Sonja Kowalewski
Jugenderinnerungen
Sonja Kowalewski

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VIII

Zur Zeit, da Anjuta von Rittern träumte und bittere Tränen über das Schicksal Harolds und Ediths vergoß, war fast die gesamte intelligente Jugend des übrigen Rußland von ganz anderen Strömungen, von ganz anderen Idealen erfaßt. Deshalb kann Anjutas Begeisterung vielleicht als Anachronismus erscheinen. Aber jenes weltentrückte Winkelchen, in dem unser Gut lag, war so weit vom Zentrum, so feste, hohe Mauern trennten Palibino von der Außenwelt, daß die mächtigen Wellen neuer geistiger Strömungen erst lange Zeit, nachdem sie sich im offenen Meer erhoben hatten, unsere kleine, friedliche Bucht erreichten. Waren sie aber endlich bis zu unserem Ufer gelangt, so ergriffen sie Anjuta auch im Nu und rissen sie mit sich.

Wie und woher und auf welche Weise in unserem Hause neue Ideen auftauchten, ist schwer zu sagen. Bekanntlich gehört es zu den Eigentümlichkeiten einer jeden Übergangsperiode, wenig Spuren zu hinterlassen. Wenn beispielsweise der Paläontologe einen geologischen Querschnitt macht und in demselben eine Menge versteinerter Reste einer sehr charakteristischen Fauna und Flora findet, kann er sich mit Hilfe seiner Vorstellungskraft ein vollständiges Bild der damaligen Erdbeschaffenheit entwerfen; wendet er sich einer höher gelegenen Schicht zu, findet er eine ganz andere Formation, ganz neue Tier- und Pflanzengattungen. Aber wie sie entstanden, wie sie sich aus dem Vorhergegangenen entwickelt haben, kann er oft nicht sagen. Versteinerte Exemplare völlig entwickelter Typen finden sich überall in Menge, die Museen sind voll davon; ein Paläontologe aber ist überglücklich, wenn es ihm gelingt, irgendwo einen Schädel, einige Zähne, einzelne Knochen eines Übergangstypus auszugraben, mit deren Hilfe er sich in Gedanken jenen Weg rekonstruieren kann, auf dem die Entwicklung in etwa vor sich ging. Man könnte fast annehmen, daß die Natur selbst alle Spuren ihrer Arbeit tilgt und ausmerzt und sich bloß mit ihren vollendeten Schöpfungen zeigen will und jede Erinnerung an ihre ersten, primitiven Versuche erbarmungslos vernichtet.

Die Bewohner von Palibino lebten friedlich und still, wuchsen heran und wurden alt, zankten und versöhnten sich wieder miteinander, debattierten zum Zeitvertreib über den einen oder den anderen Zeitungsartikel, die eine oder die andere wissenschaftliche Entdeckung, waren jedoch völlig überzeugt, daß alle diese Fragen einer fremden, ihnen fernen Welt angehörten und niemals mit ihrem persönlichen Leben in eine unmittelbare Berührung kommen würden. Da plötzlich erschienen die Vorzeichen einer seltsamen Gärung, die allmählich näher und näher rückte und die ganze Ordnung ihres patriarchalischen Lebens zu untergraben drohte. Und die Gefahr schien nicht nur von einer Seite herzukommen, sondern überall auf einmal aufzutreten.

Man kann wohl sagen, daß in dieser Periode, vom Beginn der sechziger Jahre, bis zum Beginn der siebziger Jahre, die Intelligenz der russischen Gesellschaft nur mit der einen Frage beschäftigt war: mit dem Konflikt zwischen der alten und der jungen Generation. Zu jener Zeit konnte man fast in allen adeligen Familien dasselbe hören: die Eltern haben sich mit den Kindern entzweit. Und nicht wegen materieller Ursachen entstanden die Streitigkeiten, sondern einzig und allein wegen Fragen rein theoretischen und abstrakten Charakters: sie stimmten in ihren Überzeugungen nicht überein. Nur darum handelte es sich; aber dieses »nur« genügte vollkommen, um die Kinder zu bestimmen, ihre Eltern zu verlassen, und die Eltern, sich von den Kindern loszusagen.

Wie eine Epidemie erfaßte damals die Jugend, namentlich die Mädchen, der Drang, aus dem Elternhause zu laufen. Bis jetzt war Gottseidank alles in unserer unmittelbaren Nähe ruhig geblieben, aber aus anderen Orten kamen schon Gerüchte, daß bald bei dem einen, bald bei dem anderen Gutsbesitzer die Tochter davongelaufen war, die eine ins Ausland, um zu studieren, die andere nach Petersburg zu den »Nihilisten«.

Den größten Schrecken bereiteten allen Eltern und Vorgesetzten jene mysteriösen Kreise, die sich dem Hörensagen nach in Petersburg gebildet haben sollten. Dahin – so versicherte man wenigstens – wurden die jungen Mädchen, welche das Elternhaus verlassen wollten, angeworben. Die jungen Leute beiderlei Geschlechts lebten da in völligem Kommunismus. Dienstboten gab es nicht, und die vornehmen, adeligen jungen Damen mußten eigenhändig die Diele aufwaschen und die Samoware putzen. Selbstverständlich war keiner von denen, die diese Gerüchte verbreiteten, je in einer solchen Kommune gewesen. Wo sie sich befanden und wie sie überhaupt in Petersburg unter den Augen der Polizei existieren konnten, wußte niemand genau. Nichtsdestoweniger aber wurde das Vorhandensein solcher Kommunen von keinem bezweifelt.

Bald jedoch konnte man diese Zeichen der neuen Zeit in unserer nächsten Nachbarschaft wahrnehmen. Der Pope unseres Dorfes, Vater Philipp, hatte einen Sohn, der früher die Herzen seiner Eltern durch Sittsamkeit und Gehorsam erfreute. Kaum hatte er aber das Seminar als einer der besten Schüler absolviert, verwandelte sich dieser musterhafte Jüngling mit einemmal in einen ungeratenen Sohn und weigerte sich kurzweg, Geistlicher zu werden, wiewohl er bloß die Hand auszustrecken brauchte, um eine einträgliche Pfarre zu bekommen. Seine Eminenz, der Bischof selbst, berief ihn zu sich und beschwor ihn, den Schoß der Kirche nicht zu verlassen, wobei er ihm deutliche Anspielungen machte: er brauche nur zu wollen, so würde er Pope in Iwano, einem der reichsten Dörfer des Gouvernements. Natürlich müßte er vorher eine der Töchter des Vorgängers heiraten, weil es von altersher so Brauch sei, daß der Pfarrer sozusagen als Mitgift eine der Töchter des seligen Väterchens bekomme. Aber auch diese Aussicht konnte den jungen Popensohn nicht verlocken. Er zog es vor, nach Petersburg zu reisen, auf eigene Kosten in die Universität einzutreten und sich einem vierjährigen Studium zu widmen, wenn auch nur bei Tee und trockenem Brot.

Der arme Vater Philipp kränkte sich sehr über die Halsstarrigkeit seines Sohnes, hätte sich aber noch immer trösten können, wenn dieser sich für die aussichtsreiche juristische Fakultät entschieden hätte. Er aber wählte statt dessen die Naturwissenschaften und kam in den ersten Ferien mit den abgeschmackten Ideen nachhause, daß der Mensch vom Affen abstamme und daß Professor Sutschenow bewiesen habe, es gäbe keine Seele, sondern bloß Reflexe; und das bestürzte Väterchen griff nach dem Weihwasserkessel und besprengte den Sohn.

Wenn er früher aus dem Seminar zur Ferienzeit nach Hause kam, ließ sich der junge Geistliche keines unserer Familienfeste entgehen; er erschien mit vielen Verbeugungen, saß, wie es seinem Alter und seinem Rang gemäß war, am unteren Ende der Festtafel und verzehrte mit Appetit den Namenstagkuchen, ohne je zu wagen, sich ins Gespräch zu mischen.

In diesem Sommer aber glänzte der jungen Popensohn am Namenstag, der kurz nach seiner Ankunft gefeiert wurde, durch Abwesenheit. Dafür aber stellte er sich an einem anderen Tage zu höchst ungelegener Zeit ein, und auf die Frage des Dieners, was er wünsche, erwiderte er, daß er gekommen sei, dem General eine Visite abzustatten.

Der Vater hatte schon so manches von dem »Nihilisten« gehört; es war ihm auch nicht entgangen, daß dieser an dem Namenstag fehlte, obgleich er sich den Anschein gab, einem so unbedeutenden Vorfall nicht die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Jetzt aber empörte es meinen Vater, daß der junge Grünschnabel sich erkühnte, bei ihm, wie bei seinesgleichen, als Gast zu erscheinen; und er beschloß, ihm eine gehörige Lektion zu geben. Er ließ ihm daher durch den Diener sagen, daß der General Bittsteller und Leute, die zu ihm geschäftlich kommen, bloß vormittags bis ein Uhr empfange.

Der getreue Ilja, der seines Herrn Worte immer sehr gut verstand, erfüllte den Befehl im Sinne des Generals, aber der junge Sohn des Popen wurde durchaus nicht verlegen und sagte im Fortgehen ziemlich ruhig: »Sage deinem Herrn, daß mein Fuß sein Haus von heute ab nicht mehr betreten wird.«

Ilja führte auch diesen Auftrag aus und man kann sich vorstellen, welches Aufsehen dieses Benehmen nicht nur bei uns, sondern auch in der ganzen Nachbarschaft erregte.

Was aber am meisten überraschte, war, daß Anjuta, als sie von dem Vorgefallenen hörte, aus freien Stücken ins Arbeitszimmer zum Vater lief und mit geröteten Wangen, atemlos vor Aufregung, hervorstieß: »Papa, warum hast du Alexei Philippowitsch so gekränkt? Das ist schrecklich, es ist unwürdig, einen anständigen Menschen so zu beleidigen.«

Der Vater sah sie mit erzürnten Blicken an. Sein Erstaunen war jedoch so groß, daß er im ersten Augenblick sogar nicht wußte, was er dem frechen Mädchen erwidern sollte. Übrigens legte sich Anjutas plötzlicher Anfall von Kühnheit im Nu, und sie begab sich rasch in ihr Zimmer.

Als der Vater sich von seinem Erstaunen erholt und alles reiflich überdacht hatte, sah er ein, daß es besser sei, dem Ausfall seiner Tochter keine allzu große Bedeutung zu geben, sondern die Sache scherzhaft zu behandeln. Bei Tisch erzählte er in Anwesenheit Anjutas das Märchen von der Kaiserstochter, der es einfiel, für den Stallknecht einzutreten. Natürlich wurden sie und ihr Schützling furchtbar verspottet. Dies verstand der Vater meisterhaft, und wir alle fürchteten seinen Spott. Anjuta jedoch hörte das Märchen an, ohne sich im geringsten zu ärgern; sie zeigte im Gegenteil eine trotzige, herausfordernde Miene.

Ihren Protest gegen die Beleidigung, die man dem Popensohn zugefügt, drückte Anjuta dadurch aus, daß sie ihm überall – irgendwo, bei den Nachbarn oder auf Spaziergängen – zu begegnen suchte.

Der Kutscher Stepan erzählte einmal beim Abendbrot in der Gesindestube, er hätte mit eigenen Augen gesehen, wie das ältere Fräulein allein mit dem Popensohn durch den Wald spazierenging.

»Und was das für ein drolliger Anblick war! Das Fräulein geht schweigend und schwenkt mit den kleinen Händchen den Sonnenschirm hin und her. Und er stelzt mit seinen langen Beinen wie ein Kranich durch die Gegend. Und er redet fortwährend auf sie ein und fuchtelt mit den langen Armen in der Luft herum. Da, auf einmal zieht er ein zerfetztes Buch aus der Tasche und beginnt ihr laut vorzulesen, gerade wie wenn er sie unterrichten würde.«

Man muß sagen, daß der Popensohn wenig Ähnlichkeit hatte mit jenen Märchenprinzen und mittelalterlichen Rittern, von denen Anjuta noch kürzlich geträumt hatte. Seine unschöne, lange Gestalt, der dünne, faltige Hals, das blasse Gesicht mit dem gelblich-roten Haar, die großen, roten Hände mit den flachen, nicht immer tadellos gereinigten Nägeln, und vor allem seine unangenehme, äußerst gewöhnliche Art zu reden, die deutlich seine Herkunft vom Lande und seine Erziehung auf dem Seminar erkennen ließ, alles dies machte ihn nicht gerade zu einem sehr verführerischen Helden in den Augen eines jungen Mädchens von aristokratischen Gewohnheiten und Ansprüchen. Man konnte deshalb unmöglich annehmen, daß Anjutas Interesse für den Popensohn eine romantische Herzensneigung verriet; offenbar mußte der Grund in etwas anderem liegen.

Und in der Tat bestand die Anziehungskraft des jungen Mannes in Anjutas Augen hauptsächlich darin, daß er soeben aus Petersburg gekommen war und von dort die neuesten Ideen mitgebracht hatte. Obendrein hatte er sogar das Glück gehabt, mit eigenen Augen – wenn auch nur aus der Ferne – viele von jenen bedeutenden Menschen zu sehn, welchen die damalige Jugend große Verehrung entgegenbrachte. Das reichte vollkommen hin, um ihn sehr interessant erscheinen zu lassen.

Überdies konnte Anjuta von ihm auch noch verschiedene, ihr sonst unerreichbare Bücher bekommen. Bei uns im Hause hielt man von Zeitschriften bloß die konservativen, solidesten: »Revue des deux Mondes« und »Athenäum« von den ausländischen, »Rusky Westnik« von den einheimischen. Mit Rücksicht auf den zeitgenössischen Geschmack willigte der Vater schließlich ein, auch Dostojewskis »Epoche« zu abonnieren. Vom jungen Popensohn aber erhielt Anjuta Zeitschriften anderer Richtung: »Der Zeitgenosse« und »Das russische Wort«, von denen jede neue Nummer für die damalige Jugend ein Ereignis bedeutete. Einmal brachte er ihr sogar ein Heft der von Alexander Herzen herausgegebenen, in Rußland verbotenen »Glocke«.

Es läßt sich nicht behaupten, daß Anjuta sofort und ohne Kritik alle neuen Ideen aufgenommen hätte, die ihr Freund predigte. Viele von ihnen empörten sie, sie erschienen ihr zu radikal; sie lehnte sich gegen ihn auf und ließ sich in lange Dispute ein. Aber immerhin entwickelte sie sich unter dem Einfluß dieser Gespräche und durch die Lektüre der Bücher, die sie vom Pfarrerssohn erhielt, sehr rasch und veränderte ihr Wesen nicht täglich, sondern geradezu stündlich.

Gegen Herbst hatte sich der Popensohn bereits so gründlich mit seinem Vater entzweit, daß dieser ihn bat, abzureisen und in den nächsten Ferien nicht wieder zu kommen.

Aber der Samen, den er in Anjutas Geist gestreut, ging auf und entfaltete sich weiter. Sogar äußerlich veränderte sie sich; sie begann sich einfach zu kleiden – ein schwarzes Kleid mit glattem, kleinem Kragen – und trug das Haar glatt nach hinten gekämmt. Von Bällen und Ausfahrten sprach sie jetzt mit Verachtung. Am Morgen versammelte sie die Kinder des Gesindes um sich und lehrte sie lesen, und wenn sie auf den Spaziergängen den Dorfweibern begegnete, sprach sie diese an und unterhielt sich mit ihnen.

Das Erstaunlichste aber war, daß Anjuta, die früher so ungern gelernt hatte, jetzt mit Leidenschaft alles mögliche studierte. Statt wie früher ihr Taschengeld für Luxusdinge und nichtigen Tand zu vergeuden, bestellte sie jetzt ganze Kisten voll Bücher, und zwar nicht Romane, sondern Bücher mit gelehrten Titeln: »Physiologie des Lebens«, »Geschichte der Zivilisation« und ähnliche.

Einmal kam Anjuta zum Vater und äußerte das völlig unerwartete Verlangen, er solle sie allein nach Petersburg fahren und sie dort studieren lassen. Der Vater versuchte, ihre Bitte ins Scherzhafte zu ziehen, wie er es auch früher getan, als Anjuta sagte, sie wolle nicht mehr auf dem Lande leben. Indessen diesmal gab Anjuta nicht gleich nach. Weder der Scherz noch die spöttischen Sticheleien des Vaters machten auf sie einen Eindruck. Sie führte mit Eifer den Nachweis, daß, auch wenn ihr Vater auf dem Gut leben müsse, daraus noch lange nicht folge, daß auch sie sich in einem Dorf, wo es weder Beschäftigung noch Zerstreuung für sie gäbe, vergraben müsse.

Der Vater wurde schließlich böse und schrie sie wie ein kleines Kind an: »Wenn du nicht selbst begreifen kannst, daß es Pflicht eines jeden anständigen Mädchens ist, bei ihren Eltern zu leben, bis sie heiratet, dann lohnt es sich wahrhaftig nicht, ein Wort an dich zu verlieren.« Anjuta sah ein, daß es nutzlos wäre, darauf zu beharren.

Von jenem Tag an waren die Beziehungen zwischen ihr und dem Vater sehr gespannt; es trat eine gewisse Gereiztheit ein, sie wuchs mit jedem Tag. Bei den Mahlzeiten – und nur dort trafen sie noch zusammen – wandten sie sich fast nie zueinander, und in jedem ihrer Worte spürte man einen Stich oder eine bissige Nebenbedeutung. Überhaupt tat sich jetzt in unserer Familie eine bisher nicht vorhanden gewesene Kluft auf. Zwar gab es auch früher nicht viele gemeinsame Interessen, aber jeder lebte für sich ruhig, ohne dem anderen größere Aufmerksamkeit zu schenken. Jetzt aber bildeten sich gleichsam zwei feindliche Lager. Die Gouvernante trat gleich bei Beginn als wütende Gegnerin aller neuen Ideen auf und taufte Anjuta »Nihilistin« und »Fräulein Fortschritt«. Die letztere Bemerkung klang aus ihrem Munde ganz besonders giftig. Sie fühlte instinktiv, daß Anjuta etwas im Schilde führe und bezichtigte sie der schändlichsten Absichten: sie wolle heimlich flüchten, sich mit dem Popensohn trauen lassen und der berüchtigten Kommune beitreten. Deshalb beobachtete sie jetzt wachsam und mißtrauisch jeden Schritt Anjutas. Als diese merkte, daß die Gouvernante immer hinter ihr herspionierte, umgab sie sich mit provozierender, beleidigender Geheimnistuerei.

Diese gespannte Atmosphäre in unserem Hause begann auch auf mich einzuwirken. Die Gouvernante, die schon immer jede vertrauliche Beziehung mit Anjuta mißbilligt hatte, begann mich nun vor dem »Fräulein Fortschritt« wie vor einer Seuche zu schützen. Sie verhinderte, soweit es ihr nur möglich war, daß ich mit der Schwester allein blieb, und jeden meiner Versuche, aus dem Arbeitszimmer hinauf in die Welt der Erwachsenen zu gelangen, sah sie als ein Verbrechen an.

Diese strenge Beaufsichtigung wurde mir schließlich unerträglich. Ich fühlte instinktiv, daß Anjuta jetzt neue, uns bisher völlig unbekannte Dinge beschäftigten, und ich wollte außerordentlich gern erfahren, um was es sich eigentlich handelte. Fast jedesmal, wenn ich unerwartet in Anjutas Zimmer trat, fand ich sie über ihren Schreibtisch gebeugt; ich bat sie einige Male, sie möge mir sagen, was sie schreibe; weil sie aber von der Gouvernante schon öfter zu hören bekommen hatte, daß nicht nur sie selbst auf Abwege geraten sei, sondern daß sie auch die Schwester mitziehen wolle, jagte sie mich aus Furcht vor immer neuen Vorwürfen immer fort.

»Ach, geh doch, ich bitte dich! Margareta Franzowna wird dich am Ende hier finden, dann bekommen wir beide etwas zu hören!« sagte sie ungeduldig.

Ich kehrte verstimmt ins Lehrzimmer zurück, empört gegen die Gouvernante, die Schuld daran trug, daß die Schwester mir nichts sagen wollte. Der armen Engländerin wurde es immer schwerer, mit ihrem Zögling fertig zu werden. Den Tischgesprächen entnahm ich hauptsächlich das eine, daß den Erwachsenen zu gehorchen nicht mehr Mode sei. So zeigte ich immer weniger Neigung, mich unterzuordnen, und es gab fast täglich Streit mit meiner Gouvernante. Nach einer besonders stürmischen Szene erklärte sie, daß sie nicht länger bei uns bleiben könne. Da solche Drohungen schon öfter vorgekommen waren, legte ich dieser anfangs wenig Bedeutung bei. Aber diesmal war die Sache ernst. Einerseits war die Gouvernante schon zu weit gegangen und konnte ihre Drohung nicht mehr mit Anstand zurücknehmen; andererseits waren alle der ewigen Szenen und Streitigkeiten schon so überdrüssig geworden, daß meine Eltern die Engländerin nicht mehr zurückhielten, in der Hoffnung, daß es ohne sie im Hause stiller werden würde. Aber bis zum Schluß glaubte ich nicht daran, daß die Gouvernante fortgehen würde, bis endlich der Tag der wirklichen Abreise herankam.

 


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