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Künstlers Abschied und Königs Ende

Schon auf der Rückreise von Palermo hatte Wagner in Venedig haltgemacht, um für den nächsten Winter ein Heim auszusuchen, wo er Erholung finden wollte von allen letzten Strapazen. Er wußte, wie wohl die milde südliche Luft an der Adria seinen Nerven tat.

»Parsifal« war vorübergegangen. Da König Ludwig nicht nach Bayreuth kam, wie vor sechs Jahren, wollte Wagner seinen Schirmherrn in München aufsuchen, als er nach Italien reiste, traf ihn aber nicht an. Ludwig weilte ununterbrochen auf seinen Schlössern, in seinen Bergen. Wagner konnte dem Gütigen nur im Geiste die Hand küssen:

»Die einst im Sturm ich faßt'.
Die, als mich Not umkettet,
Mich königlich gerettet.«

Königs Geburtstag verstrich, ohne daß man einander sah. Also konnte Wagner an Ludwig nur ein klagendes Telegramm senden:

»Verschmähest du des Grales Labe,
Sie war mein alles, dir zur Gabe.
Sei nun der Arme nicht verachtet,
Der dir nur gönnen, nicht geben mehr kann.«

Wagner hatte in Venedig den alten Palazzo Vendramin-Calergi am rechten Ufer des Canale Grande zu seinem künftigen Wohnheim bestimmt, gegenüber dem Türkenmarkt, dem Fondaco dei Turchi, der schon 1481 erbaut wurde, also während der Frührenaissance. Manche hielten diesen Palazzo für einen der schönsten und edelsten unter vielen.

Nur einen der beiden Seitenflügel bezog die Familie des Meisters, als man am 18. September 1882 hier eintraf. Nur ein einziges Zimmer ging auf den Canale Grande hinaus.

Sehr bald stellte sich ein schon angekündigter und freudig begrüßter Besuch ein: Franz Liszt erschien in Venedig und nahm im Wagnerschen Hause Wohnung. Liszt hatte seinem Freunde geschrieben, er wolle einmal einige Wochen lang als verwöhnter Papa und Großpapa ein schönes und ruhiges Familienleben führen.

Anstatt einen von der Arbeit erschöpften alten Mann fand Liszt in Wagner aber einen jugendlich beweglichen und behaglich gelaunten vor, der schon wieder mit den Festspielen des nächsten Jahres beschäftigt war.

Das Weihnachtsfest verlebten alle gemeinsam. Liszt musizierte viel und Wagner bereitete eine Überraschung vor. Man hatte eine seitdem verschollene Jugendarbeit des Meisters wiedergefunden: seine schon 1833 in Leipzig aufgeführte C-dur-Symphonie, die Wagner am 24. Dezember durch das Orchester des Venetianers Marcello Benedetto im Teatro Fenice eigens für seine Familie aufführen ließ.

Alles verlief vergnüglich für Liszt in Venedig, der auch hier alte Bewunderer und Freunde hatte. Er besuchte oft Kaffeehäuser und bezeigte zu Wagners Erstaunen viele Neigung zu heiter-geselligem Umgange.

Am 13. Januar reiste Liszt weiter nach Budapest. Im Sommer bei den nächsten Festspielen wollte man einander wieder begegnen. Wagner und Familie wollten noch einige Monate in Venedig bleiben: sie fühlten sich wohl in dieser Umgebung.

Im Januar begann auch der Karneval: Karneval in Venedig!

Dieser war aber nur noch ein Abglanz aus früherer Zeit, als die Menschen noch heftiger lebten und inniger jubeln konnten. Auch in Rom war der Karneval längst nicht mehr das, was er früher war, in der päpstlichen Zeit, wo man immer »das Fleisch so gern hatte sündigen lassen«, damit man am Aschermittwoch auch genügend Anlaß zu Buße und Sühne hatte.

Wo waren sie hin, die Zeiten –

Am 6. Februar abends war der Markusplatz von blendenden Lichtern erfüllt. Grelle Musik hallte von den vielfenstrigen Mauern der hohen Palazzi zurück, ausgelassenes Singen und Treiben der Maskenscharen erfüllte die milde Luft.

Aber Schlag Mitternacht war aller Trubel vorbei, alles bis dahin Erleuchtete versank in Dunkel. In feierlichem Zuge wurde die große Puppe »Prinz Karneval« vor den Palazzo Ducale auf der Piazetta getragen, wo sie verbrannt wurde.

» Carnevale è andato«, sagte Wagner bei der Heimkehr zum Pförtner seines Palazzo. Die tolle Zeit war vorüber.

»Eine tolle Zeit« war alles von Anfang an bis heute gewesen, das Ganze, was der Meister in den vergangenen siebzig Lebensjahren erlebt hatte. Es gab drei Männer im neunzehnten Jahrhundert, von denen die Menschen immer wieder und ohne Unterlaß sprachen: Napoleon der Erste, Bismarck und Richard Wagner.

Aber der Karneval war jetzt zu Ende – Carnevale è andato!

*

Wagner beschäftigte sich auch viel mit der Geschichte der Adriaherrin Venedig, die einst alle Meere beherrschte. Glanzvoll war diese Vergangenheit, und trübe und grau war die Gegenwart. Nachkommen der alten Kaufherrengeschlechter, deren Schiffe schon im Mittelalter, vor allem auch während der Renaissance, Waren aus der Südsee und aus dem fernen Osten herbeiholten, die in der Ostsee nach Bernstein suchten und Karawanen nach Rußland sandten, um dort edelstes Pelzwerk zu kaufen, waren heute verarmte Leute, die irgendein kleines Amt bekleideten und ihre Palazzozimmer an Fremde vermieteten.

Aber dieses Venedig schien immer wieder, wie von einem neuen Lebenshauche erweckt, im Frühling aus seinem Verfall aufzustehen und in altem Glanze zu blühen. Ursache mochte die magische Gewalt des immer verjüngenden Lichtes sein, das Himmel und Meer zugleich um Venedig ergießen und seiner hinsterbenden Herrlichkeit eine täglich wieder neu erstehende Jugend verleihen.

Eines Tages mochte dieses köstliche Kleinod von Stadt wieder ins Meer zurücksinken, dem es entstiegen war, als germanische Pfahlbauern aus den Alpentälern vor asiatischen Horden flüchteten und zu ihrer Sicherung auf einer Schlamminsel der Meeresbucht Pfähle einrammten und siedelten. Noch lange Jahrhunderte lang hatten venezianische Geschlechter blonde Haare und blaue Augen.

Nach Sonnenuntergang aber bricht die Wehmut mit verdoppelter Macht empor. Wenn Dunkel sich über die Lagune legt, oder die Mondsichel ihren Schein darüber ergießt, tönt der Gesang der Gondolieri wie Totenklage auf den Kanälen. Die Gondeln gleichen dann schwarz verhangenen Särgen, und man hört das Bröckeln des Gemäuers in den alten Palästen. Hier und da sieht man einen Stein aus den Fensterbogen in den Kanal hinabsinken. Bange Klagelaute hört man von Kanal zu Kanal erklingen, die all der erstarrte Jammer Venedigs entfesselt. Markerschütternd zuweilen bebt er noch lange im Herzen nach.

Wie lange würden diese Kanäle noch von Wasser durchströmt sein? Vielleicht schon das nächste Geschlecht mochte sie mit Erde ausfüllen und Straßen über ihnen erbauen, damit knatternde Autos verkehren und Schaufenster mit Lichtwiderlichkeiten als Reklame eine Moderne vortäuschen können. Denn alle Schönheit muß immer wieder vergehen, weil dann Ameisen und andere Zerwühler an die Reihe kommen, die alles nach Krümeln durchwühlen, die sie zur Füllung ihres Magens benötigen.

Vanitas vanitatum, zu glauben, daß eine neue Schönheit jemals eine vergangene ersetzen könnte!

Solche Zerwühler sind auch die Fremden, die in Venedig seit einhundert Jahren im Leben der Stadt eine erhebliche Rolle spielen. Heute noch mehr denn je, sehen sie so aus, als paßten sie gar nicht hierher. Ist es nicht seltsam, daß es die Menschen immer wieder so stark nach den Gegenden zieht, wo früher einmal große Dinge sich abspielten? Ist das nur die Neugier belesener Leute, oder die Sehnsucht, wenigstens im Geiste aus den grauen Gefilden einer wenig glanzvollen Gegenwart abzuwandern? Um zu ahnen, wie schön die Welt dann und wann sein konnte, wenn sie nur wollte, und die Menschen noch nicht alles wieder zerstört hatten, was sie geschaffen. Wogegen leider kein Kräutlein gewachsen ist.

Auch schon im Jahre 1883 lebten viele gebildete Menschen aus allen Kreisen gern in Venedig. Manche Künstler hielten sich lange Jahre ihres Lebens hier auf.

Auch im Palazzo Malipiero, wo Fürstin Marie Hatzfeld wohnte, konnte man Richard Wagner in jenen Wochen begegnen. Man erzählt, daß die anderen keinen allzu günstigen Eindruck von Wagner gewannen, ob seiner zur Schau getragenen üblen Laune und seiner nicht immer liebenswürdigen Selbstherrlichkeit. Das mochte wohl von den körperlichen Leiden herrühren, die Wagner von Zeit zu Zeit immer wieder befielen. Auch das Herz machte sich unliebsam fühlbar.

Am liebsten saß Wagner abends im Kreise der Seinen. Er las ihnen vor, was er prächtig verstand, oder spielte ein wenig aus seinen Werken am Flügel. Auch am Abende des 12. Februar tat er es. Er hatte vorher für seine Familie aus Fouqués »Undine« gelesen. Dann trat er an seinen Flügel und schlug singend eine Tonfolge aus »Rheingold« an:

»Traulich und treu ist's nur in der Tiefe;
Falsch und feig ist, was da oben sich freut –«

Lange noch blieb er wach und ging in seinem Schlafzimmer auf und ab.

Wieder dachte er an seine Umgebung, an dieses so anheimelnde alte Venedig und an dessen San-Marco-Kirche, an welcher Goethe dereinst nur die auf der Brüstung ausgestellten vier griechischen Rosse bewunderte, die nach der Eroberung Konstantinopels durch die Venetianer hierher gebracht worden waren.

Ebensogut gefiel Wagner der Markusplatz. Hier, wo noch 1858/59, damals, als er am »Tristan« hier arbeitete, österreichische Militärkapellen Stücke aus seinem »Lohengrin« gespielt hatten, spielten heute italienische Militärkapellen auch wieder Stücke aus »Lohengrin« – nur die Uniformen hatten gewechselt. –

*

Auch der ein wenig eingebildete italienische Dichter Gabriele d'Annunzio weilte zu jener Zeit in Venedig. Er war nie ein Freund norddeutscher Kunst gewesen, er setzte die alte und neue romanische Kultur über alles andere. Wenn er aber in Begleitung der Schauspielerin Eleonore Duse in einer Gondel auf dem Canale Grande an der allen Venetiern wohlbekannten Gondel vorüberfuhr, in welcher Franz Liszt und Richard Wagner saßen, dann verneigte der selbstbewußte Italiener sich ergeben und neidlos vor den beiden deutschen Künstlern, weil er sie hochschätzte wegen ihrer Überlegenheit über andere musikalische Zeitgenossen.

Diese Überlegenheit wurde auch von anderen Musikern anerkannt, aber nur von den bedeutenderen. Die Kleinen kläfften auch jetzt noch unentwegt weiter.

Giuseppe Verdi, mit Wagner gleichalterig – auch er war 1813 geboren –, hatte in der Mailänder »Scala« die »Walküre« gesehen. Tief ergriffen rief er den Freunden zu:

»Es ist ein Wunderwerk, das ich anstaunen muß. Aber soll es den, der noch Ehrgefühl im Herzen hat, nicht schmerzlich berühren, wenn ihm durch solche Werke zum Bewußtsein gebracht wird, wie klein sein eigenes Schaffen ist?«

Wagners musikalischer Stil blieb auch auf den schaffenden älteren Verdi nicht ohne Einfluß: schon »Aida«, dann »Falstaff«, »Don Carlos«, »Othello« verraten deutlich eine Hinneigung zur ewigen Melodie. Trotzdem hinterließ oder schuf Wagner keine eigene Schule, nur hier und da Nachahmer unter den schlechten Komponisten, die sich nicht scheuten, in eigener Erfindungsarmut ganze Taktfolgen von Wagner zu übernehmen, die ihnen im Ohre lagen. Bis hinauf zu den heutigen sogenannten jungdeutschen Musikern gilt diese Feststellung: alles andere klingt bei ihnen wie Variationen über die C-dur-Tonleiter, phrasenhaft, nackend und nüchtern. Nein, die alten Schönheiten sind endgültig tot, auch die in der Musik durch die gekonnte Melodik. Nur noch Ameisen stöbern umher in geistiger Einöde, um hier und da dürftige verwertbare Krümel zu finden.

*

Wagner aber empfand, daß er an seinem Lebensabend endlich Ruhe gefunden hatte. Wie schön war das alles, dieses Absinken hindernder Hemmungen, veranlaßt durch die nie endende Beihilfe eines grundgütigen, freundlich begreifenden Königs.

Wagner hatte jetzt freie Bahn gewonnen zu fröhlichem Weiterschaffen.

Gewiß, »Parsifal« hatte das letzte Musikdrama sein sollen, das er noch schaffen wollte. Aber immer neue, schon früher einmal aufgetauchte und dann verdrängte Pläne kamen beim Grübeln wieder zum Vorschein.

Auch an »Die Sieger« dachte Wagner von neuem, an jenes indische Drama, das den Entsagungsgedanken verherrlichte. Entsagung zum eigenen Heile und zu dem der anderen. Sein hehres Vorbild Schopenhauer hatte diese Vorbilder in ihm erweckt.

Wagner bedachte zu wenig, daß diese Entsagung als Ziel des Lebens nur eine » Façon de parler« war, ja sogar eine Naturwidrigkeit auch für jeden Werte schaffenden Menschen. Sollte ein Künstler aus Selbstbescheidung darauf verzichten, nach den Sternen zu greifen und nach der Krone aus Lorbeer? Wagner selbst lag eine solche Neigung am allerwenigsten.

»Wie das Höchste, Frömmste und Wahrste für den einzelnen die Entsagung sei, so solle im Gegensatz zu Tristans und Isoldens Liebessehnen der Sieg, das Heiligste, die Erlösung vor sich gehen. Mit diesem Siege des jungen Paares Prakriti und Ananda über sinnliches Liebesverlangen steige auch Buddha selbst zu einer höheren Stufe seines Daseins hinauf.«

Die Begeisterung für die Idee dieses indischen Entsagungsdramas wurde aber durch diejenige für den Parsifal-Stoff beiseitegedrängt. Vielleicht rang sie sich jetzt wieder durch?

*

Am nächsten Vormittage arbeitete Wagner über einem Artikel für die »Bayreuther Blätter«, den er »Über das Weibliche im Menschen« nannte. Aber dann kamen wieder die Herzkrämpfe, ein Leiden, das die langen Jahre der Notzeit hatten entstehen lassen.

Als Wagner zum Mittagessen gerufen wurde, mußte er absagen, das Wagnersche Herz sollte sich erst wieder beruhigen. Das Hausmädchen überbrachte Frau Cosima die Nachricht, daß es nicht gut um Herrn Wagner stände.

Siegfried Wagner, der damals erst vierzehnjährige Sohn, konnte es niemals vergessen, wie seine Mutter auf diese Nachricht hin aus dem Zimmer stürzte. Sie eilte hinauf in das Arbeitszimmer, wo ihr Mann in seinem Schreibsessel lehnte und stöhnte. Frau Cosima umfing ihn zärtlich, worauf er ruhiger wurde. Sie setzte sich neben ihn, dann wartete sie. War er denn eingeschlafen?

Über die lange Dauer dieses Schlafes beunruhigt, ließ Frau Cosima den in der Nachbarschaft wohnenden Hausarzt holen. Dieser stellte fest:

»Der Meister ist tot, und schon seit einer geraumen Weile –«

Also waren beide vergangen: das Feuer, das edle, der Zauber, der trügerische? Frau Cosima war wie verzweifelt. Sie wollte gar nicht glauben, daß das Schlimme auf Wahrheit beruhe.

Benachbarte Freunde der Familie nahmen Frau Cosima alle Mühen ab, da diese außerstande war, irgend etwas zu schaffen. Man ließ mit Extrazug einen Sarg aus München kommen. Man behauptete, der Meister habe diesen bereits längere Zeit vorher bestellt gehabt.

*

Der gleiche Sonderzug, der den Sarg gebracht hatte, führte auch die Familie wieder nach Hause zurück, nach Bayreuth.

Als der Zug den Münchner Bahnhof erreichte, standen hier alle Künstler der Stadt mit gesenkten Fackeln bereit. König Ludwig, aufs tiefste erschüttert, denn der einzige Mensch, vor dem er im Leben Achtung gehabt, den er wahrhaft als Freund geliebt, dem er vertrauen konnte, war von ihm gegangen, und jetzt durfte er ihm nur noch einen Kranz auf den Sarg legen lassen. Einer seiner Vertrauten, Graf Pappenheim, durfte das tun. Einen zweiten Kranz sandte Ludwig zur Beerdigung nach Bayreuth.

Als der Sonderzug den Bahnhof wieder verließ, erklang der Trauermarsch aus »Siegfried« hinter ihm her, mit seinen machtvoll erschütternden Klängen.

Vom Tore Wahnfrieds aus wurde der Sarg nach der Gruft getragen von Freunden und Schülern des Meisters, die von überallher herbeigeeilt waren. Eine ganze Welt trauerte mit.

Nur der Deutsche Reichstag verweigerte dem Meister die Totenehrung, wie er sie später auch Bismarck verweigern sollte.

Erst bei einbrechender Dämmerung erschien Frau Cosima, bleich, mit erstarrten Zügen –, erst in ihrer Gegenwart schloß man die Gruft.

Drei Jahre lang lebte sie wie in Todesstarre. Erst allmählich raffte die Einsame sich auf zu neuer Tat am Werke des Gatten, dessen Wähnen nun endgültig Frieden gefunden hatte, dem sie aber ihr Leben geweiht hatte, damit auch das Werk am Leben bliebe.

Erst sechsundvierzig Jahre später, im Frühjahr 1930, wurde Frau Cosima an der Seite ihres Gatten zur letzten Ruhe bestattet.

*

Ob der Tod seines geliebten Meisters sehr lange an König Ludwigs Empfinden zehrte und seine Freude am Leben noch weiter beeinträchtigte, wissen wir nicht. Auf eine merkwürdige, aber rührende Art hatte der König in einem der Schlösser sein Gedenken Wagnerscher Kunst verewigen wollen. In einem Nebensälchen fand man kleine aufgebaute Kindertheater mit Theaterpuppen aus Pappe, welche Szenen aus Wagnerschen Opern darstellten. Mit diesen schien der König zu seiner Erholung gespielt zu haben –

In München empfand man aber schon keine große Freude mehr bei dem Gedanken, daß man jetzt zum »Reiche« gehörte. Die ultramontane Partei begann immer wieder – päpstlicher als der Papst – gegen Preußen und Deutschland zu schüren. Sogar bei der einfachen Münchner Bevölkerung konnte man Äußerungen hören wie etwa:

»Dumm san mir g'wesen, daß mir mit den Preißen gegen die Franzosen g'schlagen ham –«. Oder: »Die Preußen sind halt unser gefährlichster Feind!« Daß diese Werturteile in den Münchner Köpfen nicht von selber entstanden, sondern von hetzerischer Seite erst hineingetragen wurden, ist selbstverständlich. Erst eine neue und neueste Generation mußte heranwachsen und geläuterter denken lernen. Auch im bayerischen Adel. »Den bayerischen vornehmen Adel werden wir dann erst gewinnen«, schrieb ein preußischer Gesandtschaftsbeamter nach Hause, »wenn der deutsche Kaiser katholisch wird, was wohl noch gute Wege zu haben scheint«.

Die drei folgenden Jahre von 1883 bis 1886 verliefen aber ohne fühlbare Störungen. In Bayreuth bereitete man sich darauf vor, außer den »Nibelungen« auch alle anderen Wagnerschen Werke in tadelloser Vollendung herauszubringen. Werke also, die man auch an allen anderen Bühnen zu sehen gewöhnt war, und die in ausgezeichnetster Weise zu Gehör gebracht werden mußten, wenn die Menschen ihretwegen bis nach Bayreuth reisen sollten.

Das aber hatten alle nur Frau Cosima zu verdanken. Sie blieb die Feste, die Unerschütterliche, die weder Anfeindungen noch Verlockungen gegenüber preisgab, was ihr Mann, der Meister, dereinst als Heiligtum schätzte.

*

In München wurden aber alle Dinge um König Ludwig allmählich unhaltbar. Immer Seltsameres raunten die Zungen. Tiefe Liebe und höchstes Mitleid empfanden alle, die dem Könige näherstanden, aber das Wohl des Landes, des Reiches ging vor.

Die spanische Königin Isabella (1830-1904) war 1868 aus ihrem Lande vertrieben worden. Sie lebte seitdem in Paris. Trotz ihrer ungeheuren Korpulenz besaß diese Frau eine hohe Grazie. Sie war auch liebenswürdig und vornehm im Wesen, hatte aber ein recht leichtfertiges Leben geführt.

Jetzt war sie zur Wochenpflege ihrer Tochter Maria, der Gattin des Herzogs Ludwig Ferdinand in Bayern, nach München gekommen. Isabella wußte bereits von König Ludwigs Geldnöten, sie hätte ihm gern geholfen, denn auch für sie, ebenso für die österreichische Kaiserin Elisabeth, war König Ludwig lange noch nicht so wahnsinnig, wie viele ihn einschätzten. Beide Damen hielten ihn nur für »exzentrisch«. »Exzentrisch« war damals ein Modewort, mit dem man alle Leute kennzeichnete, die ein wenig außer der Reihe tanzten in ihren Gewohnheiten.

In Paris besaß Isabella Beziehungen zum Bankhause Rothschild. Mit diesem liiert war wiederum das Haus der französischen königlichen Familie der Orléans. Königin Isabella vermittelte. Bald kam die Nachricht, daß König Ludwig II. jede gewünschte Summe erhalten könne, wenn er sich verpflichtete, in einem künftigen Kriege Frankreichs gegen Deutschland neutral zu bleiben. Es gab schon damals eine international über den Völkern Europas schwebende und fortwährend intrigierende, vorläufig zur Passivität verurteilte und meist von Rothschild subventionierte Fürstenclique, die überall ihre Finger in den politischen Dingen hatte, um jeden sich etwa darbietenden Vorteil wahrnehmen zu können.

Gerade Frankreich hatte damals einen fähigen echten Diplomaten-Intriganten in München sitzen, namens Mariani, der sehr befreundet mit dem päpstlichen Nuntiaten Monsignore Ajuti war. Beide schmiedeten ohne Unterlaß finstere Rachepläne gegen das neue Deutschland.

Herzog Ludwig Ferdinand in Bayern, der von diesen Darlehensbedingungen erfuhr, machte dem bayerischen Ministerium sofort Mitteilung von dieser Perfidie, »da er zu seinem Bedauern überzeugt sei, der kranke König würde auf eine solche Bedingung vielleicht eingehen«.

Alle wußten: der damals im Sommer 1870 durch Richard Wagner und andere Reichsfreunde für das neue deutsche Reich gewonnene Ludwig hatte seine auch damals schon zögernde Liebe zu Alldeutschland längst über Bord geworfen. Man hielt jedoch die Fiktion von Ludwigs reichstreuer Gesinnung immer noch nach außen hin aufrecht, um Ludwigs Ansehen zu schonen.

Diese zweideutige Geldgeschichte brachte den Stein ins Rollen. Denn nur noch um Geld ging es dem Könige, damit seine Schloßbauten fortgesetzt werden konnten. Jeden Tag konnten gerichtliche Klagen gegen die königliche Kabinettskasse eingereicht werden, nachdem der bayerische Landtag abgelehnt hatte, die königlichen Schulden zu decken. Der König schrieb aus den Bergen an sein Kabinett:

 

»Ist die Kammer verstockt, dann auflösen! Andere her und das Volk bearbeiten! Schnell aber! Rasch vorwärts mit dem Schlafzimmer in Linderhof, St. Hubertuspavillon und mit dem Ausbau der Burgen von Herrenwörth und Falkenstein. Mein Lebensglück hängt davon ab! Ziegler (der Minister) soll alles erschinden, durchreißen, alle Schwierigkeiten besiegen und Hindernisse Niederreißen. Und baldigst – das ist die Hauptsache!«

 

In diesen Tagen beauftragte Ludwig einen der Lakaien-Gebrüder Sedlmaier, den Minister Freiherrn von Lutz zu ermorden, und verbannte den Finanzminister von Riedel nach Amerika. Man ließ den König bei seiner Wahnvorstellung, daß Lutz ermordet und Riedel in Amerika sei. Nicht viel später schien Ludwig beide Befehle völlig vergessen zu haben.

In diesen Tagen beauftragte Ludwig den Stallfourier Hesselschwerdt und den Friseur Hoppe, ein neues Ministerium zu bilden. Ludwig hatte schon immer sehr wenig Achtung vor der Institution der Minister. Die beiden Beauftragten fühlten sich unsagbar wichtig durch die ihnen übertragene politische Rolle. Auch dem Justizminister Fäustle überbrachte Friseur Hoppe im Auftrage des Königs seine Entlastung.

Alle diese, zuweilen sogar schon tragikomisch anmutenden Zustände mußten ein Ende nehmen, das war man dem Ansehen des Königtums schuldig. Schon wurde die Bierhaus-Fama lauter und lauter. Man sprach dann immer von einem »Herrn Huber«, da man den Namen Ludwigs nicht nennen durfte.

Die Diener Ludwigs, deren Aussagen hätten Bände füllen können, weigerten sich jedoch zu schwören. Sie fürchteten, daß ihr Stern sinken würde, sobald ein anderer Monarch käme. Am besorgtesten stellte sich der Kammerdiener Meier, der mit am meisten wußte, und der ein ganzes Jahr lang sich nur mit einer Maske zeigen durfte, weil Ludwig »seine widerwärtige Fratze« nicht sehen wollte.

Einmal in dieser Zeit fuhr Ludwig mit seinem Flügeladjutanten, dem Grafen Dürckheim, in die Berge. Auf einmal, mitten in der Nacht, hieß er seinen Begleiter auf der Landstraße – es war eine regnerische Novembernacht –, aussteigen und fuhr davon.

Die ärztlichen Autoritäten hatten inzwischen genügend Beweismaterial für die geistige Erkrankung des Königs gesammelt. Der Inhalt übertraf alles, was bisher nur gerüchtweise umlief, um ein beträchtliches.

*

Am seinen geliebten Wagner durfte Ludwig sich jetzt nicht mehr sorgen. Um so mehr trauerte er über die traurige Rolle, die ein heutiger König zu spielen hatte.

Wie uneingeschränkt in seinen Machtbefugnissen war jener Ludwig der Vierzehnte gewesen! Das war noch ein richtiger König, ohne einen Kaiser über sich in Berlin.

Gekleidet wie Louis Quatorze ritt Ludwig in Mondscheinnächten spazieren, bisweilen auch mit der Krone auf seinem Haupte und den Hermelinmantel um die Schultern gehängt.

Aber immer einsamer wurde es um ihn im täglichen Leben. Sogar seine Diener, die er bald wie intime Freunde behandelt, bald mit Ohrfeigen zur Tür hinauswirft, weigern sich zuweilen schon, Dienst zu tun.

Der Friseur Hoppe las dem Könige eines Tages aus den »Münchener Neuesten Nachrichten« vor, daß in Bayern wahrscheinlich demnächst eine Regentschaft für den erkrankten König eingesetzt werden würde. Ludwig verbot, daß Hoppe noch weiterlas. Als dieser es dennoch tat, wurde er in Ungnaden für immer entlassen.

Vor seinen Stalldienern tobte und schimpfte Ludwig unentwegt weiter gegen seine Minister, gegen die königliche Familie, gegen Deutschland, Kaiser und Kronprinz, alles in höchster Wut, aber wohl nur aus Angst vor dem Ende, das er in lichten Momenten voraussah: seinem eigenen Ende mit Schrecken. Innerlich lebte er unaufhörlich im Kampfe des autokratischen Gedankens mit der übrigen Welt. Der »König« in ihm fühlte sich verletzt durch jede Berührung mit der feindseligen modernen Zeit, die ihn umgab.

Vergeblich schleuderte er immer wieder in seinen Zornesausbrüchen die verzweifelten Klagen: »Niemals, niemals!« in seine Umgebung. In seinen Tagebüchern, die er zuweilen führte, verklext und verschmiert, stehen immer wieder die Worte: » jamais! jamais! jamais!« Drei große königliche Siegel sind daruntergedrückt. Wahrscheinlich dachte Ludwig bei diesem »Niemals« an einen Thronverzicht.

Die größte Tragödin jener Zeit, Klara Ziegler, hatte in einer Sondervorstellung vor dem König zu sagen: »Diese Krone ist mir von Gott gegeben, kein Mensch darf sie mir rauben!«

Wenige Wochen später erhielt sie nachts um zwei Uhr den königlichen Befehl, sofort ins Schloß zu kommen. Im Krönungssaale stand Ludwig im vollen Krönungsornat vor ihr, die Krone auf dem Haupte, den Purpurmantel umgehängt und mit dem Zepter in der Hand. Und Ludwig sagte bedeutungsvoll:

»Diese Krone ist mir von Gott gegeben – kein Mensch darf sie mir rauben!« Hiermit war diese sonderbare Audienz schon wieder beendet. Die Tragödin Klara Ziegler weinte bitterlich, als sie nach Hause ging.

Seine »Krone« war Ludwigs Heiligtum, die einzig übriggebliebene Rettung des Unglückseligen: er erhoffte Wunderdinge von ihr – mit Gottes Hilfe!

*

Am 9. Juni 1886 stand ein Sonderzug auf dem Münchner Bahnhofe: er sollte den Minister des königlichen Hauses, Freiherrn von Crailsheim, den Oberstallmeister Grafen Holnstein, den Reichsrat von Törring-Seefeld, den Legationsrat Doktor von Rumpler zum König in die Berge bringen. Begleitet war diese Kommission von den Ärzten Doktor von Gudden und Doktor Müller und vier baumstarken Irrenwärtern.

Es gehörte viel Mut dazu, an einer solchen Kommission teilzunehmen; auch der Mut, der öffentlichen Meinung zu begegnen, welche die Handlungsweise der Kommissionsteilnehmer für unvereinbar mit den Pflichten treuer Diener gegenüber dem König halten würde, wie alles lag.

siehe Bildunterschrift

Frau Cosima

siehe Bildunterschrift

König Ludwig in letzten Lebensjahren

Der die Kommission begleitende Medizinalrat Doktor von Gudden war ein in München bekannter beliebter Mann. Er genoß als Irrenarzt besten Ruf. Sein ruhiges, klares Wesen und der stets sanfte Blick seiner Augen waren sehr dazu angetan, besänftigend auf Patienten zu wirken. Sein Kollege, Doktor Müller, behandelte schon seit Jahren den ebenfalls geistesgestörten Otto, den einzigen Bruder des Königs.

Aber diese hohe Kommission hatte Pech. Der zuerst gefaßte Plan, dem König eine einfache Abdankungsurkunde vorzulegen, war als aussichtslos aufgegeben worden. Also mußte man sich seiner Person versichern, damit er keine Gewalttat ausführen konnte, wozu er zuweilen neigte. Schon vorher hatte Ludwig in schlimmer Geistesverfassung nach seinen Leuten – Lakaien – geschossen; er hatte nur niemand getroffen.

Gleich nach der Ankunft in Hohenschwangau trat man mit dem Leibkutscher Oberholzer des Königs in Verbindung, damit er den königlichen Reisewagen nach der Anweisung der Irrenwärter herrichtete. Türen und Fenster des Wagens mußten mit starken Stricken umschnürt werden. Der treue Oberholzer begann diese Arbeit mit hellen Tränen in seinen Augen. Er verrichtete sein trauriges Werk unten vor dem Schuppen auf freier Landstraße, so daß die munter gewordenen Dorfbewohner von Hohenschwangau es sehen konnten.

Einer der helfenden Krankenwärter beging die Dummheit, eine Flasche auf den Boden fallen zu lassen, welche, berstend, einen betäubenden Geruch verbreitete.

Sofort ging es wie ein Lauffeuer von Mund zu Mund: »Sie wollen den Kini betäuben und dann entführen, vielleicht gar töten!«

Ludwig war aber gar nicht auf Hohenschwangau, sondern noch weiter oben, im Schlosse Neu-Schwanstein.

Der brave Oberholzer hatte nichts Eiligeres zu tun, als den weiten Weg nach Neu-Schwanstein unter die Beine zu nehmen. Vermissen würde ihn keiner bei seiner Wagenremise. Oben im Schlosse Neu-Schwanstein drang Oberholzer in das Schlafzimmer des Königs ein, weckte diesen und erzählte, was sich ereignet hatte.

Ludwig, ganz bleich vor Furcht, gab den Befehl, daß die Gendarmerie niemand, wer es auch sei, in das Schloß einlassen dürfe. Um jedes Eindringen zu verhindern, sollte diese, wenn nötig, Gewalt anwenden.

Da erschien auf einmal eine neue Persönlichkeit in des Königs Schlafzimmer: die Baronin Esperanza Truchseß, die in der Nähe des Schlosses eine Villa bewohnte, die Ludwig vergötterte, und die aus München wahrscheinlich Nachricht erhalten hatte, daß etwas gegen den König im Gange sei.

Sie warf sich jetzt Ludwig zu Füßen: »Mit meinem Leben werde ich Eure Majestät schützen«, rief sie in wilder Erregung.

Ludwig wollte die Erregte beruhigen: »Ich weiß mich schon selbst zu schützen, meine Dame!«

Die Baronin aber eilte hinab auf den Burghof und befahl, daß im Dorfe sofort die Sturmglocke läuten solle: alle Floß- und Holzknechte und die Sennen müßten von den Bergen herabströmen.

Was auch geschah. Von allen Seiten kamen die Helfer; in den Händen trugen sie Sensen, Äxte und lange Messer. Aber das Volk konnte das Königtum nicht mehr schützen, weil das Königtum krank war.

Gegen vier Uhr morgens kamen die Herren der Kommission in Neu-Schwanstein an. Es regnete, schwerer Nebel lag über dem Walde. Die Gendarmen am Schloßtore weigerten sich, die Herren eintreten zu lassen: im Notfall würden sie von der Schußwaffe Gebrauch machen!

Es blieb der hohen Kommission nur übrig, nach Hohenschwangau zurückzukehren.

*

Diese hohen Herren hatten allzuviel Zeit vergeudet. Anstatt sofort nach Neu-Schwanstein zum Könige vorzudringen, hatten sie in Hohenschwangau erst das Eintreffen ihrer goldbetreßten Hof-Uniformen abgewartet, die man ihnen in einem Packwagen nachgesandt hatte. Sie kamen also nicht überraschend, sondern – zu spät.

Inzwischen hatte der Flügeladjutant des Königs, um diesem zu helfen, sich in letzter Stunde an den Fürsten Bismarck gewandt und dessen Rat eingeholt. Bismarck, der Mann mit dem klaren, nüchternen Denken, telegraphierte zurück: »Seine Majestät solle sofort nach München zurückkehren, seinem Volke sich zeigen und seine Interessen vor dem versammelten Landtage zu vertreten suchen.«

Bismarck äußerte sich später über den Fall: »Ich rechnete: ist der König gesund, dann befolgt er auch meinen Rat. Ist er krank, dann wird er seine Scheu vor der Bevölkerung nicht ablegen. Der König ging nicht nach München, er besaß hierzu die geistige Kraft nicht mehr und zog es vor, das Verhängnis über sich hereinbrechen zu lassen.«

Die Richtigkeit dieser Überlegung erwies sich sehr bald: das Verhängnis brach auch herein, grausam und rücksichtslos wie immer, seitdem Götter die Welt regierten. Immer wieder rächten die Götter sich an den Menschen.

*

Kaum waren die hohen Herren der Kommission nach Hohenschwangau zurückgekehrt, als von neuem Gendarmen erschienen, welche die Herren für verhaftet erklärten: im Namen des Königs!

Als sie abgeführt wurden, mußten sie mitten hindurch durch das viele aufgeregte Volk aus Füssen und Umgegend, das gellende Drohrufe ausstieß. Erst im Dienstzimmer des Torbaues waren die Gefangenen sicher, geborgen.

Der Befehl des Königs lautete weitgehender: die Verräter sollten ins Burgverlies geworfen werden, wo sie zuerst verhungern sollten, worauf man ihnen die Haut abziehen würde. Bald hinterher kam noch ein weiterer Bote mit Ludwigs Ergänzungsbefehl: man solle den Verrätern auch noch die Augen ausstechen!

Seine Untergebenen wußten aber, daß das alles nur Krampf war; weil Ludwig schon viele derartige Befehle erteilt hatte, ohne jemals danach zu fragen, ob sie auch ausgeführt wurden.

Erst zwei Stunden später hatte das wütende Volk sich verlaufen, das seinem Könige helfen wollte. Die Verhafteten wurden vom Bezirkshauptmann, der erschienen war, wieder entlassen und durften nach München zurückkehren.

*

In München hatte man inzwischen eine Proklamation angeschlagen, in welcher von einer Regentschaft die Rede war, die der betagte Prinz Luitpold übernehmen sollte. Das erregte alle Bevölkerungskreise sehr stark. Zu Widerstand kam es nicht, denn alte ahnten, daß Notwendigkeiten vorlagen, und daß Zögern nur schädlich sein konnte.

Die Maßgebenden in der Regierung änderten ihre Pläne. Man verzichtete auf die langweilige hohe Kommission und wollte den König sofort den Irrenpflegern überantworten, denen man alle nötigen Vollmachten mitgab, auch den Landesbehörden gegenüber.

Am Freitag trafen die Doktoren von Gudden und Müller, sowie die Irrenpfleger auf Neu-Schwanstein von neuem ein. Es war schon Mitternacht, als sie im Schlosse ankamen, diesmal sogar geleitet von den Gendarmen der Ortsbehörde.

Die Dienerschaft im Schlosse klagte und jammerte: der König denke an Selbstmord! Er habe schon Gift verlangt! Auch die Wendeltreppe in den hohen Turm des Schlosses habe er hinaufsteigen wollen, jedenfalls, um von dort sich in die Tiefe zu stürzen. Man habe das noch verhindern können durch die Ausrede, daß man erst den Turmschlüssel suchen müsse. Auf diesen warte der König jetzt.

Man erzählte den Ärzten: auch Graf Dürckheim, der Adjutant, sei beim König gewesen. Dieser habe ganz laut geschrien, so daß alle es hören konnten: »Helfen Sie mir! In der Nacht waren Herren aus München hier, die mich gewaltsam fortführen wollten. Was will man von mir? Das Ganze ist doch nur eine Geldfrage! Warum behandelt man mich wie einen Verrückten?«

Graf Dürckheim machte dem König den Bismarckschen Vorschlag, sofort mit nach München zu fahren und sich dem Volke zu zeigen. Da sagte Ludwig:

»Ich kann nicht fahren, ich bin zu müde. Die Luft in der Stadt beengt mich zu sehr.«

Dürckheim fiel die völlige Entschlußlosigkeit des Königs auf. Dieser schien nicht mehr imstande, auf Vorschläge einzugehen. Er schien einem völligen geistigen Zusammenbruch nahe zu sein.

Dürckheim tat für seinen armen Herrn ein Letztes: nochmals telegraphierte er in Ludwigs Namen an Bismarck, aber auch an die österreichische Kaiserin Elisabeth um Hilfe für den Verzweifelnden.

Dürckheim wurde dann bei seinem Eintreffen in München schon auf dem Bahnhofe verhaftet, dann aber vom Prinzen Luitpold freigelassen und nach Metz versetzt, weil er die Pläne der neuen Regierung habe durchkreuzen wollen. Hart faßte man ihn nicht an, denn er war einer der wenigen ganz Getreuen um seinen König gewesen. Die meisten anderen waren vorsichtshalber schon vorher abgeschwenkt von König Ludwig, dem Unglücklichen. – – –

Ludwig wußte in lichten Momenten, die sogar häufig waren, ganz genau, daß er krank war, hoffnungslos krank. Solange sein geliebter Freund Richard Wagner noch lebte, hatte er hoffen dürfen, daß dieser ihn eines Tages beschützen, ja retten würde. Aber der geliebte Freund war fortgegangen ins Schattenreich, wo er ihn jetzt erwartete und seiner harrte, damit beide innig umschlungen hinüberwandeln konnten in jenes herrliche Reich jenseits aller Töne und törichten Worte der Menschen. Wie er jetzt winkte und rief, der Freund!

»Ich komme, Geliebter!« rief Ludwig mit voller hingebender Inbrunst.

Früher schon hatte Ludwig mit Vertrauten stundenlang über die Frage des Selbstmordes gesprochen. Immer mochte ihn nur die Furcht vor dem Sterben vor dieser entscheidenden Tat bewahrt haben.

Auch Kaiser Nero wollte nicht weiterleben, als er nicht mehr Cäsar sein durfte. Versunken aber in eine große moralische Schwäche, vermochte er sich nicht mehr aufzuraffen, zu diesem Sterben. Da flehte er einen Sklaven an, ihn zu töten. –

Ludwig bittet seine Diener um Gift – vergeblich!

Da will er von dem Turme über der Pöllachschlucht sich in die Tiefe stürzen. Er bestellt sich Arrak und Rum, dann erst verlangt er den Schlüssel zum Turme.

Seine Sklaven aber verraten den Plan an die Häscher, an Ärzte und Irrenwärter. Doktor von Gudden läßt sich die Situation schildern und entwirft seinen Plan. Alle Ausgänge werden besetzt. Man schreibt den 11. Juni 1886, nachts um zwölf Uhr.

Ein Bedienter trägt den Turmschlüssel zum König, die anderen warten draußen. Es war ein Augenblick allerhöchster, mit Entsetzen gemischter Spannung.

»Wir müssen den König vor sich selber beschützen«, sagt Doktor von Gudden.

Plötzlich hörte man feste Tritte, die Tür ging auf, und Ludwigs imposante Gestalt erschien im Rahmen der Tür.

Die Pfleger traten hinter ihn und schnitten ihm so die Rückkehr ab. Dann faßten die Pfleger den König beim Arme.

Doktor von Gudden sagte: »Majestät, es ist die traurigste Aufgabe meines bisherigen Lebens, die ich übernommen habe. Majestät sind von vier Irrenärzten begutachtet worden. Prinz Luitpold übernahm bereits die Regentschaft. Ich empfing den Befehl, Eure Majestät nach Schloß Berg zu begleiten, noch diese Nacht. Wenn Majestät befehlen, wird der Reisewagen um vier Uhr vorfahren.«

Ludwig war totenbleich. Nur ein schmerzliches »Ach!« stieß er aus, dann fragte er viele Male hintereinander: »Ja, was wollen Sie denn? Was soll denn das?«

Die Pfleger geleiteten den sich nicht sträubenden König in sein Zimmer zurück, ließen ihn los und besetzten sofort die Fenster. Ludwig schwankte ein wenig, vielleicht unter der Nachwirkung der genossenen scharfen Getränke. Dann nahm man in Sesseln Platz, nachdem Doktor von Gudden jeden einzelnen der Anwesenden dem König vorgestellt hatte.

Ludwig erkundigte sich dann eingehend über Einzelheiten der Behandlung seines bereits in ärztlicher Obhut befindlichen schwachsinnigen Bruders Otto. Man merkte: Ludwig konnte sich nur mühsam beherrschen. Plötzlich fragte er: »Wie können Sie mich für geisteskrank halten? Sie haben mich weder beobachtet noch untersucht?«

»Das war nicht notwendig, Majestät, das Beobachtungsmaterial in den Akten ist schwer erdrückend.«

»Wie lange wird die Kur an mir dauern?«

»Ein volles Jahr wird die kürzeste Zeit sein, Majestät.«

»Es wird wohl rascher gehen. Man macht es mit mir wie mit dem Sultan. Einen Menschen aus der Welt zu schaffen, ist ja nicht schwer.«

»Meine Ehre verbietet es mir, Majestät, hierauf zu antworten.«

Dann mußten die Pfleger Ludwig ihre Personalien angeben. Bei fast jedem schloß Ludwig seine Fragen mit dem Satze: »Warum gehen Sie denn nicht hinaus? Ich möchte allein sein – das ist doch zu unangenehm.«

»Herr Obermedizinalrat hat es befohlen«, sagten die Pfleger.

Gegep vier Uhr früh fuhren die Wagen vor.

Die erfahrenen Ärzte sahen es dem Könige an, wie krank er war. Aus den großen dunklen Augen des stattlichen Mannes war jedes Selbstbewußtsein geschwunden. Er hielt auch keinen fixierenden Blick mehr aus. Seine Bewegungen und Schritte blieben unsicher.

»Der Magen ist jetzt bereit«, meldete man dem König. »Ja, ja – dann fahren wir!«

*

Im Schloßhofe sprach Ludwig noch mit seinem Kammerdiener Meier. Er verlangte Zyankali von ihm. Meier solle es ihm besorgen.

Der Kranke blieb in seinem Wagen allein. Nur der Oberpfleger saß mit auf dem Bock, neben dem Kutscher. Zur Seite ritt ein Stallbediensteter, der den Wagen scharf beobachten sollte; notfalls sollte er Zeichen geben. Erst im dritten Wagen hinter dem König saßen die Ärzte.

Man ahnte nicht, daß die Wegführung des Königs eine so große Erregung bei den Bergbewohnern auslösen sollte. Diese lebten seit Jahren von den vielen teueren Passionen des Königs. Seine Bauten hatten viel Geld unter die Menschen der Gegend gebracht.

Es hätte nur einer geschickt eingeleiteten Hilfsaktion für den König bedurft, und man hätte diesem mühelos auf der Fahrt von Neu-Schwanstein nach Schloß Berg seine Freiheit wiedergegeben.

Eben aus Furcht vor dieser Bergbevölkerung hatte man nicht Schloß Linderhof als Wohnsitz für den König erwählt, sondern Schloß Berg, das mehr im Flachland lag. Trotzdem war es ein Fehler, dieses dicht und frei an einem See liegende Schlößchen zu wählen. Nur dreißig Schritte waren es bis zum Uferrande.

Ungehindert und ohne Unfall kam man ans Ziel.

Schon am nächsten Tage atmeten alle die vielen König Ludwig freundlich gesinnten Menschen erleichtert auf: es flog die Kunde in alle Welt, daß der König, der jetzt keiner mehr war, in einer leichten Erschöpfung befangen sei, die es leicht mache, mit ihm zu verkehren und ihn zu behandeln.Sehr viele Leute im Städtchen Starnberg sahen an diesem Tage mit dem Fernglase hinüber nach dem kleinen weißen Schloß Berg am gegenüberliegenden Ufer, das sich hell aus dem dunklen Grün des kleinen Parkes heraushob. Auf dem freien Platze davor war aber niemand sichtbar.

*

Der nächste Tag, der 13. Juni, war ein Sonntag, der schlechtestes Wetter brachte; echt oberbayerisches Wetter. König Ludwig verhielt sich ruhig und fügsam; er las ein wenig. Herr von Gudden freute sich über den wohltätigen Einfluß, den er anscheinend auf den unglückseligen Kranken ausübte.

Erst gegen Abend verschwanden Nebel und Regenwolken: es wurde heller und freundlicher in der Natur. Kurz vor sieben Uhr äußerte Ludwig den Wunsch, ein wenig an die frische Luft zu gehen; er sei an einen kurzen Spaziergang vor der Abendmahlzeit gewöhnt. Doktor von Gudden hatte nichts einzuwenden. Beide Herren nahmen ihr Hüte und verließen das Schloß.

Sie schritten zum See hinunter und an dessen Ufer in südlicher Richtung weiter. Zuweilen lief der Weg dicht am Wasser entlang, dann entfernte er sich ein wenig. Von hier aus war es noch eine kleine Stunde bis zur nächsterreichbaren Ortschaft Leoni.

Beide Herren schritten gemächlich nebeneinander. Einmal wandte Ludwig sich um und deutete auf den dreißig Schritte hinter ihnen gehenden Gendarmen, den Gudden zur Vorsicht hatte mitgehen heißen.

»Schicken Sie doch diesen Menschen fort«, bat Ludwig, »er macht mich nervös, es ist mir unerträglich, zu wissen, daß jemand hinter mir hergeht.«

Herr von Gudden begriff das gut. Er prüfte noch einmal des Königs Gesicht: es zeigte nichts Außergewöhnliches. Gudden wandte sich um und winkte dem Gendarmen, er solle zurückbleiben; was der Brave auch tat.

Man ging dann weiter. Als man wieder einmal dem Ufer des Sees ganz nahe war, wandte Ludwig sich plötzlich zur Seite und lief auf das Wasser zu, so rasch er konnte. Blitzschnell hatte Gudden begriffen und eilte hinter dem König her. Aber erst, als dieser schon bis zu den Knien im Wasser stand, erreichte er ihn und faßte nach seinem Rock. Ludwig sträubte sich und wandte sich hin und her. Hierbei streifte der Rock sich ab, auch von den Armen, und der Rock blieb in den Händen von Guddens, der ihn fallen ließ und dem König ins Wasser nachsprang.

Jetzt gab es ein Ringen, und Ludwig verfügte über ansehnliche Kräfte. Er umklammerte den Hals seines Peinigers und drückte dessen Kopf unter die Wasserfläche. Alles Sträuben von Guddens war fruchtlos. Lange, lange, mit äußerster Kraftanstrengung hielt Ludwig den Kopf Guddens unter das Wasser. Die Beine Guddens arbeiteten in verzweifelter Gegenwehr und wühlten sich hierbei immer noch tiefer hinein in den Schlamm. Doktor von Gudden sank in die kniende Stellung. Kräfte und Bewußtsein verließen ihn. Ludwig hatte sein Werk, seine Rache vollbracht – Doktor von Gudden war tot.

Erleichtert atmend sprang Ludwig noch einige Schritte weiter ins Wasser hinein. Er geriet an eine Stelle, wo der Untergrund steil nach der Tiefe wich und tauchte unter. Schwimmbewegungen, um sich zu retten, machte er nicht. Er wollte ertrinken, sterben, ein Ende machen: »Ich komme, Geliebter, jetzt haben wir uns –«

»Wahn, Wahn, alles nur Wahn«, hatte Hans Sachs gesungen, aber Ludwig dachte nicht mehr daran. –

*

Die Uhr in Schloß Berg schlug acht, aber die Spaziergänger waren noch nicht zurück. Die Abendtafel war schon gedeckt, man wollte bald auftragen. Da sandte man Boten hinaus, um den König und Doktor Gudden zu holen.

Die Sucher fanden zuerst den Rock des Königs im Grase, dann seinen weichen Kalabreserhut mit der Diamantenagraffe.

Dann fand man den toten Doktor von Gudden.

Und nicht weit davon auch die schwimmende Leiche des Königs.

Als man am kommenden Tage im Beisein eines Familienmitglieds die Leiche des Königs obduzierte, fand der Arzt nach der Entfernung der Schädeldecke an der unteren Seite derselben harte Knochenauswüchse, die zweifellos auf die Gehirnmasse einen Druck ausgeübt hatten. Ob diese mit der Ludwigschen Erbkrankheit in Zusammenhang standen, entzieht sich der Laienerkenntnis. Man kann es aber wohl annehmen.

*

Jetzt aber war – nach dem siebzigjährigen Künstler auch der erst einundvierzigjährige königliche Beschützer aus dem Leben geschieden. Eine große Epoche, wie das neunzehnte Jahrhundert sie auf so vielen Gebieten aufwies, eine Epoche des Neuaufbauens über Veraltetem, ja aus Ruinen, hatten König und Künstler erlebt und gefördert nach Kräften, wenn beide zuweilen auch irrten in ihren Wunschträumen, was Menschenlos ist, unvergängliches Menschengeschick ohne Gnade.

Aber kraft seines Königseins hielt Ludwig den Schild über den Künstler, bis dieser, auf seiner Odyssee im sicheren Hafen angelangt, dieses Schildes entbehren konnte.

Das darf ihm niemals vergessen werden.

Andere Könige, mächtigere, gewichtigere, haben weniger beigetragen zur Pflege der Schönheitswerte als Ludwig der Zweite, obwohl die Völker sie zu allen Zeiten ersehnten. Den Mahnruf: »Ehret eure deutschen Meister« hatte der Schirmherr Wagners bereits befolgt, noch ehe der warnende Ruf Hans Sachsens erklungen war.

Darum wollen wir seiner immer in Achtung, Mitleid und Liebe gedenken!

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