Ich werde dich als meinen Stellvertreter hinschicken.«

Heino erglühte vor Stolz. Dann schluckte er einigemal, schlug die Augen nieder und sagte zögernd: »Papa ... ehe ich gehe, muß ich noch wissen: warum seid ihr so gut zu mir?«

Der Vater legte ihm die Hand auf die Schulter. »Kannst du dir diese Frage nicht selber beantworten, mein Sohn?«

Heino schwieg.

Mit vibrierendem Ton sprach der Vater: »Nichts Menschliches ist uns fremd. Ich selbst, Heino – ich habe einmal im Rausch der Leidenschaft einen Menschen erschlagen – – um deiner verstorbenen Mutter willen. Weiß ich denn nicht, wie du leidest?«

Mit weit offenen Schmerzensaugen starrte Heino seinen Vater an. »Du ... Papa?« flüsterte er. »Aber es war doch nicht ein Bruder, ... nicht ein Kind, nicht Erik!«

Schaudernd verbarg er das Gesicht in den Händen.

Der Vater umschlang seine zuckenden Schultern. »Heino,« sagte er eindringlich, »Erik ist nicht tot, Erik lebt in uns, ich sehe mit Stolz und Freude, daß er beginnt, auch in dir zu leben! Solange du deinen kleinen Bruder als Hüter deiner Seele in dir trägst, ist mir um dich nicht bange.«

Wortlos hielten sie sich fest umschlungen.

*

Die Monate, die Jahre vergingen. Klein Ingeborg trippelte schon längst auf den eigenen zierlichen Füßchen durch die weiten Räume des großen Hauses.

Sie war ein eigentümliches Kind. Nicht die Augen, wohl aber der feine, überaus zart geformte Mund erinnerte flüchtig an Erik, besonders wenn er lächelte, sonst hatte er einen herben Zug. Die großen dunkelgrauen Augen hatte sie von Verena. Ihr ganzes Wesen aber war sowohl Verena wie Heinz seltsam fremd.

Es war etwas so Eigenes in der Kleinen. Vielleicht war sie unter zu schmerzlichen Erinnerungen empfangen und getragen worden, wer konnte das sagen? Versuchte es Heinz, ihr Wesen in einem Ausdruck zusammenzufassen, so fand er dafür nur die Worte: »eigenwillig – distinguiert«.

Wie eine kleine Prinzessin verstand sie es, von vornherein zu fordern, in einer herrschsüchtig-indolenten Art, und wußte alles aus dem Wege zu räumen, was ihr unbequem oder unsympathisch war.

Einmal hatte sie Verena einen schweren Schreck eingejagt. Im Kaminzimmer befand sich unter den Familienbildern auch ein ziemlich mittelmäßiges, auf Holz gemaltes Porträt von Verenas verstorbenem Vater. Gegen dieses Bildnis hatte die Kleine von jeher eine besondere Aversion, wohl weil die Augen des Großpapas starr und stechend geradeaus blickten und sie bei ihrem Tun und Spielen unablässig zu verfolgen schienen. Kurz, eines Tages hatte sich das winzige Persönchen in der Küche einen Hammer und Nägel zu verschaffen gewußt und stieg auf das Sofa, in der Absicht, sich an dem bösen Bilde für die unliebsame stete Kontrolle zu rächen. Da sie aber nicht hinanreichte, schleppte sie umständlich einen Stuhl herbei, brachte ihn mit vieler Mühe auf das Sofa, kletterte auf den Stuhl und begann nun in aller Behaglichkeit, dem Großpapa die Nägel in die Augen zu schlagen.

Die Arbeit war schwerer, als sie sich gedacht hatte. Das harte Holz wehrte sich gegen den barbarischen Eingriff, die Nägel blieben auf halbem Wege stecken und drangen nicht tiefer. Immerhin hatte sie ihren Zweck erreicht: die breiten Nagelköpfe verdeckten die funkelnden Pupillen. Sie schüttelte, ergeben in das Unmögliche, den rotblonden Kopf, stieg gelassen von ihrer Höhe, schleppte den Stuhl vorsorglich an seinen Platz, worauf sie sich auf die Veranda begab und, als wäre nichts geschehen, seelenruhig mit einem Glasperlenhalsband zu spielen begann.

Später, als ihr verderbliches Tun entdeckt worden war und sie dafür gescholten wurde, äußerte sie auch keineswegs Reue, zwar ohne Trotz, aber auch ohne jegliche Bedrücktheit kühl und heiter:

»Walum hat de Gloßpapa denn Ingeboch immelzu andeschaut? Nu geht das nich mehr!«

Sie liebte es, mit glitzernden und zierlichen Dingen zu spielen und lag oft in der Sonne zusammengerollt wie ein Kätzchen. Bunte Steine, Muscheln, Schnecken und glänzende Samenkörner, ja auch farbige Seidenläppchen trug sie herbei und ergötzte sich an ihnen, indem sie sie tastend durch ihre Fingerchen gleiten ließ. Es war, als sei der Tastsinn bei ihr besonders ausgeprägt. Dann ließ sie all diese Schätze auch wieder achtlos liegen und war durchaus nicht bekümmert, wenn sie jemand wegkehrte oder zertrat.

Sie war überaus sensitiv, aber nur in bezug auf ihre eigene kleine Person. Sie duldete keinen Flecken an ihren Kleidern, sie verabscheute unharmonische Töne, häßliche Leute und unsympathische Gerüche. Mit einer Rose, mit Nelken, Flieder oder den wohlriechenden Erbsenblüten konnte sie sich stundenlang beschäftigen, ohne die Blumenkinder zu schonen. Wenn die mißhandelten Blumen keinen Duft mehr von sich gaben, zerpflückte sie sie und stopfte sie sich in ihren Halsausschnitt. Wurde sie abends entkleidet, so fielen immer eine Menge welker Blumenblätter aus ihrem Hemdchen. Ja, im Winter vergriff sie sich an den Zimmergewächsen, den Kaktus- und Orangenblüten, die Verena sorgfältig pflegte.

»Blumen sind ßön weich,« erklärte sie mit ihrem schleppenden Stimmchen, »und dann sind sie auch kühl.«

»Aber Blumen sind lebendig, die soll man nicht zerreißen und unnütz quälen«, sagte Verena.

Da sah die selbstbewußte kleine Dame ihre Mama unschuldig-verwundert an und meinte:

»Bei Ingeboch is doch auch ßön un weich für Blumen.«

Hatte das Kind denn kein Gemüt? Und wenn es so war, durfte man ihm daraus einen Vorwurf machen?

Verena begann der Kleinen zeitig Geschichten zu erzählen, die formend auf ihr Gemütsleben einwirken sollten. Sie hatte keinen besonderen Erfolg damit. Mit einer naiven Unabsichtlichkeit verstand es klein Ingeborg, die erzieherische Pointe zu übersehen und den Schwerpunkt der Erzählung auf etwas ganz Unpersönliches, Nebensächliches zu verlegen.

Früh entwickelte sie eine erstaunliche Selbständigkeit. Mehreremal hatte man sie allein auf der Landstraße gefunden, wohin sie sich trotz sorgfältiger Aufsicht durch die zufällig offen gebliebene Gartenpforte schlüpfend begeben hatte, um ihre eigenen Entdeckungen zu machen. Sie fürchtete sich vor nichts, weder vor großen Tieren noch vor Menschen, sie war auch eigentlich nie betrübt und nie fröhlich ausgelassen, immer aber von einer kühlen, selbstsicheren Heiterkeit.

Um Verbote kümmerte sie sich nicht sonderlich. Sie war zufrieden, wenn man sie ihr behaglich animalisches Dasein führen ließ. Nur Männern gegenüber war sie durchaus parteiisch. So hing sie mit Vorliebe an dem Papa, ohne ihm jedoch besondere Zärtlichkeiten zu erweisen.

Mit einem Male aber änderte sich das, als sie mit Bewußtsein ihren Bruder Heino wiedersah. Heino hatte auf einem Schulschiff bereits eine Weltumsegelung hinter sich und war nach mehreren Jahren auf Urlaub wieder heimgekommen.

Jetzt hängte sie sich plötzlich mit einer leidenschaftlichen Gewalt an den stattlichen Bruder. Sie erklärte ihn für schön, machte ihn im Handumdrehen zu ihrem Pagen, und sie nannte ihn »Hanno«, in besonders zärtlichen Momenten aber »Hannolämmchen«.

Und »Hannolämmchen« war denn auch von der kleinen Prinzessin entzückt.

Er hätschelte sie und spielte mit ihr, er erzählte ihr von den fremden Ländern, die er gesehen, er war ihr Pferd, ihr Ritter, ihr Beschützer, ihr Sklave.

Als Heino wieder abreisen mußte, war die kleine Person zuerst empört, dann untröstlich, endlich kroch sie zu dem Hofhunde in die Hundehütte und weinte heiße, bittere Tränen.

Kein Bitten und kein Locken half. Sie blieb mehrere Stunden lang in ihrem selbstgewählten Versteck. Schließlich ließ man sie in Ruhe. Da kam sie gemächlich wieder zum Vorschein und verlangte, umgezogen zu werden.

»Kalo sstinkt!« sagte sie lakonisch und rümpfte das feine Näschen.

Heinz und Verena waren miteinander übereingekommen, die Kleine, soweit es anging, frei gewähren zu lassen und sie so wenig als möglich in ihrem Triebleben zu hemmen.

»Unser wunderliches Pflänzchen wird sich schon rechtzeitig strecken und harmonisch entfalten,« sagte Heinz tröstend zu Verena, die sich über die absolute Wesensunähnlichkeit mit Erik betrübte. »Auch in klein Ingeborg hat die Natur ein köstliches Kunstwerk geliefert, man muß es nur hüten und schonen.«

Sein liebevolles Vertrauen sollte ihn nicht getäuscht haben.

Mit den Jahren wurde das bizarre Persönchen in der Tat immer liebenswürdiger. Ihre reizbare Empfänglichkeit für alles Schöne nahm zu; sie begann ein erstaunliches Sprachgefühl und Gedächtnis an den Tag zu legen und entzückte die Eltern und Janina durch einen spielenden Witz, der zu anmutig war, um je verletzend zu wirken. Ob sie jemand wirklich lieb hatte außer Heino, war nicht recht herauszubringen, jedenfalls aber liebte sie sich selbst, und zwar nicht nur in den Art, daß sie sich verzog und ihren Gelüsten nachgab, sondern so, daß sie nichts Häßliches, Unwahres, Unreines an sich duldete. Nichts war ihr ferner als Gefühlsüberschwang, nie aber auch kam ihr eine Lüge über ihre roten, fein geschwungenen Lippen.

Für alle Dinge hatte sie offene Augen. Von Tieren und Pflanzen wußte sie kluge Geschichten zu erzählen, einsichtig und verständig, ohne Schwung der Phantasie, aber aus der scharfen Beobachtung heraus mit entzückenden Wendungen und Aperçus, und persönlich, einzig persönlich.

Und so war sie mit sieben Jahren schon ein seltsam geschlossenes, zartes Gebilde, von bestrickendem, kühlem Liebreiz. »Kleine Undine« nannte sie manchmal der Papa.

*

Inzwischen hatte sich mancherlei in der Umgebung verändert. Eliane hatte den Doktortitel in Petersburg erworben, Bibse war Forstgehilfe droben in Livland, Schanno stand vor dem theologischen Kandidatenexamen.

Das Altenheim gedieh. Immer war es vollbesetzt. Kaum war eines von den lebensmüden Insassen zu langer Ruhe auf den Friedhof hinausgetragen worden, so standen schon neue Kandidaten, um Aufnahme flehend, vor der Tür. Im ganzen vertrugen sich die Leutchen leidlich untereinander, namentlich seit Heinz zum Weihnachtsfest eine besondere Aufmunterung für die Verträglichsten in Aussicht gestellt hatte, in Form eines für ihre Verhältnisse ansehnlichen Geldgeschenkes, worum sie sich nun ihrerseits rissen. Es waren eben altgewordene Kinder.

Die geisteskranke Axinja lebte noch immer. Der lässigen Sorgfalt der Krankenwärter zufolge war es ihr gelungen, ein paarmal auszubrechen. Da war sie denn stracks in das Altenheim gerannt und hatte alle Insassen in Furcht und Schrecken versetzt. Ein paar bettlägerigen Greisen hatte sie die Decken vom Leibe gerissen und unter gräßlichen Flüchen und Verwünschungen behauptet, ihr gehörten die Decken, die Bettstellen, die Lehnstühle und das ganze Haus, und nur der verfluchte Jude, dem sie es schon einmal eintränken werde, sei schuld, daß sie nicht mit ihrem Liebsten, dem Zaren und gnädigen Herrn Jenrik Feodorowitsch hier unter einem Dache hause.

Mit Mühe war es gelungen, die Tobende zu beschwichtigen und wieder in ihre Kammer zu sperren.

Auch die Schule blühte unter Iwans sicherer Leitung. Das Bemerkenswerte und Besondere an dieser Schule war, daß sie nicht nur Kenntnisse überlieferte, sondern, und zwar hauptsächlich, es sich angelegen sein ließ, Charaktere heranzubilden, durch liebevolles Eingehen auf den einzelnen Schüler, durch grenzenlose Geduld, durch Entwicklung des Denkvermögens, durch Stählung des Willens. Und wenn auch oft alles Mühen vergeblich schien, im ganzen und großen trug es doch seine Früchte, oft im Verborgenen. Iwan hatte aber doch einzelne Fälle zu verzeichnen, die ihn mit Genugtuung und stolzer Freude erfüllten. Die zuverlässigsten Arbeiter, die tüchtigsten Handwerkslehrlinge, die gesuchtesten Dienstmädel und – Bräute gingen aus seiner Schule hervor.

Janina war ihm in dem gleichen Geist und Sinn behilflich. Ihrer Obhut waren in einer besonderen Abteilung die Kleinen und die Kleinsten anvertraut. So arbeitete sie Iwan in die Hände, und Iwans beste Zöglinge wurden wiederum von Heinz den tüchtigsten Unterverwaltern der verschiedenen Ressorts zugeteilt und von diesen zu Gehilfen herangezogen.

Dieses System hatte sich in all den Jahren so gut bewährt, daß man vom Verwaltungsrat aus darauf aufmerksam geworden war. Man begann Heinz mit ehrenden Anerkennungen und Auszeichnungen zu überhäufen, man protegierte ihn so deutlich, und der Erfolg war so sehr auf seiner Seite, daß es auch keinem der Hetzer und Wühler gelingen wollte, gegen ihn aufzukommen. Dieser Deutsche war eben unüberwindlich. Dazu kam, daß auch die Unterbeamten von Heinzens Lorbeeren ein paar Reislein ernteten, und ihr redliches Verhalten auf seine Veranlassung hin durch Extrabelohnungen anerkannt und ausgezeichnet wurde. Ein neuer Ehrgeiz war so in ihnen entfacht; zufällig erfuhren sie von Heinzens Fürsprache, und nun geschah das seltsame Schauspiel, daß die eingeborenen Russen den eingewanderten Fremden einwandfrei und gern als ihren Führer und Meister anerkannten. Heinz geriet sogar in den Geruch eines glühenden Patrioten, während er doch nur einfach bestrebt war, seine menschliche Pflicht zu tun und sein Können in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen. Wohl selten war ein Fremder in dem Maße bei hoch und niedrig beliebt wie Heinz, und das hatte er nicht mehr seinem liebenswürdigen Auftreten, sondern jahrelanger, angestrengter Arbeit zu verdanken.

Auch auf Iwan hatte sich allmählich die allgemein günstige Gesinnung übertragen. Er hatte sich einen literarischen Namen gemacht. In den Schriftstellerkreisen war es bekannt geworden, daß dieser begabte Vertreter der Humanität als Volksschullehrer tätig sei. Man suchte ihm bessere Stellungen zu verschaffen; es erfolgten mehrere Angebote. Eines Tages meldeten sich mehrere ältere Herren, die die Schule zu besichtigen und dem Unterricht beizuwohnen wünschten. Sie stellten sich als leitende Persönlichkeiten der Schulkommission vor und waren von der Handhabung des Unterrichts und der ganzen Einrichtung so befriedigt, daß sie Iwan ohne weiteres die Leitung eines Volksschullehrerseminars antrugen. Er hatte zuvor eine gründliche Unterredung mit Heinz. Dann sagte er zu.

Am nächsten Tage hielt er um Eliane an, und sie willigte freudig ein. Der alte, sich ewig erneuernde Kreislauf vom Finden und Einswerden, mit der großen Frage an das Schicksal begann auch hier. Aber sein Lieblingskind, die Schule, lag ihm doch schwer auf dem Herzen. Er wollte sich zunächst einen Nachfolger heranziehen. Die Sache wurde denn auch nach einigen Schwierigkeiten in Gang gebracht, und nun erst konnte Iwan sich seines Glückes freuen.

Unter den leitenden Persönlichkeiten der Schulkommission hatte sich auch ein alter Verehrer von Verenas Kunst befunden, ein Petersburger Lebemann von gewinnendem Wesen. Ihm fiel es nicht allzu schwer, Verena zu einer Konzerttournee nach Petersburg, Moskau und anderen großen russischen Städten zu überreden. Sie sagte nach einigem Zögern zu, freilich mit Vorbehalt.

»Nie wieder lasse ich dich so lange allein wie damals,« erklärte sie Heinz, »aber wenn du mir auf einige Wochen Urlaub geben willst – Ingeborg bleibt mit Janina hier.«

Heinz sah ihr tief in die Augen. »Wie kannst du fragen? Bist du nicht frei und Königin deines Willens? Ich bin glücklich, daß du dich dazu entschlossen hast.«

Sie warf sich ihm mit einer ungekannten Heftigkeit in die Arme. »O du! du!« sagte sie nur. »Du bist König, verkappter König und verwunschener Prinz!«

Jäh fuhr ihm wieder durch den Sinn, was er schon lange intuitiv erkannt hatte. Die tiefe Lücke, die Erik ihr hinterlassen, war durch Ingeborg nicht ausgefüllt. Wie hätte sie es sonst vermocht, das Kind daheim zu lassen?

Sie empfand sein Gefühl, schmiegte sich inbrünstig fest an ihn und flüsterte: »Du hast recht. Liebster, ganz recht ... über Erik geht mir nur eines – – du!« – –

Mit Eifer betrieb sie ihre Vorbereitungen, stellte ihre Programme zusammen und rüstete sich allmählich zur Reise.

Wieder war es Herbst, ein paar Tage vor ihrer festgesetzten Abreise. Da lief plötzlich eine Depesche ein und meldete Janina den Tod ihrer Mutter. Sie solle unverzüglich nach Petersburg kommen, es handle sich um eine Erbschaft.

Diese Nachricht stieß die bisherigen Pläne um. Verena überredete Janina, sofort zu reisen, sie selbst wollte mit Ingeborg nachkommen. Ohne Janinas Aufsicht mochte sie das Kind nicht daheim lassen.

Der Abschied war Janina seltsam schwer geworden. »Ich bin ja einfältig,« sagte sie, »spätestens in einigen Tagen sehen wir uns wieder, und doch, mir ist so wunderlich bange.«

Kaum hatte sie der rollende Wagen fortgetragen, so begab sich Verena in Ingeborgs Zimmer, um die Kleider und Wäsche für das Kind zum Einpacken zurechtzulegen.

Neugierig sah ihr die Kleine dabei zu. »Was machst du denn, Mama? Soll ich die Sachen nicht mehr anziehen? Willst du sie fortgeben?« fragte sie betreten.

Verena setzte sich, zog sie auf den Schoß und strich ihr die honigfarbenen, weichen Haare aus der weißen, klugen Kinderstirn.

»Wir werden zusammen reisen, Ingeborg.«

»Zu wem denn? Zu Hanno?« Die grauen Augen strahlten einen Augenblick auf.

»Nein, nach Petersburg. Du weißt doch, da werde ich im Konzert spielen, und jetzt, wo Janina fort ist, mag ich dich nicht allein hierlassen. Papa hat ja so wenig Zeit.«

Die Nachricht schien Eindruck zu machen. Lebhafter als sonst fragte die Kleine: »Was machen wir denn in Petersburg?«

»Nun, da gibt's schon viel zu tun und zu sehen. Petersburg ist ja eine mächtige Stadt. Magst du nicht gern mitkommen?«

In einer Aufwallung kühler Zärtlichkeit schlang das Kind die Arme um den Nacken der Mutter.

»O ja!« Nachdenklich fragte es nach einer Weile: »War Erik, der gestorben ist, auch schon mal in Petersburg?«

Verena schüttelte still den Kopf. In ihre Augen trat der Ausdruck von Sehnsucht, den Ingeborg gut kannte, ohne ihn ganz zu verstehen.

»Deine Augen sind so groß und traurig,« sagte sie, »wie Brunnen, immer wenn du an Erik denkst. War er denn so sehr lieb?«

»Sehr lieb!« wiederholte Verena tonlos.

»Noch lieber als Hanno – – und ich?«

Verena lächelte schmerzlich und nickte: »Noch lieber.«

»Ach ...« sagte die Kleine überlegen, »das denkst du nur, weil er nicht mehr da ist. Lieber als Hanno kann doch keiner sein!« Nach einer Weile fuhr sie zögernd fort: »Wenn einer nicht mehr da ist, dann ist er wohl immer lieber als dann, wenn man ihn hat!«

Verena sah sie frappiert an. »Wie kommst du denn darauf?«

Spielerisch sagte sie: »Ich denk' nur so. Ich hab' Hanno auch immer lieber, wenn er fort ist, dann kann ich nicht alles mit ihm machen, was ich will.« Sie lachte ein wenig verschmitzt. »Wenn er da ist, siehst du, tut er ja alles, was ich mag.«

»Das ist gar nicht recht von ihm. Er verwöhnt dich viel zu sehr.«

»Aber Mama!« Es klang beinahe vorwurfsvoll. »Er soll mich doch verwöhnen!«

»Ei sieh, warum denn eigentlich?«

Wieder flog der sonderbar überlegene Ausdruck über das kleine, kühle Gesicht.

»Weil ich doch sein kleines Schwesterchen bin, weil ich ihn lieb hab' und weil ... und weil –«

»Nun?«

»Weil er doch immer sagt, ich bin sein Prinzeßchen auf der Erbse.«

»Denkst du denn, daß das etwas besonders Liebes ist?«

Das Kind schüttelte selbstbewußt seine rötlichen Haare. »Ein Prinzeßchen ist doch nicht wie alle Leute.«

»Ein Prinzeßchen auf der Erbse aber, das so viele Betten braucht und doch die dumme kleine Erbse durchfühlte, ist doch ein recht unbescheidenes Ding. Meinst du nicht? Ein bescheidenes kleines Mädchen hätte die Erbse gar nicht gespürt oder nicht daran gedacht.«

Ingeborg schlug die Augen nieder. »Aber sie war doch eine wirkliche Prinzessin.«

»Weißt du was?« sagte Verena schalkhaft, »ich glaube, sie war eine ganz nichtsnutzige, hochmütige Prinzessin, die nur stolz darauf war, eine Prinzessin zu sein, und weiter nichts konnte. Sieh mal, dein Bruder Erik, das war ein kleiner Prinz, durch und durch, weil er nie an sich dachte, und immer nur daran, wie er den anderen eine Freude machen sollte.«

Ingeborg empfand den leisen Vorwurf in diesen Worten ganz genau. Sie überging ihn aber mit ihrer üblichen Gelassenheit durch die verblüffende Wendung: »Dann ist unsere dicke Akulina also auch eine Prinzessin, weil sie immer denkt, wie sie dir eine Freude machen soll.«

Akulina war die Köchin, eine Person von unheimlicher Fülle des Leibes und entsprechender Gutmütigkeit.

Verena ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. »Vielleicht!« meinte sie ernsthaft. »Im Herzen ist sie wahrscheinlich eine. Die Prinzessin auf der Erbse war aber nur mit dem Körper und mit ihrem Hochmut eine Prinzessin, und das ist sehr wenig.«

Das Gespräch drohte unbequem zu werden. Ingeborg sah die Mama ernsthaft an und strich ihr mit dem zierlichen Händchen über die Stirn. »Du bist doch eine wunderschöne Mama!« konstatierte sie. »Die anderen Mamas gefallen mir gar nicht.«

Verena mußte lächeln. Alle ihre Versuche, moralisch zu wirken, scheiterten an der feinen Glätte dieses Kindes. Eine große Sehnsucht kam über sie, einmal, ach einmal ein Wort von Ingeborg zu hören, das Erik hätte sprechen können. Liebevoll beugte sie sich zu der Kleinen nieder: »Hast du mich denn auch recht lieb?«

»O ja – sehr!« meinte Ingeborg unbefangen und drückte ein spitzes Küßchen auf Verenas Nase. »Deine Nase ist ganz kühl,« bemerkte sie beiläufig, »ganz wie Karos Nase.«

Wehmütig sah Verena das Kind an. »Komm steh' auf, ich muß noch zusammenpacken.«

Die Kleine war ihr denn auch geschäftig dabei behilflich; Verena brachte sie nachher zu Bett.

Da kniete die kleine Gestalt in dem langen, weißen Nachtgewande wie ein lieblicher Engel, faltete die Hände und sprach mechanisch ihr Nachtgebet:

»Lieber Gott, ich bitte dich,
Ein gutes Kind laß werden mich!
Vater, laß die Augen dein
Über meinem Bettchen sein, Amen.

Gute Nacht, Mama, schlaf' gut.« Husch, die Bettdecke wurde über das schöne Köpfchen gezogen.

Verena traten die Tränen in die Augen. ›Einmal, einmal nur!‹ flehte sie in ihrem Herzen. In Gedanken versunken blieb sie an dem schmalen Kinderbettchen stehen und wartete und wartete auf ein Wort – von Erik.

»Bist du noch da, Mama?« fragte die kleine, kühle Stimme.

»Ja, ich bin noch da.«

»Und grüß' auch den Papa schön, wenn er nach Haus kommt.«

»Ich werd's bestellen«, erwiderte Verena wie im Traum. Sie konnte sich nicht losreißen. Würde Ingeborg noch etwas sagen? Nein?

»Mama ...« hob die Kleine wieder an.

Voll durstender Sehnsucht beugte sich Verena zu ihr nieder. »Was denn, mein Kind?«

»Warum hat Karo eine feuchte Nase?«

Enttäuscht fuhr sie zurück. »Wenn Hunde gesund sind, haben sie kalte Schnauzen«, sagte sie mühsam.

»Ich hab' aber eine warme Nase.«

»Bist du denn ein Hund?«

Die Decke flog zurück. »Mama, geh noch nicht fort.«

Verena stand zögernd still. Ihr war so weh und müde ums Herz. »Vor dem Einschlafen muß man nicht so viel sprechen. Mach' die Äugelchen zu. Nun – was hast du noch auf dem Herzen?«

Und ganz leise, verschämt und zögernd kam es heraus:

»Mama, ich will gar keine Prinzessin auf der Erbse sein, sondern eine wirkliche Prinzessin – weißt du, so wie Erik ...«

Erik! Das Zauberwort war gesprochen. Verena kehrte zurück, schloß ihr Kind in die Arme und küßte es, küßte es ...

»Erik soll uns beiden dazu helfen!« flüsterte sie.

*

Draußen senkte sich die Dämmerung grau und heimlich über das ebene Gelände. Unter den wandernden Wolken träumten die Schatten leise hin und her. Verena wandelte langsam dem Flußufer zu, die Seele voll feiner Töne und spielender Hoffnungen. Zärtlich dachte sie an ihr kleines Mädchen. Der Unterton von Wehmut, der Glück um so inniger macht, zitterte noch in ihr nach. Ihr Zwang zur Größe, ihre immer wache Sehnsucht, ihr ohnmächtiges und abmattendes Aufbäumen gegen das Fremde in der Natur ihres Kindes löste sich in der versöhnten Stimmung einer leidgereiften, verstehenden Liebe. Warum wollte sie rechten und sich grämen? Jede Blume blühte in ihrer Art und zu ihrer Zeit. Am Herzen alles Lebens, von der Alliebe getragen, ruhte auch dieses Kind sicher und geborgen, und der Silberfaden, der es an das Unvergängliche band, würde einmal, zu seiner Zeit, offenbar werden. Noch klangen Ingeborgs Worte in ihr nach: ›eine wirkliche Prinzessin – – so wie Erik – ‹. Mehr als die Worte hatte sie der Ton ergriffen, dieser leise, schüchterne, verschämte Ton.

Wie ein göttlicher Tropfen jungfräulichen Glücks war ihr dieser Ton zu Herzen gegangen. Offenbar wie ein Lächeln sah sie seelisches Neuland in dieser spröden Innerlichkeit ihres Kindes. Sie preßte die schlanken Hände inbrünstig ineinander und sehnte sich Heinz entgegen und horchte, ob sie nicht das dumpfe Rollen des Wagens vernähme, der ihn ihr zuführen sollte.

Aber die Stille schwieg über der Ebene nach wie vor. Wolkentrümmer irrten über den Himmel, flaumig, sonderbar von Gestalt und Farbe. Über Moses Silbersteins Hütte stand eine schwarze Wolkenwand. Dunkler ward es und dunkler. Der Fluß lief schwer und träge dahin, und düster hoben sich die Weidenbüsche am Ufer von dem leise aufglitzernden Gewässer.

Stücke von Bildern, grelle Visionen wachten in Verena auf. Hier an dieser Stelle war sie vor Jahren ins Wasser gegangen, hier hatte sie mit ihrem toten Liebling auf den Armen wie im Traum die Böschung erstiegen, hatte ihn niedergelegt auf den kühlen Erdboden, ehe sie ihn an die warme Mutterbrust gebettet ...

Hier war all das Entsetzliche geschehen, wovon ihre Seele krank und müde geworden war – – und sie lebte, sie atmete noch. Und aufs neue versank sie in süße Erinnerungsbilder und Vorstellungen, von denen es duftete und seufzte, die ihr Sehnen taumelnd und ihr Leid einsam und fürchterlich machten.

»Mein Sohn,« stöhnte sie vor sich hin, »mein Sohn« –

Vergangenheit und Gegenwart flossen in ihr zusammen zu einem einzigen gepreßten Seufzer, zu einem Hauch verzehrender Qual.

»O mein Sohn ... mein Sohn ...«

Aber aus der Tiefe ihres Schmerzes stieg irgendwo ein helles, weites Licht, sieghaft und freudig, und sang, sang vielstimmig und süß ein reines Lied der Kraft, der Innigkeit – –

Und sie flüsterte mit zuckenden Lippen: »Heinz!«

Ja Heinz!

Endlich blickte sie auf. Es war schwer dunkel geworden, noch immer vernahm sie nicht das Wagenrollen.

Doch in der Richtung von Moses Silbersteins Hütte sah sie ein kleines bohrendes, flackerndes Licht.

Sie blieb stehen wie gebannt und starrte – – was geschah dort? Was war geschehen?

Sie sah eine flatternde Flamme, die über das feuchte Strohdach hinleckte, sich gierig erhob und plötzlich wieder versank wie ins Nichts.

Da begann sie zu laufen.

Die Augen starr geradeaus gerichtet, das Herz voll einer jähen, ungekannten Angst.

Die Flamme war verschwunden, doch jetzt, jetzt tauchte sie an einer anderen Stelle auf, schwelend, unsicher, tastete sich vorwärts, lief in einem jäh dahinflatternden Flammenbündel an dem Dachvorsprung entlang und züngelte siegessicher und prasselnd auf – eine gewaltige feurige Lohe.

Der Weg war unheimlich und flackernd erhellt. Verena lief, so schnell sie die Füße trugen. – »Moses, Moses Silberstein!« stieß sie in gurgelnden Lauten keuchend hervor, »schlaft Ihr? Wacht auf! Wacht auf!«

Auf einmal stand sie still, als hätte sie einen Stoß vor die Stirn erhalten, und taumelte, kalt überlaufen. In dem unsicheren, flackernden Licht sah sie eine zusammengekrümmte Gestalt. Mit eingeknickten Knien und hochgeschürztem Rock hob das unheimliche Gebilde die hageren Arme in einem krummen Bogen und drehte sich und wiegte sich in groteskem, kreisendem Tanze, als sei es aus dem Grunde der Hölle emporgetaucht – dazu heulte es wollüstig und meckernd, frohlockend wie ein Dämon: »Der Jud, der Jud muß brennen!«

Verenas Augen wurden übergroß und grausend. Hinter dem bohrenden Schmerz in ihrer Stirn herrschte eine wunderlich leere Klarheit. Mit einem gewaltsamen Aufwand von Willenskraft trat sie mit schleppendem Schritt schwer und langsam vor das Scheusal und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Was tust du hier, Axinja? Geh heim!« gebot sie eiskalt vor Energie.

Eine kurze Welle giftigen Gelächters schlug ihr aus dem zahnlosen Munde entgegen. Mit schäumenden Lippen kreischte die Wahnsinnige: »Each – brennen, brennen muß der Jud!«

Verena stürzte an ihr vorüber an die Tür. »Moses – Moses Silberstein, macht auf!« schrie sie gellend, »um Gott, macht auf!«

Sie begann an der Tür zu rütteln, sie schlug sich die Fäuste daran wund, sie stieß und trat – – nichts regte sich, nichts. Stille. Schweigen.

Und über ihrem Haupt loderte das Dach in hellen Flammen, stob ein Funkenregen prasselnd nieder –

»Nichts ... nichts ...« gurgelte die Alte frohlockend, »der Jud schläft, schönes Täubchen – – wenn das Feuer ihn halt in die Fersen kneift, wird er schon wach werden – – hi hi – das gibt 'n Judenbraten!«

Verzweifelt warf sich Verena gegen einen der geschlossenen Fensterladen, rüttelte und stieß – »Mo–ses, Moses Silberstein – Hilfe! Hilfe!«

Irr und gespenstisch klangen ihre Rufe durch die Nacht.

Endlich gab das morsche Holz nach, die Lade flog auf, das Glas splitterte klirrend in die qualmende Stube, das schmale Fensterkreuz bog sich unter den verzweifelten Griffen dieser feinen Frauenhände – tief atmete Verena auf, dann schwang sie sich in das rauchende Dunkel. Wie sie in dem beißenden Qualm an das Lager des betäubten Greises getaumelt, wie sie ihn mit ihren bebenden Händen hochgerissen und an die verrammelte Tür geschleift, wie sie die Tür aufgeworfen und Moses Silberstein über die Schwelle gezerrt hatte, – alles das war ein unbegreifliches Wunder – geschehen aber mußte es, und so war es geschehen. Im letzten, im allerletzten Augenblick löste sich ein glimmender Balken aus dem Türrahmen, streifte ihre Schulter und schlug hart an das greise Haupt. –

Da brach sie mit einem Ächzen zusammen. Sie kauerte vor der leblosen Gestalt nieder auf die nackte Erde, stumpf vor Kummer und Not, mit erbärmlich zerfetzten Gewändern, um sie her Rauch und Feuerschein. Ihre Hände hielt sie mit einer Gebärde vertieften Jammers an ihre Schläfen gepreßt – –

»Heinz,« wimmerte sie mit irrem Lächeln – »o Heinz, Heinz!«

Laufschritte, ein dumpfer Schrei aus gefolterter Männerbrust und starke Arme hielten die Bewußtlose umfangen.

*

Verena war schwer krank.

Seit Wochen schien das große weiße Herrenhaus wie versunken in ein gespanntes Lauschen auf etwas Unaussprechliches, etwas Unabwendbares. Unsichtbar, unhörbar und doch stets gegenwärtig wandelte das bange Leid durch die weiten, hohen Räume, besonders nachts, und es war, als bliebe es mit verhülltem Haupt und einem wehen Lächeln wartend auf Verenas Schwelle stehen.

Heinz fühlte in bebender Verzweiflung seine Gegenwart, Janina fühlte sie, und auch Verena auf ihrem Krankenbette schien sie zu fühlen. Oft lag ein stilles Lächeln auf ihren abgezehrten Zügen, und in ihren hellen Momenten schüttelte sie verneinend das müde Haupt und flüsterte: »Ich bin ja so glücklich, Heinz, so glücklich ...«

Die Krankheit war plötzlich und mit furchtbarer Gewalt über sie hereingebrochen. Erkältung, die Aufregung und Schrecknisse jener Nacht und vielleicht auch eine lang vorbereitete Ermattung ihrer Widerstandsfähigkeit waren die greifbaren Ursachen davon. Anfangs hatte man die schwer Fiebernde, die ununterbrochen phantasierte, mit Gewalt im Bett halten müssen. Jetzt lag sie stundenlang bewußtlos, oder sie schlummerte regungslos wie tot, das wachsbleiche Antlitz von einem Ausdruck seltsamen Friedens beseelt.

Wie Jakob weiland mit dem Engel, so hatten Heinz und Janina um das erlöschende Leben gerungen, seit vielen Tagen, vielen Nächten.

Und es schien auch, als sollten Liebe und Fürsorge noch einmal den Sieg über die schleichende Krankheit davontragen. Langsam kehrte das Leben wieder, Verena lag mit klaren Augen und ruhigem Ausdruck in ihrem weißen Bett wie eine welke Blume, still, dankbar und zufrieden.

Saß Heinz bei ihr, so hielt sie seine Hand in ihren abgezehrten Händen und zeigte ihm durch einen leisen, ach so schwachen Druck, daß ihre Seele bei der seinen sei. Sie sprach wenig, leise und mühsam, nur ihre machtvollen Augen redeten, und Heinz wußte, sie würde von ihm gehen.

Er wußte es, wie oft auch Janina und der Doktor versicherten, das Schlimmste sei nun überstanden. Er wußte es, und er saß da, niedergezwängt vor stummer Qual, und sein abgemagertes Antlitz zuckte und arbeitete in verhaltenem Leide, und dennoch lächelte er, wenn ihr Blick auf ihm ruhte, lächelte und suchte in ihren Augen.

Nur wenn sie schlief, durfte er sich seiner blutenden Sehnsucht hingeben. Er saß bei ihr und würgte an seinem Leide, er schrie nach ihr in seiner einsamen, einsamen Seele. Letzte Schwingungen vergangenen Glücks zitterten an ihm vorüber, letzte Fragen, letzte Rätsel.

Und dennoch – irgendwo sang ihm ein Licht, von irgendwoher hörte er einen seligen Ton, und er wußte auch dies: sie war ihm unverloren wie Erik, auch wenn sie von ihm ging. Konnte der Geist, der immer wieder neue Gedanken und Inspirationen in ihn gesenkt hatte, oft ohne daß er sich dessen bewußt gewesen, oder konnte der Wille, der ihn wieder und wieder zu neuen Kräften entfacht hatte, sterben?

Vor allem aber, war ihre süße, verstehende Liebe, dieses Höchste und Tiefste, vergänglich? Konnte es vergänglich sein?

Überschwenglich reich hatte sie ihn gemacht, das Wesen der Liebe in ihrer Schönheit hatte sie erkannt, ein Leben der Liebe mit ihm gelebt. Nicht nur Weib, auch Schwester, Kind und Mutter war sie ihm gewesen, Freund und Geliebte – ja, sie war sein ewiges Gemahl!

Und er sah zurück auf die lange Bahn lichtvoller Tage, die sie miteinander gewandert waren, Hand in Hand, Schulter an Schulter, Seele in Seele. Wie sollte, wie konnte er ihr das danken, wenn sie jetzt von ihm ging? Wo nahm er das Wort her, das eine, alles umschließende Wort, das ihr sagen sollte, was sie ihm gewesen?

Er sank an ihrem Lager nieder und verbarg sein Gesicht in den Händen in tränenlosem Schmerz. Während er so in sich hineinsank und sich die Sinne zermarterte, regte sie sich und sagte leise: »Heini, – nicht traurig sein – – Dank, Dank für alles. Du hast mich – fliegen gelehrt.«

Sie – sie hatte das Wort gefunden!

Die Tage schlichen dahin. Verenas Zustand wurde nicht schlechter, nicht besser. Manchmal flüsterte sie schnell und unverständlich vor sich hin; Heinz glaubte den Namen Erik zu verstehen. Oder sie war weit weg in ihrem Kinderland und redete von grünen, großen Wäldern.

Einmal war wie ein Rausch ein kurzes taumelndes Vergessen über ihn gekommen. Er staunte über die furchtbare Wirklichkeit, wie über ein Fremdes, das ihn nichts anging. Es war ja unmöglich, daß sie ihm genommen würde. So Ungeheuerliches durfte nicht geschehen. Gleich einer weißen Taube flatterte seine Sehnsucht über dunkle Weiten dahin, eine selige Hoffnung wollte sich ihm ins Herz schmeicheln, und er hob mit einem ächzenden Hilferuf die Hände.

Dann aber fiel es wie Nebel von seinen Sinnen, und er wußte, daß sie sterben müsse, und war ärmer, nackter, einsamer denn zuvor.

An warmen Tagen wurden die Fenster im Krankenzimmer weit aufgetan; aus dem Garten kam ein Duft von heimlich welkenden Rosen. Ihre Sinne aber wurden matter und matter, sie empfand kaum eine Veränderung, sie äußerte keinen Wunsch. In dieser tiefen, weichen Müdigkeit, in die sie versunken war wie in ein Meer, starben Erinnerungen, starben Regungen und Wünsche.

Nur ihre Liebe lebte noch. Heinz fühlte es an der Berührung ihrer Finger, weich wie Schmetterlingsflügel streiften sie über die seinen hin.

Eines Abends ohne jede erklärliche Ursache hatte sie wieder Fieber.

Es traf alle wie ein Schlag. Auch der Doktor zuckte jetzt hoffnungslos die Achseln.

Über Heinz schlug ein Gefühl der Leere zusammen. Er verlor die Empfindung für die Zeit. Es gab keine Zeit mehr für ihn, nur Leere.

Mechanisch besorgten er und Janina das Nötige um Verena. Keine andere Hand durfte sie berühren. Durch die Decken hindurch fühlte er die fiebernde Glut ihres Leibes.

Und auch diese Nacht verging. War sie denn wirklich vergangen?

Den Osten rötete ein heller Streif, der Morgen dämmerte durch die hohen Fenster.

Da schlug Verena die Augen auf. Ihr Blick hatte etwas seltsam Fernes und wanderte ziellos durch den Raum, ohne auf etwas haften zu bleiben.

Heinz beugte sich über sie. »Wie geht es dir, mein Lieb?« fragte er mit zuckenden Lippen.

Sie schien ihn nicht zu sehen und lächelte zart und abwesend. »Wo – wo ist meine Geige?« fragte sie in leise verwundertem Ton. »Ich will heute wieder spielen – – für Erik – – ja, und Ingeborg – Kinderlein kommt ... O Tannenbaum, und Heilige Nacht, stille Nacht ...«

Heinz brachen die Tränen aus den heißen Augen wie ein glühender Strom. Er konnte nichts sagen.

Sie schwieg, dann fing sie aufs neue an zu sprechen, aber ihre Worte erstarben in einem unverständlichen Murmeln.

»Wieviel ist die Uhr?« fragte sie plötzlich leise und deutlich.

Der Mann fühlte seine Knie schwer und bleiern werden, seine Kehle war trocken und wie von einem stählernen Griff umkrallt.

Er faßte ihre Hand ... »Mein Einziges, mein Lieb«, murmelte er tonlos.

Sie sah ihn mit einem seltsam starren, erstaunten Ausdruck an, sie kannte ihn nicht mehr. Ihre mächtigen Augen schienen durch ihn hindurchzublicken ins Leere.

Dann schlossen sich die müden Lider, schwer und zögernd. Sie lag ganz still und atmete ruhig und tief. Vor ihre geschlossenen Augen trat ein goldenes Leuchten, das auch zugleich ein Klingen war, kam immer näher, hüllte sie ein und schien ihr ganzes Wesen zu durchdringen.

»So schön ...« murmelte sie fast unhörbar.

Und dann rieselte ein Zucken über ihre Züge, wie der Schatten eines über sie hinfliegenden großen Vogels, und sie sah, immer noch mit geschlossenen Augen, in blitzhafter Schnelligkeit ein geliebtes Antlitz mit Eriks Zügen – und dann ein anderes, noch lieberes.

»H– –ein–z«, hauchte sie mit verlöschendem Ton.

Dann wurde es dunkle, schwebende Nacht um sie – und sie sah nichts mehr, nur ein inneres, übergroßes Entzücken umfing sie und trug sie, widerstandslos, ohne Schwere, wie eine einzige große Woge in Licht und Unendlichkeit ans andere Ufer.

Noch ein schwerer, tiefer Atemzug. Ein Zucken, ein letztes, ruhiges Ausrecken.

Heinz stand wie eine Marmorsäule.

Er war allein.

*

Wochen waren hingegangen.

Alle, die Heinz kannten, mußten über die Kraft seiner Selbstbeherrschung staunen. Er verriet nichts von dem nagenden Leide um sie, die ihm fehlte, jede Stunde, jede Minute, nichts von der furchtbaren Vereinsamung seiner Seele. In vornehmer Ruhe erledigte er die Geschäfte, die sich seit Verenas Erkrankung ungeheuer gehäuft hatten, sachlich und eingehend. Kein Zittern in seiner Stimme, kein Zögern, keine Verlorenheit, keine Klage. Nur Janina allein wußte, daß er viele Nächte, am Bettchen Ingeborgs sitzend, schlaflos verbrachte.

Seine Liebe für sein mutterloses kleines Mädchen, Verenas einzigem lebenden Vermächtnis, schien sich verzehnfacht zu haben, doch hatte sie sich gleichzeitig so verinnerlicht, daß er sie selten äußerte. Er gewährte der Kleinen so viel Freiheit als nur irgend möglich, aber war sie in seiner Nähe, dann folgte ihr sein Blick voll einer wachen, unendlichen Liebe, und wenn sie schlief, saß er über das kleine Bett gebeugt, hielt das Händchen seines Kindes und bedeckte es mit leisen Küssen.

Trotz seiner Zurückhaltung schien klein Ingeborg genau zu wissen, wie sie mit dem Papa stand. Sie hatte sich an ihn mit der ganzen Hingebung geschlossen, deren ihre kühle Kindernatur fähig war. Einmal war sie mitten in der Nacht aus dem Schlafe erwacht und sah ihren Vater, wie er quer über der Stuhllehne zusammengesunken dasaß, das Haupt in den Händen, der Rücken zuckend vor verhaltenem Schluchzen. Sie blinzelte ein paarmal erschreckt und ungläubig, dann richtete sie sich auf und sagte, wie sie es manchmal von der Mama gehört hatte, unwillkürlich zärtlich: »Heini, Lieber ...«

Von dieser Stunde an war die Freundschaft zwischen ihr und dem Papa festgelegt.

Sie begann ihn fortan Heini zu nennen, aber nur, wenn sie allein mit ihm war. Ein feiner Instinkt gebot ihr, das in Gegenwart Janinas oder anderer zu unterlassen. Diese Zartheit versetzte ihn in ein schweigendes Staunen. ›Es ist doch ganz und gar ihr Kind!‹ dachte er mit heimlichem Herzklopfen.

Von der Mama sprach sie fast nie. Sie verstand, das tat dem Papa weh. Sie war ja noch zu klein, um zu empfinden, daß er nur in Verena lebte, daß jeder Gedanke, jeder Atemzug ihr gehörte, und seine große Liebe zu ihr selbst nur der Abglanz jener anderen höchsten Liebe war. Heinz hatte ihr erzählt, die Mama sei nun bei Erik und gäbe mit ihm zusammen auf klein Ingeborg acht, so daß Ingeborg Mamas leise, liebe Stimme immer in ihrem Herzchen vernehmen könne, wenn sie unrecht täte. Und sie wolle ihre Mama gewiß doch nie betrüben. Tot sei die Mama aber ganz gewiß nicht, wenn sie auch gestorben und begraben wäre. Die Leute, die das nicht besser wüßten, die sagten nur so, darum solle Ingeborg die Mama nicht in ihrem Grabhügel suchen, sondern in ihrem warmen, pochenden, kleinen Herzen.

Und Ingeborg hatte verständig gelauscht, mit dem klugen Köpfchen genickt und dann gefragt:

»Aber sie ist doch ganz zuerst in deinem Herzen, Heini?«

Dazu hatte der Papa nur genickt, denn manchmal konnte er nichts sagen, wenn er an die Mama dachte.

Da war das kleine, zierliche Ding schmeichelnd auf seinen Schoß geklettert und hatte sein Händchen sacht an seine Brust gelegt und gelauscht.

»Dadrin ist die Mama, jawohl – – darum pocht dein Herz so stark.«

Sie war ja nicht so unvernünftig, zu glauben, daß die schöne, schlanke Mama körperlich bei dem Papa drin sei. Die Mama hatte ja gar keinen lebendigen Körper mehr, wie sie selbst, sondern einen ganz anderen, luftigen Leib, so wie die Elfen und Feen im Märchen – aus Sonnenschein und Nebel gewoben.

Da war es denn freilich gar nicht so schwer, daß sie zugleich in des Papas großem Herzen und in ihrem eigenen kleinen Herzen wohnen sollte. Sie wohnte aber auch in anderen Herzen, und zwar sehr deutlich, zum Beispiel in Janinas, die jetzt so oft rote, verweinte Augen hatte, in den Herzen der Dorfleute, der Dienstboten und besonders in dem Herzen der gutmütigen Köchin, denn die weinte immer, wenn sie von der seligen Gnädigen sprach, und bei allen Hantierungen mußte Akulina an die Gnädige denken.

Besonders wohnte die Mama ja auch in Ingeborgs Bruders, in Hannos Herzen. Warum denn nur Hanno gar nicht heim kam, jetzt, wo die Mama schon so lange unter dem schweren Hügel lag?

Sie entschloß sich eines Morgens, den Papa danach zu fragen. Sie lief zu ihm in sein Arbeitszimmer, setzte sich umständlich auf seinem Schoß zurecht, und während sie mit seiner Uhrkette spielte, sagte sie scheinbar ganz beiläufig: »Sag' mal, Heini, weiß denn Hanno noch nicht?«

War auch Heinz in geschäftliche Arbeiten vergraben bis an den Hals, für sein Töchterchen hatte er immer Zeit.

»Hanno segelt auf dem Indischen Ozean,« antwortete er, einen leichten Kuß auf ihre Haare drückend, »er hat vielleicht noch nicht erfahren ...«

»Du, zeig' mir doch den Indischen Ozean, wie sieht er aus?«

Heinz brachte sofort einen Atlas und begann zu erklären. Die zwei ungleichen Köpfe, der kleine rotblonde und das dunkle, leicht ergrauende Haupt, beugten sich nebeneinander über die Karte und verfolgten den langen, langen Weg, den Heino machen mußte, um zu erfahren, daß die, die er so sehr liebte, nicht mehr war.

Janina hatte in Heinzens Namen zweimal an Heino depeschiert, das erstemal: »Mama schwer erkrankt, wenn möglich kommen«, und dann an jenem letzten Morgen das eine schwere Wort: »Hoffnungslos.« So war ja auch Heinz allein bei Verena gewesen, als sie mit seinem Namen auf den erkaltenden Lippen den letzten Atemzug ausgehaucht hatte.

Ingeborg verfolgte eifrig mit ihrem Fingerchen den Weg Hannos durch die verschiedenen blauen Meere.

Dann stützte sie das Köpfchen in die Hand und seufzte tief, so recht aus Herzensgrund. Auf der blütenweißen Kinderstirn bildeten sich zwei ernsthafte senkrechte Falten.

»Nun?« fragte Heinz freundlich, »was ist's, was den Goldkäfer drückt?«

»Wenn ich einmal groß bin,« erklärte Ingeborg mit wichtiger Entschiedenheit, »dann will ich Hanno heiraten.«

Heinz machte eine unwillkürliche Bewegung, er mußte an Heinos unglückliche Leidenschaft denken, die ihm selbst zu schmerzliche Wunden geschlagen hatte, als daß er über diese kindliche Eröffnung nur mit einem Lächeln hätte hinweggleiten können. Sollte sich hier noch einmal eine ähnliche Tragödie vorbereiten?

Mit ruhigem Ernste sagte er daher sachlich: »Hanno ist dein Bruder, kleiner Spatz, einen Bruder aber darf man nicht heiraten. Und wenn du erst groß bist, wird Hanno längst verheiratet sein.«

Sie sah ihn an, erstaunt, neugierig und spähend.

»Dann heirat' ich überhaupt nicht!« warf sie trotzig hin.

»Da hast du ganz recht, du bleibst bei deinem Papa«, sagte er mit einem wehmütigen Versuch, zu scherzen, »und führst ihn nachher spazieren, so wie er dich jetzt führt.«

Rasch kehrte sie sich zu ihm herum, faßte ihn an die Schultern und schüttelte ihn leicht. »Aber Heini!« sagte sie vorwurfsvoll, »du wirst ja vor mir sterben, sieh, du hast ja schon jetzt weiße Haare.«

Er lächelte und nickte. »Sehr wahrscheinlich.«

»Siehst du wohl. Und wo soll ich dann bleiben?« Ihr kleines, besorgtes Gesicht wurde plötzlich wie von einem Sonnenstrahl erhellt. »Dann aber geh' ich doch zu Hanno!« schloß sie triumphierend.

Seine Hand legte sich liebkosend auf ihren duftenden Scheitel. ›Kleines, unschuldsvolles Ungeheuer!‹ dachte er, ›wieviel armen Jungen wirst du wohl noch die Köpfe verdrehen mit deiner kühlen Süße?‹

Aber die resolute, kleine Person ließ ihm keine Zeit zu weiteren Betrachtungen.

»Du, weißt du's schon? Die alte, schreckliche Axinja ist in der Nacht gestorben!«

»Woher weißt du's?«

»Ich hörte in der Küche, wie Fedjka zu Akulina sagte: ›Nun ist die Mordbrennerin Axinja, das tolle Scheusal, tot – hätt's nicht zwei Monate früher passieren können?‹ Und dann hat Akulina geweint. Was hat er damit gemeint, Heini?«

Heinz stellte die Kleine auf die Füße und sprang mit einem jähen Ruck auf.

»Geh' jetzt, Goldkäfer«, sagte er heiser und schob sie sanft zur Tür hinaus. »Das sag' ich dir ein andermal.«

Stöhnend sank er in seinen Sessel zurück und bedeckte sein Gesicht mit den Händen. – – –

Das Leid hat seine Flut und seine Ebbe, so wie die Liebe und das Meer.

War Heinz tagsüber durch die mannigfachen Pflichten jeder Stunde und durch seinen Willen zusammengehalten, so gehörten die Nächte ihm und seinem Leide. Mit furchtbarer Wucht brach dann die verhaltene Qual seiner Sehnsucht über ihm zusammen. Niemand hätte in dem durchfurchten Gesicht mit den verkrampften Zügen das stolzbeherrschte Antlitz des Mannes wiedererkannt, der für alle anderen in ihrem Leide ein teilnehmendes und tröstendes Wort hatte.

Es war eine stürmische Novembernacht. Draußen heulte und wütete der Wind und rüttelte an den Fensterläden. Heinz saß allein in seinem Zimmer beim Licht der Studierlampe, den Kopf auf den verschränkten Armen über seinen Arbeitstisch niedergebeugt, zuckend vor schüttelndem Schluchzen. So überhörte er ein mehrmaliges Pochen. Da öffnete sich leise, fast gespensterhaft die Tür, und Heino stand vor ihm.

»Vater ...« sagte er leise.

Heinz fuhr auf. War das sein Sohn? Hatte er einen jungen Mann zum Sohn?

Sie lagen einander in den Armen.

»Ich hörte schon auf der Poststation ...« stammelte Heino. »Wie ... wann ...?«

»Und die zweite Depesche, Heino?«

»Nicht erhalten. O Vater, Vater!«

Heinz hielt ihn auf Armeslänge von sich, staunend, überwältigt.

Dieses zerwühlte, dämonisch schöne Gesicht, dieser gebräunte, stattliche Mensch war sein Sohn. Wenn einer ihn verstand und mit ihm trauerte, so war er es. Aber brauchte er noch Verständnis, brauchte er noch ein Mitfühlen?

»Setz' dich!« sprach er gehalten. »Um Moses Silberstein zu retten, ging sie in den Tod. Die wahnsinnige Axinja hatte seine Hütte angesteckt. Sie, sie ganz allein, sie schleifte den Bewußtlosen ins Freie. Um fünf Minuten zu spät war ich zur Stelle. Überanstrengung, Schreck, Erkältung – zuviel für sie, zuviel. Ein typhöses Fieber raffte sie hin.«

Er hatte ausdruckslos, fast mechanisch gesprochen.

Leichenfahl saß ihm Heino gegenüber. Aus glanzleeren Augen starrte er vor sich hin. Langsam kam ein Erstaunen über ihn. Wenn ... wenn Erik gelebt hätte – – vielleicht, vielleicht hätte sie es überwunden! jagte es ihm durch den Sinn.

›Ich ... ich bin schuld, ich, ich, ich bin der Mörder!‹

Verzweifelt stürzte er vor dem Vater nieder, umfaßte ihn, küßte seine Hände.

Ob der seine späte Liebe wollte? Ob er sie verstand?

Oder ob er sie ihm wiedergeben konnte? Was fragte Heino danach?

Er mußte geben ohne Zweck und Ziel, er mußte es hinausschreien in alle Winde, um nicht zu ersticken an seiner furchtbaren Qual: Ich, ich bin der Mörder!

Langsam, zwischen den Zähnen stieß er die vernichtende Selbstanklage hervor.

Heinz sah ihn an, als erwachte er aus einem Traum.

Und er lächelte.

Nie vergaß ihm der Sohn dieses erschütternde, leuchtende Lächeln.

Leise schüttelte Heinz den Kopf.

»Nein, nein, mein Kind«, sagte er nur. »Nichts Einzelnes – – sie wollte ja bei mir bleiben, sie wollte ... ihr letztes Wort –«

Er brach ab.

Diese Stunde, dieser Augenblick sollte Heino an seinen Vater ketten wie nichts zuvor. – –

Allmählich verging die Nacht, und noch immer saßen die beiden beim Schein der Studierlampe beisammen. Wie ein Kind seiner Mutter hatte Heino ihm seine jugendlichen Verirrungen gebeichtet, alles, was er auf dem Herzen trug, alles, was er sich für ein durchdringendes, klares und mildes Frauenauge aufgehoben, enthüllte er dieser überwältigenden, verstehenden Liebe des Vaters. Ein kleines hilfloses Kind war er geworden, ein großer, hoffnungsvoller Sohn voll Kraft und Vertrauen, der danach ringen wollte, sich die Achtung seines Vaters zu verdienen.

Sie schüttelten sich wieder und wieder die Hände.

Sie konnten voneinander nicht lassen.

»Vater,« brach Heino ungestüm los, »du sollst auf mich rechnen können, unter allen Umständen, in jedem Falle. Ich stehe zu dir!«

Mit einem seltsam wissenden Lächeln erwiderte Heinz: »Ich nehme dich noch einmal beim Wort, mein Sohn.«

*

Das Meer lachte.

Klar und leuchtend lag es da, friedlich-blau. In den Tiefen des Schattens einiger Segelboote war es dunkel wie ein Saphirstein, und über dem Kieselgrunde flirrte und rieselte es in einem Sonnennetz von lauterem Golde.

In sanftem Zuge stiegen bewaldete Berge von der Bucht aufwärts und hielten sie in ihren grünen Armen zärtlich umfangen. Droben, von Lorbeerbüschen und Zypressen umhegt, liegt das alte Herrenhaus, vor jedem seiner blinkenden Fenster ein traumhaft schönes Bild. Jenseits im Bergtale das Dörflein mit dem neuen stattlichen Schulhaus, dahinter steile Felsenmauern, diesseits das weite, ewige Meer. In dunklen Sternennächten wogen Sterne und Fluten von märchenhaftem Licht zwischen Meer und Himmel. Die Wasser leuchten in fliegenden Phosphorscheinen. Wetterleuchten blitzt hier und da über den geheimnisvollen Himmelsraum, und nachdenklich schimmert der Mond. An stürmischen Tagen wälzt sich das Meer smaragdgrün oder schwarzgelb mit wilden Mähnen fliegenden Schaumes über den Kieselstrand, und in der Stille heißer, brütender Tage leuchtet es durchsichtig von unergründlicher Tiefe und umgießt die ruhenden Fischerkähne wie flüssiges, grünes Glas.

Ingeborg, ein schlankes Kind von vierzehn Jahren, stand am Ufer, breitete die Arme aus und jauchzte.

»Hanno kommt!« sagte sie jubelnd, »oh, ach, Hanno kommt!«

Dann lachte sie leise und selig vor sich hin und bückte sich nach den runden, bunten Kieselsteinen.

Sie sammelte davon eine Menge, eine ganze Tasche voll, und begann sie geschickt über die spiegelnde Fläche zu werfen.

Einmal, zweimal, dreimal, in immer weiteren Abständen schlugen die tanzenden Steine auf, ehe sie für immer versanken.

Ingeborg seufzte tief und blieb mit herabhängenden Armen und gefalteten Händen regungslos stehen.

Das feine weiße Oval ihres Gesichtchens blühte wie eine Blume unter den krausen Wellen rötlich flimmernden Haares hervor, in dem die Sonnenlichter tanzten und spielten. Die großen, grauen Augen leuchteten wie Sterne. Der kirschrote Mund mit den feuchten Lippen war fragend und weich gebildet, halb durstig, halb verschlossen, die zarten Glieder von rehschlanker Biegsamkeit.

Sie trat langsam an das leise spielende Wasser und ließ ihre Schuhspitzen von dem salzigen Naß umschmeicheln. Ihr war sehnsüchtig und bange zumute. Zum ersten Male tauchte in ihr in scheuer Ahnung eine seltsame Beziehung auf zwischen ihrem Selbst und dem Meere, das sie so sehr liebte.

War es nicht herrisch und sprunghaft, war es nicht voller Rätsel und Geheimnisse wie sie? Konnte es nicht schmeicheln und kosen, jubeln und lachen wie sie? Oder trotzte und grollte sie nicht auch bisweilen, wenn Janina vom Pflichtgefühl redete und sie zwingen wollte, ihre Kleider auszubessern, oder der Papa gar für die Armen und die Dorfschulkinder ebensoviel Zeit zu haben schien wie für sein einzig Töchterlein?

O ja, das Meer und sie, sie verstanden sich, sie waren einander gut, und Ingeborg liebte es zärtlich, fast ebenso zärtlich wie ihren großen Bruder Hanno.

Nun, den Papa mochte sie auch, freilich, das verstand sich ja von selbst, und er, er liebte sie natürlich über alles und tat ihr, was er konnte, zu Gefallen. Ihretwegen allein war er ja auch nach Baluschta gezogen und hatte sein Amt als Oberverwalter niedergelegt, nur um sich ihrer Erziehung hinzugeben. Wozu hatte man denn auch einen Papa, besonders wenn die Mama so früh gestorben war? Aber so gut wie dem Hanno, so gut war sie niemandem auf der Welt. Und war er auch tausendmal nur ihr Stiefbruder, und durfte sie ihn auch nicht heiraten – jammerschade übrigens –, so sollte er es sich nur ja nicht einfallen lassen, sich etwa zu verloben oder gar eine Frau zu nehmen. Oh, das würde sie sich durchaus verbitten. Hanno gehörte ihr und ihr allein, und wenn sie einmal beieinander hausten, dann würde sie schon für ihn sorgen, ganz wie eine richtige kleine Frau. Freilich, dann müßte der Papa zuerst gestorben sein, denn eher gab er sie nicht her, und das war gewiß sehr traurig. Denn es war garstig, wenn jemand, den man lieb hatte, so für immer verschwand, aber, sie zuckte die feinen Achseln, schließlich war das ja der Welt Lauf. Die Alten gingen hin, die Jungen kamen und freuten sich ihres Lebens, bis auch sie einst alt wurden, und sie wollte ja gewiß bei dem Papa bleiben, besonders wenn er schwach und hinfällig wurde. Davon merkte sie zwar bisher noch keine Spur – im Gegenteil, der Papa war so gesund und kräftig wie sie selbst; laufen konnte er mit ihr um die Wette, die steilen Bergpfade klomm er hinan wie ein Jüngling. Die Leute rissen sich um ihn, und jeder rechnete es sich zur Ehre an, mit ihm zu plaudern. Nur sie allein, sie war mit ihrem Papa nicht recht zufrieden. Sie fand ihn zu ernst, zu selbstlos, zu aufopfernd gegenüber den vielen Bauersleuten. War es zum Beispiel nötig, daß er, der frühere Herr Oberverwalter, mit den Landarbeitern so vertraulich über ihre Angelegenheiten redete, als wären es seine eigenen? Das gefiel ihr nun schon gar nicht – er sollte doch etwas mehr auf sich halten. Da war denn doch Hanno ganz anders, der verstand zu kommandieren, daß die Leute nur so flogen; zuweilen scherzte er auch mit ihnen, und man wußte immer ganz genau, daß er der Herr war und sie die Knechte. Der Papa aber tat immerzu, als wären diese Bauern seine Brüder. Ja, er scheute sich durchaus nicht, mit anzugreifen bei ihren Arbeiten und ihnen zu erklären, wie man es besser und geschickter anfangen könne. Einmal hatte sie sogar vor Zorn darüber geweint. Da war aber der Papa so eigentümlich still und traurig geworden, und gefragt hatte er sie, ob sie ihn denn wirklich gar nicht verstände.

»Nur wer dient, ist wert zu herrschen.« Noch hörte sie seine Worte in sich nachklingen. Ach ja, das war ja alles schön und gut, sie aber wollte nicht dienen, nein, ganz und gar nicht, und deshalb eben war sie mit ihrem Papa nicht immer zufrieden.

Auch heute nicht.

Als sie am frühen Morgen auf ihn zugelaufen war, strahlend vor Freude, und gerufen hatte: »Hanno kommt heute!«, da hatte er sie so sonderbar mitleidig angeschaut, hatte ihr das Haar gestreichelt und gesagt: »Mein armes Mädel!«

Sie war aber kein armes Mädel, sie wollte nicht bedauert werden. Was fiel ihm denn nur ein? Wenn sie den Hanno so lieb hatte, was ging es den Papa an? Er war wohl am Ende gar eifersüchtig!

Zornig stampfte sie mit dem Füßchen auf und bückte sich, um einen recht derben, kräftigen Kieselstein zu suchen, ah, nun hatte sie ihn, den warf sie mit Genugtuung in den glänzenden Wasserspiegel, daß es nur so aufklatschte.

Oh, sie würde dem Papa diese Eifersucht schon austreiben! Wie kam er nur darauf? Was dachte er sich dabei? grübelte sie weiter. Sie hätte überhaupt gar zu gern gewußt, was der Papa sich dachte, wenn er schweigend neben ihr herging und seine Augen so seltsam leuchtend in die Ferne schauten oder auf ihr ruhten. Wahrscheinlich dachte er an die Mama; und wenn er die tote Mama immer noch lieber hatte als sie selbst, dann sollte er sich doch nicht wundern, daß sie den Hanno lieber mochte als ihn. Sie hatte Hanno nun einmal lieber, sie konnte nichts dafür, und wenn der Papa sie fragte, so würde sie ihm gewiß die ganze Wahrheit sagen; zu lügen verstand sie nun ein- für allemal nicht.

So was taten nur die gemeinen Leute!

Wieder trat sie heftig zu und stampfte ein paar naseweis aufragende spitze Kieselsteine in Grund und Boden. Diese ausgleichende Beschäftigung machte ihr Spaß, und sie ruhte nicht eher, als bis sie, sich um sich selber drehend, eine größere Fläche von Steinen zurechtgetreten hatte, so daß sie auf einem kleinen gepflasterten Kreis stand.

Auf einmal zuckte sie zusammen und lauschte.

»In–geborg!« klang es rufend durch die Stille.

»Aha – Janina!« murmelte sie vor sich hin. »Was will denn die schon wieder? Ich tu', als hätte ich nicht gehört.«

Aber der Ruf kam immer näher. »In–geborg – – Ingeborg!«

Sie schaute sich scheu um und sah Janina in großen Sätzen den besonnten Bergpfad hinunterlaufen.

›Was die springen kann!‹ dachte sie verwundert. Jedoch nun schien es ihr doch geraten, langsam kehrtzumachen und der Rufenden entgegenzuschreiten.

»Nun ...?« fragte sie gedehnt.

Janina stand vor ihr. Die Zeit hatte ihre stillen, verschlossenen Züge nur noch klarer und energischer gemacht. Sie sah aus wie ein böser, schöner Knabe, der sich aus Laune in Mädchenkleider geworfen.

Zornig funkelte sie Ingeborg an.

»Hast du mich denn nicht rufen gehört? Papa wartet auf dich, er will ja doch mit dir ausreiten.«

»Ach,« sagte Ingeborg nachlässig, »das hatt' ich ganz vergessen.«

Janina warf ihr einen strafenden Blick zu. Stumm schritten die Mädchen nebeneinander her, dem Bergpfade entgegen.

»Weißt du auch, Ingeborg,« brach Janina endlich das lastende Schweigen, »ich hätte Lust, dich einmal gründlich durchzuprügeln. Du verdienst ja die unendliche Geduld gar nicht, die dein Vater und ich, die wir beide mit dir haben!«

In maßlosem Staunen sah Ingeborg Janina an. Ihre Wimpern zuckten. Sprach man so zu ihr? Ach, Janina hatte sie ja nie verstanden!

»Daß du, das Kind der einzigen Frau, die ich auf der ganzen weiten Welt am liebsten gehabt,« fuhr Janina traurig fort, »das Kind dieser Mutter, ein so hochmütiges, selbstsüchtiges Ding geworden bist, nicht imstande, auch nur einen einzigen Menschen zu lieben!«

Ingeborg warf trotzig den Kopf zurück. »Oho – und Hanno?«

Janina zuckte die Achseln. »In Hanno liebst du ja eigentlich nur dich selbst. Ach Kind, Kind –«, sie schlug sich vor die Stirn, »nicht du bist im Grunde so schuld wie ich – ich! Wir mit unserer maßlosen Liebe, wir haben dich nur allzusehr verwöhnt, verzogen!«

Dieser Ton griff Ingeborg ans Herz, dennoch empörte sich etwas in ihr. Sie wäre allzusehr verwöhnt worden, sie, das mutterlose, einsame Kind? Konnte man ihr denn jemals ersetzen, was sie durch den frühen Tod der Mutter verloren? Sie vergaß in ihrem weltlichen Lebensdrang, daß sie nie sonderlich unter ihrer Waisenschaft gelitten hatte, ach, und nun fühlte sie sich sehr unglücklich. Tränen brachen aus ihren Augen.

Janina konnte Verenas Kind nicht weinen sehen. Während sie nebeneinander den steilen Berg hinanklommen, streichelte sie ihr mit einer mütterlichen Gebärde den schlanken Rücken. »Na, na,« brummte sie, »weinen nützt ja nichts. Wenn du doch nur einmal einsehen würdest, was du für einen herrlichen Vater hast, wie er dich liebt, wie er für dich lebt!«

»Er liebt ja alle, jeden Bauer, jeden Bettler!« warf Ingeborg wieder trotzig hin.

Da stand Janina auf dem steinigen Pfade still und schlug, tief aufatmend, die Hände zusammen.

»Ja!« sagte sie mit feierlichem Nachdruck. »Ja! Aber weißt du auch, was ihm die unerhörte Kraft dazu gegeben hat, ahnst du, wie er deine Mutter, wie er dich und Erik und Hanno hat lieben müssen, um zu dieser Liebe durchzudringen? Durch Nacht und Tod ist diese Liebe gebrochen, durch Einsamkeit und Verzweiflung zum Morgenschimmer der Freiheit. Er selbst ist zur Liebe geworden, das Höchste, was sich von einem Menschen sagen läßt!«

Ingeborg biß sich auf die Lippen und schwieg betreten.

*

Vor die weinumrankte Schwelle des Hauses führte soeben Damian, der tatarische Bursch, die gestriegelten Reitpferde. Er hatte Zahnweh und trug ein Tuch um die Backen geschlungen, aber seine schwarzen Augen blitzten erwartungsvoll unter dem Fez hervor. Er lachte vor Freude, als Heinz vor die Haustür trat, und zog gleich darauf eine verschämte Grimasse, steif vor Demut, Zuneigung und Respekt.

»Na, Junge, Morgen,« erwiderte Heinz den ehrerbietigen Gruß, »nicht das junge Fräulein gesehen, wie? Was macht die Backe? O je, bist du aber jämmerlich geschwollen!«

»'s macht nichts, gnädiger Herr,« sagte der Bursch beglückt und schlug militärisch die Absätze zusammen, »lieber Zahnweh als die Cholera.«

»Das will ich meinen, wie kommst du denn aber gerade auf die Cholera?«

»Meine Mutter starb daran, zu dienen, gnädiger Herr, vor vier Jahren.«

Heinz warf einen teilnehmenden Blick auf das ehrliche, hübsche Gesicht, über welches es schmerzlich hinzuckte, und klopfte den Burschen auf die Schulter.

»Die hätt' heute eine Freude an dir, daß du so stramm beim Dienst bist, trotz der Zahnschmerzen. Wenn die Panenka Janina kommt, so soll sie dir etwas aus ihrer Apotheke geben.«

»Jawohl, gnädiger Herr.«

In diesem Augenblick tauchte Ingeborgs helle Gestalt über die Lorbeerhecke, die die Parkanlage von der Bergseite umschloß. Janina folgte.

»Goldkäfer, wo hast du so lange gesteckt? Ich schau' mir die Augen nach dir aus.«

Ihre Erregung unterdrückend, stand Ingeborg vor dem Vater. »Ich war unten am Meer, Papa.

Ach, meinen Hut, bitte, Janina, vorn auf dem Spiegeltischchen im Vorzimmer.«

Damian bückte sich dienstbereit und hielt dem Füßchen seiner jungen Herrin die Hand hin.

»Nicht so, Damian, höher, sei doch nicht so ungeschickt.«

»Der arme Bursch hat Schmerzen, Inge«, mahnte der Vater leise.

Sie schwang sich mit einer entzückenden Anmut in den Sattel und senkte errötend die Lider.

Jetzt kam Janina mit dem Hut.

»Danke.« Ingeborgs Stimme klang seltsam verschleiert. »Wohin reiten wir, Papa?«

Auch Heinz saß im Sattel. »Nun, ich meine nach Kisiltasch, oder hast du spezielle Wünsche?«

»Mir ist's egal!« meinte die Kleine gleichmütig und wandte ihren Goldfuchs der Kastanienallee zu, die die Straße entlangführte. Mit einem Male aber wurden ihre Augen groß und leuchtend.

»Hanno!« rief sie in jubelndem Entzücken – »da ist er ja – zu Fuß. Wo ist denn der Wagen?«

Und sie sprengte dem stattlichen Fußgänger entgegen.

Heinz setzte ihr nach und vernahm noch einmal den Ton zitternder Glückseligkeit, mit dem sie ihren Bruder begrüßte.

»Hanno, ach Hanno!«

Sie ließ sich von dem jungen Marineoffizier aus dem Sattel heben und hing an seinem Halse.

»Prinzeßchen ... bist du's denn auch wirklich? – – Grüß' Gott, Vater! So ist man denn wieder einmal glücklich daheim!«

Heinz war vom Pferde, ehe Heino sich dessen versah, und hielt seinen Sohn in den Armen.

»Und der Wagen, Hanno?« rief Ingeborg.

»Der ist vorläufig in Kisiltasch geblieben – heim sollte man doch immer zu Fuße kommen.«

Heinz betrachtete seinen Sohn freudig. »Lieber Junge,« sagte er mit strahlendem Antlitz, »lieber Junge!«

Heino drückte ihm feurig die Hände und sah ihm lachend in die Augen.

»Du wirst alle Jahre jünger, Vater.«

»Beides, mein Sohn,« sprach Heinz lächelnd, »beides, jünger und älter.«

Da war das Geheimnisvolle wieder, das Ingeborg an ihrem Vater zugleich anzog und abstieß. Sie verstand ihn nicht, aber sie fühlte es, wie wohltuend und machtvoll er auf die Umgebung wirkte, ja auch auf Heino. Und eine leise Eifersucht regte sich in ihr.

Sie hing sich in ihres Bruders Arm. »Jetzt aber bleibst du lange hier, Hanno.«

»Hm, und ob! Ich habe ja einen langen Urlaub, mindestens sechs Wochen. Aber du, wir wollen doch Papa nicht die Pferde überlassen.«

Mit einer gewandten Bewegung schlang er die Zügel der beiden Tiere um je einen Arm und schritt so, Ingeborg und den Vater zu beiden Seiten, rüstig aus.

»Wie traulich das liebe Dach dreinschaut! Wie schön ist diese ganze Küste!« sagte er weich.

Er liebte Baluschta, hierher durfte er wenigstens ohne Reue heimkehren.

Aber Ingeborg ließ ihm keine Zeit zu Betrachtungen, sie hob sich ihm in einer hingebenden Wendung ihres kindlich schlanken Körpers entgegen und jauchzte inbrünstig: »Ach, Hanno, wie gut, daß du da bist, wie gut!« In ihren Augen war ein seltsamer Schimmer von Reife.

Über des Vaters Gesicht flog ein Schatten, ein Ausdruck wacher Sorge umspielte seinen Mund.

Als sie vor der Schwelle des alten Hauses standen, umfaßte er seine Kinder mit einer Gebärde schmerzlicher Innigkeit. Erstaunt sahen sie ihn an. Die Ruhe tiefen Friedens leuchtete aus seinen Zügen. Es schien, als wolle er noch etwas sagen.

Doch er schwieg.

*

Die Tage gingen hin voll dumpfer Süße. Aber unter dem Frieden dieser sonnendurchglänzten Tage nagte stetig und quälend die Sorge. Heinz sah Ingeborg immer schmäler, unruhiger und blasser werden. Eine fiebrige Glut flackerte in ihren Augen; sie errötete und erblaßte in jähem Wechsel ohne ersichtlichen Grund; ihre Hände wanderten ruhelos in ihrem Schoß umher, wenn sie stillsaß, als suchten sie einen Halt, ihre Bewegungen wurden hastig, nervös und zerfahren, ihr Atem ging kurz und zitternd.

Doch auch in Heino glimmte ein geheimes Feuer. Noch war es nicht ausgebrochen, noch hielt er an sich, aber wie lange noch – ja, wie lange?

Heinz saß in seinem Zimmer, auf seinen Arbeitstisch gestützt, die Hand vor den Augen, und sann. Es war Abend, die Lampe brannte, vor ihm lag ein Manuskript, er hatte seine Lieblingsarbeit wieder aufgenommen.

Stille ringsum, nur das Ticken der kleinen Bronzeuhr. Gedämpft klang aus dem Park ein Ton zärtlicher Stimmen. Heino und Ingeborg waren noch draußen.

Sie wußten ja nicht, was sie taten ... die armen Kinder, sie wußten nicht, wohin sie trieben – –

Er – er allein war der Wissende.

Heinz lauschte, jetzt würden sie ja wohl kommen, ihm gute Nacht zu wünschen.

Schritte hinter der Tür, ein kurzes Pochen.

Arm in Arm traten Heino und Ingeborg ins Zimmer, erregt, glückselig, mit leuchtenden Augen wie ein Brautpaar.

Heinz sah auf, und seine Hand sank langsam vom Tisch.

War es ... zu spät?

»Gute Nacht, Papa.« Ingeborg streifte mit brennenden Lippen seine Stirn.

»Gute Nacht, Goldkäfer. Nun, und du, Heino? Auch schon ins Bett?«

»Darf ich ein wenig bei dir bleiben?«

»Willkommen, mein Junge. Ich hab' ohnehin mit dir zu reden.«

Ingeborg warf sich Heino mit ungestümer Heftigkeit in die Arme. »Schlaf wohl, Hanno – und träume von mir.«

»Ich will's versuchen, Prinzeßchen.«

Sie schlüpfte wie eine Elfe aus der Tür.

Er blickte ihr mit leuchtenden Augen nach.

Vater und Sohn waren allein. Heinz zog ein Zigarettenetui, das er selten benutzte, und bot seinem Sohn eine Zigarette.

Schweigen. Stille. Welch seltsame, redende Stille!

»Vater ...?« sagte Heino beklommen.

Heinz lächelte und streckte ihm die Hand entgegen. »Verstehen wir uns, mein Junge?«

Heino fuhr auf. »Ich glaube doch, Vater.«

»Nun denn, dann bedarf es nicht vieler Worte. Du mußt heute nacht abreisen, mein Sohn ... um Ingeborgs willen.«

Heino saß versteinert. Um seine Mundwinkel zuckte es. Er bedeckte die Augen mit der Hand, und Heinz sah, wie es in ihm wühlte.

»Hab' ich nicht recht, Heino?« fragte er milde.

Der junge Mann hob den gebeugten Kopf, er war blaß geworden. Starr sah er vor sich hin.

Ein Wort, ein geliebter Name schwebte auf beider Lippen, aber sie sprachen ihn nicht aus. Jedes aber wußte, daß der Wille und die Sehnsucht des anderen es war, der ihm diesen geheiligten Namen wie ein Siegel gemeinsamen Erkennens und Verstehens in die Seele geprägt hatte.

Heino stand auf – trat an seinen Vater heran und drückte ihm schweigend die Hand.

»Ich reise, Vater.«

Heinz riß den Sohn an sich.

*

Durch die Fensterscheiben blinzelte ein schläfriges Licht; draußen dämmerte der Morgen.

Heinz stand am Fenster und horchte auf den leise verklingenden Ton der Wagenräder. So beruhigt und weit lag das bergige Gelände vor ihm, im Tale drunten sein Dörflein, sein geworden durch seine Arbeit, eingesenkt wie ein graues Kinderspielwerk mitten in die grünen Hügel, dahinter die steile, dunstige Linie der Berge. Still spannen die Frühnebel daran hin, der Himmel bleich, klar und durchsichtig.

Auf seinem Schreibtisch brannte noch die Lampe und sang ihr Sterbelied. Ihre gelbe, einsame Glut wurde von dem blaugrauen Licht des nahenden Morgens eingehüllt und aufgesogen. Unverdrossen tickte die kleine bronzene Uhr.

Heinz setzte sich an seinen Tisch und atmete tief auf. In ihm war eine braungoldene Ruhe, und dennoch wußte er, daß er seinem Kinde, Verenas Kinde, heute wehe tun würde, so wehe wie noch nie.

»Arme, kleine Ingeborg!« murmelte er vor sich hin.

Er empfand für sie den Zorn, den blinden, schneidenden Schmerz der Enttäuschung, er durchlebte mit ihr die Qual der Sehnsucht, er sah ihr blasses Gesichtchen, das sich in Trotz und Vorwurf von ihm abwandte, und er lächelte schmerzlich.

Würde er jemals wieder das Vertrauen seines Kindes gewinnen?

Aber seine Gedanken klangen und sangen weit über die Gegenwart hinaus. War nicht alles gut, alles schön, alles vollkommen, nur noch nicht für alle? O Lieb, o Verena ... du weißt es ... o lehre es mich, lehre es mich!

Und der mächtige Geist der Einheit alles Seins durchstrahlte ihn, und aus der nebelspinnenden Dämmerung seines Suchens leuchtete ein Licht, und er fühlte die Ruhe in seinem Innern fließend werden wie ein breiter, mächtiger Strom. Am Herzen alles Lebens wußte er sich und dennoch über das Leben, über Leid und Kummer, über Wunsch und Sehnsucht emporgehoben. Nur die eine Liebe in ihm wach, die alles durchdringende, alles verbindende Liebe – Geist und Natur, nur die Pole dieser zentralisierenden, ungeheuren Kraft, zeitlos, raumlos, zum lebendigsten Leben geworden in ihm – aufgehoben die Gegensätze, eine ausstrahlende sonnenhafte Einheit – er selbst ein Nichts, in ihm das All.

Und als könne er auf diesem höchsten, lichtesten Gipfel der Geistigkeit die unerhörte Sphärenharmonie dieses inneren Glanzes nicht tragen, warf er sich über den Tisch und weinte.

Lange lag er so, ein selig Versunkener.

Als er sich aufrichtete, war das Zimmer voll rosigen Morgenschimmers.

Draußen ging machtvoll und feurig die Sonne auf.

Schon hörte er ein fröhliches Vogelzwitschern, und fremd geworden, sah er sich erstaunt in seinen vier Wänden um.

Er warf einen Blick auf die Bronzeuhr. Siehe – sie stand – zum erstenmal in all den Jahren.

Er langte nach ihr, seine Finger strichen zärtlich über die beiden Knabengestalten hin. Er öffnete das Türchen und schaute in den blinkenden Mechanismus. Zusammengerollt in der äußersten Ecke lag ein Blättchen Papier.

Verenas Schrift? Es flimmerte vor seinen Augen. Sie – sie sprach zu ihm ... und heute?

Er las:

»An meinen Heinz.

Und als ihn so der Reife Farben zierten,
Daß alle Dinge ihm zum Spiegel wurden,
Der seine Scham vor Glück erglühen machte –

Nach langen Jahren langer Prüfungsqualen,
Da er gedient als Knecht, in Knechtsgestalt,
– Verkappter König und verwunschener Prinz, –

Ersah er, daß die Welt ihm so zu eigen,
Daß König er so voll und tief dem Leben,
Daß Reif' und Ruhm nur Schmälerung seiner Würde.

Er ging zurück zur Hütte jenes Bauern,
Dem er bisher gedient, ihm fürder dienend,
Willig im Sinn und in der Kraft des Leibes.«

Anmerkung: Die Verse sind nicht von mir.

*


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