Leopold Kompert
Neue Geschichten aus dem Ghetto
Leopold Kompert

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Julius Arnsteiners Beschau.

»Schöne goldene Zeiten, wo seid ihr hingeschwunden! In welche öde, jedem menschlichen Fuße unzugängliche Wüstenei habt ihr euch geflüchtet? Läßt sich denn gar keine, auch nicht die leiseste Spur von euch auffinden, daß man ihr folgen und in das verborgene Paradies eintreten könnte? Ihr Zeiten nämlich, als der gebildete Mensch noch etwas galt und mit Fürsten und Königen und Grafen, wie der große Schiller sagt, auf des Lebens Höhen stand und sich nicht zu fürchten brauchte, daß ihn ein Lazar Winterfeld von dort oben schmählich herunterjagte. O, Sidonia! Wenn ich daran denke, wie anders sich König Philipp von Spanien in »Don 285 Karlos« gegen den Marquis Posa benimmt, so übermannt mich mein nur allzu gerechter Schmerz, und die heutige Welt flößt mir einen unüberwindlichen Ekel ein. Denn warum läßt sich König Philipp, dieser mit aller Macht ausgestattete Herrscher, von jenem Marquis Posa solche Reden ins Gesicht schleudern? Hätte er nicht auf der Stelle einen von seiner Leibwache rufen können, um den Rebellen niederzuschießen? Nein, er hat's nicht getan! Und warum nicht, frage ich? Weil er in ihm den Mann von »Bildung« geachtet hat. O Sidonia! Was nützt mir all mein Wissen? Was habe ich davon, daß mir in der »Analyse« der so schwierigen »Partizipialkonstruktion« kein zweiter gleichkommt, und daß ich mit vielleicht hundert Schülern und Schülerinnen den unsterblichen Telemaque von dem berühmten Fenelon durchgelernt habe, wenn man das nicht in mir achtet, was an mir das Beste ist, nämlich meine Bildung? Laß mich heute zu deinem Vater Lazar Winterfeld kommen und zu ihm reden, wie Marquis Posa zum König Philipp geredet hat: Lazar Winterfeld, geben Sie mir Ihre Tochter! (Im Urtexte heißt es aber bekanntlich: Gedankenfreiheit.) Was möchte mein König Philipp, dein Vater, zu mir sagen?

»O Sidonia?«

Lustige Strahlen warf die Sonne um diesen Augenblick, in welchem ein Menschenkind solche trübselige Dinge in ein Tagebuch schrieb, gleich zum Hohne, in die Lehr- und Wohnstube des uns wohlbekannten Herrn Julius Arnsteiner. Er aber merkte nichts von ihnen und schrieb fort; in rasender Eile flog ein Gänsekiel (Herr Arnsteiner bediente sich nie der schriftverderbenden Stahlfeder) über das ungeduldige Papier, und hätte so fortgerast, wenn nicht gerade bei dem letzten Ausruf »o Sidonia« eine Stimme aus der Ecke der Stube erschollen wäre:

»Herr Arnsteiner, ich glaube, jetzt werden Sie mit meinem ›P‹ vollkommen zufrieden sein.«

286 Der Lehrer schaute auf; wirr flogen seine Blicke von einem Ende der Stube zum anderen, bis sie endlich auf einem an dem Tische zusammengebückt sitzenden, etwa siebzehnjährigen Mädchen haften blieben, dessen Geschäft darin bestand, auf einen großen Bogen Papier nichts als »P« . . . wahrhaftig – nichts anderes als »P« hinzumalen.

Es war ein fürchterlich starrer Blick, in welchem dieses Erwachen aus einer grausam zertrümmerten Traumwelt sich sammelte, aber noch grauenhafter klang der Ton, den der Lehrer in die Worte legte, als er mit einem Male sagte:

»Sali, du hast einen Mord begangen, einen unverzeihlichen Mord!«

»Ich?« stammelte das unglückliche Mädchen, und die Feder, die gerade mit dem Schwunge eines prächtigen »P« beschäftigt war, erlahmte und malte eine schreckliche Fratze hin, vor der Julius Arnsteiner, wenn er nicht zum Glücke von ihr abgewandt gewesen, graue Haare bekommen hätte.

Der Lehrer weidete sich mit seinem starren, gefühllosen Auge an dem Schrecken seiner Schülerin, nicht ein Muskel bewegte sich in seinem Gesichte gegenüber dem Opfer seiner Anklage; es war, als säße er über Leben und Tod, und der nächste Moment könnte eines von beiden über seine Lippen bringen.

»Ja, einen Mord,« wiederholte er langsam, »ich kann es nicht anders nennen.«

»Ich, Herr Arnsteiner?« rief das Mädchen weinerlich und sah ihn mit einem flehentlichen Blicke an.

Der Lehrer mochte jetzt ein menschliches Rühren empfinden, seine Züge wurden weicher, gewissermaßen flüssiger. »Wenn ich von einem Morde spreche,« sagte er, und jedes Wort war gewiegt und gewogen, »so meine ich darunter keinen leiblichen, sondern einen Gedankenmord, den du dadurch an mir begingest, daß du mich gerade in einem Momente, als ich eine meiner schönsten Ideen dem Papier anvertrauen 287 wollte, mit deiner Frage wegen eines einfachen Buchstabens störtest. Was ist aber das schönste P, und wäre es selbst von einem Kalligraphen geschrieben, gegen einen gemordeten schönen Gedanken?«

»Ich soll so etwas getan haben, Herr Arnsteiner?« klagte das Mädchen und richtete tränenfeuchte Augen – und es waren braune, treuherzige Augen – auf den grausamen Lehrer. »Nicht einmal im Traume möchte es mir einfallen, Ihnen wehe zu tun!«

»Beruhige dich, mein Kind,« sagte der Lehrer, schon etwas mehr gerührt, »du bist nicht die erste und auch nicht die letzte, die ein derartiges Verbrechen an mir begangen hat. Ein Mensch von Bildung wird tagtäglich gefoltert, in spanische Stiefel geschnürt (erinnere mich einmal daran, daß ich dir erkläre, was dieser Ausdruck bedeutet) und gemordet. Denn wer vermag die Qualen zu beschreiben, die ein gebildeter Mensch aussteht, wenn ihm ein Fehler in der deutschen Sprachlehre in die Ohren klingt und wenn er, um nur eines von tausend Beispielen zu erwähnen, aus dem Munde von Damen, die, wenn sie dem Lehrer Julius Arnsteiner begegnen, fast zu stolz sind, auf seinen Gruß zu antworten, hören muß: »Wir haben sich gestern gut unterhalten.« Oder wenn er die Orthographie von Leuten zu Gesicht bekommt, die an ihren Geldbeutel schlagen, daß er klingt, und nicht einmal imstande sind, ihren Namen recht zu unterschreiben! Das aber ist alles nichts gegen die eine Qual, und diese wiegt alle andern auf; die Hauptqual besteht darin, daß der gebildete Mensch nicht verstanden wird, daß, wo er auftritt, ein Wettrennen mit Hindernissen seiner wartet (auch diesen dir gewiß unerklärlichen Ausdruck will ich dir bei gelegener Zeit auseinandersetzen, er stammt aus England her, und ich habe mir ihn neulich aus einer Zeitung aufnotiert) und überall der Gelddünkel und die schnödeste Verachtung alles Höheren ihm entgegentritt. Soll man da nicht an der Menschheit 288 verzweifeln, soll man sich da nicht in die Zeiten zurücksehnen, als noch der gebildete Mensch, wie ich nach Schillers Ausdruck sehr bezeichnend niedergeschrieben habe, mit Königen, Fürsten und Grafen Umgang hatte?«

»Kränken Sie sich nur nicht so stark,« tröstete Sali mit vor Mitleid bebender Stimme. »Wozu haben Sie auch so viel gelernt, Herr Arnsteiner, wenn es Ihnen so übel tut? Meine Mutter sagt immer: Mit Schweigen kommt man durch die ganze Welt.«

Auf Julius Arnsteiners Stirn schwoll eine Ader an, die nur in seltenen Gelegenheiten, etwa bei einer durchaus fehlerhaften »Regierung« eines deutschen Vorwortes, diese Ausdehnung anzunehmen pflegte.

»Was soll das heißen?« rief er zornig. »Wenn ich also deine Mutter, die Federschleißerin, gut verstehe, so ist Schweigen bei ihr so viel als nichts wissen?«

»Ich weiß nicht,« sagte das Mädchen mit demütig gesenkten Augen. »Die Mutter braucht den Spruch, wie er ihr in den Mund kommt.«

Der Lehrer schien von dieser Antwort nur wenig beschwichtigt. Mit der Überlegenheit eines wahrhaft gebildeten Menschen rief er nach einer Weile, die ihm gestattete, sich wieder in die Falten seiner etwas aufgestörten Würde zu werfen:

»Pah! was liegt mir daran, was eine Federschleißerin sagt? Der Spruch ist gewiß nicht auf dem Baume der Bildung gewachsen! Den hat wahrscheinlich ein Ignorant (was so viel ist als ein Unwissender) in seinem Kopfe ausgeheckt. Wenn man mit Schweigen durch die ganze Welt kommt, was hat man dann nötig zu lernen? Was brauche ich mich dann mit den Regeln der deutschen Sprachlehre zu plagen, wenn Schweigen besser ist als Reden? Warum sich nicht lieber gleich ein siebenfach unaufsperrbares Schloß an den Mund schmieden lassen, wenn die Vorteile der Unbildung, 289 der Unwissenheit und Ignoranz so auffallend am Tag liegen? Geh lieber gleich in ein Kloster, Ophelia, sagt Hamlet, Prinz von Dänemark, und dasselbe könntest du deiner Mutter, der Federschleißerin, zurücksagen. Wenn Schweigen besser ist als Reden, so braucht sie dich nicht zu mir zu schicken. Was hast du nötig zu lernen, wie man einen ordentlichen Brief zustande bringt? Oder daß du eine Multiplikation zu machen verstehst? Schweig lieber, schreib nichts, rechne nicht, du kommst so nach der Weisheit deiner Mutter am besten durch die Welt.«

»Um Gottes willen, Herr Arnsteiner,« unterbrach das Mädchen mit tränenerstickter Stimme den hochgehenden Gedankenstrom des erzürnten Lehrers, »was hat Ihnen meine Mutter getan, daß Sie ihr diese Kränkung antun wollen? Sie gibt Ihnen ja täglich tausend Segenssprüche, daß Sie sich meiner angenommen, mich schreiben, lesen und rechnen lehren, daß ich mich nicht zu schämen brauche vor Gott und den Menschen. Und jetzt auf einmal wollen Sie mich ihr wieder nach Hause schicken? Sie wird krank werden vor lauter Herzleid.«

Julius Arnsteiner hatte eine merkwürdige Schwäche; er konnte niemanden weinen sehen. Tränen nahmen ihm seine ganze Kraft; seinen Schülern, namentlich aber seinen Schülerinnen, war das wohlbekannt. Mitten im größten Ärger über einen »Diktandofehler« konnte ihn die mit einer kleinen Tränenbeigabe ausgesprochene Entschuldigung: »Was kann ich dafür?« vollständig entwaffnen. Julius Arnsteiner gehörte nicht zu den Anhängern jener Methode, die es bekanntlich nicht verschmäht, die letzten Konsequenzen ihres Systems zuweilen mit einem flachen Lineal oder einem stets bereitliegenden Stäbchen, ja selbst mit der bloßen Hand in eine etwas unsanfte Berührung zu bringen. Das hätte er als eine Entweihung seines Standes, als eine Erniedrigung des gebildeten Menschen in ihm betrachtet. Lieber redete er 290 zu halben Stunden lang, bis er seinen eigenen Ärger zu Tode gesprochen und dem Schüler oder der Schülerin das große Verbrechen eines Diktandofehlers bis in die tiefinnersten Winkel des Gewissens gerückt zu haben glaubte. Dann ward er ruhig, und alles war vergessen.

Auch diesmal hatten die Tränen einer Schülerin die ähnliche Wirkung. Julius Arnsteiner fuhr mit der Hand einige Male über das Gesicht, als wollte er von dort etwas wegwischen, was ihn beirrte.

»Deine Mutter,« sagte er nach einer Pause, »gibt also wirklich etwas darauf, daß ich mit dir lerne? Sie hat also wirklich Sinn für Bildung?«

»Es vergeht ja,« rief das Mädchen lebhaft, »keine Stunde im Tage, wo sie nicht von Ihnen spricht. ›Auf meinen Herrn Julius Arnsteiner,‹ hat sie noch gestern am Abend gesagt, ›da lasse ich nicht kommen, was auf ein Quentel geht. Das ist der beste Mensch, der auf der Welt lebt, man kennt sich nur nicht so in ihm aus, weil er ein so gewaltig gelehrter Mensch ist.‹ Die Mutter hat auch den Winter über etwas getan, was ich jetzt wohl verraten darf. Sie hat die schönsten und feinsten Federn, die sie nur hat zusammenklauben können, geschlissen, es ist auch nicht eine schlechte darunter, lauter Flaumenfedern. ›Da drauf,‹ hat sie gesagt, ›soll kein andrer schlafen, als mein Herr Arnsteiner, es ist keiner in der ganzen Gemeinde wert, auf solchen Federn zu liegen; die heb' ich ihm auf, bis er einmal heiratet.‹«

»Eher gibt sie die Federn nicht her? Deine Mutter will also sicher gehen?« rief der Lehrer beinahe lustig. »Nun, wer kann wissen, was in den Sternen geschrieben steht?«

Es war ein merkwürdiger Blick, der bei diesen Worten aus den Augen des Mädchens nach dem Lehrer hinglitt. Aber so wenig man den Blitz aushalten kann, so wenig hätte, selbst wenn er aufmerksamer gewesen wäre, Herr Arnsteiner die Bedeutung dieses Blickes ergründen können. Ja, wie 291 der Blitz in dem einen Augenblicke mit grellem Lichte alle Gegenstände erhellt, während im nächstfolgenden die alte Finsternis wieder in ihr Recht tritt, so war es auch mit diesem Mädchen. Jetzt – es dauert aber nicht länger als eben jener Blick – ein fragendes, nach Lösung ringendes Geheimnis in den feinen Zügen des Antlitzes, und jetzt wieder die am Tische gebückt sitzende, mit dem Schwunge großmächtiger »P's« sich abquälende, wehmütig sich entschuldigende Tochter der Federschleißerin.

»Bah! was habe ich aber davon?« fügte der Lehrer sogleich mit einer verdrießlichen Achselzuckung hinzu, während er unmittelbar darauf wieder lächelte. »Deine Mutter scheint also, wie das Volk in seiner unerklärlichen Redeweise zu sprechen pflegt, Stücke auf mich zu halten? (Schade, daß ich Adelungs großes Wörterbuch nicht zur Hand habe, es kostet zu viel.) Nun, ich bin ihr recht dankbar dafür und werde das in Bettfedern bestehende Honorar für deinen Unterricht mit geziemender Erkenntlichkeit annehmen, wiewohl ich gestehe, daß mir für meinen Teil die vier Bände Adelung lieber wären. Du kannst das deiner Mutter zurücksagen, nämlich ersteres; das von Adelung mußt du aber für dich behalten . . . Was brauche ich einen Menschen noch unnötigerweise zu kränken?«

»Ich danke Ihnen, Herr Arnsteiner, ich danke Ihnen!« rief die Schülerin mit hoher Freude, »das wird der Mutter lieber sein, wie . . .«

»Nun, du stockst, Sali, du findest nicht sogleich das passende Gleichnis?« unterbrach sie der Lehrer. »Weißt du, daß es gar nicht so leicht ist, hier ein entsprechendes Gleichnis anzufügen? Lazar Winterfeld oder einer seinesgleichen möchte sagen: Wie ein Topf geschmalzener Nudeln, oder wie eine Schüssel frischgebackener Kräpfchen; denn Leute dieses Schlages nehmen zur Bezeichnung dessen, was sie gern besonders kräftig ausdrücken möchten, meistens zu materiellen Dingen ihre 292 Zuflucht; ihr Gedanke reicht nicht weiter als ihr Mund. Ich an deiner Stelle würde sagen, um den höchsten Grad von Freude auszudrücken: Das ist mir lieber als der große Adelung.«

»Meinetwegen, Herr Arnsteiner,« rief das Mädchen mit leuchtenden Augen, »meinetwegen wie der große Edeling!«

»Adelung, mein Kind, Adelung,« korrigierte der Lehrer, »es ist das gerade so, als wolltest du meinen Namen Arnsteiner wie Ornsteiner aussprechen.«

»O, den Namen verwechselt man nicht so leicht,« meinte Sali außerordentlich fein.

Dem Lehrer mundete dieses Kompliment gar nicht übel; als gebildeter Mensch war er Schmeicheleien nicht unzugänglich, oder vielmehr er verstand sich recht gut auf ihr süßes Gift. Vielleicht aus Erkenntlichkeit glaubte er Gleiches mit Gleichem vergelten zu müssen, und meinte:

»Weißt du, Sali, daß sich deine Sprache seit einiger Zeit merklich zu ihrem Vorteile verbessert hat? Den letzten Satz z. B. hast du so korrekt und richtig betont ausgesprochen, wie es nur Sidonia Winterfeld imstande ist.«

Sali erglühte wie eine Purpurrose; aber der Lehrer bemerkte das nicht.

»Und weißt du noch was?« fuhr er fort. »Wenn ich den Spruch deiner Mutter eigentlich vom Standpunkte der philosophischen Betrachtung erwäge, so sieht er gar nicht so verletzend und das Gefühl des gebildeten Menschen beleidigend aus, wie er mir anfangs vorkam. Mit Schweigen kommt man durch die halbe Welt, sagt deine Mutter. Nun freilich! Schweigen ist das Los des Schönen. Was kann der gebildete Mensch Besseres tun als schweigen mitten unter ungebildeten Menschen? Redet er, so verstehen sie ihn nicht, wendet er einen etwas ungewöhnlichen Ausdruck an, so lachen sie einen hämisch aus. ›Der Rest ist Schweigen‹, muß irgendwo ein großer Dichter sagen; denn ich habe diese Worte neulich mit 293 Gänsefüßchen angeführt gelesen, was ich dir übrigens in der Lehre von den ›Interpunktionen‹ auseinandersetzen werde; sonst meinst du vielleicht, du müßtest zwei Füße von den Gänsen deiner Mutter nehmen und sie aufs Papier stellen. Dem ist nun nicht so. Nur der gebildete Mensch kennt den wahren und richtigen Gebrauch der Gänsefüßchen, weil nur er zu ermessen weiß, wieviel von der akuraten Stellung derselben abhängt. Leider kann man sie nur im Schreiben und nicht im Sprechen anwenden. Wieviel Mißverständnis, Neid, üble Nachrede könnte verhütet werden, wenn man imstande wäre, auch im Sprechen diesen Gänsefüßchen ihren Platz anzuweisen! Was mich betrifft, so begehe ich niemals die Unterlassungssünde, einem solchen Gänsefüßchen aus dem Wege zu gehen; denn wie leicht könnte man, wenn ich z. B. eine Stelle aus Schiller, Shakespeare, Geßner oder Fenelon anführe und vergäße die zwei kleinwinzigen Zeichen, glauben, die Stelle rühre von mir her! Ja, Sali, deine Mutter hat recht! Mit Schweigen kommt man durch die ganze Welt; schreiben ist aber auch schweigen; und so schreibe ich denn nieder, was alles mich drückt und betrübt. Ich werde dir das auch vorlesen, was ich jetzt gerade niedergeschrieben; ich habe eine leise Ahnung, daß du dazu ein gewisses Verständnis mitbringst, worauf es doch eigentlich ankommt. Wenn du aufmerksam zuhörst, kannst du viel davon profitieren; es kann einmal auf deinen Stil, wenn wir nämlich zu der praktischen Anwendung der syntaktischen Regeln kommen werden, nur vorteilhaft wirken. Laß mich übrigens erst sehen, wie deine P's ausgefallen sind.«

Sali reichte ihm den beschriebenen Bogen nur zögernd hin.

»Soll ich leben!« rief der Lehrer ganz gegen seine Gewohnheit in dieser nur der »Gasse« mundläufigen Beteuerung; »dies P hat merkwürdige Fortschritte gemacht. Sidonia Winterfeld kann auch kein schöneres hervorbringen. Morgen schreiten wir an das schwierige S.«

294 Und während Julius Arnsteiner es nicht ahnte, was bei diesem feierlichen Versprechen in der Seele seiner jungen Schülerin vorging, ob Freude über das reichlich gespendete Lob, ob eine gewisse Trauer, daß mit dem Betreten des schwierigen S die Schreiblektionen ihrem Ende entgegeneilten, griff er hastig nach seinem Manuskript und gab dem Mädchen den beschriebenen Bogen zurück.

Er begann zu lesen. Nie hatte es ein gläubigeres und aufmerksameres Publikum gegeben, als dasjenige, das in der Person der siebenzehnjährigen Schülerin mit klaren und treuherzigen Augen, mit lauschender Seele auf dem ehrfurchtsvoll, gleichsam von so großem Zutrauen erschrockenen Antlitz derselben den Deklamationen des Lehrers horchte.

Arnsteiner war über die ersten Sätze seiner trübseligen Betrachtungen gelangt bis zu jener Stelle, die wir um ihrer Wichtigkeit willen noch einmal hinstellen wollen:

»Und sich nicht zu fürchten brauchte, daß ihn ein Lazar Winterfeld von dort oben herunterjagte. O Sidonia!«

»Herr Arnsteiner, Herr Arnsteiner!« rief plötzlich mit merkwürdiger Lebhaftigkeit die kleine Schülerin, »da vorn an dem Rocke, der an der Tür hängt, ist ein Knopf herunter, den muß ich schnell annähen.«

Julius Arnsteiner schrak zusammen, als hätte ihn jemand auf einem ungeheuren Sprachfehler ertappt. Auf einen solchen Schlag war er wahrlich nicht gefaßt! Aber mit der Resignation eines gebildeten Menschen, der nach seinem eigenen Ausdrucke so oft das Vergnügen hat, in spanische Stiefel geschnürt zu werden, sammelte er sich sogleich, und die ihm gewöhnliche Duldermiene trat siegreich auf seinem Antlitze hervor. Konnte er sich denn selbst ein »Dementi« (es ist das ein sehr feiner und hochgebildeter Ausdruck, den nicht jeder in der Gasse anzuwenden wußte) geben? Mußte er nicht stets mitten in seiner Qual schweigen? Gelassen legte er das Manuskript aus den Händen und sagte 295 schwach: »Nähe ihn also an, diesen hängenden Knopf, es wird ihm recht wohl tun, wenn du dich seiner annimmst.«

Für Sali aber war Befehl und dessen Ausführung das Werk eines Augenblickes. Ehe sich der Lehrer es versah, hatte sie aus der Tasche ihrer Schürze ein Nadelbüchschen und einen um Papier gewickelten Zwirnknäuel geholt. Mit einer Schnelligkeit ohnegleichen hatte sie mit den Zähnen den unnötigen Rest abgebissen, daß es ordentlich in der Stube wie ein schriller Schrei tönte. In halb kniender, halb aufrechter Stellung trat sie dann an den Rock hinan und begann mit geübter Hand die Befestigung des seinen Banden entsprungenen Flüchtlings.

Julius Arnsteiner war in einer Art traumhaften Scheinlebens allen Bewegungen des Mädchens gefolgt; er selbst mußte sich verzaubert dünken, ein so greller Gegensatz lag zwischen dem, was er soeben aus der ganzen Fülle seiner Seele gelesen – und diesem anzunähenden Knopfe! Erst das regelmäßige Auf- und Niederfahren der Nadel, fast an seinen Augen vorüber, gab ihn wieder der Wirklichkeit zurück.

Wer war diejenige, die, während er die klaffende Wunde seines Innern so vertrauensvoll offenbarte, Zeit und Stimmung hatte, an den fehlenden Knopf an einem elenden Rocke zu denken? Die Tochter einer Federschleißerin! Und das sollte ihn wundernehmen?

»O Sidonia Winterfeld,« mußte er unwillkürlich dieser Entdeckung Sprache verleihen, »du hättest mir keinen Knopf angenäht! du nicht!«

»Ai!« schrie Sali auf und schüttelte den Zeigefinger, wie von einem furchtbaren Schmerze betroffen, »Herr Arnsteiner, ich habe mich gestochen bis ins Fleisch hinein!«

»Leg kaltes Wasser darauf,« sagte Arnsteiner gelassen, indem er sich erhob. In diesem Augenblicke war auch nicht eine Spur von Mitleid in seinem sonst nicht verhärteten Herzen! Der Knopf aber saß fest.


296 Ja kaltes Wasser! Wie trefflich mundet ein Trunk, wenn man in brennender Sonnenglut sich müde gegangen, aber wie gering ist seine Wirkung, wenn man es an den Schmerz dunkel aufgeregter Empfindungen hält, der nicht von dem Stiche einer fehlgegangenen Nähnadel, sondern von dem Herzen ausgeht, da wo es bekanntlich am wehesten tut!

Die kleine Sali hatte den Rat ihres Lehrers nicht befolgt, sei es, daß es in der Stube des Herrn Arnsteiner an einem Glase fehlte, wohinein sie das kühlende Element gießen wollte, oder vielmehr, weil es sie drängte, aus der Vorlesung zu kommen, die so herzbrechende Dinge enthielt – nicht nur für Herrn Julius Arnsteiner.

Sie ging lieber nach Hause! Dort hatte sie Wasser in Hülle und Fülle und auch ein Glas dazu, aber das Beste war doch ein uralter, weitbauchiger Kasten, der mit der Wand einen so vortrefflichen Winkel bildete, wie man ihn in halb Böhmen nicht schöner fand; denn man saß darin so still und abgeschlossen von der Welt, wie auf einer menschenleeren Insel mitten im Stillen Ozean, und namentlich wenn man einen Strumpf zur Hand nahm, erhielten daselbst die Gedanken wie durch Verzauberung eine solche Kraft zum Fliegen, daß man bald nicht mehr in dem Stübchen der Federschleißerin, sondern ganz anderswo sich zu befinden glaubte.

In diesem »anderswo« war ein gleichfalls alter Bücherschrank mit merkwürdig vielen Büchern darin zu schauen, wovon aber keines sich ordentlich mit seinem Nachbar vertrug; das eine lag in der Quere, das andere hatte sich trotzig aufgestellt und wollte gerade nicht liegen, noch ein anderes hatte sich wahrscheinlich aus Übermut über die beiden anderen geworfen und wollte nicht liegen, aber auch nicht stehen. Eines aber teilten alle in brüderlicher Gemeinschaft, nämlich den fingerdicken Staub; es war, als ob er Zeit gehabt hätte, sich zu einer ansehnlichen Kruste zu verdichten. Aber nichts lebt so lange, daß nicht endlich sein letztes Stündchen schlagen 297 könnte, und auch für diesen so übermütig breit sich machenden Staub war es gekommen. Hei! Wie kräftig schlug jemand mit einem Stäbchen auf dieses Heer von Büchern, daß sie seufzten und ächzten wie gezüchtigte Kinder; wie wurde eines nach dem andern hergenommen, in welchen dicken Wolken flog dieser gedemütigte Staub zum offenen Fenster hinaus! Aber wie wunderbar hatte sich auch die Stube in demselben Augenblicke verwandelt: sie war gar nicht mehr zu erkennen! Nachdem dieser anmaßende Staub den Weg ins Weite gesucht, schien es, als ob alle Gegenstände von einem bösen Gaste, einer jahrelangen Krankheit, befreit worden. Alles freute und putzte sich heraus, eines wollte es dem andern an Glanz und Selbstbespieglung zuvortun! Tische, Bänke, Stühle, Bücherkasten, Fenstervorhänge, Fußboden, Ofen und Leuchter, kurz alles, was sich in dem kleinen Raume befand, war zu einem neuen Leben erwacht und tanzte ordentlich vor lauter Freude in der Stube herum. Vor allem aber freute sich ein schwarzer »Kaputrock«, der an einem Nagel an der Türe trübselig gehangen hatte; im Kampfe mit dem Leben hatte er das Unglück gehabt, sämtliche Knöpfe zu verlieren . . . Jetzt schlüpft jemand in die Ärmel hinein, und siehe da, was der arme Rock auf seine alten Tage nicht alles erlebte – er konnte sich wieder schließen . . . auch nicht ein Knopf ging ihm ab!

Freitag am Abend, wenn abgespeist war und die siebenzinkige Lampe bereits mit etwas schläfrigen Augen zwinkerte, – das war die gewöhnliche Besuchstunde dieses »Anderswo«, die jedoch meistens so lange dauerte, daß auf dem Rückwege ins Bett Mond, Sterne und Lampe sich längst zur Ruhe begeben hatten.

Es war heute kein Freitagabend, sondern ein ganz gewöhnlicher Werktag, und die Sonne lachte so freundlich in das Stübchen hinein; aber die kleine Sali konnte doch nicht der Anziehungskraft des alten Kastens widerstehen. Sie 298 setzte sich, sobald sie nach Hause gekommen, in den Winkel, und saß da, mit nichts beschäftigt, nicht einmal mit einem Strumpfe eine geraume Weile.

Die Federschleißerin, Salis Mutter, bemerkte sogleich das Ungewöhnliche in dieser Erscheinung. Sie war eine Frau mit offenen Augen, aber stillen, schweigsamen Gemütes, die bei ihrem Geschäfte gelernt hatte, das äußere Leben und alles, was dieses in bunter Aufeinanderfolge ihr entgegenbrachte, ohne laute Rede, aber mit vielen Gedanken in sich aufzunehmen und zu verarbeiten. Ihr Geschäft brachte es so mit sich; denn wenn man so den ganzen Tag nichts anderes tut, als die Fähnchen von den Flaumfedern abstreifen und auf ein Häufchen zusammenlesen, wobei man sich noch hüten muß, durch lautes Reden einen Luftzug zu erregen, so gewöhnt man sich bald, jeden Tag und jede Stunde des Lebens wie eine Flaumfeder anzusehen, die man, sobald sie abgestreift, zu den andern legt, still, innerlich zwar bewegt, aber nach außen ohne viel Aufsehen und Geltendmachung. So hatte die Federschleißerin nach ihrer Art zu dem seltsamen Tun ihrer Tochter geschwiegen, wiewohl sie sich ununterbrochen ihre Gedanken darüber machte. Ein kleines Häufchen Federn lag noch vor ihr; wahrscheinlich mußte sie erst mit ihnen fertig werden, ehe sie ihren Mund öffnen wollte. Endlich war das Werk zu Ende gediehen, sie stand auf. Halb vor sich hin, halb zu der Tochter gewendet, meinte sie:

»Nun auf mich kommt's nicht an, wenn Herr Arnsteiner nicht heute schon Hochzeit macht. Seine Federn sind fix und fertig.«

Mit einem Male ward der ganze Zauber des alten Kastens zerstört, und gerade als auch Sali mit dem Aufräumen und Zustandebringen des gewissen Stübchens fertig geworden war.

Trotzdem war sie sogleich mit beiden Füßen auf dem Boden der Wirklichkeit, sie hatte sich nicht lange zu besinnen, daß der alte Kasten nur in ihrem eigenen Stübchen stand.

299 »Lebendiger Gott!« rief sie erschrocken, »ich bin dagesessen, als wäre ich Lazar Winterfelds Tochter, die nichts zu tun hat; ich weiß gar nicht, was mir eingefallen ist.«

Die Federschleißerin sah mit ihren weltklugen Augen eine geraume Weile auf das Mädchen.

»Fehlt dir was?« fragte sie.

»Mir soll was fehlen?« lachte Sali überlaut. »Seh' ich denn so schlecht aus?«

»Es gibt Leute,« sagte die Federschleißerin in ihrer gewohnten Spruchweisheit, ohne sich beirren zu lassen, »die sehen mit ihrem Munde besser als andere mit ihren zwei Augen.«

»Und was hast du an mir gesehen?« forschte das Mädchen mit leicht verzeihlicher Neugier.

»Du kennst mein Sprüchel vom Schweigen,« meinte die Federschleißerin unbeugsam.

Statt aller Antwort wandte sich Sali von ihrer Mutter ab; da sie aber doch etwas reden mußte, meinte sie:

»Morgen fängt der Herr Arnsteiner mit mir das große ›S‹ an; heute bin ich mit dem ›P‹ fertig geworden.«

»Und ich mit meinen Federn für ihn,« sagte die Mutter.

»Wie kommt eines zum andern, Mutter?« fragte wieder gleichsam sich überschreiend die kleine Schülerin des Herrn Arnsteiner.

»Laß du mich nur!« rief die Federschleißerin in ihrer gelassen eindringlichen Weise, »du bist mit deinem ›P‹ fertig geworden, nun muß er seine Partie machen.«

»Mutter, du meinst –«

»Ich meine gar nichts,« sagte die Federschleißerin ruhig. »Mir verkündigt's mein kleiner Finger, daß Herr Arnsteiner noch in dem Jahre eine Partie machen muß. Wäre mir denn sonst eingefallen, für ihn die Federn zu schleißen?«

»Ich sag' dir, Mutter,« meinte die kleine Sali, »es muß doch ein großes Glück sein, wenn man reich ist.«

300 »Was redst du für Narretei!« rief die Federschleißerin ganz gegen ihre Weise in gereiztem Tone. »Ist dir einmal im Leben schon etwas abgegangen? Bist du schon einmal hungrig zu Bett gegangen?«

»Das mein' ich nicht, Mutter,« sagte Sali, »aber wenn man reich ist, da kann man sich den Herrn Arnsteiner zum Lehrer nehmen . . .«

»Nun, er lernt doch mit dir auch? Hat er mir nicht einmal selbst gesagt, du seiest seine beste Schülerin, und du bekämst eine Schrift wie der beste Buchhalter?«

»Hat er dir das erzählt?« rief die kleine Sali, und ein Anflug von Schamröte hatte rasch die etwas schwermütige Miene verdrängt.

Gleich darauf aber, als habe sie sich besonnen, wie wenig sie zu einer freudigen Aufregung berechtigt sei, setzte sie hinzu: »Und doch hab' ich heute nicht gewußt, daß einer, der ein großes Buch geschrieben hat, Adelung und nicht Edeling geheißen hat. Ich schäm' mir fast die Augen heraus. Sidonia Winterfeld hätte so einen Fehler gewiß nicht gemacht.«

»Hör an, mein Kind,« sagte die Federschleißerin mit großer Bestimmtheit, wie sie ihre eigene Tochter von der stillen in sich gekehrten Frau nur selten zu vernehmen die Gelegenheit hatte. »Du weißt, wie ich deinen Herrn Arnsteiner respektiere und wie viel ich auf ihn halte. Aber von Sidonia Winterfeld kann er sagen, was er will, so glaube ich es nur zur Hälfte! – Nicht daß er ein Lügner ist, Gott der Allmächtige soll mich schützen und schirmen, daß mir das nicht einmal im Schlafe einfällt . . . aber was die Sidonia anbelangt, da wette ich mein zukünftig Leben daran, daß er sich in ihr foppt und mit ihm die ganze Welt. Sie ist Lazar Winterfelds Tochter – und das will genug sagen. Seit wann ist aus der Familie etwas Adeliges hervorgegangen? Geld und nichts als Geld! Hast du schon etwas 301 von ihnen gehört, was auf einen besonderen Kopf hinweist? Ich bleib' dabei: Auf ein hölzern Wägele schlägt man kein goldig Nägele.«

Wieder zu Herrn Arnsteiner.

Lehrer haben das Eigentümliche, daß sich ihre innere Jugend viel länger erhält als die anderer Leute, und während diese oft unter schwarzen Haaren graue Gedanken tragen, ist bei jenen alles grün, selbst bis auf die Haare, die einem nur bei oberflächlicher Prüfung etwas grau erscheinen. Das Geheimnis, warum dem so ist, liegt nicht in so dichten Falten, daß man es nicht bis zur Durchsichtigkeit lüften könnte. – Bei Julius Arnsteiner waren es die »Partizipialkonstruktionen« und vor allem die Abenteuer des jungen »Telemachs«, die dieses Wunder zustande brachten.

Für einen Königssohn, so klingt es fast wie eine Sage, soll dieses Buch verfaßt worden sein, damit er daraus die schwere Kunst des Regierens lerne. Was nützte es nun dem Lehrer, daß er diesen Umstand stets als Einleitung voranschickte, ehe er sich mit dem Sohne des göttlichen Dulders auf die kühne Suchfahrt begab? Ehe er es sich versah, hatte sich das Lehrbuch des Regierens – in einen Roman verwandelt; denn wenn schon die erste Zeile mit der düsteren Trostlosigkeit der Nymphe Kalypso beginnt, wenn alle Wälder, Berge und Grotten von nichts als von ihren verzweiflungsvollen Klagen widerhallen, daß der, den sie geliebt, so treulos den Weg in die Weite gesucht – und eine Schülerin fragt plötzlich mit unverzeihlicher Neugierde die jungfräulich verschleierten Augen auf den Lehrer gerichtet: »Herr Arnsteiner! warum ist er nicht bei ihr geblieben, wenn er's bei ihr so gut gehabt hat!« müssen da nicht die schönsten unregelmäßigen Zeitwörter, die schwierigsten Stellen, die merkwürdigsten Wendungen des Stiles spurlos vorübergehen?

In der Tat wurden auch die sinnreichsten mythologischen Andeutungen ganz überhört, denn zwischen den halbgeöffneten 302 Lippen der Schülerin schien stets die nur unvollkommen gelöste Frage zu schweben: »Warum ist er nicht bei ihr geblieben?«

Julius Arnsteiner hatte diese Frage von so unzähligen Mädchenlippen an sich richten gehört, er hatte sie in so vielen träumerisch neugierigen Augen gelesen, daß sie ihm, der so vieles zu beantworten wußte, ja der alles beantworten mußte, was man ihm vorlegte, weil sonst seine Autorität darunter gelitten hätte, daß ihm selbst diese Frage ein Rätsel ohne Auflösung blieb. War er nicht auch Telemach? Suchte er nicht auch mit Hilfe seines Mentors, nämlich seiner Bildung, zwar nicht einen abwesenden Vater, aber doch eine, die ihn verstand und seine Bildung zu schätzen wußte? Hatte er nicht gleich diesem Prinzen von der Insel Ithaka Abenteuer zu bestehen? Abenteuer zu Wasser und zu Lande, Kämpfe und Gefahren, wie dieser sie nicht bestanden, nämlich mit Unbildung und Ignoranz, mit Wölfen und Bären in Menschengestalt, die ihn anheulten und auslachten, wenn er die Waffen der Bildung gegen sie schwang? Hundertfältig konnte Julius Arnsteiner die Parallele seines Lebens mit dem griechischen Prinzen nachweisen; ja es gab Augenblicke, wo er zugleich die Leiden des göttlichen Odysseus während dessen zehnjähriger Fahrt durch und durch empfand – und er war seit seinem neunzehnten Jahre Lehrer in der »Gasse«.

Warum war er nicht bei ihr geblieben?

So fragte sich Julius Arnsteiner jedesmal, wenn ihm eine seiner Schülerinnen untreu wurde, oder mit dürren Worten, wenn sie heiratete. So vielen hatte er die ersten Anfangsgründe der deutschen Sprachlehre beigebracht, so viel tausende von Federn hatte er ihnen geschnitten, zahllos wie Sand am Meere waren die Multiplikationen mit und ohne Brüche, die er mit ihnen durchgerechnet, ins Endlose reichend die Ziffern von unregelmäßigen Zeitwörtern aus Meidingers und J. B. Machats Grammaire, von den praktischen Übungen 303 aus dem Telemaque gar nicht zu reden – dennoch war ihm keine einzige treu geblieben! Zwar – er hatte sich stets gehütet, auch nur mit einem Hauche zu verraten, welche Flammen in seinem Innern wüteten . . . er war seinen Schülerinnen nichts als Lehrer . . . aber konnte keine von ihnen es ahnen, was in ihm vorging? Konnte keine mit jener Selbstverleugnung und Opferfreudigkeit, die von den größten Dichtern aller Zeiten und namentlich von dem König Salomo in dem berühmten: »Meinen Weinberg habe ich nicht gehütet,« gepriesen wurde . . . konnte also keine gleich jener Sulamith sagen: »Dich, mein lieber Arnsteiner, habe ich aus allen heraus erlesen? Was ist alles Geld eines ungebildeten Menschen gegen dein ›deutsches Sprechen‹, gegen dein ›französisches und sonstiges Wissen‹? Weißt du, was ich sprechen werde, wenn mich Vater oder Mutter werden zwingen wollen? Arnsteiner oder Tod!«

Aber es starb keine! – Seit mehr als sechzehn Jahren hatte man nicht gehört, daß ein weibliches Wesen in der Gasse anders als eines natürlichen Todes verblichen wäre – kein einziges gebrochenes Herz, kein Dolchstoß, nicht einmal eine Selbstvergiftung hatte von sich reden gemacht. Alles blieb ruhig, lebte, freute sich seines Daseins, kam mit den ungebildeten Männern so gut durchs Leben, als es eben ging! – Keine war für Julius Arnsteiner in den Tod gegangen!

Der Lehrer wußte sehr wohl, wie er sich diesen Umstand zu erklären habe. Er betrachtete diese ihm abgefallenen Schülerinnen als schuldlose Opfer ihrer Väter und Mütter! Alles Mitleid, dessen sein Herz fähig war, warf sich auf diese jungen Wesen, die dem Moloch »Unbildung« in die glühenden Arme gelegt wurden, aller Haß und alle Erbitterung dagegen auf ihre Opferer! – Mit den Vätern und Müttern lebte Julius Arnsteiner in einem beständigen Vernichtungskampfe; sie standen ihm überall im Wege, und er mußte sich ihrer erwehren.

304 Man darf darum ja nicht glauben, daß Julius Arnsteiners Dasein ohne alle Lichtseiten gewesen sei. Im Gegenteile! wenn gerade an keiner seiner Schülerinnen die Reihe war, ihm treulos zu werden, so war sogar viel Licht, Behagen und Freundlichkeit auf seinen Lippen und in seinem Herzen. Ihm, der im Bewußtsein seiner Bildung nach dem Höchsten der Gasse, nach den reichsten Partien die Hand auszustrecken sich für berechtigt hielt, ihm war zugleich jene Genügsamkeit, sich am Kleinsten zu erfreuen, in vollem Maße verliehen worden. Julius Arnsteiner war imstande, tagelang über ein richtig angewandtes Fremdwort, über die fehlerlose Übersetzung eines Satzes aus dem Telemach, über eine orthographisch geschriebene Stilaufgabe vor sich hin zu lächeln. Alle Schätze Kaliforniens schrumpften aber zu einem erbärmlichen Klumpen zusammen – wenn ihm aus dem Munde einer Schülerin ein glücklich gewähltes Zitat aus Schiller entgegentönte.

Dann empfand es Julius Arnsteiner mit allen Schauern wahrhaften Stolzes, was es heiße, Lehrer zu sein – sechzehn Jahre Lehrer in der Gasse!

Aber die Väter und Mütter sorgten schon dafür, daß Arnsteiner ein nicht gar zu reicher Mann an Freuden wurde, der ungestraft über die Schätze Kaliforniens sich hinwegsetzen durfte.

Der Lehrer hatte im Laufe seiner sechzehnjährigen Wirksamkeit ein außerordentlich feines Ahnungsgefühl sich angeeignet, und dieses verkündigte ihm mit merkwürdiger Gewißheit, wann seinem Herzen durch die Treulosigkeit einer Schülerin der Todesstoß versetzt werden sollte. Kein Mensch in der ganzen Gasse wußte es, daß in diesem Orte oder in jenem Hause binnen kurz oder lang eine Braut sein werde; aber Julius Arnsteiner wußte es! Er sah den Sturm kommen, noch bevor er sich am äußersten Horizont als ein rotes Wölkchen zeigte; er merkte die sich vorbereitende 305 Veränderung an dem Benehmen, das die Väter und die Mütter der Gasse gegen ihn beobachteten.

Wir gehen sogleich auf den neuesten Fall über, der sich erst zwei Tage vorher ereignet hatte.

Julius Arnsteiner saß gerade in voller Begeisterung am Lehrtisch bei Sidonia Winterfeld und erklärte ihr aus dem Telemaque, warum Ulysses trotz aller Lockungen der Kalypso aus Pflichtgefühl zu seiner rechtmäßigen Gemahlin Penelope habe zurückkehren müssen.

Um denselben Augenblick trat Lazar Winterfeld, der Vater Sidonias, mit jener lärmenden Beweglichkeit, die feiner angelegte Naturen in ihrem Innersten verletzt, in die Stube.

Julius Arnsteiner hatte seinerseits den Grundsatz, sich von niemanden, es sei wer es immer sei, in seinem Berufe stören zu lassen, am allerwenigsten von einem Vater oder einer Mutter, wenn sie ungerufen bei einer Lektion sich einfanden. Es wäre dies ein Zoll, ein Tribut, ja eine türkische Kopfsteuer gewesen, – den die Bildung ihrem unmittelbaren Gegensatze gebracht hätte. Nach Julius Arnsteiners Ansicht stand aber das Lehren so außer aller Bezahlung mit klingender Münze, daß ihm jede Belohnung für seinen mühevollen Beruf als von gar keiner Bedeutung erschien. Im Gegenteile! den Kreuzer der Armut, den er in den meisten Fällen nicht einmal erhielt, schätzte er höher als den Gulden des Reichen, was ihm in den Augen des letzteren wahrlich keinen Nutzen brachte.

Julius Arnsteiner ließ sich also durch den Eintritt des Wollhändlers nicht im geringsten außer Fassung bringen; er grüßte nicht, nicht einmal zu einem leisen Kopfnicken konnte er sich verstehen. Für ihn war niemand eingetreten, bloß die Türangeln hatten geknarrt. Eine gute Weile saß Lazar Winterfeld da, in all der geräuschvollen Breite, die ihm eigen war, und hörte zu, wie Julius Arnsteiner von Ulysses und Kalypsos wohlberechtigter Verzweiflung sprach. Plötzlich 306 stand er auf; womöglich noch geräuschvoller, als er sich niedergesetzt hatte.

»Herr Arnsteiner,« sagte er mit mühsamer Fassung, »verzeihen Sie mir, Sie sind ein sehr geschickter Mensch, und wissen im kleinen Finger mehr als mancher andere in seinem ganzen Kopfe hat. –«

Der Lehrer schaute auf; aus Lazar Winterfelds Munde klang dieses Lob zu lockend, um nicht gehört zu werden.

»Deswegen dürfen Sie aber doch nicht glauben,« fuhr dieser mit immer höher steigender Erregtheit fort, »daß ich gar nichts verstehe. Ich verstehe schon, was man alles einem Mädchen beibringen soll und muß, aber mit solchen »Schnockes« (Schnacken) müssen Sie mir von meinem Hause fern bleiben, wie Sie jetzt mit ihr lernen. Da gebe ich nicht einen Schuß Pulver dafür!«

Julius Arnsteiner war einer solchen Sprache nicht ungewohnt, sie war ihm bei den vielen Treulosigkeiten seiner Schülerinnen mehr als einmal vorgekommen. Dennoch war sie ihm jedesmal neu und auch diesmal stand sein Herz einige Augenblicke ganz still und schlug nicht mehr; er wußte, was ihm wieder aus dem dunklen Hintergrunde der nächsten Zeit entgegendrohte – Sidonia als Braut! Dennoch umwölkte sich seine Stirne nicht; er durfte und konnte ja dem reichen Wollhändler nicht zeigen, daß er auf dessen Worte ein Gewicht lege.

»Übrigens dürfen Sie ja nicht glauben,« fuhr er im Unterrichte fort, »als wenn die Kalypso eine wirkliche Göttin, wie etwa die Diana oder die Juno gewesen sei. Im Gegenteil! Sie hatte nur etwas Göttliches an sich, sonst war sie ein Frauenzimmer mit den Leidenschaften und Begierden eines solchen. – Wie hätte sie sich sonst in solche Klagen ergießen, solche Verzweiflungstöne erklingen lassen, sich so gebärden können? Göttinnen benehmen sich nach meiner Ansicht ganz anders.«

307 »Nun, Herr Arnsteiner,« fiel Lazar Winterfeld laut wie eine Trompete ein, »da frag' ich Sie, sind das nicht ›Schnockes‹ und verkehrte Sachen, die Sie da meiner Tochter in den Kopf setzen? Was gehen mich, was gehen meine Tochter die Götter an? Leb' ich von den Göttern? Hab' ich meine Nahrung von den Göttern? Ich kenne mehr Leute, die nichts von den Göttern wissen, und befinden sich dabei, Gott Lob und Dank, ganz wohl.«

Julius Arnsteiner zuckte nur statt aller Antwort mit der Schulter; dieses Stolztun auf die eigene Unbildung, dieses Erheben der »Ignoranz zum Prinzip« tat ihm zwar in innerster Seele wehe, aber das verdiente keine Erwiderung.

Er sah ins Buch, und kaum als der Wollhändler geendigt, begann er einen neuen Satz aus dem Telemaque.

»Da soll mir ein Mensch das erklären, was meine Tochter mit ihrem ›Französisch‹ anfangen soll, wenn sie einmal Mann und Kind hat?« eiferte aufs neue Lazar Winterfeld, so daß der Lehrer genötigt war, sich wieder zu unterbrechen. »Französisch soll sie können und wissen soll sie von den Göttern! Wenn aber der Mann einmal zu ihr sagen wird: Schreib mir einen Brief an den und den Schuldner, aber einen Brief, daß ihm grün und gelb vor den Augen wird, dann wird etwas herauskommen, daß einen Gott behüten und beschützen soll davor! Französisch wird der Brief sein, aber deutsch nicht.«

Jetzt stieg dem Lehrer das Blut zu Kopfe. Solange der Wollhändler die Waffen seiner Unbildung gegen das Lehrgebäude im allgemeinen richtete, hielt es der Lehrer unter seiner Würde, auf eine gleiche, wenn auch nicht ebenbürtige Weise ihm entgegenzutreten. Nun aber, da der Gegner sich erkühnte, ihm an das Teuerste mit frevelnder Hand zu greifen, an den deutschen Unterricht . . . nun hielt Arnsteiner nicht länger an sich!

Aber auch jetzt brachte es der Lehrer nicht über sich, 308 dem Wollhändler unmittelbar Rede zu stehen. Er richtete sein von Zorn und Aufregung brennendes Auge auf seine Schülerin Sidonia und sagte mit bebender Stimme:

»Glauben Sie, Sidonia, daß Sie einen solchen deutschen Brief zusammenbringen, wie ihn Ihr Herr Vater als das Höchste menschlicher Bildung bezeichnet?«

»Ich glaube nicht, Herr Arnsteiner,« meinte das Mädchen unsicher, halb auf den Lehrer, halb auf ihren Vater die Augen gerichtet.

»Nun, sehen Sie es ein, Herr Arnsteiner?« rief Lazar Winterfeld. »Sie gesteht es selbst ein, daß sie so einen deutschen Brief gar nicht zustande bringt; denn dazu braucht man etwas ganz anderes als die Götter und die Geographie.«

»Sie haben recht, Sidonia,« sagt Arnsteiner, nur gegen seine Schülerin sich wendend, »wenn Sie sich unfähig erklären, die Verfasserin solcher Briefe sein zu können. Diese Gattung Briefe haben Sie freilich bei mir nicht gelernt, denn sie stehen außerhalb jeder Bildungssphäre.«

»Also das kann sie nicht!« schrie jetzt in voller Entwicklung seiner riesigen Stimmittel Lazar Winterfeld. »Was kann sie denn? Für etwas wird man doch sein teures Geld ausgegeben haben? Vielleicht geht es mit dem Rechnen besser als mit dem Briefschreiben . . . Geben Sie ihr einmal eine Rechnung auf, Herr Arnsteiner! Da können wir auf der Stelle sehen, wie weit sie es darin gebracht hat.«

»Ist heute Ihre Rechenstunde, Sidonia?« fragte der Lehrer, sich aufs neue zu seiner Schülerin wendend, die verneinend den Kopf schüttelte.

Lazar Winterfeld schien diese Frage absichtlich zu überhören.

»Was brauche ich das!« rief er.»Ich kann ihr ja selbst die Rechnung aufgeben; sie braucht nicht einmal Griffel und Schreibtafel dazu. Bei mir muß man alles aus dem Kopfe rechnen können.«

309 Er hatte sich zu diesem Geschäfte wieder niedergelassen.

»Zirl,« sagte er, »kannst du mir das ausrechnen? Wenn ich auf dem Pester Markte den Zentner Wolle mit 89 fl. 40 kr. einkaufe, bis ich ihn nach Reichenberg bringe, kostet er mich 90 fl. 20 kr., verdienen muß ich doch auch etwas daran und dem Tuchmacher muß ich die Wolle borgen und länger als ein Jahr auf die Bezahlung warten. Was soll ich aber machen? Der Tuchmacher setzt die Ware auch nicht sogleich ab . . . Wie teuer muß ich also den Zentner Wolle verkaufen, wenn ich 25 Prozent gewinnen will?«

Lazar Winterfeld hielt inne; er schaute die Tochter erwartungsvoll an. Nach seiner Ansicht konnte ein sechsjähriges Kind diese Aufgabe lösen. Julius Arnsteiner konnte aber ein ironisches Lächeln nicht unterdrücken, das beinahe unheimlich über sein sonst so gutmütiges Antlitz hinschlich. Mehr als die Prüfung seiner Schülerin beschäftigte ihn in diesem Augenblicke der Gedanke, daß der Wollhändler den schönen Namen »Sidonia« in das häßliche »Zirl« verwandelte. Ein neuer Eingriff der Unbildung!

Nach einer Weile rief Sidonia lachend: »Die Rechnung kann ich nicht machen, Vater, die ist mir zu schwer.«

»Sagen Sie nicht zu schwer, Sidonia,« meinte Arnsteiner zu seiner Schülerin, »solche Rechnungen liegen nur außerhalb Ihres Verständnisses. Sie haben noch niemals mit Wolle gehandelt.«

»Das ist dir zu schwer?« rief Lazar Winterfeld, die Hände ineinanderschlagend, »das kann ja einer, der nicht einmal weiß, wie eine Ziffer aussieht, mit dem bloßen Kopfe herausbringen! Um Gottes willen! was wird dein Mann dazu sagen, wenn du so schlecht vor ihm bestehst? Mit Schimpf und Schande wird er dich fortjagen.«

»Fortjagen?« rief das Mädchen mit blitzenden Augen. »Das wäre mir ein schöner Mann, der seine Frau wegen einer Rechnung, die sie nicht zu machen weiß, fortjagen könnte.«

310 In Julius Arnsteiners Seele hatte die Erbitterung über das Vorgefallene ihren Höhepunkt erreicht . . . wenig fehlte, und sie hätte, aller Dämme der Besonnenheit spottend, Verwüstung und Verderben gebracht. Noch beherrschte er sie mit einem schwachen, erzwungenen Lächeln.

»Die Anschauungen Ihres Herrn Vaters über die Rechte eines Mannes,« sprach er zu seiner Schülerin, »scheinen auf den talmudischen Anschauungen zu basieren, die im Orient ihren Ursprung haben, wo die Stellung der Frau nur wenig über die einer Sklavin hinausragte. Gottlob! wir leben jetzt unter den Gesetzen der Zivilisation, und diese erheischt als rechtlichen Grund zu einer – Scheidung . . . denn ›fortjagen‹ kennt unser Gesetz nicht, – etwas anderes als eine schlechte Rechnung oder eine angebrannte Suppe.«

»Was hab' ich da davon?« rief Lazar Winterfeld mit einem ärgerlichen Achselzucken. »Sieh dir deine Mutter an, Zirl, die kann dir solche lumpige Rechnungen im Schlaf machen und wird keinen Fehler begehen! – Meinst du, wir hätten es zu etwas gebracht, wenn ich und deine Mutter nicht rechnen könnten?«

»Mein Mann,« rief Sidonia mit einem Seitenblicke auf den Lehrer in scherzhaftem Tone, »wird mich auch ohne das hinnehmen, wie ich bin.«

Den Lehrer durchdrang es siedend heiß; die plötzliche Röte seines Gesichtes war davon Zeuge.

»Sie haben vollkommen recht, Fräulein Sidonia,« stotterte er mehr, als er sprach. »Ein Mann, der Ihre Stellung als Frau zu einer Rechenmaschine herabzuwürdigen, ja zu entweihen die Lust hätte, verdiente, gelind gesagt, nicht Ihr Mann zu sein.«

Den Wollhändler hielt nur eine gewisse Ehrfurcht vor dem Lehrer zurück, seinem Ärger alle Zügel schießen zu lassen. Vielleicht glaubte er auch seinen Zweck bereits vollständig erreicht zu haben, indem er dem Lehrer deutlich genug 311 zu verstehen gab, daß Sidonia Winterfeld nächstens in den Zustand der Treulosigkeit eintreten würde.

»Setzen Sie ihr nur solche Sachen in den Kopf,« sagte er und stand auf, »zuletzt wird ihr Mann noch von ihr geprüft werden, und wird wissen müssen, wo die Götter wohnen.«

Als Lazar Winterfeld sich entfernt hatte, fuhr Julius Arnsteiner im Telemaque fort, als wäre gar nichts geschehen! – Tat er das, um lärmende Stimmen in seiner Seele zu betäuben, oder aus einfacher Pflichterfüllung? Aber es ereignete sich, daß Herr Julius Arnsteiner auf den »Infinitiv« eines unregelmäßigen Zeitwortes sich nicht besinnen konnte, während Sidonia ihn merkwürdigerweise erriet.

Der Lehrer war zerstreut.


Freilich, in seiner Stube angelangt, da erwachte Julius Arnsteiner gar bald aus diesem Zustande der Betäubung, in die ihn die eben geschilderte Szene gestürzt hatte. Da gab er sich all den wilden Geistern hin, die seit sechzehn Jahren in Gestalt von bildungslosen Vätern und Müttern an seinem Leben nagten; da fühlte er schmerzlich die Demütigung, daß ein Lazar Winterfeld es gewagt hatte, seine Lehrmethode einer Prüfung zu unterziehen.

Erst als der Lehrer in diesen beinahe unerträglichen Gedanken mit einer gewissen selbstzerfleischenden Gier sich hineingewühlt hatte, kam ihm der andere zum Bewußtsein, daß nämlich Sidonia Winterfeld Braut werden sollte. Also wieder eine! Die lange Reihe der Treulosen hatte noch kein Ende, und diesmal war es – Sidonia Winterfeld!

Sonderbar! Wenn sonst ihm dieser Schlag von Seite der Väter und Mütter versetzt wurde, erholte er sich in nicht gar langer Zeit; wer viel und oft verliert, wird zuletzt 312 gleichgültig. Diesmal jedoch saß die Wunde tiefer, der Lehrer nahm die Verlobungsanzeige seiner Schülerin nicht mehr so leicht hin . . . Gerade weil Sidonias Vater Lazar Winterfeld hieß, glaubte er um so weniger berechtigt zu sein, in selbstmörderischer Feigheit ferne zu stehen und zuzusehen, wie . . . ein anderer sich dieser kostbaren Beute bemächtigte.

Warum war er nicht bei ihr geblieben?

Diese Frage so vieler seiner Schülerinnen läutete jetzt beständig wie eine große Glocke in ihm . . . Warum war er nicht bei ihr geblieben, warum hatte er gezögert, sich zu erklären?

Julius Arnsteiner war in einer merkwürdigen Aufregung! Zum ersten Male in seinem Leben, das fühlte er mit aller Bestimmtheit, drängte sich sein Dasein einem Entschlusse zu; bisher hatte er in schweigender Ohnmacht alles über sich ergehen lassen, nun stand ihm eine Tat bevor, ein Kampf mit den wildesten Geistern der Gasse, nämlich mit dem Wollhändler und dessen Frau. Die erste Partie in halb Böhmen sollte sein werden – werden sich da nicht alle Mächte der Gasse zusammentun, um sie zu hintertreiben?

Aber was lag daran? – Er mußte sie alle besiegen, er war dies schon seiner Bildung schuldig. Die Welt sollte erkennen, daß Wissen und Können eine solche Gewalt, eine so unwiderstehliche Macht in sich bergen, daß sie imstande sind, Riesenbäume, wie diesen Lazar Winterfeld, zu entwurzeln.

Julius Arnsteiner dachte dabei nicht an sich, er wußte, daß es ihm nicht gelingen würde, den Vater Sidonias zur Fahne der Bildung zu bekehren. Aber was er nicht erreichte, sollte das für Sidonia unmöglich sein? Sollte es ihren Bitten und Tränen, der Macht ihrer auf vollkommener Kenntnis der deutschen Sprache gegründeten Beredsamkeit nicht gelingen, den starren Sinn ihres Vaters wie ein dünnes Weidenrütchen umzubiegen? Was hatten Töchter bei ihren Vätern nicht alles schon erreicht? Königskinder hatten es 313 durchgesetzt, daß sie über Standesvorurteile sich hinüberschwingen und dem Zuge ihres Herzens folgen durften, und Lazar Winterfeld war doch wahrlich kein König!

Hatte Sidonia Winterfeld nicht gesagt:

»Mein Mann wird mich auch ohne das so nehmen, wie ich bin.«

Mein Mann! Damit konnte nur einer gemeint sein, einer, der sich auf Sidonia Winterfeld verstand, der die Vorteile einer Verbindung mit ihr in etwas ganz anderem sah, als in einem aus dem Kopfe gerechneten Wollexempel, der ihr etwas zu bieten hatte, wovor all ihr Geld und ihre glänzende Ausstattung in ein leeres Nichts zusammenschrumpften, nämlich Bildung und Wissen – und für das alles gab es in der ganzen Gasse nur einen Julius Arnsteiner.

Arnsteiner war am Ende aller dieser Betrachtungen zu einem großen Entschlusse gelangt; er ging nämlich am andern Tage nicht zur Lektion bei Sidonia Winterfeld. So sicher fühlte er sich in seinen Hoffnungen, daß ihm der Gedanke ordentlich wohl tat, mit welcher schmerzlichen Empfindung Sidonia von Minute zu Minute auf die Uhr blicken werde, und derjenige doch nicht kam, dem sie mit allen Schauern der Sehnsucht entgegensah!

Der Sturm sollte erst ausgetobt haben, die wilden Gewässer erst verlaufen sein, bis er, eine Friedenstaube mit dem Ölzweige im Munde, zwischen Vater und Tochter treten wollte! Für diesen Augenblick, der nach genauer Berechnung Arnsteiners in höchstens drei Tagen eintreten mußte, rüstete er die schönsten Feiertagskleider, nicht für seinen Leib, sondern für seine Seele; er bereitete in kühn gebauten, mit den schönsten Partizipialkonstruktionen geschmückten Perioden die Rede vor, die er als Antwort auf die Werbung Lazar Winterfelds halten wollte! Denn Arnsteiner dachte sich diese Szene außerordentlich feierlich, beinahe königlich.

Zwei Tage waren vergangen! Man hatte um Herrn 314 Arnsteiner nicht geschickt! Aber weil alles Hohe und Große nur aus der Geburt schwerer Kämpfe hervorgeht, beunruhigte er sich nicht weiter, ja mit einem Gefühle kühler Ruhe sah er dem Tage und der Stunde entgegen, wo man dennoch um ihn schicken mußte. Je später dieses geschah, desto besser . . . um so glänzender fiel dann der Sieg aus, und Arnsteiners Triumph war erst dann vollständig!

Am dritten Tage nach jenem Vorgange im Hause Lazar Winterfelds begegnete der Lehrer, gerade als er aus der Gasse auf den großen Ringplatz einbiegen wollte, niemand anderem als dem Wollhändler selbst. Im ersten Schrecken über dieses seltsame Ereignis wollte Arnsteiner schon den Rückweg antreten und sich unter ein Haustor flüchten, allein es war schon zu spät; er war von Lazar Winterfeld schon bemerkt worden. Der Lehrer erkannte es an dem wilden und unregelmäßigen Pochen seines Herzens: ein wichtiger, das Geschick zweier Menschen auf seinen Wagschalen haltender Moment war für ihn gekommen! – Zugleich empfand er eine Art von Ehrfurcht für den Wollhändler, wie er ihn jetzt so mauerfest und behäbig sicher auf sich zuschreiten sah. War er nicht der Vater Sidonias? Der Lehrer ehrte sich nur selbst, wenn er seinem künftigen Schwiegervater sich ehrerbietig bewies.

Lazar Winterfeld vergalt aber nicht Gleiches mit Gleichem; er winkte bloß mit dem riesigen Kopfe.

»Nun, Herr Lehrer,« sagte er, als er bei ihm angekommen war, indem er, die Hände in beide Taschen vergraben, vor ihm stehen blieb, »haben Sie mit meiner Sidonia schon das Kopfrechnen angefangen? Was hab' ich von all den Sachen, die sie bis jetzt bei Ihnen gelernt hat? Sie sind schön, solange als man sie nicht braucht; der Mensch soll aber nur das lernen, was er nicht vergessen darf. Darum, Herr Arnsteiner, lassen Sie alles übrige stehen und liegen, und verlegen Sie sich einzig und allein auf das Kopfrechnen . . .«

315 Auf welche Art der Lehrer auf den Ringplatz gekommen war, hätte er mit einiger Gewißheit kaum angeben gekonnt. Plötzlich stand er dort gerade dem Rathausturme gegenüber, worauf es eben neun Uhr schlug. Mechanisch zog Arnsteiner seine eigene silberne Uhr aus der Tasche, wie er jedesmal tat, wenn er über den Ring ging, und sah nach, ob die beiden Zeitweiser kein Zerwürfnis miteinander hätten. Trotzdem hätte er, selbst vor einem peinlichen Gerichte stehend, auf die Frage: Wie spät ist's? keine Antwort gehabt, so betäubt, so sinnenverwirrt starrte er bald den Rathausturm, bald seine eigene silberne Uhr an! Erst allmählich erwachte er zu einer Art regelmäßigen Denkens. Lichterloh brannte der eine Gedanke vor seiner Seele: »Lazar Winterfeld weiß nicht einmal, daß ich schon zwei Tage keine Lektion bei Sidonia gegeben!« – und als notwendige Schlußfolgerung knüpfte sich sogleich die zweite Betrachtung daran: »Mithin hat Sidonia noch nicht mit ihm gesprochen!«

Wer ihn jetzt mit gesenktem Haupte so dahinschleichen sah, ihn, den es jedesmal so stolz aufrichtete, wenn er an einem der Väter oder Mütter seiner Schülerinnen vorüberging, mußte sich genau umblicken, um sicher zu sein, es sei in dieser Gestalt der Lehrer Julius Arnsteiner!

An diesem Tage setzte er alle seine Lektionen aus. Nacht sollte es in der Gasse sein, nichts was da lebte und atmete sollte sich heute seines Unterrichts erfreuen. Nur Sali, die Tochter der Federschleißerin, die er aus Gnade und Erbarmen ohne allen Entgelt im Schreiben, Rechnen und Lesen unterwies, machte von dieser allgemeinen Maßregel eine Ausnahme. Ihr las er die Frucht seiner melancholischen Betrachtungen vor!

»Wir schreiten heute zu einem der wichtigsten Buchstaben des ganzen Alphabetes,« sagte der Lehrer zu Sali, als sich diese am andern Tage wie gewöhnlich zur Lektion eingestellt hatte, »nämlich zum großen »S!« Auf den ersten 316 Anblick unterscheidet sich dieser Buchstabe nur wenig von den anderen, ja es gibt einige, die sich ihrer Gestalt nach viel schöner ausnehmen, wie z. B. das große »M« oder wie das nach oben und unten sich ausstreckende »P« oder endlich wie das stolze, gleich einem Pfauenrade sich aufblähende »W« . . . Dennoch möchte ich diesem Buchstaben den Vorzug vor allen anderen einräumen, er besitzt einen so schönen und sanften Schwung, und wiewohl das Wort »Stolz« damit anfängt, ist es doch gar nicht stolz! Der Beweis dafür ist, daß die schönsten Bedeutungen der deutschen Sprache, wie Seele, Schönheit, Süße, Sanftmut usw. damit anfangen. Die Menschen haben das schon in frühester Zeit erkannt, und wenn ich einmal Adelungs großes Wörterbuch in vier Teilen zur Hand haben werde, da werde ich dir zeigen, wie der einzige Buchstabe »S« mehr Wörter in sich enthält als zwei oder drei andere. Warum? Weil er den Menschen von den urältesten Zeiten her so gefällt!«

Nach dieser Einleitung zeichnete der Lehrer ein wunderprächtiges »S« auf Salis Papier und hieß sie nach Möglichkeit diesen schönen, sanften Schwung, namentlich aber den »Schlangenzug« nachahmen. Sali bemühte sich soviel sie konnte; aber die Schwierigkeit des Buchstabens war zu groß! Die halbe Seite des Schreibbogens wimmelte bereits von Ungeheuern, die ein »S« vorstellen sollten, doch nicht ein einziges konnte auch nur entfernt mit dem glänzenden, kühngeschwungenen und doch so milden Beispiel des Lehrers sich messen. Das war sonst nicht der Fall . . . Sali hatte eine merkwürdige Begabung für das Schreiben, und nach Arnsteiners Ausdrucke schlummerte in ihr der Instinkt eines Kalligraphen.

Arnsteiner schüttelte bedenklich das Haupt; nach dem, was sich gestern mit ihm ereignet hatte, nahm es ihn kein wunder, wenn die Welt sich überhaupt zu ihrem Nachteile verändert hatte; warum nicht also auch Salis Talent für das Schreiben?

317 »Du scheinst mir heute nicht von dem gewöhnlichen Geiste beseelt, Sali,« sagte er. »Sonst wäre dir dieser Buchstabe eine Kleinigkeit gewesen.«

Zur Bekräftigung dieses Urteils zeichnete Sali auf das Papier ein noch kläglicheres Ungeheuer hin, gegen welches die Vorgänger ganz liebliche Geschöpfe waren.

»Wir werden wieder zum ›P‹ zurückgehen,« sagte der Lehrer mit klangloser Stimme, die bei ihm stets das Anzeichen innerlich tobenden Ärgers war.

Da rief Sali plötzlich, als hätte es erst dieser Drohung bedurft, um sie von dem Banne zu befreien, der heute auf der Schreiblektion lastete:

»Soll ich Ihnen sagen, Herr Arnsteiner, was noch mit einem ›S‹ anfängt?«

Der Lehrer blickte verblüfft die kleine Schülerin an. Er war solcher »Ausschreitungen« an ihr sonst nicht gewohnt.

»Nun?«

»Sagen kann ich's nicht, aber ich werde es schreiben!« rief die Tochter der Federschleißerin mit unerklärlicher Heftigkeit.

Dann schrieb sie etwas rasch, indem sie dabei die linke Hand wie einen Schirm davorhielt, damit der Lehrer es nicht sogleich lese, und schob ihm dann, sich blitzschnell abwendend, den Schreibbogen hin.

»Sidonia!« rief Arnsteiner mit vor freudiger Überraschung bebender Stimme.

Nach einer Pause, während welcher Sali ihr dem Lehrer abgewandtes Antlitz nicht zu zeigen wagte, sagte Arnsteiner, indem er mit starken Schritten dabei in der Stube auf und nieder wanderte, Salis Schreibbogen in der Hand:

»Wunderbar, höchst wunderbar! Was soll ich sagen? Wie soll ich mich fassen? – Ein leibhaftiges Wunder hat sich vor meinen Augen zugetragen. Denn ich will es dir nur gestehen, Sali, du hast mit diesem Worte ›Sidonia‹ einen Meisterwurf getan, wie es in Wilhelm Tell von 318 Schiller im dritten Aufzuge heißt. Das ›S‹ wie du's da niedergeschrieben, ist wert, daß man es unter Glas und Rahmen stellt, und ich zweifle, ob mir selbst ein gleiches gelingt. Sali, in dir steckt etwas. Sage mir nur, wie ist das zugegangen?«

»Gerade den Namen möchte ich sehr schön schreiben können,« meinte die kleine Sali und stockte.

»Warum?« fragte Arnsteiner hastig.

»Haben Sie mir denn gestern nicht vorgelesen?« . . . lispelte die Tochter der Federschleißerin fast unvernehmbar.

Jetzt wurde der Lehrer rot bis zur Stirn, er drehte sich um. Dann ging er wieder mit starken Schritten die Stube auf und nieder. Nach einer guten Weile rief er aus: »Bei Gott, da hätte ich bald vergessen, daß ich dich zur stillen Vertrauten meiner Schmerzen gemacht und in ein Geheimnis eingeweiht habe, welches ich nur dem Papiere anvertraut hatte.«

»Ich habe es aber keiner lebenden Seele gesagt,« beteuerte Sali mit dem Tone der reinsten Aufrichtigkeit.

»Daran tatest du recht, mein Kind,« rief der Lehrer wahrhaft erleichtert; »was braucht die Welt es zu wissen, welchen Qualen man ausgesetzt ist – wenn man nach etwas Hohem strebt?«

»Und sie soll's auch nicht wissen?« fragte die Tochter der Federschleißerin unerklärlich laut.

»Wer ist: sie?«

»Sidonia,« entgegnete die Schülerin, verschämt die Augen niedersenkend.

Arnsteiner machte wieder einen Gang durch die Stube. Mehrmals hielt er inne und blieb vor Sali stehen, aber ebensooft kehrte er sich wieder ab und setzte dann seinen gedankenschweren Weg unter Schweigen fort.

Endlich blieb er vor der Schülerin stehen.

»Hör mich an, Sali,« begann er, abwechselnd rot und 319 blaß werdend, indem sich ihm dabei die Worte ganz gegen seine Gewohnheit nur schwer aus der Brust hervorrangen, »hör mich an! Du scheinst mir ein gescheites Mädchen und verstehst es merkwürdig fein, in den Seelen der Menschen zu lesen. Wie wäre es mir sonst eingefallen, dir einen Einblick in mein Innerstes zu gewähren, da ich doch am besten weiß, wie wenig dich sonst dein Wissen befähigt, mir in die Irrgänge meines nach Bildung und Kenntnisbereicherung ringenden Geistes zu folgen?«

Die Tochter der Federschleißerin schaute tief gerührt zu dem also sprechenden Lehrer auf, Tränen der Freude und des Dankes glänzten in ihren Augen; denn es war ihr noch nie geschehen, daß sie von Herrn Arnsteiner zum Gegenstande einer Betrachtung erhoben worden war.

»Ja, Sali,« fuhr der Lehrer fort, der sich durch das Sprechen jetzt ganz ermannt hatte, »ich stehe nicht an, meine Brust wie ein lange gesperrt gewesenes Zimmer aufzuschließen und dir dazu den Schlüssel anzuvertrauen . . . Sali, ich fühle mich sehr unglücklich!«

»Um Gottes willen, Herr Arnsteiner,« rief die Schülerin wahrhaft erschrocken, »was ist denn vorgegangen? Sind Sie bestohlen worden, Herr Arnsteiner? Es wäre kein Wunder,« fügte sie hinzu, »weil bei Ihnen alles so frank und frei herumliegt!«

Arnsteiner lächelte trübe vor sich hin.

»Bestohlen? Man bestiehlt nicht so leicht einen Menschen, der seinen Kopf zum Kasten hat. Was müßten die für Diebe sein, die mir etwas aus einem solchen Schranke forttragen könnten?«

»Meine Mutter,« rief Sali, die für den Doppelsinn dieser Worte kein Ohr gehabt zu haben schien, eifrig, »meine Mutter sagt immer: Sali, wenn du einmal frühmorgens hörst, daß Herr Arnsteiner mit Sack und Pack verschwunden ist und ist nicht ein Federl von ihm zurückgeblieben, so sag, 320 deine Mutter ist eine Prophetin gewesen. Er hat so schöne Sachen noch von seinen Eltern her, denn die haben für ihn gespart und gespart, seine Hemden, ganz schönes Bettzeug, wie sich dessen Lazar Winterfeld nicht zu schämen braucht, und soviel ich weiß, auch ein paar hundert Gulden. Wer hat er das alles? Gott der Lebendige weiß, wie das aussieht, denn so ein Mann wie er hat leider keine Augen und hat seinen Kopf ganz anderswo. Das sollt' die gute Mindel, seine Mutter wissen; sie möchte sich im Grab herumdrehen.«

»Woher weiß denn das deine Mutter?« fragte der Lehrer ganz verwirrt.

»Weiß ich's?« sagte die Tochter der Federschleißerin in großer Verlegenheit. »Sie wird's gehört haben.«

»Bah!« rief der Lehrer, »was hab' ich da davon! Soll ich etwa die Schlüssel zu meinen Kästen auch noch im Kopf herumtragen? Wenn du mir keinen andern Rat zu geben weißt, als den, so bereue ich, ihn bei dir gesucht zu haben.«

Da erschrak Sali bis ins Innerste ihrer Seele; so hart hatte der Lehrer noch nie mit ihr gesprochen; sie mußte ihn also erzürnt haben.

»Ich soll Ihnen raten, Herr Arnsteiner!« rief sie. »Wie komme ich dazu, mit Lazar Winterfeld zu sprechen?«

»Wer verlangt denn das von dir?« sprach der Lehrer verwundert.

»Ich habe nur gemeint,« stotterte das Mädchen, »weil . . . weil Sie selbst mit ihm nicht reden wollen. Sie haben mir es ja vorgelesen!«

Dem Lehrer stieg die Röte wieder an die Stirn, er mußte sich abwenden und ging aufs neue mit starken Schritten durch die Stube.

»Du hast einen guten Kopf, Sali,« sagte er dann, indem er vor ihr stehen blieb, »und merkst dir, was man vorliest. Schade nur, daß du nicht mehr gelernt hast.«

»Wenn Sie nur nicht so unglücklich wären, Herr 321 Arnsteiner,« sagte das Mädchen plötzlich ohne allen Übergang auf den eigentlichen Kern der Unterredung eingehend.

»Was kann der Mensch dafür, wenn der Blitz in sein Haus einschlägt und es einäschert,« meinte der Lehrer achselzuckend.

Die Tochter der Federschleißerin rief aber in einer Aufregung, wie sie der Lehrer niemals an ihr bemerkt hatte:

»Ich wüßt' schon, Herr Arnsteiner, was ich tun möchte, wenn ich wie Sie wäre. Ich möchte . . .«

»Nun?« fragte Arnsteiner gespannt, da Sali stockte.

»Ich möchte an Sidonia Winterfeld geradezu das schicken, was Sie mir gestern vorgelesen haben. Sie müßte ja ein Herz von Eisen haben, wenn sie darauf schweigen wollte. Eine andere möchte himmelhoch springen, wenn ihr zukäme, – was dieser Sidonia Winterfeld so kinderleicht geradezu in die Hände fliegt.«

»Das meine ich auch, Sali,« sagte der Lehrer mit großer Ruhe. »Aber mit Sidonia Winterfeld hat es sein eigenes Bewandtnis. Sie hat einen Vater!«

Die Tochter der Federschleißerin schien von diesem Geständnisse überrascht; sie schüttelte ungläubig den Kopf und legte dann, als müßte sie über ihre nächste Antwort reiflich nachdenken, den Zeigfinger an den Mund.

»Was geht einen Lazar Winterfeld an?« sprach sie gleichsam vor sich hin. »Der wird gewiß nein sagen! dafür kennt man ihn ja in der ganzen Gasse! – Aber wenn nur Sidonia ›ja‹ sagt, dann ist alles gewonnen.«

»Zweifelst du daran, Sali?« rief der Lehrer mit Heftigkeit.

»Gott Lebendiger!« schrie das Mädchen in wahrhafter Seelenangst, »hab' ich denn etwas gesagt, Herr Arnsteiner, was Sie beleidigen könnte? Warum sollte Sidonia nein sagen? Sind Sie nicht Ihr Lehrer? Wem verdankt sie alles, was sie kann?«

322 Arnsteiners Antlitz klärte sich auf.

»Und dann,« fuhr das Mädchen in steigender Erregtheit fort, »kommt es ja nur auf eine Probe an, Herr Arnsteiner. Schreiben Sie ihr einen Brief, ich selbst will ihn bestellen . . . sagen Sie ihr in dem Brief – was weiß ich? Sie wissen das besser als ich . . . Muß ich Ihnen sagen, was Sie ihr schreiben sollen? Ich wette aber darauf, Sie werden eine Antwort erhalten . . . und dann werden Sie nicht mehr so unglücklich sein, Herr Arnsteiner . . .«

»Gut, Sali!« rief der Lehrer, »gut, du sollst recht behalten. Ich fühle es, es muß ein Entschluß gefaßt werden. Wenn du aus der Mythologie wüßtest, in welcher Art Pallas zur Welt kam, wie sie nämlich geharnischt und gespornt aus dem Kopfe ihres Vaters hinaussprang, – was nach meiner Deutung nichts anderes heißen soll, als daß alle Weisheit gleich fertig aus dem Gehirne des Menschen kommt, – so würdest du begreifen, warum ich dich mit den Worten anspreche: Du bist meine Pallas!«

»Heißen Sie mich nur lieber Sali!« rief das Mädchen.

»Ja, meine Pallas,« fuhr der Lehrer fort, »ich will dasjenige ausführen, was sich in einfältiger Weisheit aus deinem Kopfe losgerungen hat. Sidonia wird antworten, das weiß ich! Heute abend bringe ich dir den Brief, du sollst mit Julius Arnsteiner zufrieden sein!« – – –

Folgendermaßen lautete der Brief des Herrn Arnsteiner:

»Wohledles Fräulein Sidonia!

Als mir vor drei Tagen Ihr Herr Vater, in welchem ich trotz aller Selbstachtung, die der gebildete Mensch sich selber schuldig ist, dennoch das väterliche Ansehen, das doch die Grundlage alles Familien- und Staatenglückes bildet, verehren und anerkennen muß, den Vorwurf machte, ich hätte mit Ihnen das Kopfrechnen vernachlässigt, da fühlte ich, wie sich mein Herz vor jähem Schmerze zusammenkrallte. Dieses Kopfrechnen ist eine Axt, die an den mit weit ausgespannten 323 Ästen und Zweigen geschmückten Baum meiner stolzesten und schönsten Hoffnungen gelegt ward, und der sie schwingt, ist Ihr Herr Vater, Fräulein Sidonia! – O! ein Julius Arnsteiner täuscht sich nicht so leicht! Wohl weiß ich, was dieses Kopfrechnen zu bedeuten hat; es bedeutet, daß auch für Sie, wohledles Fräulein, jene von mir stets gefürchtete Stunde gekommen ist, in welcher Sie die Willenskraft Ihres von mir stets als Ihr Lebensurheber geachteten Vaters zwingen will, lieber den Kopf rechnen, als das Herz handeln zu lassen! Nein, Sidonia, der Lehrer Julius Arnsteiner wirft in diesem heiligen Augenblicke alles ab, was an diesen seinen Beruf nur einigermaßen erinnern könnte – nur der Mensch Julius steht vor Ihnen! Julius und Sidonia! – – Meine Gedanken verirren sich und geraten in den Strudel der Charybdis vor lauter Wonne und Entzücken, daß diese Tränen mir gelten sollen. Ach, wenn nur das Kopfrechnen nicht wäre! Welch ein finsterer Geist ist mit diesem Kopfrechnen in die Hallen des Winterfeldschen Hauses eingekehrt? Wird meine Sidonia aus den Umstrickungen dieses nur aus Wollsäcken großgezogenen Geistes siegreich hervorgehen?

Ich schließe! Ich kenne ein Plätzchen, Sidonia! In der Pappelallee, in der Nähe des Spitals . . . Warum muß unglückliche Liebe die Augen der Menschen scheuen? Sidonia! das Plätzchen ist so schön – und Sidonia wird über die Erlebnisse der drei letzten Tage viel zu erzählen haben! Dorthin ihre Schritte lenken zu sehen, in der Absicht, ihm ihren Entschluß bezüglich des Kopfrechnens mitzuteilen, erwartet sehnsuchtsvoll, wie Ulysses seine von Freiern, die sich auch auf das »Kopfrechnen« verstanden, umschwärmte Penelope,

Ihr mit wahrer Hochachtung sich zeichnender
Julius.«
       

Sali benutzte am andern Vormittag einen müßigen Augenblick, wo sie sich unter irgend einem Vorwande324 entfernen konnte, und machte sich mit dem Briefe des Lehrers auf den Weg. Heimlich, ganz heimlich hatte er ihn in ihre Hände zu spielen gewußt. Am Abende nämlich, als die Gasse bereits schlief, war ein Steinchen klirrend an das Fenster gefallen, und Sali, die gerade wieder in ihrem wunderbaren Winkel saß, wußte, wer da draußen ihrer wartete.

Da stand nun wirklich Julius Arnsteiner und sagte hastig:

»Da bringe ich dir den bewußten Brief, Sali. Bestelle ihn an seine Adresse. Wenn du deine Mission zufrieden stellend ausführst, so soll dein Lohn nicht geringe sein. Ich will mit dir Mythologie anfangen. Gute Nacht.«

Schon auf der Stiege des Winterfeldschen Hauses konnte Sali gewahr werden, daß oben in den »Hallen« etwas Besonderes vorging. Sie hörte Teller klappern und Flaschen klirren, dazwischen geschäftiges Hinrennen in der Küche, woraus zugleich ein gar nicht wochentägiger Speisegeruch zu ihr drang. Was aber die Tochter der Federschleißerin, die für dergleichen Dinge ein sehr feines Ohr besaß, davon überzeugte, daß oben im Hause etwas Ungewöhnliches vorbereitet wurde, war, daß sie deutlich das Schlagen eines »Schneelöffels«, jenes bekannte schnarrende, schaumerzeugende Geräusch vernahm. »Schnee« an einem Wochentage bedeutet einen »Auflauf« – der konnte aber nach den in der Gasse herrschenden Gesetzen nur an einem Feiertage, höchstens an einem Halbfeiertage als etwas besonders Festliches auf den Tisch kommen. Eine Ausnahme davon bildete eben nur eine »Beschau«.

Sali ward bei dieser Entdeckung über und über rot . . .

Noch mehr wurde sie darin bestärkt, als sie, im Begriffe die Treppe hinanzugehen, mit einem Male die kreischende Stimme der alten Köchin »Reichel« vernahm, die jedes Kind in der ganzen Gasse aus tausend anderen heraus erkannte, obwohl man ihr nicht gerade gerne begegnete.

325 »Wie soll da Schnee herauskommen,« belferte das alte Erbstück des Winterfeldschen Hauses, »wenn du den Löffel so hältst? Alle meine Feinde sollen nichts Besseres zu essen haben . . . da hätte ich bald Ruh' vor ihnen. Er wird etwas Schönes sich denken, wenn man den Schnee ihm aufsetzt! Er wird den Doktor sogleich müssen kommen lassen!«

Er! Wer war das? Das konnte nur die »Beschau« sein. So nahe war also die Gefahr für ihren unglücklichen Lehrer Arnsteiner, der sie so wenig ahnte, daß er sogar einen Brief an Sidonia schreiben konnte? Was sollte der Brief unter solchen Umständen, wo man oben in der Küche bereits »Schnee« zu einem »Auflaufe« schlug, den »er« wahrscheinlich als Probe von Sidonias Kochkunst zu kosten bekommen sollte?

Sali stand einen Augenblick ratlos unten an der Stiege, alle Gedanken standen in ihr still, sie vernahm nichts als das Rasseln des Schaumlöffels. Dann aber raffte sie sich zusammen. Konnte sie wissen, was in dem Briefe enthalten war? Herr Arnsteiner konnte ja den Tod davon haben, wenn sie sein Schreiben gar nicht oder zu spät abgab? Unglücklich war er ohnehin genug; wenn er nun vernahm, daß er durch ihre Nachlässigkeit um seine schönste Hoffnung betrogen war – davon hätte sie den Tod gehabt.

Noch ein Gedanke durchfuhr sie blitzschnell. Wie, wenn der Schnee, den Sidonia oben in der Küche schlug, für Herrn Arnsteiner bestimmt war?

In dieser Verwirrung widerstreitender Vorstellungen hatte die Tochter der Federschleißerin die Treppe erreicht und erschien mit einem Male an der offenen Küchentüre! – Sie hatte sich nicht getäuscht. Sidonia selber schlug den Schnee. Sali hatte mit der reichen Wollhändlerstochter nur wenig im Leben verkehrt, sie stand ihr zu hoch, und in den Augen des armen Mädchens gab es nichts, was an die Herrlichkeit Sidonias reichte, besonders wenn sie in irgend 326 einem neuen Kleide erschien, das eigens in Prag von dem berühmtesten Schneider verfertigt sein mußte. Diesmal aber war es ihr, als sei sie ihr ebenbürtig; das Mädchen gegenüber dem Mädchen machte sich in ihr geltend, und das beseelte sie mit herzhaftem Mut.

Durch eine zufällige Bewegung hatte Sidonia sogleich die an der Tür wartende Sali bemerkt. Sie hielt alsbald im Schneeschlagen inne und trat auf sie zu. Wie schön war Sidonia mit ihrem vom Küchenfeuer geröteten Antlitze, in ihren sorgfältig geringelten Hängelocken und namentlich in dem neuen Kleide von einem unbekannten Stoffe, das übrigens zur Küche gar nicht paßte!

»Willst du etwas, Sali?« fragte sie.

»Ich habe etwas mit Ihnen zu reden, Fräulein Sidonia,« entgegnete Sali, die bei allem Mute, der sie in diesem Augenblicke durchströmte, dennoch die Besonnenheit hatte, sich erst in der Küche umzusehen, ob kein unnötiger Lauscher da sei. Nur die alte Reichel hantierte am Herde.

»Mit mir willst du reden?« rief Sidonia.

»Ja,« sagte Sali beinahe flüsternd, indem sie sich zu dem schönen Mädchen neigte;»ich habe Ihnen einen Brief von einem zu übergeben.«

»Mit wem steh' ich denn in Korrespondenz?« rief Sidonia mehr verblüfft als verlegen.

Sali holte mit einem raschen Griffe den Brief hervor und überreichte ihn ihr. Kaum hatte Sidonia den Blick auf die in zierlich geschwungenen Buchstaben geschriebene Adresse »an das wohledle Fräulein Sidonia Winterfeld« geworfen, als sie in ein heftiges Gelächter ausbrach.

»Was kann er mir zu schreiben haben?« rief sie dazwischen.

»Um Gottes willen,« sagte Sali ängstlich, »lachen Sie nicht so laut, es könnte einer es hören, und Herr Arnsteiner will nicht, daß ein anderer den Brief zu lesen bekommt als Sie, Fräulein Sidonia.«

327 »Ich erschrecke!« lachte Sidonia, »es wird doch keine Sprachlehraufgabe sein, die er mir schickt, weil er nicht selbst kommt? Heute mach' ich sie nicht, das kannst du ihm ausrichten . . . ich muß mich mit meinem Auflaufe beschäftigen.«

»Lesen Sie nur, Fräulein Sidonia,« sagte Sali, durch dieses Benehmen ganz kleinlaut geworden, »es soll in dem Briefe etwas ganz anderes stehen – etwas ganz anderes, was sehr traurig ist.«

»Er wird sich doch nicht ins Wasser stürzen wollen?« lachte wieder Sidonia und riß hastig das Siegel auf.

Während sie nun das Schreiben des Lehrers las, hatte die kleine Sali Gelegenheit, die Gesichtszüge Sidonias auf das genaueste zu studieren; sie wandte nicht ein Auge von ihr ab.

Sah man so aus, wenn man einen so traurigen Brief von Herrn Arnsteiner zu lesen hatte? Das erste, was Sidonia nach Salis unmaßgeblicher Ansicht hätte tun sollen, war, in Tränen auszubrechen und in schmerzlichen Worten das Schicksal Arnsteiners zu beklagen. Das zweite, nach ihrem Dafürhalten, wäre gewesen, auf der Stelle den Auflauf ins Feuer zu schleudern, sich augenblicklich hinzusetzen und einen Brief an Herrn Arnsteiner zu schreiben, einen Trostbrief wenigstens, daß, da sie selbst schon das Unglück hätte, ihm nicht angehören zu können, es noch andere Mittel und Wege für ihn gebe, glücklich zu werden . . .

Nichts von dem allem geschah. Wohl hatte sich Sidonia, nachdem sie den Brief zu Ende gelesen, von Sali abgewendet, und war an den Herd getreten. Aber als sie sich nach geraumer Weile umdrehte, glänzten wohl Tränen in ihren Augen, doch diese rührten von einer dem Weinen ganz entgegengesetzten Empfindung her. Ihr ganzes Antlitz strahlte von Heiterkeit und Lust.

»Sie lachen, Fräulein Sidonia!« rief Sali ganz erschrocken. »Hat Ihnen denn Herr Arnsteiner gar so lustige Dinge geschrieben?«

328 »Der Brief ist nicht mit Gold zu bezahlen, ich versichere dich!« kicherte dagegen Sidonia.

Sali wurde an sich selbst irre. Hatte Sidonia recht? Hatte der Lehrer vielleicht in der Tat mehr lustig als traurig geschrieben? – Wie reimte sich jedoch dies mit seinem Unglücke zusammen? Nein, nein! Alles in Salis Gemüt geriet gegen diese Annahme in Aufruhr!

»Ich meine nur, Fräulein Sidonia,« sagte sie, beinahe zornig, »daß es eine Sünde ist, über einen Menschen sich lustig zu machen – der gar nichts dafür kann!«

»Weißt du denn, worüber ich lache?« erwiderte Sidonia ziemlich spitz.

»Nein,« sagte Sali.

»Also brauchst du mich nicht zurechtzuweisen,« meinte Sidonia mit Hoheit, indem sie das arme Mädchen von oben bis unten maß.

Aber die Tochter der Federschleißerin hielt diesen Blick aus, sie zuckte nicht einmal mit den Augenwimpern.

»Ist das die ganze Antwort,« sagte sie, Sidonia fest anschauend, »die ich Herrn Arnsteiner bringen soll?«

»Ich begreife nicht,« sagte Sidonia mit eisiger Kälte, »wozu ich dich zu meiner Vertrauten machen muß.«

»So werden Sie ihm selbst die Antwort bringen?« fragte Sali, ohne sich von dieser Beleidigung irre machen zu lassen.

»Der Schnee, der Schnee!« schrie in diesem Augenblicke die furchtbare alte Köchin, daß die beiden Mädchen erschrocken zusammenfuhren. »Wo bleibt der Schnee? Ist jetzt Zeit, sich mit Liebesbriefen herzustellen, wo der Auflauf auf einen wartet?«

»Sie hat uns doch belauscht,« flüsterte Sidonia, indem sie einen scheuen Blick nach ihrer Lehrerin in der Kochkunst warf.

»Was soll ich ihm also sagen?« meinte Sali, die nun wohl einsah, daß ihres Bleibens nicht länger sei, ebenso leise.

329 Sidonia stand unschlüssig da; sie hatte den Kopf gesenkt, und sann allem Anscheine über etwas nach. Plötzlich richtete sie ihn auf, ihr Gesicht strahlte wie von einem guten, soeben gefundenen Gedanken.

»Weißt du was?« flüsterte sie wieder zu Sali, »wenn er dich fragt, was ich zu dem Briefe gesagt habe, so sag ihm, ich werde kommen.«

»Sie werden kommen?« schrie Sali etwas überlaut.

»Schrei nicht so,« warnte Sidonia, indem sie sich wieder scheuen Blickes nach der Köchin umschaute.

»Wie glücklich werden Sie ihn machen!« rief Sali, und ein dankbarer, aus der Tiefe ihrer Seele dringender Blick war der einzige Dank, den sie dem schönen Mädchen in diesem Momente bieten konnte.

»Ja, ja, ich komme,« wiederholte Sidonia, »heute noch. Sag ihm nichts anderes als das.« – –

Als Sali wieder unten auf der Gasse stand, mußte sie still vor sich hinsprechen:

»Ich hätte mir's doch nicht gedacht, daß Sidonia ein so gutes Herz besitzt! Wie wird er sich freuen!«

Arnsteiner wußte nun, was ihm für den Abend bevorstand. In drängender Eile, mit hochrot gefärbten Wangen hatte ihm Sali die Geschichte ihrer Botschaft mitgeteilt. Sidonia kam, und das war ihm genug! Eines hatte die Tochter der Federschleißerin aber verschwiegen, nämlich ihre Vermutungen über die Zwecke des Auflaufs, zu welchem sie den »Schnee« unter Sidonias Händen hatte entstehen sehen.

»Sali, es bleibt dabei, was ich dir feierlichst versprochen habe,« sagte der Lehrer wie zum Danke, »sobald diese Sache einmal in Ordnung gebracht ist, fange ich mit dir Mythologie an.«

»Gut, Herr Lehrer,« entgegnete Sali darauf, indem sie davoneilte, »meinetwegen lerne ich alles, was Sie wollen – aber«

330 »Was aber?« fragte Arnsteiner stirnrunzelnd.

»Ich kann's nicht sagen, Herr Lehrer!« rief das Mädchen gepreßt, und war zur Türe hinaus, ehe Arnsteiner weiter dringen konnte.

Dem Lehrer war es übrigens nicht unlieb, daß sich die kleine Schülerin so eiligst entfernt hatte, denn er begann jetzt allmählich von jenem unheimlichen Leibes- und Seelenzustande überfallen zu werden, den alle Welt unter dem Namen »Fieber« kennt. Hitze wechselte mit Kälte ab, die Pulse jagten bald wie scheu gewordene Pferde in ihm auf und ab, bald standen sie wieder still; niemand hätte dann behaupten können, daß Julius Arnsteiner überhaupt noch Pulse habe. Bald rannte er in siedendheißer Glut die Stube auf und nieder, bald ließ ihn die Kälte nicht auf den Beinen sich erhalten. Nur wenige Stunden hatte noch der Tag zurückzulegen, und es stand ihm bevor, was er so oft in Büchern, aber nie im Leben selbst erfahren hatte – ein »Rendezvous« mit einem Mädchen!

Vielleicht, um sich die Gewißheit zu verschaffen, daß dieses Wort für ihn kein leerer, inhaltsloser Schall sei, schrieb er es einige dutzendmal bald in lateinischer Fraktur, bald in deutscher Kurrentschrift auf einen Bogen Papier, sah dann ein jedes mit einem besonders schönen Schnörkel ausgestattete »Rendezvous« mit erstaunten Augen an, als könnte er es nicht begreifen, daß dieses Wort zu ihm, und er zu dem Worte in solcher Beziehung stehe.

»Ist es nicht wunderbar,« redete er einmal ein solches von einem kühnen Schnörkel, wie mit einem Strahlenkranze umgebene Wort an, »daß außer mir und Sidonia Winterfeld vielleicht keiner in der ganzen Gasse »Rendezvous« zu schreiben versteht? Woher mag das kommen? Weil die Leute nicht auf die grammatikalische Analyse eingehen. Denn was heißt Rendezvous? Es ist kein Hauptwort, denn es ist weder der Name eines wirklichen oder als wirklich gedachten 331 Dinges . . . es ist, wenn man es von einem höheren Standpunkte betrachtet, eine zur Würde des Hauptwortes erhobene Redensart! Rendezvous heißt: Begeben Sie sich! Wie fein die Franzosen das ausgedacht haben! Das deutsche »Stell dich ein« ist dagegen wie ein grober Klotz schon darum, weil es in der zweiten Person der einfachen Zahl einen anspricht. Stelle dich ein! klingt wie der Befehl eines Korporals zum Rekruten. »Begeben Sie sich« ist die höfliche Bitte eines liebenden Mädchens an einen gebildeten Mann, dem sie etwas Angenehmes zu sagen hat. Das ist der gewaltige Unterschied!«

Mitten inne fiel es dem Lehrer auch ein, an die Tochter der Federschleißerin zu denken. Er wollte ihr die Bemerkung über den feinen Unterschied zwischen Rendezvous und Stelldichein morgen auseinandersetzen.

»Sie hat einen guten Kopf,« sagte er vor sich hin, »es kann ihr nicht schaden, wenn sie es weiß.«

Während sich so der Lehrer dem Spiele seiner Einbildungskraft hingab, war es in der Stube finster geworden. Die Zeit des »Begeben Sie sich« war gekommen.

In diesem Augenblicke blickten vielleicht schon zwei sehnsüchtige Augen zum dunklen Nachthimmel und fragten ihn leise, ob die Sterne, die daselbst angezündet waren, nicht gar zu helle scheinen. Mit Fieberschauern im Herzen, die sich bis auf die Hände erstreckten, so daß er in der Dunkelheit mehrmals die Türklinke fahren ließ, die er schon erfaßt hatte, huschte er aus dem Hause.

Draußen fiel es ihm zum erstenmal seit vielen Jahren ein, daß er die Zimmertür zu schließen vergessen habe. Der Mensch ist bei den strengsten Grundsätzen schwach, dachte er – wie konnte er wissen, ob nicht morgen ein Haufen fremder Menschen in dieser Stube herumstöbern wird? – Einen Augenblick dachte er sogar daran, ob er überhaupt schließen solle? Die Flucht würde dann gleichsam verdeckt, und die Sucher auf andere Spuren geleitet . . .

332 Dennoch entschloß er sich dafür, der Furcht vor Dieben nachzugeben; er tappte durch den finstern Hausgang zurück und drehte den Schlüssel zweimal im Schlosse herum. Die Tochter der Federschleißerin sollte ihm am anderen Tage keine Vorwürfe machen, daß er sein Hab und Gut in die Obhut von Dieben gestellt hatte.

Am anderen Tage! –

Wird es einen solchen geben? Wo wird er über dir aufgehen? dachte Arnsteiner, während er durch die stille Gasse mitten in die warme Frühlingsnacht hinaushuschte. Aber ihn durchrieselte eisige Kälte. Schauer rüttelten an ihm, daß er sich kaum auf den Beinen halten konnte.

»Man stelle einen Kato an meine Stelle,« murmelte er zähneklappernd vor sich hin, indem er die langgestreckte Pappelallee, wo das »Begeben Sie sich« stattfinden sollte, vor sich sah, »man stelle mir einen Moses Mendelssohn her, und er mag zusehen, wie er mit Sidonia Winterfeld fertig wird.«

Die Fieberschauer kehrten mit verdoppelter Gewalt zurück, als er nun in diese Allee wirklich eintrat. Zaghaften Schrittes kam er an den ersten Bäumen vorüber, von denen er jeden anstarrte, als wüßte er etwas Besonderes von ihm. Hätten sie noch geflüstert, wie das ihr Brauch ist in der Nacht, so hätte sich der Lehrer in der Stimmung, in der er war, diese Sprache der Natur nach seiner Art gedeutet. Aber nicht ein Blatt regte sich, und dieses Schweigen sprach mit fürchterlicher Beredsamkeit zu dem ohnehin erschreckten Gemüte des Lehrers. Diese hoch aufgeschossenen Pappeln schienen wie eine Armee von stummen Richtern hingestellt, um über ihn, der im Begriffe stand, ein großes Verbrechen zu begehen, schon im voraus ihr verdammendes Urteil abzugeben. Hinter einer ungewöhnlich hohen Pappel erscholl plötzlich ein Ruf, der ihm mit eiserner Spitze bis aufs Mark eindrang. »Mädchenentführer«, hatte es getönt – und doch stand niemand hinter 333 dem Baume. – Aus seinem eigenen Innern war der fürchterliche Ruf gekommen; sein böses Gewissen hatte Sprache erhalten, und nun schien es, als ob die leblosen Geschöpfe der Natur nur von dem widerhallten, was in seiner eigenen Seele vorging.

Umsonst hastete er jetzt seinen Schritt; die Bäume rückten zusammen, berührten sich mit ihren Wipfeln und wollten ihm keinen Durchgang gönnen. Stimmen, die von rechts und links, von oben und unten ertönten, forderten ihn auf, sich erst von seiner Schuld zu reinigen, ehe er sich wieder unter Menschen blicken ließe . . . Nicht nur »Mädchenentführer«, auch andere in der öffentlichen Moral schwer wiegende Scheltworte, wie »Erbschleicher«, »Egoist« flogen ihm um die Ohren. Namentlich das letzte drang mit unwiderstehlicher Wahrheit auf ihn ein . . . Lazar Winterfelds Geld, die reiche »Partie« war es gewesen, die ihn verblendet und seinem alten Wesen untreu gemacht hatte. Wenn jemals, so hatten die Leute diesmal recht, über ihn als Menschen den Stab zu brechen und ein dreimaliges »Wehe« zu schreien! Ein Lehrer, der doch seinem Namen nach »Moral und Sittlichkeit« lehren sollte; ein Julius Arnsteiner, gegen den selbst die schwärzeste Scheelsucht und die niedrigste Verkleinerungslust keinen Schatten einer Schuld aufzuweisen vermochte, stand nun in dem Verdachte, ein junges Mädchen berückt und einiger tausend Gulden wegen dem väterlichen Hause abtrünnig gemacht zu haben! Pfui über Julius Arnsteiner! wenn er erst in seinem fünfunddreißigsten Lebensjahre jenen Grundsätzen untreu wurde, die er während einer sechzehnjährigen Tätigkeit als Lehrer keinen Augenblick verleugnet hatte! . . .

Eines starrte jetzt den unglücklichen Arnsteiner mit hohlen, grauenhaften Augen an, die Aussicht: nicht mehr Lehrer sein zu können! Wer wird ihm seine Kinder anvertrauen? Wer läßt von einem Menschen unterrichten, der 334 unter der Anklage eines Mädchenraubes steht? Und daß ihm dieses Verbrechen werde zur Last gelegt werden, daß niemand es bezweifeln werde, Sidonia Winterfeld sei das Opfer seiner Leidenschaft geworden, war auch dem blödesten Auge klar. Julius Arnsteiner konnte hinfort kein Lehrer bleiben; er selbst hatte sich seiner Würde entkleidet; er stand entheiligt, seiner Kraft beraubt, wie Simson mit geblendeten Augen vor aller Welt!

Wenn er aber kein Lehrer sein konnte, was denn sonst? –

Die Welt verging vor ihm, im wirren Kreiseltanze drehten sich um ihn die Gegenstände, alles schien ringsum aus den Fugen gerückt, nicht nur die Sterne am Himmel und die Bäume, sondern auch seine Gedanken. In seiner Willens- und Körperkraft gebrochen, wankte er zu einer der Bänke, die unter den Bäumen standen, und ließ sich darauf nieder.

In diesem Zustande eines bloßen Scheinlebens verharrte er eine geraume Zeit, die Schöpfung schien ihm zu Gefallen zu feiern, kein Laut, kein Blätterrauschen, kein Vogelsang ringsumher . . . Aber unter dem Baume atmete ein Mensch in schwerstem Jammer.

Die Hände vor das Gesicht gepreßt bemerkte er nicht, was um ihn vorging.

Da fühlte er mit einem Male einen weichen Druck auf seiner Schulter. Arnsteiner zuckte zusammen und ließ seine Hände fallen. – Sidonia Winterfeld stand vor ihm.

»Sidonia!« rief der Lehrer in einem Tone des Entsetzens, als stellte sich ihm ein Ungeheuer, nicht ein schönes Mädchen von Fleisch und Blut vor.

»Sehen Sie, Herr Arnsteiner, was ich für eine gehorsame Schülerin bin,« sagte das Mädchen scherzhaft, »Sie haben mir geschrieben, daß ich kommen soll, und ich bin gekommen.«

335 »O, Sidonia!« seufzte der Lehrer tief auf, »ich wollte, Sie wären nicht gekommen!«

»Warum nicht?« rief das Mädchen lebhaft. »Erst schreiben Sie mir einen so schönen Liebesbrief und verleiten mich zu diesem Schritte – und jetzt –«

»Jetzt weiß ich, daß ich unrecht gehandelt habe,« sagte der Lehrer schmerzlich, »die Macht Ihrer Leidenschaft auf die Probe gesetzt zu haben.«

»Kurios reden Sie, Herr Arnsteiner,« schmollte das Mädchen; »haben Sie mich nicht aufgefordert, Ihnen – über das Kopfrechnen zu erzählen?«

Arnsteiner starrte das Mädchen mit verwunderten Blicken an. Erst allmählich kam ihm die Erinnerung dessen in den Sinn, was er erst gestern geschrieben, aber es war mächtig genug, ihm alles Blut zum Herzen zu drängen.

»Wie heißt?« rief, da er schwieg, Sidonia.

Den Lehrer durchzuckte dieser in der Gasse nicht ungewöhnliche Ausruf auf eine eigentümlich verletzende Weise.

»Wie heißt?« wiederholte das Mädchen noch einmal.

Arnsteiner bezwang sich.

»Wie oft habe ich Ihnen diesen Ausdruck verwiesen, Sidonia?« sagte er sanft.

Da lachte das Mädchen hell auf.

»Das wäre schön,« rief sie, »wenn ich nur darum gekommen wäre, um jetzt deutsche Sprachlehre zu lernen.«

Der Lehrer atmete tief und schwer. In diesem Lachen des Mädchens lag etwas, was ihm sehr wehe tat; er schrieb es aber auf Rechnung der Aufgeregtheit, in der sich Sidonia jetzt befinden mußte.

»Sidonia,« rief er mit stockendem Atem, »Sie wollen wirklich . . .?«

»Was, Herr Arnsteiner?«

»Ihr väterliches Haus verlassen, Reichtum und Glanz entsagen, nur dem Zuge Ihres Herzens folgen?«

336 Das Mädchen hielt sich ihr Schnupftuch vor den Mund und kicherte. Der Lehrer meinte aber schmerzliches Schluchzen zu hören.

»Sie weinen, Sidonia!« rief er in tiefster Rührung.

»Wo fallen Sie aus, Herr Arnsteiner?« rief das Mädchen und lachte und lachte, daß das Schnupftuch in ihren Händen zitterte. Dem Lehrer dämmerte ein entsetzliches Licht auf; er wollte sich erheben, aber er vermochte es nicht; unsichtbar wirkende Kräfte hielten ihn auf der Bank zurück.

In demselben Augenblicke ertönte noch eine andere Stimme als die Sidonias neben dem unglücklichen Lehrer; sie schien wie aus dem Boden gewachsen, aber trotz seines namenlosen Zustandes erkannte sie Arnsteiner, und daß sie nur dem einen angehörte, den er in dieser Stunde auf der ganzen Erde am meisten zu fürchten hatte.

»Nun, Herr Lehrer,« sagte Lazar Winterfeld, »schöne Narreteien stellen Sie da an. Statt mit meiner Tochter zu lernen, wie sie einen guten Geschäftsbrief zustande bringt, schreiben Sie ihr Liebesbriefelchen. Schickt sich das für einen Lehrer, dem man alle Monate sein Geld richtig auszahlt? In Nacht und Nebel muß man Ihnen nachgehen . . . und Sie können die Vermessenheit haben, meine Tochter zu sich zu bestellen?«

»Laß ihn gehen, Vater,« hörte er Sidonia gleichsam beschwichtigend sagen, »er hat nur gemeint, im Freien läßt sich besser mit dem Kopfe rechnen, als drin im Zimmer.«

»Sie werden es weit bringen in der Welt,« fing wieder Lazar Winterfeld an, »wenn Sie solche Narreteien forttreiben. Die Welt müßte sich doch kurios auf den Kopf gestellt haben, möcht' ich meine Tochter – einem Lehrer geben.«

Jetzt riß eine Gewalt, die wie ein Feuerstrom seinen ganzen Leib durchglühte, dem Lehrer die Hände vom Gesicht. Nun war er an jener Stelle seiner Seele getroffen worden, die der verwundbarste Fleck seines Daseins war. Das Heiligste 337 war von den breiten Tatzen dieses Lazar Winterfeld angefaßt worden; das, woran der Lehrer mit den feinsten Fibern seines Gemütes hing, blutete unter den Fängen der rohesten Rede. Arnsteiner sprang auf, er wollte wirklich an den Beleidiger seiner Ehre; er hätte ihn in der Tat ermordet . . . aber in demselben Augenblicke taumelte er wieder auf die Bank zurück.

Neben Sidonia stand ein fremder, ihm ganz unbekannter Mann; noch ein Zeuge seiner Schande!

»Wer ist das?« schrie er außer sich.

Sidonia verneigte sich tief vor dem Lehrer.

»Wenn Sie es erlauben, Herr Arnsteiner,« sagte sie und ergriff den fremden Mann an der Hand, »so habe ich die Ehre, Ihnen hier Herrn Alfred Bittersüß aus Kolin vorzustellen. Er ist seit heute nachmittag mein Bräutigam – auch ohne Kopfrechnen!«

Und Arnsteiner bedeckte aufs neue sein Angesicht.

Jetzt hörte er, wie der neue Bräutigam halblaut zu Sidonia sagte:

»Es ist genug! Lassen wir ihn jetzt gehen!«

Diese wenigen Worte waren aber von wunderbarer Wirkung auf des Lehrers Zustand. Verraten, entwürdigt, verhöhnt, daß sich jeder Nerv aufbäumte, hatte er dennoch keinen Laut dafür, als das stumme Dulden dieser unbarmherzigen Streiche. Jetzt fand er die Sprache! Er richtete sich mit einem Male auf, alle Schwäche war aus ihm geschwunden; nun fühlte er sich stark genug, um einer Welt voll Lazar Winterfelds entgegenzutreten.

»Wollen Sie noch etwas von mir?« fragte er mit so ruhig gelassenem Tone, als gelte es irgend einer heiteren Äußerung. Sidonia, an die er diese Frage gerichtet hatte, trat scheu zurück; sie hatte wahrscheinlich nicht erwartet, daß der totgeglaubte Löwe noch Kraft genug habe, sich zu einem Sprunge zu erholen.

338 »Haben Sie mir weiter nichts zu sagen?« begann er nach einer Weile wieder, »und ist das alles, was Sie an Spott und Hohn und Witz für meine Narretei in Bereitschaft haben?«

Auf diese unvermutete Anrede fanden die drei, die ihm gegenüberstanden, nicht sogleich die Antwort, aber die eine Wirkung hatte sie bereits, daß ihnen das Lachen vergangen war.

»Wenn ich wie Sie, Lazar Winterfeld, gewesen wäre,« fuhr der Lehrer mit seltsam gehobener Stimme fort, »so hätte ich mich mit so einer einfachen Schande, wie Sie mir jetzt angetan haben, gar nicht begnügt. Ich hätte die ganze Gemeinde dazu geladen: ich hätte den Schuldiener mit einer Einladung zu allen Leuten herumgeschickt, und der hätte ihnen müssen ansagen: Kommt heute abend da- und dorthin! Da wird ein großer Spaß aufgeführt werden, nämlich der Herr Lehrer Julius Arnsteiner soll beschämt werden. Alle Schulkinder hätten dabei in weißen Hemdekrägen erscheinen müssen, wie bei einer Prüfung, denn es ist ein gar zu schönes Schauspiel, wenn derjenige, dem sie nach ihren Eltern das meiste verdanken, an den Pranger der Schande gestellt, verhöhnt und verspottet werden soll.«

Die Stimme des Lehrers klang wie Weinen, als er diese Schlußworte sprach, aber er ermannte sich sogleich und fuhr in freiem Tone fort:

»Ihnen, Herr Winterfeld, mache ich keine Vorwürfe . . . Sie handeln eben nicht anders, als Sie es verstehen. Kann ich von einem Zwetschkenbaum verlangen, daß er mir die Früchte der Palme gebe? Er bleibt ein Zwetschkenbaum unter allen Umständen. Was ist Ihnen ein Lehrer? – Soll ich behaupten, daß ein Sack Wolle, den Sie vom Markte bringen, in jeder Beziehung Ihnen mehr am Herzen liegt, als so ein armer verlassener Lehrer? An dem Sack Wolle können Sie Geld erwerben, viel Geld, da Sie sich aufs 339 ›Kopfrechnen‹ verstehen . . . an dem armen Lehrer hat nur Ihre Tochter gewonnen, denn ohne ihn wäre sie ein Messer ohne Griff, ein ungesäuertes Brot, eine ungesalzene Suppe. Dafür kann dieser Lehrer nicht hart genug gestraft werden. Er hat sich erkühnt, aus Lazar Winterfelds Tochter etwas zu machen, was unter Brüdern gerade soviel wert ist, als der Sack Wolle in ihres Vaters Magazin.«

Der Lehrer sah wohl, daß Lazar Winterfelds stämmige Gestalt unter den Vorbereitungen eines Zornausbruches heftig arbeitete; er aber hatte sein letztes Wort noch nicht geredet.

»Ihnen, wohledles Fräulein Sidonia,« wandte er sich rasch an diese, »danke ich in zweifacher Weise dafür, daß Sie meine Schülerin gewesen sind. Ich hatte mir eine Narretei in den Kopf gesetzt. Nun, davon bin ich zu meinem Glücke gründlich geheilt worden. Nicht nur lieben Sie mich nicht . . . Sie kennen nicht einmal die schuldige Dankbarkeit einer Schülerin gegen ihren Lehrer . . . Sie machen sich lustig über mich, Sie verrieten mich . . . Sie riefen Zeugen meiner Schande herbei. Diese Herzensroheit, doppelt tadelnswürdig, weil sie an einem Weibe sich offenbart, werden Ihnen wohl manche Menschen nicht hoch genug anrechnen . . . ich kann Sie dafür nur bemitleiden! Statt über meine Schwäche den Schleier der Vergessenheit zu ziehen, haben Sie sie unbarmherzig enthüllt . . . Fragen Sie die kleine Sali, die Tochter der Federschleißerin, was sie in einem solchen Falle getan hätte? Aber freilich! Wie kann die reiche Sidonia Winterfeld bei dem armen Kinde in die Schule gehen? Jener ward das Wissen in Eimern dargebracht, während diese es in Kaffeelöffeln wie eine Medizin zu kosten bekömmt. Dennoch hätte die kleine Sali ihren Lehrer nicht verhöhnt, verspottet und verraten! Und darin liegt die zweite Lehre, für die ich Ihnen, wohledles Fräulein Sidonia, vom Herzen dankbar bin, nämlich die, daß ein voller Kopf und ein leeres Gemüt jedenfalls nachzusetzen sind – einem leeren 340 Kopfe mit einem vollen Gemüte. Diese Lehre will ich mir fortan nutzbar machen.«

Mit einer raschen Bewegung war Julius Arnsteiner nach den letzten Worten aus dem Kreise seiner Dränger getreten, und nur das dämmerndfahle Licht des Mondes verhinderte, daß sie nicht sehen konnten, wie siegesfreudig sein ganzes Antlitz strahlte, wie sich in seinem Wesen Mut und Entschiedenheit in nie geahnter Weise ausdrückten.

Das aber sahen sie noch, wie er mit hochaufgerichtetem Haupte ihnen seinen Gruß zuwinkte, und ihren Blicken entschwunden war, noch ehe sie sich von ihrem Staunen erholt hatten.


»Sali, mein Kind, du magst sagen, was du willst, so sag' ich, mit dir geht etwas vor,« sprach die Federschleißerin in der Nacht, während sie vor ihrer gewöhnlichen Beschäftigung saß.

»Red dir nichts ein, Mutter,« tönte es aus jenem mehrfach erwähnten merkwürdigen Winkel mit ziemlich verdrießlicher Stimme zurück.

Die Federschleißerin legte gerade ein Häuflein fertiger Federn zur Seite; sie antwortete also nicht sogleich, sondern bewegte die Lippen, als wenn sie spräche, was bei ihr jederzeit nur der Vorläufer des wirklichen Sprechens war.

Erst nach einer Weile meinte sie:

»Du weißt, Sali, mein Kind, ich seh', wo andere Leute nichts sehen, und höre, wo andere Ohren nichts hören. Warum? In meinem ganzen Leben hab' ich so viel sehen und hören müssen, und habe gemußt dazu schweigen, daß ich mir gewöhnt habe, meine Augen und Ohren ganz anders zu gebrauchen, wie sonst die Leute.«

»Ich kränke mich, Mutter, daß ich als Kind nicht mehr 341 habe lernen können,« kam es aus dem Winkel hervor, »man möchte mich dann nicht so verachten.«

»Dich verachtet man?« rief die Federschleißerin gegen ihre Weise heftig. Da sich aber die Wirkung dieser auffahrenden Worte sogleich in einem gefährlichen Wirbeltanze der leichtbeweglichen Federchen zeigte, setzte sie beschwichtigend hinzu: »Kurios redet doch so ein Mädchen, wenn es erst siebzehn Jahre alt ist.«

»Wenn man aber mit siebzehn Jahren erst beim großen ›S‹ steht, wie dann, Mutter?« kam es aus dem merkwürdigen Winkel in wehmütig klagenden Lauten hervor.

Die Federschleißerin bewegte wieder, ehe sie sprach, die Lippen. Kein Federchen rührte sich von seiner Stelle. War es in ihrem Gemüte auch so ruhig? Es schien nicht; ein namenloses Weh klang durch, als sie sprach.

»Von mir ist es auch nicht auf dem Berge Sinai geschrieben gestanden, daß ich auf meine alten Tage Federn schleißen muß. Dein Vater, mit dem der Friede sei, hat ein schön Stück Geld mit mir nachbekommen, aber leider Gottes, er hat's nicht verstanden damit umzugehen. Hast du zu ihm gesagt: Mann, warum gehst du nicht dort und dort hin, es wäre da etwas zu verdienen? so ist er zwar hingegangen, aber heimgebracht hat er nichts. Und doch war er kein »Schlemiel«, er soll mir's noch jetzt verzeihen in seinem Grabe. Aber immer war ihm ein anderer schon zuvorgekommen. Wo hätte da ein Geschäft gedeihen sollen? Er hat immer darauf gewartet, daß man ihm, wie jenem Eisenhändler in Prag, eine Kiste mit altem Eisen ins Haus bringt, und wie er sie auseinanderschlägt, war's lauter Gold. Und dann hat's sich noch herausgestellt, daß der Bauer, der die Kiste gebracht hat, eigentlich der Prophet Elias gewesen ist. Zu uns ist kein Elias gekommen! Ehe man's gemerkt hat, hat dein Vater den »Dorfgeher« machen müssen. Nun hat man Beispiele, daß sich viele Menschen wieder von unten 342 heraufarbeiten; aus einem Hasenhäutchen ist schon oft ein großes Haus geworden. Doch, ich will meinen Mund nicht zu unrechten auftun, aber das muß ich deinem Vater (mit dem der Friede sei) doch nachsagen, er hätte besser für sein Weib und Kind bedacht sein können.«

Die Federchen gerieten bei diesen letzten Worten in unruhige Bewegung, und hie und da hatte manches seinen Weg über den Tisch oder in die Kerzenflamme gefunden.

Die innere Bewegtheit, wie wenig sie auch sonst in heftigen Atemzügen über die Lippen der alten Frau kam, war doch zu stark für sie.

»Nun, ich rede ja nichts,« sagte die Federschleißerin sich selbst zur Entschuldigung, und ihre Stimme sank zu den leisesten Flüstertönen herab. »Warum hat er sich nicht besser umgesehen? Hätte er es nicht auch so weit wie Lazar Winterfeld bringen können, der auch mit Hasenhäutchen angefangen hat? Wo steht es denn geschrieben, daß Lazar Winterfelds Tochter von Herrn Arnsteiner die Bücher ordentlich in den Kopf hineingedrückt bekommt, und mein Kind muß erst beim großen ›S‹ stehen? Ich frag', wo steht das geschrieben?«

Diesmal entstand unter den Federchen ein gefährlicher Aufruhr; einen Augenblick lang war die Kerzenflamme beinahe verdunkelt, weiße Körperchen flogen auf und nieder und schienen auf keine Art beschwichtigt werden zu können. Aber die Federschleißerin benahm sich den Aufrührern gegenüber nicht mit der gewohnten Milde . . . im Gegenteile, der Unmut ihres Herzens war stärker als die Rücksicht, die sie sonst nahm, und vielleicht seit vielen Jahren zum ersten Male gab sich die alte Frau einer Stimmung hin, die nicht mehr in ihrem Innersten ihre geheimnisvolle Werkstätte hatte, sondern laut und vernehmlich über ihre Lippen trat.

»Ich will auch einmal reden,« rief sie, »ich hab' lang' genug geschwiegen. Warum hat mein Mann (er soll mir's 343 verzeihen) nicht wenigstens für das Kind etwas auf die Seite gelegt? Hab' ich mir das bissele Leben nicht bitter genug verdienen müssen? Er aber (mit dem der Friede sei) hat sich ganz ruhig in sein Grab hineingelegt und hat ausgesorgt gehabt. Was war ihm daran gelegen? Wenn man ihn gefragt hat: ›Warum hast du nichts Rechtes eingekauft?‹ hat er gelacht. Einmal hat er sogar – man sollt' gar nicht denken, auf was für Sachen er gefallen ist – einmal hat er gar Bücher mit sich nach Hause gebracht von einem alten Geistlichen aus dem Dorfe. – ›Mann,‹ hab' ich geschrien, ›was sollen wir mit alten Büchern anfangen, wer soll die kaufen?‹ Da hat er gelacht, ich hör's noch jetzt. ›Alte Bücher sind auch zu etwas gut,‹ hat er gesagt, ›wozu möchte man sie denn alt werden lassen? Je älter, je besser. Die Bücher läßt man liegen, in einiger Zeit sind sie sechsmal so viel wert.‹ Ich hab' dazu geschwiegen, mein Herz war zu voll. Die Bücher liegen dort noch im Kasten, ich glaub', nicht einmal die Mäuse haben sie angerührt. Das aber waren seine Geschäfte . . . er soll's mir noch heut' verzeihen, denn sonst hat er ein Herz gehabt wie lauter Gold!«

Eine geraume Weile, nachdem die alte Frau so gesprochen, war es um sie herum wie ein Schneegestöber; die weißen Flocken wirbelten wild und ausgelassen auf und nieder, sie aber schien heute kein Auge für dieses gefährliche Spiel zu haben. Wie hätte sie auch einigen aufrührerischen Federchen ihre Aufmerksamkeit zuwenden sollen, da sie zum ersten Male vielleicht nach dem Tode ihres Mannes über die Geschichte ihres Daseins sich selbst Rechenschaft ablegen durfte, und zwar mit nicht geschlossenen Lippen?

»Mutter,« tönte es aus dem merkwürdigen Winkel.

»Was begehrst du, Sali, mein Kind?«

»Weißt du, wem du mit den Büchern einen großen Gefallen erweisen könntest? Ich kenne einen.«

Noch bevor die Federschleißerin fragen konnte, wieso 344 Sali einen Käufer für die Bücher gefunden habe, klopfte es mit ziemlicher Heftigkeit an der Stubentür.

»Einziger Gott!« kreischte es in dem merkwürdigen Winkel auf.

»Herein!« rief die Federschleißerin, durch Salis Schrei nicht wenig erschreckt.

»Herr Arnsteiner!« schrie sie selbst mitten durch das Schneewehen ihrer vom Luftzug, der durch den Eintritt des Lehrers entstanden war, wieder wild gewordenen Federn.

»Nicht wahr,« rief der Lehrer mit außerordentlicher Lebhaftigkeit, »Sie sind erstaunt, mich so spät bei Ihnen eintreten zu sehen?«

Die Federschleißerin hatte die Hände vor sich hingelegt, sie starrte den Lehrer nur an.

»Um Gottes willen, ist etwas vorgefallen?« brachte sie mühsam heraus.

»Vorgefallen?« rief der Lehrer mit lustigem Lachen. »O ja. Ein Mensch hat sein Leben wiedergefunden, und darüber freut er sich.«

Die Federschleißerin hatte zu viel Ehrfurcht vor Julius Arnsteiner als Lehrer und Mensch, um nur einen Augenblick daran zu zweifeln, daß diese ungewöhnliche Redeweise ganz anderswo zu suchen sei, als im Munde des Lehrers. Aber sie sah etwas wie ein Wirtshaus, woraus Gläsergeklirr und heisere Bierstimmen klangen, vor ihren Augen, und so senkte sie diese beschämt zu Boden.

»Nun, Frau Channe,« rief Arnsteiner, »wie sagt man zu einem Menschen, der sein Leben wiedergefunden, oder mit einem Worte, der ein großes Glück gemacht hat, z. B. von einer schweren Krankheit genesen ist?«

»Gut Glück,« sagte die Federschleißerin zögernd.

»Ich danke Ihnen, Frau Channe,« erwiderte der Lehrer mit einem Male höchst feierlich, »ich nehme es als ein gutes Zeichen, daß dieser Wunsch mir zuerst von Ihnen entgegenkommt.«

345 Bisher hatte Sali, die ihren wunderbaren Winkel sogleich beim Eintritte des Lehrers verlassen, den Mund nicht geöffnet; bleich, mit weitaufgerissenen Augen stand sie da und vernahm die sonderbare Unterredung, deren geheimen Sinn nur sie allein richtig zu deuten verstand.

»Und was wünschest du mir, Sali?« wandte sich der Lehrer plötzlich zu dem Mädchen; ein vielsagendes Lächeln schwebte dabei um seinen Mund.

»Gut Glück!« antwortete das Mädchen fröstelnd.

»Sonderbar!« murmelte Arnsteiner halb unvernehmbar den beiden Frauen vor sich hin, indem er über Salis Wesen einen prüfenden Blick warf, der eine geraume Weile dauerte. »Sonderbar, wie der Mensch nur so mit Blindheit geschlagen sein kann . . . nach einer Distel zu greifen, während ihm in seiner nächsten Nachbarschaft eine Rose entgegenblüht.«

Von dem Mädchen aber wandte sich der Lehrer wieder zur Mutter; die Federschleißerin sah mit immer mehr wachsendem Erstaunen dem Beginnen des Lehrers zu. Was waren das für Reden!

»Jetzt frage ich Sie, Frau Channe, noch um eines, das ich früher wissen muß,« sagte er mit großer Feierlichkeit. »Nämlich! Frau Channe, möchten Sie einmal Stunden, Tage, Wochen und Jahre erleben – wo Sie keine Federn zu schleißen brauchten?«

Die Federschleißerin vermochte nur mit dem Kopfe zu nicken, es war weder ein Ja, noch ein Nein.

»Und möchten Sie nicht gerne in einem weich gepolsterten Lehnstuhle sitzen, rechts und links Polster und hinter dem Kopfe auch noch eines, und hätten Ihr gutes Essen und Trinken, und brauchten nicht zu warten, bis einer Ihnen einen Sack Federn ins Haus schickt, und am Sabbat könnten Sie in aller Behaglichkeit und Ruhe aus dem »deutschen Chumesch« (übersetzten Pentateuch) lesen?«

»Wenn ich versteh', was Sie da reden zu mir, Herr 346 Arnsteiner,« sagte sie tief aufatmend, »so will ich nicht Channe heißen.«

Arnsteiner weidete seine Augen zuerst mit Wollust an diesem Opfer seiner mitleidslosen Feierlichkeit, dann griff er in seine Rocktasche und holte einen breit gefalteten Brief hervor.

»Vielleicht verstehen Sie das besser,« sagte er, indem er den Brief auseinanderlegte und zum Tische näher trat. Er las:

»Herrn Julius Arnsteiner Wohlgeboren!

Die unterzeichnete Schulsektion unserer Gemeinde, zu der schon lange der Ruf Ihrer ausgezeichneten pädagogischen und sittlichen Eigenschaften gedrungen ist, erlaubt sich hiermit, Ihnen die an unserer Normalschule durch den Tod des Herrn Jeremias Fischel erledigte Oberlehrerstelle, womit ein Gehalt von 600 fl. B. V. nebst sonstigen Emolumenten verbunden ist, mit dem Bemerken anzutragen, daß, im Falle Sie im Besitze einer Familie wären, oder die Absicht hätten, sich eine solche erst zu gründen, die unterzeichnete Schulsektion es über sich nimmt, Ihnen eine geeignete Wohnung anzuweisen, die allen Ihren Bedürfnissen zu entsprechen unsere angelegentlichste Sorge wäre. Einer geneigten Antwort entgegensehend, und in der Hoffnung, daß Sie dem an Sie von uns ergangenen Rufe Folge leisten werden, zeichnet achtungsvoll

Die Schulsektion der Gemeinde M.

Dr. Nathan Lilienberg.
Vorstand.«
       

Ein minutenlanges Schweigen herrschte nach Vorlesung dieses Dokumentes in dem kleinen Kreise. Hie und da flatterte ein ruheloses Federchen um das Kerzenlicht und verbrannte mit leisem Knistern. Arnsteiner aber stand aufrecht, die Wangen gerötet, die Augen leuchtend von den Wirkungen eines verzeihlichen Triumphes.

»Verstehen Sie das jetzt, Frau Channe?« fragte er dann die alte Frau.

347 »Sie wollen fort von hier, Herr Arnsteiner?« rief die Federschleißerin, die aus dem Briefe der Schulsektion nichts anderes entnommen hatte.

»Aber haben Sie denn nicht gehört, mit wem ich fort soll?« rief der Lehrer seinerseits mit lachendem Ärger, »und daß ich mir eine Familie mitbringen soll?«

Die Federschleißerin schüttelte nur den Kopf; wohl ahnte sie etwas ganz Ungewöhnliches . . . wie ein Blitz fuhr es an ihrem inneren Auge vorüber, aber es verlöschte auch ebenso schnell.

Da endlich hatte der Lehrer Mitleid mit dem Zustande der so arg gequälten Frau; er wandte sich von ihr ab und richtete an Sali das Wort.

Das Mädchen stand noch immer auf derselben Stelle . . . man hätte glauben können, es sei über sie eine Art Verzückung gekommen.

»Verstehst du mich, Sali?« sagte der Lehrer so weich und empfindungswarm, wie es nur aus einem wahrhaftigen Herzen kommen kann.

Er hatte in diesem Augenblicke etwas unternommen, zu dem ihm all sein Leben der Mut und die Entschlossenheit einer kühnen Seele gefehlt hatte, er ergriff Salis Hand – und zitterte dabei nicht minder wie das Mädchen.

»Gott! Herr Arnsteiner!« rief die kleine Schülerin voll Scham und wollte ihre Hand aus des Lehrers Umfassung befreien.

Aber Arnsteiner gab es nicht zu, er hielt sie um so fester. »Da, vor deiner Mutter, frag' ich dich, Sali,« sagte er, »ob du entschlossen wärest, mir an den Ort meiner neuen Bestimmung – als mein liebes Weib zu folgen.«

Das gewichtige Wort war ausgesprochen – aber war es das Bewältigende dieser Frage oder ein anderes, was in diesem Augenblicke trennend zwischen die Antwort der Jungfrau und die Frage des Mannes treten mußte . . . mit einer 348 blitzschnellen Bewegung hatte sie ihre Hand befreit und sich umgewandt gerade gegen jenen merkwürdigen Winkel zu, der so tief in die Geheimnisse ihrer träumenden Seele eingeweiht war! In den Gesichtszügen des Lehrers zeigte sich schmerzliche Überraschung.

»Du wendest dich von mir ab, Sali,« rief er, »du verschmähst mich? O, wohl habe ich das verdient, kein besseres Schicksal darf mir zuteil werden! Aber willst du einem Menschen zürnen, der, von einer schweren Krankheit befangen, nicht wußte, was er tat oder was er redete? Du allein, Sali, unter allen Menschen auf dem Erdenrund wirst den Namen und die Natur der Krankheit wissen, an der ich litt. Ich sage dir aber, jetzt bin ich gesund wie ein Fisch im Wasser, jetzt kann mir keine ›Sidonia Winterfeld‹ etwas anhaben! Ich fühle mich stark genug, es mit einer Welt voller Sidonias aufzunehmen und dennoch die Frage an dich zu richten: Sali, willst du als mein liebes treues Weib mit mir in die Fremde ziehen?«

Unbeweglich blieb die kleine Schülerin Arnsteiners. Nur ein leises Schluchzen verriet, daß die Worte des Lehrers eine empfindliche Stelle getroffen hatten. Ob aber zu seinem Vorteil?

»Ich weiß, Sali,« rief der Lehrer, der die Anwesenheit der alten Frau ganz vergessen zu haben schien, »ich weiß, was dich beleidigt und dir diese Tränen entlockt. Dich verdrießt die unwürdige Rolle, die ich dich in meiner Narretei habe spielen lassen. Großer Gott! Wo waren meine Augen und Ohren? Mit welcher Blind- und Taubheit war ich geschlagen? Dir habe ich mich anvertraut, dich hatte ich dazu ausersehen, der Bote meiner Torheiten zu sein! Und du bist gegangen und hast keinen Anstand genommen, mir helfen zu wollen . . . in einer Sache helfen zu wollen, deren bodenlose Nichtigkeit mir erst jetzt ganz klar ist? Und nachdem das alles geschehen ist, nachdem ich 349 dich so beleidigt und gekränkt habe, komme ich und frage dich: Sali, willst du mein Weib werden?«

Jetzt wurde das Schluchzen des Mädchens erst recht vernehmbar, aber sie verharrte dennoch in der abgewandten Stellung.

»Sali,« rief der Lehrer immer eindringlicher, »urteile doch milde über einen Menschen, der die Strafe für seine Narretei bitter abgebüßt hat. Dir kann ich es sagen und sonst keiner auf der Erde; ich bin auf unerhörte Weise beschimpft und verspottet worden . . . In Gegenwart ihres Vaters und ihres Bräutigams hat sich Sidonia Winterfeld über mich lustig gemacht.«

»Lebendiger Gott!« tönte es schmerzlich beklommen über des Mädchens Lippen.

»Und wiewohl ich ihnen allen eine Lektion erteilt habe,« fuhr der Lehrer mit Ungestüm fort, »an die sie Zeit ihres Lebens denken werden; so danke ich ihnen doch im Herzen für die Lehre, die ich von ihnen empfangen habe. Hochmut war mir zu Kopf gestiegen, durch Hochmut bin ich wieder auf den rechten Weg geleitet worden. Dieser rechte Weg führte mich zu dir, er ist der des Heils und Segens. Auf dem Gange hierher ist es wie lauter Licht und Feuer vor mir hergegangen, daß ich nur bei meiner Sali das zu finden vermag, was ich schon so lange unter den verschiedenen Irrtümern bei anderen gesucht hatte: ein lauteres Gemüt, eine treue fromme Seele!«

Arnsteiner hielt inne, sein Herz hatte sich seines vollen Inhaltes entladen, und wiewohl er noch das wenigste ausgesprochen zu haben glaubte, fand sein Mund doch keinen Laut mehr!

Da wandte sich Sali leise um, und ein von Tränen überströmtes, aber von einem verschämt holdseligen Lächeln überstrahltes Antlitz zeigte sich den Blicken des entzückten Lehrers.

350 »Ich muß mich ja schämen, Herr Arnsteiner,« lispelte die kleine Schülerin, »daß Sie mich –«

»Was?« rief der Lehrer atemlos erschrocken.

»Daß ich, die nichts kann und erst das große ›S‹ angefangen hat, auf einmal . . .«

Arnsteiner ließ sie nicht ausreden.

»O Sali,« rief er im Tone wahrhafter Begeisterung, »Gott ist mein Zeuge, daß ich dich gerade so und nicht anders verlange, wie du bist. Und müßtest du erst beim ›A‹ anfangen, und wüßtest weniger als ein dreijähriges Kind, ich spräche nicht anders, als: Sali, gib mir dein goldig Herz und werde mein Weib!«

»Mutter!« rief die kleine Sali, die nicht länger dem Strome ihrer Empfindungen gebieten konnte, »Mutter . . . bist du's zufrieden?«

»Sali, mein Kind, du kannst noch fragen? Ich stehe dir für ihn, du bekommst den, den ich mir immer gewünscht habe, Gott ist mein Zeuge!« rief die Federschleißerin, die nun schon lange über den Zustand des Lehrers ins klare gekommen war.

Da legte die kleine Sali, errötend wie der junge Tag, ihre Hand in die dargereichte des Lehrers und mit einem Tone, der aus den Tiefen einer jungfräulichen Seele kam, sagte sie:

»Ich habe mir auch nichts Besseres gewünscht. Da haben Sie mich, Herr Arnsteiner!«

Und Julius Arnsteiner zog nicht nur die Hand an sich, sondern das schöne glühende Mädchen in seine Arme, und es dauerte eine geraume Weile, bis er das eben gefundene Glück seiner Zukunft wieder losließ! . . .

Mitternacht war gekommen, da saßen die drei noch immer in traulichen Gesprächen und dachten an nichts, als was in unmittelbarster Verbindung mit ihrem Glücke stand. In jenen wunderbaren Winkel hatte sich Sali wieder 351 geflüchtet, nicht um dort zu träumen, sondern das längst Geträumte in lebendiger Wirklichkeit immer aufs neue anzublicken und zu bewundern; denn Julius Arnsteiner saß neben ihr. Viel Mühe und Beredsamkeit hatte es ihm gekostet, bis er die holde Mädchenhaftigkeit seiner Braut dahin gebracht, ihn nicht mehr mit dem respektvollen »Lehrer« oder mit dem zeremoniösen »Arnsteiner«, sondern mit »Julius« anzureden –; aber als dieses Wort zum ersten Male über die Lippen des Mädchens kam, da war es wirklich, als sei von einer verborgenen Quelle der Stein, der sie deckt, hinweggeräumt worden. Die kleine Sali wurde geschwätzig und erzählte außer Reihe und Ordnung, was sie in diesem Winkel alles zusammengebaut, genäht, gefegt und gereiniget habe, und Arnsteiner dagegen kam immer wieder darauf zurück, daß er eigentlich statt Sidonia Winterfeld stets Sali gemeint habe, und zählte ihr für diese Behauptung eine Unmasse von Beweisgründen auf, von denen jeder das Gute hatte, daß er nicht widerlegt zu werden brauchte, und endlich stimmten beide darin zusammen, daß es so die »Schickung« mit sich gebracht, und es besser sei, gar nicht darüber nachzudenken.

Auch über den ehrenvollen Antrag der Schulsektion, der ihn zum Oberlehrer berief, gab Arnsteiner genügende Aufklärungen. Er hatte den Brief schon vor einigen Tagen erhalten, aber in der Gefangennahme seiner ganzen Seele von der unglückseligen Torheit, der er soeben entronnen – dieses Schreiben ganz vergessen. Erst auf dem Heimweg von jenem Orte der Zusammenkunft sei es ihm eingefallen: nun habe er etwas, um vor Sali hinzutreten und zwar nicht mit leeren Händen!

»Alles ist eine Schickung von Gott!« rief die Federschleißerin dazwischen, die bis dahin in die Unterredungen des Paares durch kein lautes Wort hineingegriffen hatte.

»Alles ist eine Schickung von Gott,« wiederholte sie noch einmal, da ihr die beiden nicht sogleich antworteten, 352 »vielleicht ist's auch so mit den Büchern von dem guten Maier (mit dem der Friede sei). Jetzt kommen sie doch in die Hände von einem, der sich drauf versteht. Und ich Närrin hab' mich unterstanden, vorhin darüber eine Klage anzuheben.«

Jetzt erst horchte Arnsteiner auf.

»Was für Bücher sollen das sein?« fragte er hastig.

»Gib sie aus dem Kasten heraus, Sali,« sagte die Federschleißerin, »du weißt, sie liegen in der untersten Lade ganz hinten versteckt.«

Sali sprang aus ihrem Winkel auf, und nach einigem Suchen legte sie vier alte in Schweinsleder gebundene Folianten auf den Tisch. Kaum war ihrer der Lehrer ansichtig geworden, als er blitzenden Auges aufsprang und an den Tisch trat. Er schlug das Titelblatt des einen Bandes auf, sogleich schrie er:

»Großer Gott, wie kommen die Bücher hierher?«

»Die hat mein Mann Maier (mit dem der Friede sei) einmal vor vielen Jahren einem alten Geistlichen abgekauft,« antwortete die Federschleißerin.

»Sali, da komm her und lies, was da steht,« rief er in großer Aufregung, indem er auf den Titel des Buches mit den Fingern deutete.

An ihn geschmiegt las Sali:

»Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart von Johann Christoph Adelung.«

»Begreifst du, Sali?« fragte der Lehrer fast atemlos.

»Ist das nicht das Buch,« sagte Sali nach einer Weile Erinnerns, indem sie den Lehrer forschend ansah, »ist das nicht das Buch, das du dir so sehr gewünscht hast, Julius?«

»Ja,« rief der Lehrer mit ehrfürchtiger Feierlichkeit, »es ist der große Adelung, den du da vor dir siehst! die große Ausgabe des gewaltigen Adelung.«

Und den einen Arm um des Mädchens Hals schlingend, 353 hob er mit der freien Hand den dicken Quartband in die Höhe und jubelte laut: »Nun hat mein Herz alles, was es begehrt hat. Ich besitze eine Anstellung, meine kleine Sali und – das hochdeutsche Wörterbuch des großen Johann Christoph Adelung.«

* * *

Vor kurzem erschien in einer böhmischen Kreisstadt, deren Druckwerke gerade nicht auf dem Weltmarkte eine Rolle spielen, ein kleines Büchlein unter dem Titel: »Das deutsche Zeitwort nach seiner schwachen und starken Konjugation. Ein analytisch-kritischer Baustein zum deutschen Sprachgebäude von Julius Arnsteiner, Oberlehrer an der Schule zu M.« Gewidmet ist dieses Büchlein »Sr. Wohlgeboren, dem Freunde der leidenden Menschheit, dem glühenden Beförderer alles Schönen und Guten in unserem Volk, seinem hochverehrten, mit freudigem Stolze Freund genannten Herrn Dr. Nathan Lilienberg, Vorstand der Schulsektion bei der Kultusgemeinde in M.«

Für unseren Freund haben sich also die drei Dinge, die er in so unvermuteter Weise gefunden, glänzend bewährt. In seiner Anstellung hochgeachtet und nach seinem wahrhaften Werte geschätzt, fühlte er sich zu Hause von treuer Liebe gehegt und gepflegt! Eine Frucht dieser Stimmung, zu welcher der sichere Besitz des großen Adelung auch sein Scherflein hinzugibt, mag jener »analytisch-kritische Baustein« zum gewaltigen Prachtbau unserer Sprache sein! Die gelehrten Baumeister werden diesen Stein, wenn er auch nicht bestimmt ist, die Gewölbkuppel zu tragen, gewiß nicht verschmähen. Noch ein viertes, fünftes und sechstes ist im Laufe der Jahre hinzugekommen, für welches die alte Federschleißerin ihre frühere Tätigkeit wieder aufgenommen hat! Sie behauptet nämlich mit großer Entschiedenheit, nur darum sehen 354 die Sprößlinge des Herrn Arnsteiner (sie spricht ihn nie anders als so an, denn sie hat die Ehrfurcht vor ihm bewahrt) so frisch und gesund aus, weil sie einen guten Schlaf hätten, und dieser gute Schlaf rühre von . . . den Federn her, die ihnen die »Babe« für ihre Bettlein bereitet.

Sonderbar! Julius Arnsteiner hat es nie unternommen, an der stehengebliebenen Bildung seiner Frau weiter fort zu bauen; nicht einmal zu einem kleinen Versuche hat er es gebracht. Dennoch behauptete er schon mehrmals zu seinem Freunde Dr. Lilienberg, dem Schulsektionsvorstande, seine Frau wisse im kleinen Finger mehr als hundert andere, die er selbst unterrichtet, sie besitze den »Instinkt der Bildung«.

Er hat darum auch an sein einstiges Versprechen vergessen, Sali in die Geheimnisse der »griechischen Mythologie« einzuweihen. Was gingen ihn, was sie die vielen fremden Götter an? Für sie wie für ihn gab es doch nur den einen Gott! Sein Name schwebt unausgesprochen auf ihren Lippen!


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