Wladimir Korolenko
Die Geschichte meines Zeitgenossen Zweiter Band
Wladimir Korolenko

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Der Zeitgeist in Harnyj Lug

Zerstreute Tatsachen des Einzellebens vermögen an und für sich das geistige Wachstum eines Menschen bei weitem nicht zu bestimmen oder zu erklären, was ringsumher flutet, was jeweilig den vielstimmigen Chor des Lebens auf einen vorherrschenden Ton stimmt, dringt unmerklich in jede Menschenseele, überflutet, erfaßt und reißt sie mit sich fort. Blickt man zurück, so ist nur der Anfang der Flut durch eine Signalstange bezeichnet, weiterhin ist es nunmehr eine ruhige breite Flut, in der die einzelnen Ströme längst verschwunden sind.

Die neue Stimmung der 60er Jahre oder, wie man damals zu sagen pflegte, der Zeitgeist, der in alle Winkel drang, hatte auch in Harnyj Lug Eingang gefunden. Eines Sommers fand sich hier eine Gruppe junger Leute zusammen. Da war zunächst des Hauptmanns Sohn, ein junger Artillerieoffizier. Wir hatten ihn erst als Kadetten, dann als Junker der Artillerieschule gekannt. Zwei Jahre lang kam er gar nicht mehr heim, dann tauchte er als frischgebackener Leutnant auf, in funkelnagelneuer Uniform, mit glänzenden Achselstücken und selber frisch wie ein Apfel, im Vollgefühl seiner neuen Lage, von unbestimmten Ahnungen und Erwartungen an der Schwelle des Lebens freudig strahlend. Sodann war mein Bruder da, vor kurzem noch ein hoffnungsloser Pennäler, jetzt bereits »Schriftsteller«. Onkel Hauptmann nannte ihn, sei es im Scherz oder aus Unkenntnis der literarischen Beziehungen, »Redakteur« und stellte ihn auch so, nicht ohne stolz, seinen Nachbarn vor. Noch mehr aber imponierte dem alten Herrn ein Student aus Kiew, Bronislaw Jankowski, dessen Vater vor kurzem als Pächter benachbarter adeliger Güter nach Harnyj Lug zugezogen war. Das war ein Mann von altem Schlag, ein vortrefflicher Landwirt und strenger Familienvater. Der fortschrittlich gesinnte Sohn harmonierte mit dem altmodischen Vater nicht sonderlich und fühlte sich wohler im Hause meines Onkels. Jeden Tag kam er beinahe schon in der Frühe, mit einer Brille auf der Nase, einem Buch und einem Schirm unter dem Arm, und blieb bis zum Abend, stets ernst, nachdenklich und schweigsam. Nur wenn Meinungsverschiedenheiten ausgefochten wurden, pflegte er sich zu beleben.

Diese kleine Gruppe junger Leute nahm sofort im Hause des Onkels eine tonangebende Stellung ein. Wenn ich mir jetzt die damaligen Eindrücke vergegenwärtige, so ist mir, als wären jene Jünglinge, die mir bis dahin ganz uninteressant vorkamen, mit einem Mal von einem gewissen Glanz bedeckt, gleichsam frisch gefirnißt worden.

Mein Vetter war erst vor kurzem einfach ein lustiges Bürschlein in knapper unschöner Junkeruniform. Jetzt, als Artillerieoffizier, wußte er von gelehrten Büchern und weisen Männern zu reden, die er als »hervorragende Persönlichkeiten« bezeichnete; er hatte auch eine Ordonnanz, mit der er besondere »nicht herkömmlich-obrigkeitliche« Beziehungen pflegte. Jankowski war zwar Primus in unserem Gymnasium gewesen, uns imponierten aber die »besten Schüler« und Empfänger von Auszeichnungen seit jeher wenig. Jetzt war er ein Student »mit glänzenden Ansichten«. »Ein solider Kopf«, pflegte der Hauptmann von ihm respektvoll zu sagen, »ein künftiger Pirogow, zum mindesten.«

Der Hauptmann hatte drei Töchter, von denen zwei bereits verlobt waren. Die älteste, ein hübsches, lustiges Mädchen, spielte recht gut Klavier, lachte gern und tanzte ebenso gern. Die mittlere war nicht so hübsch, hatte aber große verträumte, schwermütige Augen. Mädchengymnasien gab es damals in Rußland fast noch keine, und die Basen hatten zu Hause bei Gouvernanten mehr schlecht als recht Unterricht genossen. Jetzt gingen die jungen Leute daran, sie »geistig aufzuwecken«. An der älteren war die Mühe nicht sonderlich lohnend, die mittlere aber stürzte sich auf die neuen Bücher mit Heißhunger. Bei ihrer mangelhaften Vorbildung faßte die Ärmste allerdings das meiste nur mit Mühe. Doch der Student würdigte sie seiner besonderen Aufmerksamkeit, und man konnte die beiden oft zusammen sehen. Der Student belehrte, das Mädchen aber horchte andächtig. Manchmal wandelte der Student um die Blumenbeete vor dem Fenster und setzte, eine frisch gepflückte Blume in der Hand, ihren Bau mit dem tiefen Ernst eines jungen Universitätsprofessors auseinander. Hätte sich jemand anders beifallen lassen, Blumen von den Beeten zu pflücken, dann hätte es sicher den größten Sturm gegeben, der Student aber durfte die schönsten Stauden mit der Wurzel herausziehen, und der Hauptmann wagte den Frevel nur mit stillen Seufzern zu begleiten. Einmal mußte man einer Schnitterin im Dorf eine vernachlässigte Wunde am Arm verbinden. Der Student wusch die Wunde aus und legte den Verband an, das Mädchen aber reichte andächtig Charpie und Binde. Wenn der Dorfbarbierer, der es wahrscheinlich viel besser verstand, dasselbe machte, so war es bei weitem nicht so interessant. Bei dem Studenten nahm sich das sehr interessant, schier wie ein Hochamt aus.

Der Hauptmann hatte seit jeher eine Schwäche für die »Wissenschaft« und »Literatur«. Jetzt war er stolz, daß unter seinem Strohdach sowohl die Literatur (nämlich mein Bruder) wie auch die Wissenschaft (der Student) vertreten waren, und hatte überhaupt an der aufgeweckten Jugend und ihren neumodischen Ideen seine Freude. Es betrübte ihn nur, daß diese Jugend ihn, den Hauptmann, gleichsam unbeachtet ließ und ein eigenes Leben lebte, an dem er keinen Anteil hatte.

Freilich erfreuten sich seine Erzählungen aus alten Zeiten, namentlich über die Wohlgeborenen von Harnyj Lug, auch in diesem Kreise eines unbestrittenen Erfolges und lieferten Stoff zu allerlei Bemerkungen über die »abgelebte Adelsherrschaft«. Einmal aber gab der Onkel nach verschiedenen Anekdoten über die Herrschaften auch eine lustige Geschichte vom Bauern zum besten.

Sie bezog sich auf die Zeit der »Befreiung«. Die Leibeigenschaft war eben erst abgeschafft worden. Es war an einem Feiertag. Die Bauernmenge strömte im Sonntagsstaat aus der Kirche und vom Markt her, wobei es viele Betrunkene gab. Der Hauptmann fuhr mit Frau und Kindern in seiner Kalesche vom Gottesdienst heim. Plötzlich blieben die Pferde stehen. Was gibt's? Es stellte sich heraus, daß einer der neugebackenen »freien Bürger« in der sorglosesten Stellung mitten auf dem Wege querüber ausgestreckt lag. Der Kutscher schreit: »Mach, daß du wegkommst, dieser und jener! Die Herrschaft will weiter!« Der freie Bürger hebt den trunkenen Kopf und erwiedert, daß jetzt Freiheit sei, daß es ihm beliebe, just so auf dem Wege zu liegen, und daß er auf die Herrschaft . . . hier folgte ein gar dreistes Zeitwort.

Der Hauptmann fuhr natürlich auf, plötzlich nahmen jedoch seine Gedanken eine humoristische Wendung. Soso, der Weg sei für alle? Jetzt sei Freiheit? Nu warte mal! . . . Er hieß seine Frau und seine Töchter sich abwenden, stellte sich an den Betrunkenen hin und – vollführte dasselbe, was Gulliver einst den Liliputanern angetan . . . Der »herrschaftliche Spaß« rief in der feiertäglich gestimmten Menge, die sich um den Auftritt gesammelt hatte, um zuzusehen, wie sich der »Wohlgeborene« aus der peinlichen Lage herausmachen würde, laute Heiterkeit hervor. Der »freie Bürger« indes wendete nur, fassungslos und gekränkt, sein Gesicht hin und her, spuckte und lallte vorwurfsvoll:

»Ei, Herr, Herr! Laß den Unfug . . .«

Dann sammelte er plötzlich seine Kräfte und kroch unter allgemeiner Heiterkeit eilig vom Wege in den Graben.

Diese Erzählung hatten wir in der Familie schon oft gehört, und jedesmal war sie uns sehr lustig vorgekommen. Diesmal jedoch fühlte der Hauptmann, noch ehe er fertig war, daß er die Stimmung des Hörerkreises nicht auf seiner Seite hatte, und er schloß auch schon in sichtlicher Verstimmung. Alle schwiegen, sein Sohn blickte, über und über rot, den Studenten schuldbewußt an und sagte:

»Papa . . . Das heißt doch aber . . . einen Menschen mit Füßen treten.«

»Ja, ja,« bestätigte der »Redakteur«, »das ist eine Beschimpfung der persönlichen Menschenwürde.«

Der Student, der mit seinem üblichen Ernst und festgeschlossenen Lippen durch die blaue Brille dreinblickte, sagte kein Wort, erhob sich aber und verließ das Zimmer.

Das war stärker als alle Mißbilligung. Im Zimmer trat peinliches Schweigen ein. Die Tante blickte erschrocken ihren Gatten an, die Töchter saßen in der Erwartung eines Gewitters mit gesenkten Blicken. Der Hauptmann erhob sich seinerseits, schlug hinter sich die Türe zu, und nach einer Weile hörten wir vom Hof her seine laute Stimme: er schalt wie ein Rasender über den ersten Knecht, der ihm unter die Augen gekommen war.

Bald jedoch fand der schlaue alte Herr ein Mittel, mit der »neuen Richtung« Frieden zu schließen. Um jene Zeit weckten Streitigkeiten über religiöse Fragen allgemeines Interesse, und auch im Hauptmannschen Hause gab es zwei schroff einander gegenüberstehende Parteien. Auf der einen Seite standen die Frauen: meine Mutter und des Hauptmanns Gattin, auf der anderen mein älterer Bruder, der Offizier und der Student. Ich schloß mich entschieden den Frauen an, die jüngeren Brüder aber und die Mädchen bildeten das Publikum.

Ich erinnere mich besonders einer solchen Redeschlacht. Die Rede war auf den seinerzeit berühmten Streit zwischen Pouchet und Pasteur gekommen. Jener vertrat bekanntlich die Theorie von der Urzeugung der kleinsten Lebewesen, dieser kritisierte und widerlegte jene Lehre. Der russische Kampfhahn des naturwissenschaftlichen Materialismus Pissarew fiel mit seinem jugendlichen Ungestüm über Pasteur her. Die Urzeugung wollte man nämlich in materialistischen Kreisen nicht preisgeben: schlug sie doch anscheinend eine Brücke zwischen der organischen und der unorganischen Natur, erweiterte die Schranken der Entwicklungslehre und sicherte so, wie man damals vermeinte, dem Materialismus den Sieg.

Ich hatte dazumal von Pissarew noch nichts gelesen. Auch von Darwin hatte ich in Wahrheit nur die Vorstellung, die mir von den einstigen Gesprächen mit dem Vater in der Erinnerung geblieben war: ein wunderlicher alter Kauz, der sich Gott weiß weshalb darauf versteife, zu beweisen, daß der Mensch vom Affen abstamme. Jetzt pochten beide, Darwin wie Pissarew, an jene Tür, die ich noch als Knabe mit dem Gelübde fest zugeschlossen hatte: niemals dem religiösen Glauben untreu zu werden!

Der Streit wurde laut und mit Leidenschaft geführt. Schön: die Mikroorganismen entstehen im Wasser oder – nach Häckel – in den unermeßlichen Tiefen des Ozeans. Na, und das Wasser, der Ozean, wie sind sie entstanden? Aus Wolken. Na, und die Wolken? Aus Wasserstoff und Sauerstoff. Und woher gibt es Sauerstoff und Wasserstoff? . . .

Mitten im Streit trat der Hauptmann in die Stube. Eine Zeitlang hörte er schweigend zu, dann schwenkte er zur Überraschung beider Parteien – zu den »Materialisten«.

»Ha,« rief er entschlossen, »ich sage ja längst, daß es an der Zeit ist, diese Altweibermärchen in die Rumpelkammer zu werfen. Die Philosophie und die Wissenschaft sind doch kein Pappenstiel. Die heilige Schrift? Die ist von Männern geschrieben, die von der Wissenschaft keine blasse Ahnung hatten. Man nehme z. B. diese Geschichte von Josua: »Sonne, stehe stille zu Gibeon und Mond im Tale Ajalon!« . . .

Mir stieg plötzlich ein ferner Tag meiner Kindheit in der Erinnerung auf. Der Hauptmann stand wieder in der Mitte des Zimmers, groß, weißhaarig, schön in seiner Begeisterung, und entwickelte dieselben Ansichten über die Welten, Sonnen, Planeten, über den »Kreislauf der Natur«, das Stäubchen Josua, das, ohne von der Astronomie etwas zu verstehen, den ganzen Weltenlauf aufzuhalten sich vermaß . . . Auch die Erinnerung an meinen Vater, an seine Unerschütterlichkeit und sein überlegenes Lächeln stieg in mir auf.

Die Jugend begrüßte freudig den neuen Verbündeten. Der Artillerist fügte hinzu, daß eine im Lauf aufgehaltene Kanonenkugel eine enorme Wärme entwickele. Beim plötzlichen Stillhalten der Erdkugel würden sich sogar die Diamanten augenblicklich in Gas verwandelt und verflüchtigt haben. Die Erde würde mit Krach im Weltraum zerstoben sein. Und all das auf das Geheiß eines Menschen hin, der irgendwo auf einem Fleck der Erde seine Hand ausstreckte!

Der Abend schloß mit dem vollen Triumph des »Materialismus«. Der Hauptmann hatte die Einbildungskraft ins Feld geführt, wir andern fühlten uns aus dem Sattel gehoben und schwiegen. Der alte Herr aber genoß seine Anerkennung durch die »Philosophie und Wissenschaft« und konnte sich nicht genug tun in Lästerungen und Anekdoten . . .

Es war spät geworden, als der Student sich zum Aufbruch erhob. Die beiden anderen jungen Leute und die Mädchen gaben ihm das Geleit, sie entfernten sich in heiterem Häuflein durch das Dorfgäßchen, lachten, fielen einander ins Wort, brachten neue Argumente vor und warfen keck den lieben Gott und die Unsterblichkeit zum alten Eisen. Noch lange hörte man die lustige Schar sich durch das schlafende Dorf entfernen, unter dem gereizten Gebell der Dorfhunde.

Ich war nicht mitgegangen. Meine Eigenliebe war tief verletzt: man behandelte mich wie einen Knaben. Außerdem war ich durch den Streit selbst erregt und aufgewühlt. Allein geblieben, wandelte ich langsam um die Beete, auf denen die Blumen des frühen Herbstes im Dunkeln undeutlich schimmerten, rief mir die Argumente des Vaters ins Gedächtnis zurück und suchte nach neuen.

Die Nacht war still, der Himmel von Sternen besät. Der Mond war noch nicht hinter dem alten »Magazin« hervorgekommen, aber die Umrisse des spitzen Dachgiebels und die Silhouetten der Pappeln schienen von leuchtendem Silber eingefaßt. Mein jüngerer Bruder und Vetter Sanja schliefen bereits auf dem Heuboden. Ich begab mich dorthin, fand im Dunkeln die Leiter und kletterte zu ihnen hinauf, wobei ich mich bemühte, so wenig wie möglich in dem duftenden Heu zu rascheln.

Auf dem Heuboden war es dunkel, nur auf einer Stelle drang durch eine Lücke im Strohdach etwas Licht herein. Ich legte mich gerade darunter hin und richtete meine Blicke durch die Lücke auf den sternbestickten Fetzen Himmel, der zu sehen war. Ein großer Stern, den ich ins Auge faßte, verschob sich, während ich meinen Gedanken nachhing, sachte von einer Seite der Öffnung auf die andere, als schwimme er auf einem dunkelblauen Weiher dahin. Ich stellte mir deutlich das ganze Firmament vor, das in ebensolcher Kreisbewegung begriffen war . . . Richtiger: es ist ja die Erde, die sich bewegt . . . Natürlich ist es leichter, die eine Erdkugel im Lauf zu hemmen, als das ganze Himmelsgewölbe. Dennoch . . . auch das scheint schwer. Allerdings, Gott ist allmächtig, es stand ja bei ihm, der Erde ein Halt zu gebieten und zugleich zu befehlen, daß sich daran keine üblen Folgen knüpften . . . Oder nach anders. Die Sonne war untergegangen, in der Höhe spielten aber noch ihre letzten Strahlen, wenn eine helle Wolke wie ein Lichtschirm diese Strahlen auf die Erde zurückwarf, dann konnte Josua noch eine oder zwei Stunden lang genug sehen . . . So war der Zweck seines Gebets erfüllt . . .

Indessen tauchten in der Dachlücke immer neue Sterne auf und schwammen wie auf einer dunkelblauen Flut vorüber. Mir kam die Mondnacht in den Sinn, worin ich um ein paar Flügel betete! . . . Auch der feste Glaube meines Vaters entstand vor mir . . . An diesem Abend blieb meine Welt noch auf ihren Grundfesten stehen, und doch war mein Sternhimmel nicht mehr derselbe wie damals. Meine Einbildung erlebte ihn jetzt anders. Die Einbildung aber ist es zumeist, die, stärker als die Logik, den Glauben erzeugt und ihn wieder zerstört.

Trotzdem stürzte ich mich am anderen Tag schon mit kosmographischen Argumenten in den Streit, und die Geister platzten aufs neue aufeinander.

So ging es bis zum Schluß der Sommerferien. Der Hauptmann blieb ein treuer Bundesgenosse der »Materialisten« und seine Spöttereien waren mitunter ziemlich gewagter Art. In dem Maße jedoch, wie die Abende länger und dunkler wurden, fing seine Keckheit merklich an zu schwinden.

Einmal waren wir bis spät am Abend sitzen geblieben. Von draußen blickte durch offene Fenster eine finstere neblige Nacht herein, in der man das Laub der Sträucher rauschen hörte und die Bewegung formlosen Gewölks am Himmel ahnen konnte. In der Stube zirpte beharrlich mit ängstlicher Klage eine unsichtbare Grille.

An diesem Abend hatte der Hauptmann in seinen Sticheleien auf den lieben Gott des Guten etwas zu viel getan. Seine Frau war mit ihm unzufrieden, auch schien er selber mit sich unzufrieden zu sein.

Er saß da gleichsam mit zusammengesunkenem Gesicht, sein Schnurrbart hing trübselig herunter.

»Nun ist's genug,« erklärte die Tante. »Es ist Zeit schlafen zu gehen.«

Der Hauptmann erhob sich schwerfällig, blickte seine Bundesgenossen an und sagte plötzlich:

»Ach, ja ja, alles gut und schön. Die Wissenschaft und all das . . . Und doch, wissen Sie, wenn ich mich ins Bett lege, pflege ich mich auf alle Fälle zu bekreuzigen . . . Weiß der Himmel, man ist doch ruhiger. Daß es da droben nichts gibt, das stimmt natürlich schon . . . Wie aber, wenn es dennoch etwas gäbe? . . .«

Zum Schluß merkte er wohl seine Entgleisung und suchte seiner Stimme einen halb scherzhaften Ton zu geben, seine Frau setzte aber naiv hinzu:

»Ach Alterchen! Den ganzen Abend spottet er, und nachher im Bett bekreuzigt er sich, seufzt, fürchtet sich vor der Dunkelheit und weckt mich, damit ich über ihn das Kreuz schlage . . .«

»Na na!« schnitt ihr der Mann unzufrieden ab.

Dieser kleine Zwischenfall verschaffte mir einen Augenblick ironischer Genugtuung, weil er mir das Bild der ruhigen Glaubensfestigkeit meines Vaters und des leichtsinnigen Wankelmuts des Onkels deutlich vor die Augen führte. Und doch begannen die Fundamente meiner eigenen Weltanschauung bereits zu wanken. Nicht sowohl unter der unmittelbaren Einwirkung der Streitereien, als unter dem eigentümlichen Hauch, der mich von der ganzen neuen Geistesströmung der damaligen Zeit anwehte.

Ich kannte damals, wie gesagt, immer noch weder Pissarew noch Darwin, noch verstand ich etwas von der Physiologie. Ich fing nur einzelne Gedankensplitter auf, die wie Funken bei den Streitigkeiten der älteren Jugend aufflogen.

Da hieß es z. B.: der Freiheitskampf der Irländer gegen die Engländer sei erfolglos gewesen, weil die Irländer sich von Kartoffeln, die Engländer hingegen von Rostbeaf nährten. Das war aus Buckle. Ein Sack Kartoffeln erzeuge weniger Blut als ein Pfund Fleisch. Das war, glaube ich, aus Ludwig Büchner. Hippolyte Taine erklärte die starken Leidenschaften der Shakespeareschen Helden, ihre flammenden Reden und sackgroben Schimpfereien damit, daß Shakespeares angelsächsische Ahnen sich mit rohen Rostbeafs und mit Bier vollstopften . . . Der Gedanke, lehrte Karl Vogt, ist eine Ausscheidung des Hirns, wie die Galle eine Ausscheidung der Leber ist. Stoff und Kraft, das heißt einfach: das Atom und dessen mechanische Eigenschaften erzeugen durch ihre Zusammenwirkung all das, was wir als seelische Vorgänge empfinden. Man zerlege eine dichterische Schöpfung in ihre Bestandteile, und man werde die und die Anzahl von Atomen nebst deren Schwingungen finden, nichts mehr. Der Mensch sei eine Maschine und ein chemisches Präparat, und er müsse auch als solches studiert werden. Untersuchen sie mal, sagt der Turgenjewsche Basarow in dem Roman »Väter und Söhne«, untersuchen Sie die Anatomie des menschlichen Auges: Sie finden die Hornhaut, die Netzhaut, die Iris, die Linse . . . wo bleibt denn da der sogenannte »göttliche Ausdruck«?

Dies alles wirkte auf mich, wie wenn glitzernde kalte Schneekristalle auf den nackten Körper fielen. Ich fühlte jedenfalls, daß von diesen losen Funken, die zufällig in der Hitze der Polemik aufflogen, irgendein besonderes blendendes Leuchten ausging, das aus einer und derselben Quelle strömte . . .


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