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In Lindenheim, dem anmutig zu Füßen der bewaldeten Berglehne gebetteten Dörfchen, gings heut hoch her, denn Kirmeßlust war eingekehrt und leuchtete aus den Gesichtern der müssigen Schulkinder, die scharf Ausschau hielten, ob auch gewiß nichts versäumt werde.

Allein es war alles in schönster Ordnung. Seit drei Tagen schon hatte der Gemeindebackofen, der sonst nur derbes Schwarzbrot zu backen bekam, eine solche Fülle süßen Duftes ausgeströmt, daß sämtliche Gassen und Gäßchen davon durchhaucht waren; jetzt aber häufte sich der Reichtum an Hefenkränzen, Obst- und Rahmkuchen in den Vorratskammern der einzelnen Häuser und Gehöfte und verhieß Stunden köstlichsten Genusses. Selbst am Hirtenhause, dem Unterstand der Aermsten und Gebrechlichen der Gemeinde, sollte der freudig begrüßte Festtag nicht spurlos vorübergehen; wer's nur immer vermochte, spendete einen Teil des reichlich bereiteten Guten für diese am irdischen Glück Verkürzten, um dann erst selbst dem Genusse zu leben.

In Stuben und Kammern hatte der Kirmeß zu Ehren ein gewaltiges Stäuben und Scheuern stattgefunden; frische, blütenweiße Gardinenstreifen waren aufgesteckt, die Stockbretter reichlicher mit sammetbraunen Nelken und feuerroten Geranien besetzt worden, draußen aus dem Hofe hatte der große Reisigbesen das Regiment geführt, und was geschickte Mädchenhände an Kränzen und Gewinden nur immer fertiggebracht, das prangte nunmehr über Fensterrahmen und Hanseingang als fröhlicher Willkommgruß für etwa einkehrende Freunde und Verwandte. Auf den mächtigen, altväterischen Kochherden aber brodelte der Fleischtopf, schmorte der seltene Festbraten, prasselten die goldbraunen Apfelküchlein im zischenden Fett, – hier die leckeren Bissen, draußen das lebhafter werdende Marktgewühl; wer sich doch verdoppeln könnte, um ja nichts zu versäumen!

Am allerschönsten war's aber doch draußen auf der Festwiese, wo am Nachmittag und Abend sich erst recht fröhliches Leben entfalten sollte. Dort hatte der Kronenwirt seinen Schank aufgeschlagen; rohgezimmerte Tische und Bänke harrten der Gäste aus Stadt und Land, und die Musikanten, d. h. der Rumpel-Baltes, der so ernsthaft den Brummbaß strich, der Klarinetten-Hans und der Posaunen-Fritz mit der roten Nase, stimmten ihre Instrumente und probierten dazu ernsthaft den schäumenden Gerstentrank.

In weiter Runde waren ein paar Buden mit bunten Tüchern, seidenen Bändern, Glasperlenschnüren, Haarkämmen und blinkenden Taschenspiegeln aufgestellt, daneben eine Glücksbude mit goldverzierten Kaffeetassen, buntbemalten Tellern, Blechkörbchen und Biergläsern, sowie einige Tische mit Lebzelten, Magenbrot, Honigkuchen und Zuckerstangen, und das Allerbeste, auch ein Guckkastenmann mit seinem drolligen Kasperl und dem gefährlich drauflosschnappenden Krokodil hatte sich eingefunden. Die schaulustige, kleine Rotte wäre, was Neugier und immer wachsendes Staunen betrifft, die allerbeste Kundschaft gewesen, nur mit den Barmitteln stand es etwas bedenklich, weshalb auch die schlauen Besitzer all dieser Herrlichkeiten lieber das Eintreffen der zäheren aber zahlungsfähigen Alten abwarteten.

Hier und dort brummte freilich ein Bauer, dem der lange, schöne Arbeitstag für's Feldgeschäft verloren ging, allein es war nicht so bös gemeint; ein bißchen anständige Lustbarkeit muß man dem Gesinde schon gewähren, danach geht's wieder umso ebener vorwärts im gewohnten Trab, und ganz ausschließen kann sich auch keiner, will er nicht scheel angesehen werden um des Schaffens und Raffens willen, das der Landmann Tag für Tag gut heißt, nur am Kirmeßtag nicht. Ist doch auch dem Vieh in so bewegter Zeit, die an jede Arbeitskraft gesteigerte Anforderungen stellt, ein behaglicher Ruhetag im Stall oder auf der Weide zu gönnen, so gut wie den harmlosen Vöglein und flinken Feldmäuschen die Nachlese auf dem Stoppelfeld; – jedem das Seine!

Auch die Hausfrau läßt heute fünfe gerade sein. Auf ein paar Eier mehr oder weniger kommt's nach dem üppigen Verbrauch der letzten Tage auch nicht an; ein bißchen Geselchtes dazu, ein Stücklein Kuchen oder ein paar süßduftende, goldbraungebackene Schmalzküchlein – Eigengebackenes geht leichter aus der Hand und vom Herzen, als was man erst karg gemessen kaufen muß; auch die Armut hat ihr Recht und soll besser wie sonst leben an solchen Tagen!

Im Lindenhofe, einem der schönsten und stattlichsten der zu Lindenheim gehörigen Gehöfte, war freilich die Kirmeßfreude noch nicht zum richtigen Ausdruck gelangt.

Nicht, als ob gerade hier knappe Hände das Festmahl gerüstet, mißgünstiger Sinn den Armen ihren gewohnten Anteil, dem Gesinde das übliche Maß des Festgenusses gekürzt hätte, behüte! Auch hier süßer Kuchenduft, von Sauberkeit und Ordnung blinkende Räume, auch hier Blumenschmuck an Thür und Fenstern, Sonntagsruhe auf dem Hofe, Festkleider in der Kammer bereitgelegt, auch hier Sonnengold und Himmelsblau – draußen, nicht in den Gemütern. –

»Wo steckt der Bernd?«

Der Bauer war in die große, dämmrigkühle Wohnstube getreten und blickte mit gefurchter Stirn ringsum.

»Wo wird er sein?« entgegnete die Bäuerin, die eben ein mit kunstvollem, handgeschürztem Einsatz geschmücktes Tafeltuch, ein kostbares Erbstück, aus der Truhe holte, gelassen. »Auf seiner Kammer wahrscheinlich, sich ein bissel herausputzen.«

»Herausputzen? – jetzt am frühen Vormittag?« Ein Unwetter sammelte sich drohend auf der breiten, eckigen Stirn des Lindhofbauern, seine Augen sprühten. »Der Bub ist noch mein Tod, – so hätte ich meinem Vater kommen sollen!«

»Ist ja Kirmeß heut – thu' doch nicht gleich so.«

»Kirmeß, – heut morgen etwa schon?«

»Warum denn nicht? – das Gesinde hat frei, der Hütbub sogar darf sich einen lustigen Tag machen, du selbst gehst auf ein paar Stunden in's Dorf und mir soll die Ruhe hier oben auch wohl bekommen, wenn ich gleich von dem lärmenden Getriebe nichts wissen mag. Wird uns selten so gut in der heißen Feldarbeitszeit, Konrad, drum wollen wir's auch allen redlich gönnen, gelt?«

»Jedem, der's verdient, – ganz gewiß! – Aber warum hat das Gesinde bis auf die Küchenmadel jetzt schon frei? – Weil's zum Kirchgang rüstet und nit blos Lustbarkeit herausschlagen will. – Der Bernd aber – rüstet der zum Kirchgang? – ist der in Jahr und Tag auch wohl einmal zum Gottesdienst gegangen? – Halt, ich weiß, was du sagen willst! Allein lauter Gutheit ist das auch nit, daß er den Großknecht statt seiner gehen läßt, oder – nimmt er etwa andern wochüber die Arbeit ab? Eine Ausred' will er haben; sonst würd' ich ihn mit zehn Ackergäulen nicht in's Geschirr bringen, den widerhaarigen Burschen!«

»Probier's doch nur einmal mit Liebe, Vater,« bat die Bäurin und legte ihm schmeichelnd die hartgeschaffte Hand auf die Schulter. »Allzuscharf macht schartig« und »Zwei harte Stein' mahlen selten fein«; – Ihr beiden Hartköpfe seid aber solch harte Steine, und allzuscharf bist du auch, da muß es ja zuweilen Funken geben.«

»Haha, Weiberweisheit!« lachte der Alte grimmig. »Was du nicht alles weißt, um den Buben herauszureden! Du hältst ihm nur immer den Kopf und füllst ihm heimlich den Säckel; meinst ich merk's nicht? – Aber das ist auch nicht das Rechte, ein junger Bursch soll sich nach der Decke strecken. – Nein, nein, heut mittag kann er mitmachen, hab' nichts dagegen, wenn's nur mit Maß geschieht; jetzt aber soll er einspannen und auf die Brache hinausfahren, die erste Hackfrucht hereinzuthun, kann mit dem Schmalstreifen am Waldsaume just fertig werden, bis die Suppe auf dem Tisch steht ...«

»Heut, Konrad – du wirst doch nicht?«

Jetzt kam's singend und pfeifend die Treppe herab; die Thür ward aufgerissen und ein junger Mensch von schlankem Wuchs und raschen, hastigen Bewegungen, mit falkenscharfen, schwarzen Augen und buschigem Kraushaar über der breiten, gewölbten Stirn trat in's Zimmer.

»Da bist du ja, Vater!«

Sein Blick war unstät über die Eltern hingeflogen, als wäre er seiner Sache doch nicht so ganz sicher; dann aber hatte er kurz besonnen das rote Seidentuch zurechtgezogen und war mit einem Satz drüben am Fenster, um sich ein schmuckes Sträußchen in's Knopfloch zu stecken.

»Kirmeß heut, Vater, – und der Säckel leer,« sagte er lustig, »hilfst mir wohl aus der Klemme, denk' ich.«

»Wie viel soll's?«

Es war ein seltsam prüfender Blick, der über den schmucken Burschen hinlief, aber Wohlgefallen war just nicht drinn, und einem Besonnenen hätte die knappe Frage eher wie eine versteckte Falle als wie ein gutmütiges Zugeständnis erscheinen mögen.

Nicht so dem lebenslustigen Burschen. »Heut thut sich's,« dachte der profitlich, »der Alte scheint ein Einsehen zu haben; drum frisch drauf los.«

»Wir haben allerlei vor, wir Buben von Lindenheim,« lachte er, indem er eine sammetweiße, purpurgesprenkelte Nelke und ein paar strahlendrote Geranienblüten zu einem zierlichen Sträußchen zusammenfügte. »Der Schulzen-Frieder hat ein »Herrenreiten« angeordnet. Er auf dem Goldfuchs, der Huber Michel auf dem Falben, die Steinhöfer mit ihren Braunen und ich mit unserm strammen Kohlenpeter, ein Hauptspaß, vom Militär hat er's mitgebracht, und wer am ersten am Ziel ist, der ...«

» Der – aber du nicht, verstanden, und am allerwenigsten mit dem Kohlenpeter!« brauste der Bauer auf. »Meinst, ich hab' das Tier gekauft, um es von euch Buben zu Schanden reiten zu lassen? Meinst das Geld sitzt mir so locker in den Taschen, daß es durchaus hinaus muß, das Vieh, das uns so redlich schaffen hilft, müsse zu Grunde gerichtet werden durch euren Uebermut? – Thu mit, wenn du kannst, ohne Gaul, den meinen kriegst nit dazu, basta! – »Herrenrennen!« – Sünd' und Schand', – seid ihr Herren oder Bauern, Männer oder Buben, ihr übermütigen Gesellen? – Wenn der Schulzen-Frieder nichts Gescheiteres vom Militär mitgebracht hat, wird er seinem Vater wenig Freud' und Ehr' machen.«

»Wie man's nimmt«, gab der Sohn empfindlich zurück, »der Schulz kürzt seinem Frieder den Beutel nicht und die Fremden, die herauskommen, wollen doch auch was Rechtes sehen.«

»Pferdehetzen giebt's in der Stadt mehr als genug«, grollte der Bauer dagegen, »deswegen brauchen die Lindenheimer Buben noch lang keine Tierschinder zu' werden. Und was das Uebrige betrifft: – der Kronenwirt läßt alleweil einen guten Tropfen vom Zapfen rinnen, und der Kaffee und die Küchlein der Frau Theres sind weit und breit berühmt, mehr braucht's nicht, weder für sie noch für uns. – Aber wie hoch kommt der Schwindel, heraus mit der Farb', – ohne Hetzjagd natürlich, denn meine Tiere geb' ich nicht zu solcher Narretei her!«

Bernd zuckte verdrossen die Achseln. »Nun,« sagte er dann nachlässig, der Ausschuß meint, so an die zwanzig – dreißig Mark sollte ein jeder beitragen; was er danach bei Tanz und Schmaus aufwenden wolle, sei seine eigene Sache.«

Der Alte fuhr auf wie gestochen. »Was sagst Du? – Zwanzig bis dreißig Mark? – Glaubt ihr uns närrisch oder seid ihr's selbst? – Hahaha! – Davon lebt ein armer Krüppel ein Vierteljahr lang, wenn's ab und zu noch ein bissel Nachhilfe giebt; damit bezahlt manch kleines Bäuerlein einen Zins, der ihm tagsüber den Bissen, nachts die wohlverdiente Ruhe vergällt. – Und einen »Festausschuß« habt ihr auch, ihr luftigen Gesellen? – haha, man merkt's, daß ihr nach der Stadt hinüberhorcht; kein Wunder, daß da die Feldarbeit zu kurz kommt!«

»Der Schulz findet kein Arg dran«, erwiderte Bernd störrisch, »dem ist sein Bub' schon noch einen ordentlichen Batzen wert.«

»Der Schulz kann thun, was er will, und ich thu', was ich will und – verantworten kann. Mir regnen die Goldvögelein nicht vom Himmel herunter, im Gegenteil, jeder Pfennig will mühsam aus der Erde gegraben sein. Weißt du, was ich bekommen habe, seiner Zeit? Will's dir sagen: »Obdach und Essen für 365 vollgemessene Arbeitstage, aber keinen Lohn; am Volksfest aber, das bei uns zu Haus drei Tage währt und hundertmal mehr Lustbarkeit und Kurzweil bietet, als der eine knappe Kirmeßtag, einen halben Gulden Bargeld, ein für allemal, und damit basta!«

Bernd riß die Augen weit auf; dann lachte er verächtlich: »Das hätte ich mir einfach nicht gefallen lassen!«

»Du nicht – so? – Bei uns war's anders; der Vater Herr im Haus, die Söhne seine Gehilfen bei der Arbeit, seine Untergebenen für den Gehorsam. So stands dazumal und die Welt ist darum nicht aus den Fugen gegangen. Wär's doch heut noch so: Ehrfurcht vor dem Alter, Gehorsam und Gewissenhaftigkeit in der Arbeit wie in der Gesinnung, Bescheidenheit, Ordnung und Mäßigkeit regierten die Welt, nicht Hochmut, Dünkel und maßlose Genußsucht, wie das leider heutzutage der Fall ist. – Und nun thu dein Arbeitsgewand an, Bernd, und spann' ein; kannst das bissel Hackfrucht beim Waldstreifen hereinschaffen, beim Mittagessen reden wir weiter über das, was ich dir als Kirmeßzuschuß geben will und kann.«

Der Bursche fuhr wild herum. »Was – ich, Hackfrucht holen? – heut', am Kirmeßtag? – fällt mir nicht ein, in Ewigkeit nicht!«

»So sieh zu, wie du's machst! Bei mir gilt ein Wort, das weißt du, und darum sag' ich auch: Da hilft kein Mundspitzen, gepfiffen muß sein!«

Der Bursche fuhr sich wild durch das dunkle Kraushaar und murmelte etwas von »pfeifen wie es – ihm beliebe,« dann schlug die Thür krachend hinter ihm in's Schloß und man sah ihn raschen Schrittes über den saubern Hofraum und gegen den dorfwärts führenden Wiesenpfad hinschreiten.

Frau Margret ließ das Linnen aus den bebenden Händen gleiten. »Gieb ihm ein gutes Wort, Vater – um meinetwillen!«

Der Bauer sah ihr fest in's Gesicht; nach einer Weile schmolz der starre Blick. »Ich – meinem Kinde, Margret? – auch um deinetwillen nicht. – Sein Starrkopf muß sich beugen, sollen wir zwei miteinander auskommen; sei doch ruhig, keine Suppe wird so heiß gegessen, wie sie gekocht ist.«

»An dem Heller hättest du heute nicht zu knappsen gebraucht, Vater, bist doch auch einmal jung gewesen.«

»Jung und – gehorsam, Margret; knapp gehalten; bis aufs äußerste, – was weißt du, wie ich's gehabt habe in meiner Jugend. Er wird sich zeigen können mit dem, was ich ihm spendiere, dafür aber verlange ich Gehorsam und Maßhalten und dabei bleibt's. – Und nun schick' die Madel mit einer Schüssel voll Schmalzküchlein in's Hirtenhaus, Margret, – gut gemessen, denn die wollen heut auch einmal aus dem Vollen leben. – Was weinst noch, Mutter? – er wird zurückkommen und mir den Willen thun, womit sollte er denn heut mittag den großen Herrn spielen?«

Er irrte sich aber doch in seiner Voraussetzung, denn kein Bernd ließ sich blicken, kein Wagen ward eingespannt, um das bißchen Hackfrucht hereinzuholen. Der Kirchgang war vorüber, die Mittagstafel stand gerüstet in festlichem Schmucke und mit einer Fülle ländlicher Leckerbissen beladen, allein das Tischgebet war gesprochen, die Mahlzeit hatte begonnen und war mit größerem Zeitaufwand als sonst zu Ende geführt worden, ohne daß der Sohn des Hauses daran teilgenommen und die erwartete Sinnesänderung bezeugt, oder auch nur das zugedachte Geldgeschenk vom Vater in Empfang genommen hätte.

»Er wird schon kommen, laß doch nur, Mutter«, hatte dieser noch gesagt, als er sich selbst zum Gang in's Dorf fertig machte. Die Mutter aber fürchtete seine Heimkehr, wo er von zornigen Anklagen wegen Verkürzung seiner Freiheit, Ausnützung seiner Kraft und ähnlichen maßlosen Beschuldigungen übersprudeln würde, eben so sehr, wie ein Zusammentreffen mit dem Vater, dessen starrer Sinn am allerwenigsten, wenn Genuß- und Verschwendungssucht das große Wort führten, sich beugen ließ. Wie sollte das enden? –

Auf dem heckenumsäumten Wiesenweg stieß indessen der Lindhofbauer mit dem Ortsgeistlichen zusammen, und dieser gewahrte auch gleich, daß nichts weniger als Freude auf der gebräunten Stirne lag.

»Hat's Verdruß gegeben, Lindhofbauer, mit dem Bernd vielleicht?« fragte er geradewegs. »Geht ein böser Geist um unter den Burschen des Dorfes, das weiß ich am allerbesten, und heut gar will jeder der wohlhabendste und übermütigste sein, als wärs nimmer genug der Tollheit. Hab lang keinen in der Kirche gesehen, auch den Bernd nicht, Bauer, – das hat er doch nicht von Euch.«

»Nein, weiß Gott, Herr Pfarrer, mir war der Kirchgang noch nie zur Last; aber die Zügel sind mir entglitten, weiß nicht, wie, – zerrissen meint mein Weib, – als ob sie bei solch übermütigem, jungem Volk jemals zu straff angezogen werden könnten. Ich hab' meiner Zeit ganz anders angreifen müssen, hat mir aber kein bissel geschadet.«

Der Pfarrer wiegte bedenklich das ehrwürdige weiße Haupt: »Strenge und Liebe, Lindhofer, das ist das Wahre. Habt Ihr's daran nicht fehlen lassen, ist der Liebesquell des Christentums in Euch selbst so mächtig, daß er gar nicht anders kann, als beleben und erquicken; ist's helles Licht in Euch, das alles durchflutet und verklärt, auch das strenge Wort, das ab und zu gesprochen werden muß?«

Der Lindhofer war nachdenklich geworden. »Ich verstehe das nicht so recht,« sagte er betreten, »ich hoffe, daß ich meine Pflicht erfülle als ein gewissenhafter und gerechter Haushalter; zärtliche Worte giebt's bei uns Bauern nicht, aber gut gemeint ist's doch, Güte und Strenge, – wir sind einmal so lederzäh.«

»Schickt mir den Bernd einmal in's Haus, Lindhofer,« bat der Pfarrer, »ich will ihm ins Gewissen reden, nachforschen, ob er als Gottes und Euer Kind nicht ein bischen im Rückstand geblieben. Aus finstrer Nacht ringt sich der strahlendhelle Morgen empor, und: Aus Nacht zum Licht! soll's auch heißen im Menschenleben und Christenstreben. – Ist hohe Zeit, daß die Buben sich auf ihr erneuertes Taufgelübde besinnen und eifrig dem Einen nachstreben, das Not thut.«

»Will's nicht vergessen, Herr Pfarrer; behüte Sie Gott indessen.«

Damit suchte der Eine sein stilles Studierzimmer, der Andere die Lustbarkeit auf der Dorfwiese auf, um ein bischen Ausschau zu halten nach dem, der sein Recht so gewaltsam ertrotzt hatte.

Allein vergebens. Freilich war das meiste schon vorüber, eigentlich blos noch Tanz und Schmaus in flottem Gang, doch auch da pflegte Bernd nicht zurückzuhalten; heut aber war er nirgends zu erspähen, von keinem gesehen worden, und doch – Kirmeßtag ohne Bernd Lindhofer, es war rein undenkbar!

Auch daheim war er nicht gewesen; sein Bett unberührt, seine Lade mit Wäsche und Alltagskleidern wie sonst, nichts fehlte, als was Bernd auf dem Leibe getragen, ob er nun Bargeld besessen, war nicht zu ermitteln, – eins aber war bald nur zu gewiß: er hatte sich der väterlichen Gewalt ein für allemal entzogen, war spurlos aus der Gegend verschwunden.

* * *

Ein paar Jahre waren darüber hingegangen, in dem einförmigen Gleichmaß, welches dem ländlich geschäftigen Leben seinen besonderen Stempel aufdrückt. Zu Anfang hatte man das Verschwinden des Erben vom Lindenhof vielfach in Wirtshaus und Spinnstube besprochen, dann war die alles ausgleichende Zeit darüber hingezogen, die Gemüter hatten sich beruhigt und der wichtigeren Alltäglichkeit zugewandt.

Nicht so auf dem Lindenhof. Dort hatte die Sorge um das Leben, um Gedeihen oder Untergang dieses Einzigen, hart an Frau Margrets Kraft und Gesundheit gerüttelt und auf der Stirn des Lindhofers tiefe Furchen eingegraben. »Jetzt stünde dir eine frische, freudige Kraft zur Seite,« mahnte zuweilen eine leise Stimme, »wäre der Bernd nicht so halsstarrig gewesen und du – etwas liebevoller, damit er den Vater in deiner Strenge gespürt hätte, nicht nur den Herrn.« – Freilich versiegte die zähe, langerprobte Kraft des arbeitgewohnten Mannes keineswegs, die falkenscharfen Augen waren noch so klar wie ehedem, aber der Wurm nagte doch an seinem Herzen, und blickte er über den herrlich gedeihenden Grundbesitz hin, dann ward ihm erst recht weh um's Herz: Für wen denn nun – für wen?

Kein Unfrieden auf dem Lindenhofe, kein ungutes Wort, behüte, aber auch kein fröhliches Lachen, kein harmloser Scherz; – Dämmerweben über dem ganzen lieblichen Besitz gesicherten Wohlstands, statt hellstrahlenden Sonnenlichtes, in den bekümmerten Herzen aber dunkle Nacht.

Auch kein Aussprechen, kein Aufatmen, nur rastlose Arbeit, um den einen gewaltigen Schmerz zu übertäuben; auch die Vorwürfe der Bäuerin, das Grollen des Bauern verstummt, es war ja doch nichts zu machen.

Da – es ging in's vierte Jahr seit Bernd's Verschwinden, – brachte plötzlich der Hütbub die aufregende Kunde: drüben in Ulmenhofen beim »Sandbaron« stehe ein Taglöhner in Arbeit, der müsse und müsse der Bernd Lindhofer sein.

Freilich, abgerissen und elend sehe er aus, verlottert und verkommen, die buschigen Stirnlocken aber seien's und die trotzigen Augen; zwar werde er Lorenz genannt, aber dennoch – dennoch ...

Jetzt kam Leben in die Lindhoferin. Da müsse man doch gleich einmal nachschauen, meinte sie, wollte zum Schneider schicken, damit er ordentliche Kleider, zur Flickmadel, daß sie aus dem reichen Leinenvorrat gute neue Wäsche beschaffe, und begann Musterung im Küchenschrank und Vorratskammer zu halten, denn jetzt mußte der Vater doch nach dem armen Buben sehen.

Der aber machte dem Taumel ein jähes Ende. »Nichts da,« beschied er, »ist was an der Geschichte und ist er so verlottert, daß er beim »Sandbaron« taglöhnern muß, so sucht er bald wieder wohl anzukommen. Und das soll ihm auch nicht verwehrt sein, gewiß nicht, aber Gehorsam verlange ich, und nachlaufen thu' ich dem Buben nicht, – in alle Ewigkeit nicht. Ich hab' warten gelernt, mag er thun, was ihm beliebt.« Damit war die Angelegenheit nach Außen hin erledigt, in den bangenden Elternherzen aber fraß der Feuerbrand weiter und weiter mit ungestillter Glut.

»Wie er nur so hart sein kann,« dachte die Mutter, »ist doch sein eigen Fleisch und Blut!« Ganz unbegreiflich war ihr der Mann, der so gemessen seinem harten Tagewerk nachging und kein Wort mehr über die Angelegenheit verlor, und ihr bleichte es doch ersichtlich die Haare, legte eine zitternde Hast und Ruhelosigkeit in die müden Glieder, zerfleischte es das wunde Herz. Ihr Bernd so nah, siech, verlottert – dennoch kam er nicht. – Und Wochen strichen darüber hin, schwere, trübe Wochen. – –

»Hoho – wo brennt's?«

Ein reitender Bote jagte von Dorf zu Dorf. »Burschen herbei, – schafft Leiterwagen, Betten und Geräte zur Stelle, – wo wohnt der Wundarzt? – Beim »Sandbaron« ist alles zusammengestürzt, 20 Arbeiter liegen im Steinbruch begraben – rettet – rettet!« ... Schon war er davon, eine wirbelnde Staubwolke jagte hinter ihm drein.

»Schrecklich – gräßlich! auf und fort!«

Auch auf den Lindenhof war die Schreckenskunde gedrungen, hatte die Mutter wie vernichtet zu Boden geworfen, den Bauern aber hinausgejagt zu den Ställen. »Anspannen,« schrie er, »flink, und Werkgeräte herbei, Bettstücke, Leinwand! – Zwei fahren mit, der Großknecht soll dableiben und die andern zusammenhalten. – Aufgepaßt, Peter, – und du, Mathias, fahr zu!«

Das war bebende Vaterangst im Bunde mit dem letzten klaren Besinnen. Jetzt aber wirbelten ihm die Sinne, sah er nur Blut und Staub, hörte Stöhnen und Jammern. Dazwischen wieder und wieder: Zu spät – zu spät! – Nein, nein, es durfte nicht sein, war's doch sein Sohn, sein Einziger, – ja, wußte er's denn so gewiß? – hatte einer ihn sicher erkannt oder einmal mit dem verlotterten Gesellen gesprochen? –

Weiter – weiter!

Von allen Seiten rasselten die Wagen heran, rannten Menschen herbei mit Hacken und Spaten; schreckensbleich, in bebender Hast, manche wie irre, sprach-, fast hilflos in ihrer bebenden Angst; – das waren die armen Häuslersleute von Lettenbühl, die zumeist einen der Ihrigen bei dem »Sandbaron« eingestellt hatten.

Wie war's nur geschehen? – Keiner wußte es so recht; wie ein Lauffeuer war die Schreckenskunde durch die Luft geflogen, fast dem Unglücksboten noch voran eilend; beim »Sandbaron« aber, der seine Gruben fast bis zur Unmöglichkeit ausnützte, nur mangelhafte Sicherheitsvorkehrungen traf und bei dem häufigen Arbeiterwechsel niemals eingeübte Leute zur Verfügung hatte, mußte solch schreckliches Unglück geradezu namenlose Ausdehnung gewinnen, wer weiß, ob nur Einer mit dem Leben davonkam! – Hundert willige Hände, Opfermut und Hingebung in allen Herzen, aber – wie wenig verständnisvolles Angreifen! – Waren die Leiter des Unternehmers nicht zur Stelle, so war dennoch alles vergebens, und dann – wer kannte eigentlich die Lage der Verschütteten, wer wußte etwas von möglichen Zugängen, wie weit war's auch bis zur Unglücksstätte, sie konnten, mußten ja alle erstickt sein, bevor nur die erste Hilfe kam ...

Ja, durch Unvorsichtigkeit und mangelhafte Vorkehrungen war in dem fast völlig ausgebeuteten Schachte, dessen tiefere Lehmlagen in den letzten Jahren keine Oberfeuchtigkeit mehr erhalten hatten und darum auch keine Widerstandsfähigkeit und Bindigkeit mehr besaßen, das Unglück entstanden. Die oberen lastenden Erdschichten hatten nachgedrückt, die schwachen und ungenügend verrammten Sprießhölzer aus ihrer Lage gedrängt und Seitenwände, sowie das ganze schwache Schutzgerüste eingerissen. Knapp vor Schicht war's geschehen und darum auch nicht alle dort beschäftigten Arbeiter im Schutt begraben, wie man anfänglich gemeint; immerhin mußten deren 8-10 in qualvollster Lage und halberstickt, wenn nicht gar schon tot unter den Trümmern liegen.

» Herr Gott – steh' uns bei!«

Die schon zum lieblichen Abendlichte gelangten Arbeiter, die eben das Geschirr bergen, Staub und Erde von den Kleidern klopfen wollten, hatten ihn noch vernommen den herzzerreißenden Hilferuf, der das Schüttern und Dröhnen kaum zu übertäuben vermocht, hatten, selbst durch die gewaltige Erschütterung zu Boden gerissen, zuerst kaum sich zurechtzufinden, das Unglück zu übersehen vermocht. Dann warfen sie sich mit Macht in's Zeug; allein was vermochten die paar schreckerstarrten Hände, wo anfangen – wo eindringen? – Schwankte der Boden nicht jetzt noch, mußte nicht vollends alles zusammenstürzen und auch die letzte Spur hoffenden, schwachatmenden Lebens vernichten? Nein, nein, – fort, drei, vier der flinksten Leute herbeizuholen; die übrigen aber mit Spaten und Hacken an die Arbeit, nur rasch! –

Drunten im Schacht währte das Stöhnen, Aechzen und Wehklagen noch immer fort; hin und wieder auch ein wilder Fluch, eine gräßliche Verwünschung, zuletzt lautes, verzweifeltes Schluchzen. »Mein Weib – mein Kind!« schrie Einer, der erst am Morgen zur Arbeit eingestellt worden, – » besser hat's werden sollen, als es bislang gewesen, und nun – Herr Gott, erbarme dich unser!« – Ein Zucken noch, ein Stöhnen, so gräßlich wie nur Todesangst und der Schmerzen gesteigertste Qual es loszuringen vermag, dann war's plötzlich still – die Not vorüber. –

»Warum kommen sie nicht? – Hilfe – Hilfe! – Wir sind vergessen – verloren! – Die Schurken – keiner getraut sich heran! – Aber wen hat's eigentlich getroffen? – Haibling, Wacker, Mühlbronner, Zuckschwerdt, Lorenz?« – Ach, da war schwer Umfrage zu halten; manch einer war stumm geworden für immer, andere rangen in Qualen um einen befreienden Atemzug oder waren, von den Erd- und Steinmassen gequetscht und halb begraben in die peinvollste Lage gedrängt, unfähig sich aufzurichten oder auch nur die Hand zu rühren. Und drüber schlich die Zeit hin, Ewigkeiten – oder waren's nur Stunden, Minuten gar zu Ewigkeiten ausgedehnt? – Gleichviel, manchem kroch mit der Todesangst ein Grauen vor der Nacht, dem – Gerichte zum Herzen, bleichte es das Haar, entrollte es in Sekundendauer das ganze vergangene und verlorene Leben vor dem innern Auge; manch einer lernte, was er nie gethan in den leichtsinnig vergeudeten Stunden eines ungenützten Daseins, das Beten. – Und immer knapper wird die eingepreßte Luft, immer qualvoller der Druck; gleich ätzendem Staub dringt die pulverig trockene Erde in die aus ihren Höhlen tretenden Augen; da und dort noch ein dumpfes Schüttern, wenn ein Stein oder Querholz aus seiner augenblicklichen Lage weicht, dann ein Aufatmen, wohl auch ein letztes Zucken oder ein gräßlicher Fluch, das entsetzliche Ende eines verlotterten Lebens. – Und tiefdunkle Nacht ringsum – kommen sie noch immer nicht? Zu Hilfe – Hilfe! – Ach Herr Gott, hilf du uns aus Nacht zum Licht

»Bist Du da, Lorenz?«

»Ja,« tönt's dumpf dagegen, »aufrecht an die Wand gedrückt, bis über Kopfhöhe mit Erde zugedeckt; – 's ist aus, Melcher, – ganz aus!«

»Auch mit mir, Lorenz, und doch bilden Bretter und Sprießhölzer ein Schutzdach über mir; dich könnt's retten, du bist jung, mir aber hat's den Treff gegeben; werde den lichten Sonnenschein nicht mehr schauen – nie mehr! – aber du, Bernd, – hab dich lang erkannt und weiß wohl, wohin du gehörst, – wenn sie dich doch herausholen, so mach' glatte Rechnung, hörst du, und – auch so; befiehl deine arme Seele Gott anheim und denk' zum letzten noch in Liebe an die Deinigen. – Hab auch meinem armen Mutterl mit Undank gelohnt, und schau, das packt mich, den nutzlosen Alten, der gar nichts weiter auf Erden zu suchen hat, noch ganz anders an als der grinsende Tod. – Mach Frieden, Bernd, – mach Frieden!«

Ein dumpfes Stöhnen antwortet: »Zu spät – zu spät; – von uns kommt keiner mehr an's Tageslicht!« – – Im Herzen des jungen Menschen aber wühlt's wie ein zweischneidiges Schwert. Ach, daß er nicht einmal seinen Trotz bezwungen, um die treue Mutter wenigstens in die Arme zu schließen, daß er sich nicht doch endlich gedemütigt vor dem strengen, aber gerechten Vater. Wie anders stünde er jetzt da, und wär' er auch in derselben verzweiflungsvollen Lage, arm, verkommen, verschüttet, angesichts eines grauenhaften Todes, Herz und Gewissen wären doch frei – ganz frei!

Ganz frei? – Ach nein, auch dann noch nicht; deines Gottes Schuldner wärst du heute wie seit Jahren, dahinfahren müßtest du in deinen Sünden, deinem Stolz und Hochmut trotz alledem. Weißt du nicht, wie du dich verfehlt gegen ihn, deinen Schöpfer und Erhalter, wie du Gottes Wort und Lehre versäumt, nur im Genußtaumel dahingelebt hast, als wüßtest du nichts von Ewigkeit und Gericht, wie du Vater und Mutter verachtet, die Arbeit geflohen, der hilflosen Kreatur nicht geschont hast, du, der Einzige, Treubehütete eines wackeren und gottesfürchtigen Elternpaares?! In finstrer Nacht hast du dahingelebt, finstrer noch als diejenige, die dich jetzt umgiebt, grauenhafter als die Nacht des Todes, die dir entgegengähnt, und kämst du gleich jetzt an's rosige Tageslicht, du Thor, und wärst nicht zugleich auch von finsterem Irrwahn frei, so wär's doch immer noch nicht aus Nacht zum Licht!

» Herr –Herr, erbarme dich mein!« – Aus tiefstem Herzensgrunde kam der Hilferuf, und nicht um die Gunst des Lebens, nicht um irdischen Gewinn, sondern um das Heil seiner armen Seele flehte der Verschüttete wieder und wieder. Die Fessel war gesprengt, die dies schwache und weltliche Herz in Banden gelegt, wie ein blendender Lichtstrahl hatte es die finstere Nacht zerteilt, – er vermochte zu glauben. – »Und nimmst du zur Stunde dies armselige Leben von mir, du großer und gerechter Gott, so lässest du mich doch gewiß nicht verderben! – O, so tröste auch meine armen Eltern und laß sie in Liebe meiner gedenken – – – –« Dann ward es still in ihm, als ob der Mutter linde Hand sich auf seine fiebrischhämmernden Schläfen legte, als sänge eines Glöckleins weicher, süßer Klang die wild durcheinanderstürmenden Gedanken zur Ruhe, er litt und bangte nicht mehr – o, so hinüberschlafen, wo sind da die Schrecken des Todes? – – – –

»Da – noch Einer! – Vorsicht, Leute, daß die Wand nicht über uns zusammenstürzt! – Mit Händen muß die Erde ausgehoben werden, erst den Kopf frei machen, daß er atmen kann! – Und hier der Graukopf, der Melcher, geschützt durch Bretter und Sprießhölzer, wie in Gottes Hut, – aber tot – da ist alles aus.«

Fünfzig Hände streckten sich aus, – Wundarzt und Pfarrer drängten zur Stelle, allen voran der Lindhofer, den diese eine Schreckensstunde zum silberhaarigen Greise gemacht.

»Bernd! – Bernd!«

Herzzerreißendes Flehen klang aus dem einen knappen Wort. Vermochte der gellende Aufschrei wirklich die Macht des Todes zu brechen? – Ein Zucken ging über das bleiche Antlitz, die Lider hoben sich, einen Augenblick nur, und: »Vater – vergieb« – – kam es wie ein Hauch über die farblosen Lippen.

»Laßt mich heran, Lindhofer.« Der Wundarzt flößte dem Bewußtlosen etwas stärkenden Wein ein, rieb ihm Stirn und Schläfen mit einer belebenden Flüssigkeit. »Noch lebt er, – aber Vorsicht, Leute, daß ihr ihn nicht verletzt, und rasch – nur rasch!«

Ach, sie hätten ihre Kraft und ihren Eifer verzehnfachen mögen, die opfermutigen Männer, auch konnten sie ja nun, da die Leichtverletzten bereits geborgen, die Totaufgefundenen wenigstens geschützt waren, für diesen einen allerschwersten Fall sich zur schwierigen Rettungsarbeit vereinigen. Allen voran aber der wackere Greis, der – ungeachtet des drohenden Einsturzes einer nahen, nur mangelhaft versprießten Seitenwand, Zoll um Zoll des Verschütteten aus der Erde grub, Atemzug um Atemzug des fast schon erloschenen Lebens mit übermenschlicher Anstrengung, Todesgefahr und heißem, innbrünstigem Flehen erkaufte. »Helfet – rettet; tausendfach lohne ich's euch!« – und doch ließ er sie kaum heran, hob jede Handvoll Erde selbst heraus bis herab zu den Lenden, dann endlich konnten die Steine mittelst Brecheisen entfernt werden.

»Bernd – Bernd, mein Einziger!« – Er legt sein Ohr an die schmerzlich zuckende Brust, horcht auf den fast erstorbenen Odem, streicht kosend mit der Hand über das wirre Kraushaar. – Soll alles vergebens sein, soll er ihn doch noch hergeben müssen?

Die Nacht ist drüber hingegangen, fast zehn volle Stunden hat das gefahr- und aufopferungsvolle Rettungswerk gewährt. Schluchzend und jammernd drängen sich die Angehörigen der Toten und Verwundeten an der Unglücksstätte, neugierig oder auch mitleidig diejenigen, die um keinen zu bangen brauchen. Jetzt wird auch der letzte der Verschütteten, des reichen Lindhofers Sohn, auf die bereitstehende Bahre gebettet, und im selben Augenblick zerreißt der Nebelflor des dunstig verschleierten Morgens und die grausig verheerte Arbeitsstätte ist in leuchtendes Sonnengold getaucht. Ein mattes Lächeln geht über das bleiche Antlitz; o wie hell und klar, wie wundersam belebend: Aus Nacht zum Licht! ...

Dann setzt sich der Zug in Bewegung, das Arbeitsfeld ist verödet. Lichte Rosenwölkchen schweben über der Stätte des Schreckens und der Trauer, und wo zuvor Schluchzen und Wehklagen ertönte, da singen nun die Vöglein ihre Lieder, da nicken und grüßen Wegwarte uns Tausendschön, die genügsamen Kinder der Wiese, die selbst noch unter eilenden Tritten am Wegesrand emporsprießen und ihre lieblichen Blüten entfalten. –

Verzweiflung und brennende Thränen hier, dort lauter Jubel, je nachdem sich das stundenlange, herzzerreißende Bangen in Trauer oder Freude gewandelt. Unter einem Dach aber Dank und Anbetung dem Höchsten, denn der Frieden des Hauses, das verschüttete Glück dieser leidgeprüften Herzen, der Sieg des Glaubens ist gleich dem Totgeglaubten emporgestiegen aus Nacht zum Licht!

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