Leopold Kompert
Eisik's Brille
Leopold Kompert

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Da kam mein Vater einmal von einer Geschäftsreise mitten in der Woche zurück; denn gewöhnlich geschah dieß am Freitag. Sein Gesicht war blaß und die Augen tief eingesunken. Die Mutter schrie laut auf, als sie seiner ansichtig wurde; es hat ihr gleich nichts Gutes geahnt. Doch auf alle Fragen die sie an ihn richtete, antwortete der Vater nicht, er sperrte sich in seine Schreibstube ein und durch das Schlüsselloch konnten wir bemerken, daß er schreibe. Gegen Abend rief er die Mutter zu sich; nach einer schrecklich langen Stunde kam sie heraus, mit verweinten Augen, todtblaß im Gesicht. Auch sie wollte mir nicht sagen, was vorgehe, und nach Allem zu schließen, mußte etwas Schreckliches vorgegangen sein. In derselben Nacht fuhr der Vater wieder fort, er sagte nicht wohin. Volle zehn Tage blieb er aus; am Freitag kam er wieder. Aber sein Aussehen war dasselbe traurige wie das erste Mal, und wie ihn die Mutter fragte, was er ausgerichtet, schüttelte er mit dem Kopfe. Wir verlebten einen Sabbath, wie ihn mein größter Feind nicht erleben soll. Und bei allem dem habe ich nicht gewußt, was denn vorgieng.

Sabbat zu Nacht, nach dem Nachtmal, sagte mein Vater mit einem Male zu mir:

›Eisik, ich hab' mit Dir etwas zu reden, komm' auf meine Stube.‹

Zitternd und bange folgte ich ihm.

›Eisik‹, sagte mein Vater zu mir, als wir allein in seiner Stube waren. ›Du hast vielleicht bis jetzt gemeint, ich bin ein reicher Mann.‹

›Bist Du's nicht?‹ sagte ich auf den Tod erschrocken.

›Nein‹, sagte der Vater mit gebrochener Stimme, ›ich bin mehr als arm geworden. Ich kann nicht einmal zahlen.‹

Ich habe nur ein ›Schmah Jisroel‹ ausrufen können, die Sinne sind mir fast vergangen. Mein Vater hatte Mitleid mit mir.

›Was kannst Du dafür‹, sagte er, ›daß Du keinen Kopf fürs Geschäft hast?‹

Das Wort hat mir erst recht durchs Herz geschnitten; ich fing an laut zu weinen. Nun erzählte mir der Vater, daß er schon seit einigen Jahren einen Rückgang im Geschäfte verspüre, der Mutter und mir habe er es lange verschwiegen, denn ihm scheine, mir wäre meine Brille viel lieber als das Geschäft, und weil er das bemerkt, habe er die ganze Sache in sich hineingegessen. Aber das Unglück wachse ihm über den Kopf, länger könne es nicht verschwiegen werden. Das Alles aus dem Munde eines Vaters zu hören und sich dabei sagen müssen: Es geht Dich an! Ich hab' damals meine Sünden abgebüßt, aber eingesehen habe ich sie doch nicht.

›Meine Brill' soll also Schuld sein am Unglück?‹ fragte ich ein über das andere Mal.

›Ja‹, sagte der Vater, ›denn daß Du mich nicht verstehst, daran ist eben Deine Brille schuld.‹

Da habe ich geschwiegen, denn wenn das Herz von Unrecht sich gekränkt meint, verschließt es sich. Der Vater aber erzählte nun weiter, wie es mit ihm stehe. Der ›Bankrott‹ war so gut wie fertig. In den zehn Tagen, die er verreist war, hatte der Vater halb Böhmen durchzogen und überall die Gläubiger aufgesucht, um sich mit ihnen zu vergleichen. Die meisten hatten sich mit ihm verglichen, nur ein einziger, und dem wir das meiste schuldig waren, Rebb Joel Bidschof in Kollin hatte es rund abgeschlagen. Der hat den Vater wie einen Dieb behandelt, als er ihm mit dem Vergleich kam, und hat gedroht, wenn er nicht sein ganzes Geld bis auf einen Groschen bekäme, wollt' er ihn ins ›Criminal‹ bringen. So etwas hat man meinem Vater sagen sollen!

›Und ist gar keine Hilfe?‹ frug ich ihn jetzt.

›Gar keine‹, antwortete er traurig ›Joel Bidschof ist zu hart, der hat ein Herz wie ein Stück Eisen.‹

›Vielleicht schickst Du mich zu ihm!‹ sag' ich plötzlich, als wäre mir eine Eingebung von Gott gekommen.

›Dich‹, ruft mein Vater und lacht spöttisch, ›Dich mit Deiner Brille!‹

Ich weiß nicht, was mir in diesem Augenblicke die Kraft gegeben hat, diesen Spott zu überhören. Ich sage wieder:

›Schick mich nur, Vater, schick mich.‹

Er aber hat immer wieder mit der Brille angefangen, Gott der Lebendige weiß, wie ich das ertragen habe. Endlich nachdem ich wieder darauf zurückkomme, daß er mich schicken solle, sagt er:

›Meinetwegen, geh, Eisik! Ausrichten wirst Du so nichts. Das sag' ich Dir aber: Zieh' nur vor allem deine Brille aus.‹

Am andern Morgen, in aller Frühe, bin ich mit einer besonderen ›Gelegenheit‹ fort nach Kollin. Die Mutter weinte, als ich von ihr Abschied nahm, der Vater aber, halb traurig, halb lachend, meint noch zu guter Letzt:

›Es ist nur gut, daß wir schön Wetter haben, damit Du Dich doch ein Bissele wenigstens unterhältst. Denn ausrichten wirst Du ja doch nichts. Ich hab' nichts ausgerichtet, willst Du's?‹

Die Brille hab' ich natürlich aufbehalten; es muß, wenn ich darüber nachdenke, doch aus Trotz gewesen sein, wegen der vom Vater erlittenen Kränkung. In solcher Gemüthsverfassung bin ich fort.

Nach Kollin hat man in jener Zeit beinahe zwei Tage gebraucht, die man jetzt in weniger als einem Tage zurücklegt. Ich habe also Zeit gehabt, darüber nachzudenken, wie ich mit Rebb Joel Bidschof reden wollte. Merkwürdigerweise ist mir auch nicht die geringste Furcht angekommen. ›Ist der Joel Bidschof ein Minister oder Kaiser, daß ich mit ihm nicht sollt' reden dürfen? und bin ich nicht auch Rebb Anschel Maier's Sohn?‹ hab ich oft zu mir selbst gesagt. Ich habe mir also vorgenommen, mir von dem Manne nichts gefallen zu lassen, er sollte sehen, daß ich kein Jüngel mehr sei, und wenn er mit mir aufbegehrte, so wollte ich auch mit ihm aufbegehren. Mit solchen und noch andern ähnlichen Vorsätzen bin ich nach Kollin gekommen; es war gerade Mittag. ich, nicht faul, und entschlossen, lasse mir gleich Rebb Joel Bidschofs Haus zeigen, und ohne daß ich etwas gegessen oder getrunken hätte, gehe ich hin. Das Haus ist nicht weit von dem Wirthshause gelegen, wo ich abgestiegen war. Wie ich davor gestanden bin, hat mir doch das Herz gewaltig gepocht; erst jetzt ist mir recht eingefallen, wie viel von dem Nichtgelingen meines Besuches abhing. Das hat aber nur eine kleine Minute gedauert, ich hab' in mir Anschel Maier's Sohn gespürt, und hab' mir die Brille zurecht gerückt.

›Ist Rebb Joel Bidschof zu Hause‹, frag' ich ganz keck ein Mädchen, welches ich im Vorhaus treffe.

›Ja‹, sagte sie, ›gehen Sie nur hinein, er ist ganz allein in seiner Stube.‹ Das war mir nicht recht, denn mit Rebb Joel Bidschof hätte ich gern vor der ganzen Welt gesprochen, um ihm zu beweisen, wer ich und wer er sei. Indessen da dies nicht anging, klopf' ich beherzt an die Thüre und trete ein.

Im ersten Augenblick habe ich in der Stube kein lebendes Wesen bemerkt. Auf einmal höre ich aus einem Winkel eine dünne Stimme sagen: ›Gott's willkumm.‹ Ich sehe hin, woher die Stimme gekommen ist, und erblickte ein kleines Männchen, mit einem Sammtkäppchen auf dem Kopfe, vor einem großmächtigen Schreibtisch sitzen und mit Geldzählen beschäftigt.

›Bin ich recht bei Rebb Joel Bidschof?‹ frag' ich ganz beherzt.

›Ja‹, ruft die dünne Stimme Rebb Joels, und dreht sich nicht einmal nach mir um, sondern fährt im Geldzählen fort. Eine Weile darauf sagt er:

›Wer bist Du? und was willst Du?‹

Dieses ›Du‹ hat mich gewaltig verdrossen. Was hat Joel Bidschof mit mir, den er nicht einmal kennt, ›Du‹ zu reden? Darum Antwort' ich mit einer Keckheit ohne Gleichen:

›Ich bin Rebb Anschel Maiers Sohn, und bin gekommen, um mit Ihnen zu sprechen.‹

›Bringst Du Geld mit?‹ fragt Rebb Joel Bidschof mit seiner spitzigen Stimme.

›Nein!‹ sagte ich darauf. Da schiebt mein Rebb Joel den Stuhl, worauf er sitzt, mit einer Kraft zurück, wie ich sie dem kleinen ›Krupp‹ nicht zugetraut hätte, und mit einem Male springt er knapp an mich hin. Jetzt erst habe ich ihn von Angesicht zu Angesicht gesehen: so klein und dünn er war, hat er doch ein Gesicht gehabt, wie ein Wolf; ein Paar Augen haben darin gefunkelt unter buschigen Augenbrauen, wie von einer Katze in der Nacht; man hat sich ordentlich davor fürchten müssen. Mit diesen Augen sieht mich der kleine Joel Bidschof vom Kopf bis zu Füssen an, als wollt er mich von innen und von außen wie einen Sack Wolle mustern und sagt dann mit seiner Fistelstimme:

›Du bringst also kein Geld mit, Jüngel?‹

›Nein‹, antworte ich noch einmal und gar nicht keck ›aber der Vater will sich mit Ihnen vergleichen.‹

Da wird der kleine Krupp Feuer und Flammen, sein Gesicht roth und die Augen speien ordentlich ein grünes Gift auf mich. Dann hub er an:

›Und Dich hat Dein Vater zu mir geschickt, um sich mit mir zu vergleichen, mit Joel Bidschof? Dich keckes Jüngel mit der Brill' auf der Nas', schickt der Schnorrer zu mir, und meint, er wird was ausrichten? Hat er gemeint, ich bin selbst so ein Schnorrer, wie er? Einer, der mich fußfällig bitten sollt', schickt mir so ein grünes Jüngelchen mit einer Brill' auf der Nase? Jetzt mach', daß Du fortkommst, und sag' deinem Vater: vom Vergleich ist keine Rede! Ins Criminal muß er, und das hat Joel Bidschof gesagt, der noch niemals sein Wort gebrochen hat.‹

Gott der Lebendige weiß es, wie ich aus der Stube und von dem grimmigen Wolf fortgekommen bin, ich weiß es noch heute zu Tage nicht. Es hat mich aber eine solch Furcht vor den Augen Joel Bidschofs gepackt, ein solches Zittern und Zagen, daß ich zur Thür draußen war, und zum Hause hinaus, noch ehe ich an eine Gegenrede hätte denken können. Und selbst wie ich wieder in der Gasse stand, wirkte die Furcht vor dem schrecklichen Joel in mir fort. Ich bin gelaufen, so weit als mich meine Füße tragen konnten; erst bei dem Wirthshause, in welchem ich eingekehrt war, machte ich Halt. Aber, lebendiger Gott! in welchem Zustande! Zerschlagen und zerbrochen von der großen Kränkung, die ich so eben erlebt, beschämt und gedemüthigt, wie ein Hund, den man mit dem Stocke verjagt hat, so war mein Zustand. Ich rannte auf meine Stube, ich glaubte noch immer die Stimme Rebb Joels hinter mir zu hören. Dort warf ich mich der Länge nach aufs Bett und vergrub mein Gesicht in den Kissen. Dann aber hat der Schmerz über die erlittene Kränkung in mir aufgeschrieen; wie ein kleines Kind habe ich angefangen zu weinen, und unaufhaltsam sind meine Thränen geflossen. Ich hab' mich hingewünscht, wo mich kein Menschenauge mehr gesehen hätte und hab' mein Leben verflucht. Mich so zu behandeln, mich, Anschel Maier's Sohn! Wenn das die gute Mutter gewußt hätte, was mir in dieser Stunde geschehen war! Meine Thränen sind immer stärker geflossen; ich habe geglaubt, mein Leben wird mit ihnen dahinfließen. Aber sie haben doch aufgehört, wie das immer geschieht, wenn sich das Herz zu sehr anstrengt. Dafür ist aber in mir ein anderes Gefühl aufgekommen; ich habe mich rächen wollen an Joel Bidschof. Da bin ich aufgesprungen und Gott hätte ihn schützen mögen, den hartherzigen Menschen, wenn ich ihn in diesem Augenblicke vor mir gehabt hätte. Einmal hatte ich sogar schon die Thüre aufgerissen, und habe zu Joel Bidschof eilen wollen.

Aber dabei ist es auch verblieben. Weiter als bis zur Thüre bin ich nicht gekommen, und daß ich es nur geradezu heraussage: ich habe mich gefürchtet!

Dann habe ich mich wieder aufs Bett geworfen, und habe geweint und gejammert, und mir das Leben verwünscht. Dazwischen bin ich auch aufgesprungen und habe gegen Joel Bidschof die Faust geballt. So habe ich es die halbe Nacht getrieben, bis ich gegen Mitternacht vor lauter Weinen und Klagen in einen tiefen Schlaf verfiel. Wie lange ich so geschlafen habe, weiß ich nicht; aber auf einmal ist es mir, als ob ich meines Vaters Stimme neben mir vernähme, und der spricht:

›Siehst Du, Eisik, das alles haben wir Deiner Brille zu verdanken. Daß Joel Bidschof sich nicht erweichen läßt, und daß ich ins Criminal komme, wer ist daran anders schuld, als Du und deine Brille?‹

Mit einem Schrei, den ich noch jetzt höre, bin ich aufgewacht; mein Körper war eiskalt, ein solch' Entsetzen hat mich erfaßt. Die Stimme des Vaters habe ich so deutlich vernommen, daß ich selbst, als ich aufgewacht und zur Besinnnung gekommen war, nicht glauben wollte, daß ich geträumt hatte. Aber es war nur meine eigene Stimme gewesen, die Stimme meiner eigenen Seele, die während meines Schlafes mit sich selbst gesprochen hatte. Ich konnte nicht mehr einschlafen. Die Worte meines Vaters, die eigentlich meine eigenen waren, tönten mir immer wieder in den Ohren. Ich mit meiner Brille war also wirklich schuld! Das ist mir jetzt nach und nach immer klarer und heller geworden. Und je deutlicher sich mir die ganze Narrethei mit der Brille vorstellte, desto mehr ist meine Verzweiflung gewachsen. Wenn ich in dieser Nacht nicht grau und weiß geworden bin, so ist das ein Wunder. Aber um zwanzig Jahre wenigstens bin ich älter geworden in dieser Nacht.

In der Stille dieser Verzweiflung, die kein Auge gesehen hat, als der heilige Gott im Himmel, bin ich zu einem neuen Leben erwacht. Ich hab' es gespürt, wie eine eigene Kraft durch meinen ganzen Kopf geflossen ist, wie es stoßweise vom Herzen zum Kopfe hinaufarbeitete. Dann bin ich ruhiger geworden. Etwas Merkwürdiges war mit mir vorgegangen. Eine Demuth war über mich gekommen, wie ich sie niemals gekannt hatte. Joel Bidschof hatte Recht, wenn er mich so behandelte. Was mußte ich, der junge unerfahrene Mensch, mit solcher Frechheit zu ihm kommen? Mit der Brille auf der Nase ihn bereden, daß er sich mit meinem Vater ausgleichen sollte? Aller Stolz und Narrethei war von mir gewichen; jede erlittene Kränkung hat in mir geschwiegen. Joel Bidschof hat an dir nur gethan, wie du es verdient hast, schrie ich immerfort. Und nicht ich war der Beleidigte und Gekränkte, sondern er! Da fragte ich mich: Was ist jetzt zu thun? und wie eine Gottesstimme ertönte es in mir: Thu' Buße und geh' Joel Bidschof um Verzeihung bitten!

Ja, abbitten! Wie der Gedanke einmal in mir sich gemeldet hatte, da ließ er auch nicht mehr von mir. Das Einzige, was mir schien, daß ich noch thun könnte, war, daß ich zu Joel Bidschof gieng und ihn, als den Beleidigten, um Verzeihung bat. So weit war es mit mir gekommen! Und wie ein Ertrinkender nach einem Strohhalm, so habe ich nach diesem einzigen Mittel gegriffen, um mir Recht zu verschaffen. Dabei hat mich eine Freude ergriffen, als sollte ich an etwas besonders Angenehmes gehen. Ich habe den Morgen kaum erwarten können; denn es stand fest in mir, Joel Bidschof abzubitten.

Wie neu erwacht, habe ich mich in aller Frühe, als es Tag geworden war, an Gott gewendet. So wie damals habe ich dann niemals mehr im Leben gebetet. Jedes Wort unserer heiligen Sprache ist mir besonders wichtig, und für meine Lage berechnet vorgekommen. Inzwischen war es heller Tage geworden, und ich mit dem ›Oren‹ fertig. Jetzt habe ich die Thüre nicht mehr aufgerissen; ich habe mich ja nicht mehr rächen wollen. Langsam und gefaßt, wie ein müder Mensch bin ich durch die Gassen gegangen. Die Brille hatte ich zu Hause gelassen!

›Ist Rebb Joel Bidschof zu Hause?‹ habe ich wieder gefragt. Er war eben aus ›Schul‹ zurückgekommen und man zeigte mir die Thüre zu seiner Stube. Da ist er wieder wie gestern, mit dem Rücken mir zugewendet, an seinem Schreibtische gesessen und hat Geld gezählt.

›Guten Morgen, Rebb Joel‹, sag' ich fast unhörbar. Er dreht sich nicht einmal um, und schreit nur mit seiner Fistelstimme:

›Den guten Morgen zurück.‹

Was ich jetzt weiter reden sollte, war mir in diesem Augenblicke ganz unbewußt. Ich weiß nur, daß ich dagestanden bin und kein Wort aus der Kehle herausgebracht habe; sie war mir wie zugeschnürt. Nach einer guten Weile ruft Joel, ohne sich umzuwenden:

›Wer bist Du, und was willst Du?‹

›Ich bin's, Rebb Joel‹, sage ich und ein Thränenfluß stürzt mir aus den Augen. Da dreht sich Joel Bidschof um und schreit:

›Bist Du nicht Anschel Maier's Sohn?‹

Ich konnte vor heftigem Weinen nicht antworten; er aber springt auf, gerade so wie gestern, und springt auf mich zu, als wollte er mir ein Leids anthun.

›Was willst Du wieder?‹ schreit er, ›habe ich Dir gestern nicht die Thür' gewiesen?‹

Aber ihm selbst vergeht jetzt jedes Wort; auf einmal hält er ein, wie wenn ihm die Stimme versagt hätte, und sieht mich wieder mit seinen stechenden Augen an. Da schlägt er die Hände über einander und ruft ganz erschrocken:

›Jüngel, bist Du wirklich Anschel Maier's Sohn? Um Gottes willen, wie siehst Du aus! Bist Du über Nacht im Grab gelegen?‹

Gott der Lebendige weiß, was in diesem Augenblicke mit Joel Bidschof vorgegangen ist; er war aber wie verändert. Ich konnte nur schluchzen; wenn ich reden wollte, erstickte mich fast der Krampf

›Bist Du krank, Jüngel?‹ ruft er dann und faßt mich bei der Hand. Da endlich bricht's aus mir mit großer Anstrengung heraus:

›Verzeihen Sie mir, Rebb Joel!‹ und kaum habe ich das Wort gesprochen, springt Joel Bidschof von mir zurück und starrt mich mit seinen Augen an. Die aber waren jetzt nicht mehr so funkelnd; etwas besonders Mildes hat daraus geblickt.

›Bist Du wirklich Anschel Maier's Sohn, der gestern bei mir gewesen ist? Ich erkenn Dich ja gar nicht mehr! Und die Brill' hast Du auch ausgezogen!‹

Joel Bidschof selbst konnte kaum reden, er mußte sich von mir abwenden. Nach einer guten Weile dreht er sich wieder zu mir um, und ein ganz anderer Mensch ist vor mir gestanden. Joel Bidschof hat Thränen im Auge gehabt. Da nimmt er mich wieder bei der Hand:

›Jüngel‹, sagte er weich, ›Du sollst sehen, daß ich nicht der hartherzige Mensch bin, für den Du mich wahrscheinlich gehalten und verflucht hast. Ich seh' Dir's an, mit Dir ist eine große Veränderung vorgegangen. Gestern als Du bei mir eingetreten bist mit deiner kecken Miene und mit der Brill' auf der Nas', da war ich ergrimmt gegen Dich und wärest Du vom Himmel gekommen, Du hättest bei mir nichts ausgerichtet. Heute aber erkenne ich Dich nicht mehr; Du bist demüthig geworden, mein lieb Jüngel, und hast deine Brille ausgezogen! Dafür sollst Du sehen, was es Joel Bidschof vermag! Nicht nur, daß ich von deinem Vater jeden Vergleich annehme, den er mir vorschlägt, sag' ihm auch, Joel Bidschof stellt ihm sein ganzes Vermögen zur Verfügung, damit er sich wieder aufhelfe, und wenn er Dich fragt: Wie so hat Joel Bidschof sich so schnell geändert, so sag' ihm, weil Du die Brill' ausgezogen hast!...‹

Was soll ich weiter verzählen?

Wie ich nach Hause gekommen bin? was mein Vater dazu gesagt hat? So etwas läßt sich nur erleben. Genug, Joel Bidschof hat treu und redlich sein Wort gehalten, der Vater hat sich wieder aufgeholfen, und ich bin ein tüchtiger Geschäftsmann geworden. Sie kennen mein gutes Weib, Gott soll mir sie noch lange erhalten. Sie ist das Mädchen, das mir das erste Mal die Thüre zu Rebb Joels Stube gezeigt hat. Sie ist Rebb Joel Bidschof's Tochter, mit dem der Friede sei!

Das Alles ist geschehen, weil ich meine Brille ausgezogen habe. Die Brille hab' ich noch; aber gebraucht hab' ich sie seit jener fürchterlichen Nacht nicht mehr. Von da an schreibt sich mein Spruch her. Sie werden ihn jetzt verstanden haben, Herr Prediger!«

Tief bewegt drückte der junge Mann meinem alten Rebb Eisik die Hand.

»Ich gebe Ihnen mein Wort, Rebb Eisik«, sagte er milde, »ich werde sie mir merken, diese Geschichte von Ihrer Brille.«


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