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Es war das wunderlichste Gasthaus, das ich in meinem Leben bewohnt hatte. Von der Weltabgeschiedenheit war sein Weg zur Weltoffenheit gegangen; ehemals ein Kloster, war es jetzt ein Hotel, und in den früheren Zellen der Mönche hausten für kurze Wochen die Fremden aus aller Welt. Es war also ganz verschieden von allen anderen Gasthäusern, weil es den ursprünglichen Klostercharakter in seinem Bau fast unverändert bewahrt hatte.

Dazu seine Lage, die so schön und so merkwürdig war. Auf einem steilen Felsen, der weit hineintrat ins Meer, stiegen seine leuchtend weißen Mauern hoch empor. Schon außen, von der Landstraße her, die sich mit scharfer Biegung unten um den Felsenfuß krümmte, klommen vielstufige, von bunten Petunien umblühte Treppen an den grauen, rauhen Steinen hinan, so daß der Eingang des Gasthauses bereits hoch über der weiten Meeresfläche schwebte. Drinnen aber, im ehemaligen Kloster, kamen andere, vielfach gebrochene, gewundene Treppen, und auf jeden von ihren Podesten mündeten braune Holztüren, die vielfach wieder den Zugang zu neuen, verborgenen Treppen bildeten. Überall wohnten Geheimnisse. Man fand einen dunklen, überwölbten Gang, wo man ein Zimmer vermutete; man fand ein Zimmer, wo man auf einen Balkon hinauszutreten dachte.

Die größte von allen Überraschungen aber wartete des Fremden, wenn ihn die Zugangstreppe plötzlich auf einen Kreuzgang von wunderbarem Reiz hinausführte. Auf kleinen, schlanken Säulen schwebten sarazenisch-normannisch überhöhte Spitzbogen und reihten sich aneinander zu feinem, zierlichem Steingewebe, das die vier Seiten des inneren, von gewölbten Hallen rings umzogenen Vierecks durchsichtig umschloß. Durch seine Maschen hindurch aber schaute man in den zum blühenden Garten umgewandelten Innenhof, über dem der offene Himmel als blaues Gewölbe ruhte. Die Sonne drang heiß hinein in den umschlossenen Raum und weckte hundertfaches Blumenleben. Zu Bäumen waren die Rosensträucher emporgewachsen, und aus ihren dichten Kronen schimmerte die Blütenfülle dunkel- und hellrot hervor. Goldorangen leuchteten daneben im tiefgrünen Laub; zarte, junge Weinranken bewegten sich leise hinter den regungslosen steinernen Bögen; auf den blanken Blättern immergrüner Sträucher lag ein aus lauter kleinen Sonnenflecken gewobenes Lichtnetz. Goldlack, Reseda, Levkoien erhellten mit ihren Blüten diesen seltsamen Klostergarten; Kunst und Natur umwoben ihn zusammen mit ihrem Duft. Gleich einem sanften Traum zog die Vergangenheit hier vorüber, und auch die Gegenwart wurde zur lieblichen Traumwelt.

Der Betrieb dieses Klosterhotels war absonderlich wie das Gebäude selbst. Es gab kaum einen gemieteten Dienstboten in ihm. In patriarchalischer Eintracht versorgte der Wirt mit einer ganzen Schar von Verwandten zusammen die Gäste. Seine Frau, seine beiden kleinen Töchter, seine Schwiegermutter blieben meist unsichtbar in den inneren Räumen des Hauses, aber mit ihm, dem Signore Domenico Castellino, bediente sein Vetter Gaetano Vannucci die Fremden bei den Mahlzeiten, ein anderer Vetter hauste drunten am Eingang des Hauses als Pförtner. Des Wirtes grauhaarige, wohl fünfundsechzigjährige Tante, die brave Margherita Castellino, sorgte für alle Zimmer und humpelte, schwer von Rheumatismus geplagt, mühsam, aber unermüdlich die vielen Treppen hinauf und hinunter.

Diese ganze Verwandtschaft schaffte getreulich für des Hauses Ordnung, für das Behagen der Gäste, für Trank und Speise.

Da war aber noch ein anderes Wesen, ein reizendes, junges Geschöpf, das ihnen Besseres gab als materielles Wohl. Elena Serra, des Wirtes einundzwanzigjährige Nichte, brachte den Sonnenschein in das alte Kloster. Mit ihrer Jugend, ihrer Anmut, ihrer schlanken Behendigkeit, ihrem Lachen und Singen war sie des Hauses verkörperter Frohsinn. Wir Fremden hatten für jeden vom Personal einen besonderen, bezeichnenden Namen erfunden, also natürlich auch für sie. Nur der Signor Domenico blieb für uns ohne Beinamen kurzweg der Padrone, die treffliche Margherita benannten wir unhöflicher Weise die Sibylle, den Pförtner den Zerberus, den Kellner Gaetano die Marionette.

Er war von gleicher Unveränderlichkeit im Äußeren wie jene Holzpuppen, und in seinem glatten Gesicht war nichts charakteristisch als die nach italienischer Art stark vorgewölbten Augäpfel und eine tiefe, senkrechte Kerbung im Kinn. Wir sagten ihm nach, er würde jeden Abend in einem Kleiderschrank aufgehängt, um am nächsten Morgen wieder herausgenommen zu werden und, von unsichtbaren Händen bewegt, mit immer gleicher Verbeugung und gleichem Lächeln sein » Buon giorno, Signori« so gänzlich unpersönlich zu murmeln, als wenn er mit einer Gesellschaft von anderen Holzpuppen spräche.

Für Elena Serra hatten wir eine weit hübschere Bezeichnung. Wir nannten sie die kleine Lazerte. Denn wenn jemals ein menschliches Wesen Ähnlichkeit mit jenen zierlichen, raschen, die Sonne liebenden und Sonne verkündenden Eidechsen hatte, die den warmen Süden so graziös verkörpern, war es dies junge, heitere, stets bewegliche Wesen. Und Elena liebte wirklich die Sonne, ganz abweichend von der sonstigen italienischen Art. Wenn der Himmel blau war – und er wölbt sich fast immer hoch und rein über Amalfi – dann konnte sie stundenlang auf der schönen, hochgelegenen Terrasse sitzen, die den Speisesaal ins Freie hinaus fortsetzte. Durch das noch lockere Netz der darüber hingezogenen Weinranken mit ihren jungen, weichen Blättern warf die Sonne goldene Flecken auf die bewegte, schlanke Gestalt. Von Blume zu Blume, von Pflanze zu Pflanze glitt sie lazertengleich mit liebevoller Hast, goß Wasser auf die Wurzeln, brach verdorrte Blätter, pflückte neue Blüten für die Mittagstafel. Und es war, als wenn Levkoien und Goldlack eifriger dufteten, sobald sie kam. Die hängenden Weinranken suchten ihr goldbraunes Haar zu berühren, und an den Seiten der langen Terrasse hoben die mächtigen Stauden von stilvollem Akanthus ihre hohen, grauroten Blütenkerzen straff empor wie Ritter, die mit gezogenen Schwertern der Schönheit huldigen.

Elena war eine Tochter der Schwester des Wirtes, die sich weit fort in die fernen Abruzzen hinein verheiratet hatte. Sie führte dort auch ein Gasthaus, das ihr vor einigen Jahren verstorbener Mann zu schöner Blüte gebracht hatte. Für die Landbewohner allein war es gegründet worden, wenn auch hin und wieder Fremde in jene schöne Bergeswelt kamen, und so hatte Frau Serra die einzige Tochter zum Bruder nach Amalfi geschickt, damit sie dort ein internationaleres Leben kennen lernte, womöglich auch ein wenig Kenntnis vom Englischen oder Deutschen erwürbe. Fürs Englische hatte die hübsche Wirtstochter denn auch bald an einer guten Freundin von mir, der Amerikanerin Emily Fraser, eine Lehrerin gefunden. Sie, die stets Gütige, Tätige, Hilfreiche, hatte sich auf eine leichte, flüchtige Frage hin gleich bereit erklärt, sich der kleinen Lazerte lehrend anzunehmen, und widmete sich der Aufgabe täglich eine Stunde lang mit Eifer und überraschendem Erfolg.

Ihr gutes Beispiel hatte mich zu gleicher Dienstfertigkeit angespornt, und ich gab Elena, wenn auch nicht ebenso regelmäßig, ab und zu ein wenig Unterricht im Deutschen. Gut war es dabei, daß ich nicht zwanzig Jahre jünger war. Des reizenden Geschöpfes helle, lustige Augen hätten es mir sonst unfehlbar angetan, der Lehrer hätte sich rettungslos in seine Schülerin verliebt.

Diese flüchtig hier skizzierten Menschen bildeten das Personal eines aufregenden und unheimlichen Dramas, das ich dort in Amalfi, teils als unbeteiligter Zuschauer, teils als unfreiwillig Mitwirkender durchlebte.

Doch nein – ich habe noch eine der Hauptpersonen vergessen. Es war ein junger Geometer aus Neapel, Umberto Locatelli mit Namen. Der schon seit längerer Zeit erörterte Plan, eine Trambahn von Sorrent über die Berge hinüber nach Amalfi und weiter nach Salerno zu bauen, um die noch immer weltferne Felsenküste mit all ihrer Schönheit für den großen Verkehr zu gewinnen, schien endlich feste Gestalt anzunehmen. Ein Oberingenieur war mit Vorarbeiten für den Bahnbau betraut worden, und er hatte sich Locatelli zur Hilfe bei den umständlichen Vermessungsarbeiten mitgebracht. In unserem Hotel wohnte allerdings keiner von den beiden Herren, sie hatten sich in der Stadt einquartiert. Aber der Geometer kam fast täglich zur Hauptmahlzeit in unseren Gasthof und aß dort mit uns am gemeinsamen Tisch. Ich hegte den leisen Verdacht, Elenas Augen wirkten dabei noch anziehender als des Hauses anerkannt gute Küche, was keineswegs ein Wunder gewesen wäre. Denn sie war wirklich an Schönheit und Anmut ein seltenes Wesen, hatte von ihrer Mutter einmal ein hübsches Vermögen zu erwarten und wurde demgemäß von verschiedenen jungen Männern umworben. Einer von ihnen war ein wohlhabender Weinbauer aus Positano. Von ihm und seinen Absichten erzählte mir oft die brave Sibylle; sie war aber diesem Nicola Guazzo gar nicht sonderlich gewogen. Und ich konnte das verstehen. Wenn er Sonntags nach Amalfi herüberkam und – wohl um Signor Domenico für sich zu gewinnen – ungeheuere Mengen von Trank und Speise vertilgte, während er vor Elena mit einer wehenden, feurig roten Krawatte prunkte, dann war er auch mir wenig sympathisch. In seinen Augen und in seinem Wesen war etwas Berechnetes, Lauerndes, das mir nicht gefiel.

Da war der Umberto Locatelli doch ein anderer Mensch, und ich freute mich daran, wie seine Blicke hell aufleuchteten, wenn Elena mit ihrer flinken Anmut während unserer Mahlzeit einmal hereinkam, um irgend einen Auftrag zu geben oder selbst auszuführen.

Ob auch Elena ein Interesse für ihn hatte, war mir anfänglich noch zweifelhaft, obwohl es nur natürlich gewesen wäre. Denn Locatelli war in seiner Art ein ebenso schönes Menschenexemplar wie sie selbst. Auch das alte Gesetz, daß Gegensätze sich anziehen, hätte hier einmal wieder bestätigt werden können. Umbertos Augen blickten so schwermütig und ernsthaft wie die von Elena heiter und lebensfroh. Selten sah man ihn lächeln, er sprach nur das Notwendige.

Bald erfuhr ich auch, woher dieser melancholische Hauch auf seinem Wesen kam, denn ich hatte Gelegenheit, mehrfach allein mit ihm zu verkehren. Ich war nämlich nicht nur zum Vergnügen in Amalfi, mein Beruf als Kunsthistoriker hatte mich dorthin geführt. Untersuchungen an dem schönen, hochaufgetreppten Dome der interessanten Stadt waren mein Ziel. Ich wollte genau feststellen, was an Resten von Pästum nach Amalfi verschleppt und am Dome dort wieder eingemauert worden war. Locatelli hatte mich bei Tisch davon sprechen hören, und er bot mir zu meiner angenehmen Überraschung seine Hilfe bei den dazu nötigen Messungen an, da sie ja gewissermaßen in sein Fach schlügen. Dankbar ging ich darauf ein, und er leistete mir, soweit seine ziemlich beschränkte Zeit es erlaubte, bei meiner Arbeit nutzbringend Gesellschaft.

In diesem engeren Zusammensein fand ich nach und nach heraus, daß hinter seinem stillen Wesen ein leidenschaftlicher Künstlergeist verborgen war. Seine Schwermut kam nur daher, weil er gezwungen worden war, aus einem geliebten Berufe zu scheiden. Als der Sohn anscheinend vermögender Eltern geboren, war er mit Sorgfalt auferzogen und gebildet worden. Er hatte die Studien für den ersehnten Architektenberuf in Rom beginnen dürfen; der plötzliche Tod seines Vaters aber, der mit finanziellem Ruin zusammenfiel, hatte seine Zukunftsträume vernichtet. Er mußte sich als einfacher Geometer sein Brot verdienen und seine notleidende Mutter von seinem Verdienst noch unterstützen. Aber eine tiefe, mir höchst sympathische Liebe für die Kunst war in seinem Herzen geblieben, und wenn er von ihr sprach, dann kam ein begeisterter, beinahe seherischer Glanz in seine Augen. Sie leuchteten schwarz aus dem gebräunten Gesicht hervor, in dessen Formen sich ein unausgetilgter Tropfen von Sarazenenblut ankündigte.

*

Wir hatten ein paar Wochen lang ein stilles Leben des Genusses und behaglicher Arbeit geführt, als unser Frieden auf merkwürdige Weise gestört wurde. Mit fröhlichem Lachen begann eine düstere Geschichte. Wir saßen – zwölf Personen ungefähr – an der abendlichen Tafel, zu der die spät einschlafende Sonne noch hereinsah, wobei wir über alle möglichen Dinge plauderten. Seit einigen Tagen war unser Kreis durch einen preußischen Major a. D. erweitert worden, der alljährlich nach Amalfi kam und sehr genau dort Bescheid wußte. Wir hörten von ihm manches Neue über die Stadt und ihre Geschichte, daneben auch ein wenig Personalklatsch und Anekdoten. Besonders hoch aber horchten wir auf, als er an diesem Abend fragte: »Wissen die Herrschaften denn auch schon, daß dies Kloster sein Hausgespenst hat?«

Wir verneinten lachend, und er fuhr fort: »Was ich darüber weiß, will ich gern vor Ihnen auskramen – nur darf Signor Domenico nichts davon erfahren. Er wird fuchsteufelswild, wenn man von dem Gespenst redet, weil er fürchtet, ihm könnten die Gäste durch die Lappen gehen, wenn sie von dem Zauber hören.«

Er schaute sich zugleich um, ob der Wirt nicht in der Nähe sei. Doch war die Vorsicht unbegründet. Vom Hausherrn war keine Spur zu sehen, und nur der Kellner Gaetano stand mit seiner marionettenhaften Ruhe teilnahmlos und still in einem Winkel.

So sprach der Major denn weiter, nachdem er sich als weinfreudiger Herr noch durch einen tüchtigen Schluck roten Weines gestärkt hatte. »Jawohl, die Sache hat ihre Richtigkeit. Soweit sich's wenigstens um die Behauptung der Leute hier handelt. Man braucht nur in irgendein anderes Hotel am Orte zu gehen, da wird einem die Geschichte brühwarm zum Kaffee serviert. Signor Domenico verdient hier in seinem trefflichen Haus nämlich einen hübschen Batzen Geld, was natürlich den guten Freunden und getreuen Nachbarn recht schmerzlich ist. Vielleicht haben sie sogar aus reiner Nächstenliebe den Geist erfunden; wenigstens weiß ich keinen Menschen, der ihn wirklich mit Augen gesehen hat.«

»Und wie sieht es aus, das Geist?« fragte Miß Fraser, deren hübsches, frisches Gesicht noch so jung unter schneeweißen Haaren hervorsah. Ganz rot war es in diesem Augenblick vor Spannung und Aufregung.

»Wie sich's für so 'n Kloster gehört. Wer sollte hier sonst umgehen, als ein toter Mönch? Einer von denen in weißen Kutten – ich glaube, Dominikaner sind es.«

» Si, si,« bejahte Locatelli, der – ebenso wie das Personal im Hotel – Deutsch ganz gut verstand, aber nur Italienisch redete; dabei warf er einen ernsthaften, etwas mißbilligenden Blick auf den Major.

»Na, jedenfalls paßt so 'n langes, weißes Gewand für ein Gespenst am besten. Darin kann es die Leute hübsch graulen machen. Und ein besseres Milieu für sein Umherspuken gibt es ja gar nicht, als dies Kloster mit seinen verzwickten Treppen und Gängen. Da hat es mehr Gelegenheit zum Verschwinden, als ein ehrliches Gespenst beanspruchen kann, wenn ihm einmal ein Skeptiker mit einem tüchtigen Knüppel auf den Leib rückt.«

»Aber weshalb geht es denn um? Weshalb darf der Mönch nicht ruhig in seinem Grabe schlafen?« Ich war nun auch gespannt geworden und wollte wissen, was alles man sich von diesem weißen Mönchsgespenst erzählte.

»Wahrscheinlich, weil er noch immer nach einem Grabe sucht. Er soll nämlich hier im Kloster wegen irgendeines Vergehens eingemauert worden sein. Man schildert ihn als ein ehrwürdiges und bejahrtes Gespenst mit grauem Haar und Bart.«

Miß Fraser tat noch ein paar Fragen über den Mönch, doch erfuhren wir weiter nichts Neues über ihn. Wir blieben, als das Essen vorüber war, noch mit unseren Zigarren eine Zeitlang auf der übergrünten Terrasse neben dem Speisesaal sitzen. Die Gespenstergeschichte klang in uns nach, und einer nach dem anderen gab zum besten, was er jemals von solch übernatürlichen Dingen gehört hatte. So blieben wir in einer gewissen Spannung, wobei geheimnisvolles Halblicht noch die Geisterstimmung erhöhte. Der Mond war heraufgekommen, das Meer tief unten hob und senkte sich in langen, bewegten, silbernen Linien, die Felsen waren von dem nächtlichen Glanz überströmt, und auf dem steinernen Pflaster der Terrasse lagen unregelmäßige Lichtflecken.

Es war ziemlich spät geworden, als ich aufbrach, um schlafen zu gehen. Mein Weg führte dabei durch den Kreuzgang und eine gewundene Steintreppe hinunter zu meinem im unteren Stockwerk ziemlich einsam gelegenen Zimmer. Oft schon war mir der phantastische Gegensatz aufgefallen, den der unerleuchtete, von Grün und Blüten erfüllte Hof zu den erhellten Gängen um ihn her bildete. Zwischen den feinen Säulen, unter den spitzen Bogen her strömte das Licht in die Finsternis, die Finsternis in das Licht. Es war ein Kämpfen von zwei feindlichen Gewalten, doch unterlag die Helle – wenigstens für den geblendeten Blick – sehr schnell der Finsternis des Gartenhofes, in die das Mondlicht nur ganz leichte Lichtschleier wob. Die hellsten Rosen schimmerten kaum sichtbar aus dem schwarz gewordenen Grün hervor, und ihr schwerer, heißer Duft allein sprach leise von Tagesglanz und Sonnenkraft. Die hängenden Weinranken aber schwebten hinter den Steinbogen wie dunkle, belebte Wesen hin und her, wenn der Nachtwind sie traf. Er war immer lebhaft hier auf der Höhe dieses Vorgebirges, und seine Stimme klang in wechselnden Lauten als Pfeifen, Rauschen, Stöhnen und Heulen durch die Hallen des Kreuzganges.

Nahe den feinen Steinarkaden befand sich auf der Seite meines Weges im Hofe drinnen ein alter Brunnen, dessen Mauerwerk hellrötlich übertüncht war. Neben seinem Rand erhoben sich in der gleichen Farbe zwei hohe Pfeiler zwischen dichtem Gesträuch, die früher einmal eine Welle für das Eimerseil getragen hatten. Jetzt war sie verschwunden, aber die gemauerten Pfeiler standen zwecklos noch aufrecht. In dem tiefen Zwielicht unter den von der Nacht geschwärzten Rosenbäumen glichen sie zwei hohen, hellen Gestalten, und hatten mich schon ein paarmal erschreckt, wenn ich in gedankenvollem Vorüberschreiten sie plötzlich vor mir auftauchen sah.

Dieses Gefühl wiederholte sich heute noch verstärkt. Ich mußte beim Anblick ihrer hellen, senkrechten Linien der weißen Mönchsgestalt gedenken, die hier umgehen sollte. Und ich fuhr zusammen, als plötzlich ein Geräusch von ihnen zu mir herüberklang.

Ich konnte die Dämmerung dort innen mit meinem Auge nur durchdringen, wenn ich an die Steinbrüstung unter den aufgereihten Säulen unmittelbar herantrat, um das Licht ganz im Rücken zu haben. Jetzt entwirrte sich mir allmählich die Finsternis, und ich erkannte zwei Gestalten, die zwischen den Pfeilern hinter dem Brunnen standen.

Es waren zwei dunkle Männerfiguren, die dort aufeinander einsprachen, aber mein Auge war noch zu sehr geblendet, um die Gesichter sogleich unterscheiden zu können. Eine der Stimmen, die gleichmäßig ruhig und gedämpft war, schien mir bekannt, aber ich erfuhr wieder einmal, wie wenig zuverlässig das Ohr allein ohne Hilfe des Gesichtes ist. Lauter und heftiger klang die zweite Stimme, die jetzt wieder sprach.

»Ich kann hierher kommen, wann ich will, ob Sonntags oder Alltags. Ich gebe dem Signor Domenico genug zu verdienen.«

»Gewiß, das ist richtig. Und niemand wird Euch das Recht bestreiten, wenn Ihr nur als Gast hierherkommt. Im Gegenteil, alle hier im Hause werden Euch willkommen heißen. Aber durch das, was Ihr verzehrt und bezahlt, erwerbt Ihr noch keinen Anspruch darauf, die Mädchen hier belästigen zu dürfen.«

»Ich tue, was ich will, und niemand soll sich herausnehmen, mir dreinzureden.«

»Das muß ich doch leider tun, wenn ich etwas Ungehöriges bemerke. Signor Domenico ist mein Vetter, und ich als Kellner in diesem Hause muß auf Anstand – auch bei den Gästen – halten.«

Nun war es heraus. Was das Ohr mir verriet, bestätigten die jetzt an das Halblicht gewöhnten Augen. Die beiden Männer hinter dem Brunnen waren Gaetano und Nicola Guazzo aus Positano. Daß er, der sonst immer nur Sonntags kam, an einem Wochentag und in so später Stunde hier war, fiel mir auf, aber ich dachte nicht weiter darüber nach. Verliebtheit erklärt ja noch weit wunderbarere Dinge. Sehr angenehm berührt aber war ich durch Gaetanos ruhig-sichere Verteidigung der häuslichen Ordnung. Seine marionettenhafte Gleichmäßigkeit zeigte sich an diesem Abend in männliche Festigkeit erfreulich umgewandelt.

Guazzo murrte noch ein paar unverständliche Worte, dann schob er – der Weg dort hinter dem Brunnen war zwischen dichten Laubwänden sehr eng – den Gaetano mit einem kleinen Stoß beiseite und ging rasch davon. Im Fortgehen rief er noch: »Auf Wiedersehen, Signorina Elena!«

Nun erst fand ich mit meinen Augen auch sie. Nicht weit von mir und auf derselben Steinbrüstung, an der ich stand, saß Elena regungslos in einer der Öffnungen zwischen den Säulen und hatte den Arm um eine von ihnen gelegt. Ihr hübsches Gesicht war ernsthafter als gewöhnlich.

Rasch ging ich die wenigen Schritte zu ihr hin und fragte: »Nun, Signorina Elena, was hat es denn gegeben?«

Sie versuchte zu lachen, doch gelang es nicht ganz. »Ach, nichts – ein Unverschämter!«

Offenbar wollte sie nicht gern von dem reden, was ihr mit Guazzo begegnet war. Ich fragte daher auch nicht weiter, sondern stand einen Augenblick in einem von beiden Seiten etwas verlegenen Schweigen vor ihr. Dann, um absichtlich von dem Geschehenen abzulenken, tat ich eine Frage nach etwas ganz anderem, nach dem, was den übrigen Gästen und mir an diesem Abend einen so dauerhaften Unterhaltungsstoff geboten hatte.

»Sie gehören ja zum Hause, Signorina; was wissen Sie denn von dem weißen Mönch, der hier umgehen soll? Ihren Oheim darf man danach nicht fragen, aber Sie nehmen es wohl nicht so übel.«

Sie hob die Hand mit lebhafter Abwehrbewegung. »Oh, sprechen Sie nicht von dem weißen Mönch! Er hat es nicht gern, wenn man es tut. Keiner von uns hier im Hause redet von ihm, weil er sonst wiederkommt.«

»Haben Sie jemals etwas von ihm gesehen?«

»Die Madonna möge mich davor bewahren! Ich würde zu Tod erschrecken, wenn er mir erschiene. Der Oheim –« Sie brach ab, als hätte sie schon zu viel gesagt, und fügte dann rasch hinzu: »Nein, ich darf darüber nicht reden, ich hab' es versprochen.«

»Ah –«

Sie war nachdenklich und ängstlich geworden, jetzt kam ihr heiteres Temperament plötzlich wieder zum Durchbruch. Sie sagte lachend: »Ach, ich bin so schrecklich feige, Signore. Weil ich lustig bin, denken Sie vielleicht, ich bin auch mutig. Aber ich laufe vor einer Maus eine halbe Stunde weit.«

Auch ich mußte jetzt lachen. »Ich gebe zu, daß eine Maus ein sehr gefährliches Tier ist. Aber solch ein harmloser Hausgeist, was tut denn der Ihnen Böses?«

»Oh, lassen Sie's, reden Sie nicht weiter von ihm. Ich habe schon immer so viel Angst gehabt, wenn mein Großohm, der bei den Dominikanern in Monte Oliveto Maggiore war, einmal auf Besuch zu den Eltern kam. Und er war lebendig, war kein Gespenst. Er schalt mich immer, weil ich nicht genug lernen wollte. Wenn es nach ihm gegangen wäre – nein, Signore, sagen Sie selbst, ich bin doch nicht gemacht, um eine Gelehrte zu werden?«

Sie war ganz reizend im Kampf ihrer natürlichen Heiterkeit mit ihrer Furcht vor den Wissenschaften, aber ich fühlte mich doch verpflichtet, ihr in diesem Kampfe beizustehen. »Sie brauchen sich aber doch jetzt nicht mehr vor dem Lernen zu fürchten, Signorina Elena.«

Ein leises, auch jetzt noch halb frohes, halb furchtsames Lachen kam von ihren Lippen. »Der weiße Mönch würde sich allerdings darum nicht kümmern, aber er hat schon einmal –«

Sie brach unvermittelt wieder ab, auch wurde mir gleich der Grund ihres Verstummens klar. Gaetano, der sich vielleicht erst noch überzeugt hatte, ob Guazzo das Haus auch wirklich verließ, war jetzt aus einer nahen Öffnung in der Steinbrüstung vom Innenhof her in den Kreuzgang eingetreten und kam zu uns heran. Elena wandte sich auf den Klang seiner Schritte nach ihm um, schien mir aber ein wenig verlegen. Sie sagte mit einer gewissen Zurückhaltung: »Ich danke dir, Gaetano.«

Mir war es Bedürfnis, ihm auch mein Wohlgefallen über sein Verhalten auszudrücken, und ich tat es mit ein paar herzlichen Worten.

Aber weder Elenas Dank noch mein Lob riefen auf seinem unveränderlichen Gesicht einen merkbaren Eindruck hervor. Er machte nur zwei seiner kleinen, einwandfreien Verbeugungen vor uns beiden und sagte: »Vielen Dank für das Lob, vielen Dank auch, Signore.« Damit ging er fort, nach dem Speisesaal hinüber.

Ich sagte nun auch Elena gute Nacht und begab mich die Treppen hinunter auf mein Zimmer.

*

Ein paar Tage vergingen, ohne daß irgend etwas Besonderes vorgekommen wäre; wir hatten den Abend mit seinen Gespenstergeschichten schon beinahe vergessen. Das Wetter, das bisher immer leuchtend schön gewesen war, bereitete sich bei nahendem Vollmond jetzt anscheinend auf einen Wechsel vor. Die Sonne verschwand hinter trübem Gewölk, und ein heftiger Schirokko wehte von der See herein heulend um das graue Vorgebirge mit seinem weißen Kloster. Der Lärm, den er im Hause verursachte, war ziemlich arg. Er hinderte mich am Abend sogar längere Zeit am Einschlafen, weil er sich ein paar schlecht befestigte Fensterläden zum Spielzeug ersehen hatte. Sie schlugen in unregelmäßigen Zwischenräumen gegen die Mauern und veranlaßten ein ärgerlich-nervöses Warten auf die Wiederholung der unharmonischen Töne.

So lag ich, obwohl ich mein Zimmer schon zeitig ausgesucht hatte, weil ich von angestrengter Arbeit müde war, an jenem Abend lange wach. Ich hatte vergeblich um Schlaf gekämpft und starrte nun mit wieder geöffneten Augen in das matte Halblicht in meinem Zimmer. Der Mond, nur zeitweise hinter Wolken verborgen, sandte Helle genug zu mir herein, um alles deutlich erkennen zu lassen. Ich sah die tiefe Türnische vor mir, über der ein rundes, ebenso tiefes Fenster auf einen großen Vorsaal hinausging. Sogar das Muster der Tapete, die mit kleinen grauschwarzen Kreuzen auf einem weißen Grunde verziert war, zeichnete sich in voller Klarheit ab, und ich fing an, diese Kreuze zu zählen, um so vielleicht endlich den ersehnten Schlaf zu finden. Aber der Schirokko, der mir stets die Nerven unangenehm aufregte, blieb auch diesen Versuchen gegenüber Sieger, und ich war zu wach, um hinterher das, was nun geschah, mir als Traum auslegen zu können.

Der lockere Fensterladen über mir schlug in den üblichen Pausen mit lautem Knall an die Wand, von unten klang die wilde Meeresbrandung in regelmäßigeren Zwischenräumen herauf, der Wind heulte mit beinahe menschlichen Lauten durch die Gänge des Klosters. Aber trotzdem war ich keinen Augenblick im Zweifel, daß es wirklich eine Menschenstimme sei, die mich nun plötzlich erschreckt emporfahren ließ. Ein lauter Schrei, kurz und grell und gleich wieder verstummend, wie jähes Entsetzen ihn erpreßt, war zu mir gedrungen. Und ich meinte bestimmt, er sei nicht von außen, von der Straße her gekommen, sondern hier im Kloster selbst ausgestoßen worden. Denn eine Art von Widerhall, das Echo der gewölbten Klostergänge, war ihm gefolgt.

Ich sprang auf, eilte zur Tür und öffnete. Das elektrische Licht brannte draußen, aber alles blieb still. Der Schrei wiederholte sich nicht, kein fremder Laut mischte sich weiter in die schon gewohnten Geräusche der Sturmnacht. Ich horchte dann in meinem Bett wohl noch eine Stunde lang aufgeregt hinaus, schlief endlich aber vor Übermüdung ein.

Am nächsten Morgen beim Frühstück war mein erstes, daß ich Personal und Gäste wegen des Schreies befragte, den ich in der Nacht gehört zu haben meinte. Doch fand ich zu meinem Staunen keinen einzigen Zeugen für meine Wahrnehmung. Margherita war schon um zehn Uhr in ihr Bett gegangen und gleich eingeschlafen; Gaetano sagte, daß er um die von mir genannte Zeit zwar noch aufgewesen sei, doch nichts anderes als den Lärm des Windes gehört habe; von den Gästen hatte niemand etwas Ungewöhnliches vernommen.

Ärgerlich über mich selbst und über den Streich, den meine Nerven mir anscheinend gespielt hatten, verließ ich den Speisesaal. Im Kreuzgang begegnete mir Elena. Sie trug die Morgenpost in den Händen, die sie zu verteilen gewohnt war, und blieb vor mir stehen, um einen Brief hervorzusuchen, der für mich gekommen war.

So wurde mir Gelegenheit, sie genau zu betrachten, und ich erschrak darüber, wie blaß und ernst ihr Gesicht an diesem Tage war. Sonst hatte sie mir die Post immer mit irgendeinem Scherzwort überreicht, heute suchte sie zerstreut unter den Papieren umher, und mein Blick fand schneller als der ihre den für mich bestimmten Brief.

»Da, da!« rief ich ihr zu. »Hier steht es ja doch: ›Herrn Doktor Alfred Gruber, Kunsthistoriker.‹ Soviel ich weiß, bin ich das immer noch.«

»Ja freilich, das ist Ihr Brief. Aber weiter ist nichts für Sie da.« Sie, die sonst immer zum Lachen bereit war, lachte nicht einmal über ihren Irrtum, sondern gab mir den Brief mit einem Gesicht, als wenn ihre Gedanken weit ab mit anderen Dingen beschäftigt wären. Auch ging sie gleich weiter.

Aber mir fiel ein, daß auch sie vielleicht über irgend etwas in der Nacht erschrocken sein könnte, wodurch ihr ungewohntes Wesen sich erklärte. So rief ich sie zurück und fragte nun auch sie geradezu nach dem Schrei, den ich gehört hatte.

Sie wurde noch ein wenig bleicher, wie mir schien, bewegte jedoch mit lebhafter Verneinung die Hand. »Nein, nein, ich habe nichts gehört. Gar nichts. Es wird auf der Straße gewesen sein, wenn der Signore nicht überhaupt geträumt haben.« Damit wandte sie sich um und eilte nach dem Speisesaal hinüber, um die Post an die Gäste zu verteilen.

Ihr zerstreut-ernsthaftes Wesen blieb auch an den folgenden Tagen unverändert, und mein Freund Umberto blickte gleichfalls finster in die Welt. Seine gewohnte Geschicklichkeit bei den gemeinsam vorgenommenen Messungen verlor sich, er nannte falsche Zahlen und hörte manchmal gar nicht, was ich sagte.

Nach und nach wurde mir die Verstimmung dieser beiden jungen Menschen, deren Persönlichkeit und Geschick mich interessierte, so störend und unbehaglich, daß ich mich entschloß, Locatelli darüber zu befragen.

Die Gelegenheit bot sich nur bald. Wir waren beim Dom im zugehörigen Kreuzgang, der dem unseres Gasthauses ähnlich war, mit unseren Messungen beschäftigt, als Locatelli plötzlich das Notizbuch mit Zahlen sinken ließ und geistesabwesend stumm vor sich hinstarrte.

»Was ist denn nur mit Ihnen, Freund Umberto?« rief ich ihn an. »Sie sind ja völlig verwandelt. Schenken Sie mir doch Ihr Vertrauen, vielleicht kann ich Ihnen helfen.«

Er schüttelte den Kopf. »Mir hilft niemand. Ich wollte, daß ich nie geboren wäre.«

»Das hat schon mancher gesagt und hat ein paar Wochen später gejubelt, weil das Leben doch gar zu schön ist. Das kann auch Ihnen passieren.«

»Mir? Mir? O nein, für mich gibt es nichts Gutes mehr. So jung ich bin, so viel hab' ich schon verloren. Mein Vater ist mir gestorben, meinen geliebten Beruf hab' ich aufgeben müssen, und nun –«

Mit einer unbestimmten Handbewegung brach er ab. Es blieb mir zweifelhaft, ob der übergroße Schmerz ihn verstummen ließ, oder ob er fürchtete, dem Fremden zu viel zu vertrauen.

Aber ich hatte mir vorgenommen, ihn zum Reden zu bringen. So trat ich nahe vor ihn hin, legte die rechte Hand auf seine Schulter und sagte: »Mein lieber Signor Umberto, so kommen Sie nicht los. Es ist mein Wunsch, Sie zu trösten und Ihnen zu helfen. Aber dazu muß ich wissen, was Ihnen fehlt. Ihren früheren Kummer hatten Sie schon ganz gut überwunden. Es muß etwas Neues sein, was Sie quält. Und ich glaube, daß diesmal ein paar hübsche Mädchenaugen eine Hauptrolle dabei spielen. Heißt Ihr gegenwärtiger Kummer nicht Elena Serra?«

Schwer atmend, mit sich kämpfend, stand er einen Augenblick wortlos. Dann brach die Leidenschaft aus ihm hervor. »Elena! Ja, Signore, so heißt mein Glück und mein Unglück! Durch ihr Lachen, durch ihre liebe Stimme war ich wieder gesund geworden in meinem Herzen. Ich hatte die Hoffnung wieder gefunden, glaubte wieder an eine Zukunft. Nun aber – auf einmal ist es aus und vorbei!«

Sein Gesicht, sein ganzer Körper sprachen zugleich mit seinen Lippen. Bei den letzten Worten war es, als wenn eine schwere Hand seine Gestalt niederdrückte, so daß er kleiner zu werden schien.

»Was ist denn geschehen? Warum ist es aus?«

»Wenn ich es nur wüßte! Das ist es ja, was mich rasend macht. Seit ein paar Tagen ist Elena wie verwandelt, ohne daß ich aus ihr herausbringen kann, weshalb. Sie weicht mir aus, läuft vor mir davon, wenn sie mich sieht. Und gestern – da habe ich sie gestellt, habe verlangt, sie soll sprechen. Sie aber hat gesagt: ›Laß mich. Vergiß mich.‹ Dann hat sie sich losgerissen und ist fortgelaufen, ich habe die Tränen auf ihrem Gesichte gesehen. Aber was hilft mir ihr Weinen, wenn sie mich nicht mehr lieb hat?«

»Elena hat Sie noch lieb, Umberto, sonst hätte sie nicht geweint.«

»Meinen Sie?« Seine bebenden Finger packten mich an, seine brennenden Augen fragten und flehten.

Ich nahm eine von seinen Händen fest in die meinen. »Mein Ehrenwort, ich bin davon überzeugt. Aber ebenso sicher bin ich, daß etwas uns noch Unbekanntes, irgend ein Geheimnis Elenas merkwürdige Verwandlung verschuldet. Wir müssen herausbringen, was das ist, wir beide zusammen. Ist Ihnen das recht?«

»Oh, Sie sind sehr gütig! Wenn Sie mir helfen – es wäre ja zu schön, wenn ich noch einmal hoffen dürfte!«

»Sie sollen und müssen es. Und nun zunächst wieder hier an unsere Arbeit. Am Abend aber trinken wir nach dem Essen ein Glas Wein miteinander und besprechen, was für Sie geschehen kann.«

Umberto preßte dankend meine Hand mit festem Druck. Von diesem Augenblick an schien es, als wenn er Flügel bekommen hätte durch neue Hoffnung. Er sprang elastisch hierhin und dorthin, klomm bei den Messungen zu gefährlichen Höhen mit unfehlbarer Sicherheit hinan und leuchtete mich mit seinen schönen, verklärten Augen an. Ich gelobte mir, für ihn zu tun, was irgend in meinen Kräften stand.

Aber wir sprachen von Elena nicht eher wieder, als bis wir abends nach unserer gemeinsamen Mahlzeit in die Stadt gegangen waren und in einer kleinen, weindurchdufteten Osteria beim Dom hinter den rotfunkelnden Gläsern saßen. Daß mir auf dem Wege dorthin der verliebte Guazzo begegnet war, hatte mich nur ganz flüchtig unangenehm berührt, und ich vermied es wohlweislich, mit Locatelli von seinem Nebenbuhler zu sprechen.

Umberto schüttete mir an diesem Abend sein ganzes Herz aus und erzählte mir die Geschichte seiner glücklich-unglücklichen Liebe vom ersten Anfang an. Er war aber nicht imstande, mir irgendeinen Wink dafür zu geben, woher die plötzliche Störung des Verhältnisses gekommen war. Ich fragte, forschte, sprach Vermutungen aus, doch wollte sich das Geheimnis nicht lösen.

Es war bereits elf Uhr vorüber, als wir aufbrachen. Locatelli bestand mit liebenswürdigem Eifer darauf, mich bis an mein Hotel zu begleiten, und so gingen wir nebeneinander den wohlbekannten Weg über dem dunklen, rauschenden Meere.

Nahe beim Hotel blieb Umberto stehen und sah hinauf zu dem felsgestützten Gebäude. »Dort wohnt sie – dort wohnt Elena!« Seine Lippen flüsterten die Worte mit sehnsüchtiger Leidenschaft, seine Hand wies nach einem Fenster empor, hinter dessen geschlossenen Läden ein leiser Lichtschimmer noch sichtbar war.

Mit einem ermutigenden Scherzwort nahm ich von dem Verliebten Abschied.

Ich hatte mir ein für allemal einen Schlüssel für die Haustür geben lassen, um nach abendlichen Sitzungen beim Wein in der Stadt niemanden stören zu müssen. Leise schloß ich auch diesmal auf und stieg die Stufen der gewundenen Treppe hinan. Ein paar von den elektrischen Flammen brannten wie immer und erhellten mir genügend meinen Weg. Vor meinem Zimmer befand sich ein geräumiger Vorsaal, der nach dem Flur hin mit einer Flügeltür geschlossen war, und an dem die Zugänge zu den hier befindlichen Gasträumen lagen. Er war unerleuchtet, und als ich die Flügeltür öffnete, fiel mir, wie schon ein paarmal, ein merkwürdiger Lichteffekt auf. Denn hinten an der Wand von diesem Vorsaal, die der Tür gegenüber war, hing ein großer, weit herabgehender Spiegel, und jenseits des langen, dunklen Raumes wiederholte sich in ihm der kaum erkennbare Vorsaal und ein Stück der Treppe, während ich selbst als eine große, schattenhafte Gestalt in dem viereckigen Rahmen der Türöffnung vor der halben Helle da draußen stand.

Ich fühlte bei diesem Anblick aufs neue, wie sehr das alte Kloster zum Erfinden von Geistergeschichten herausforderte, und das geheimnisvolle Bild fesselte mich so sehr, daß ich einen Augenblick stehen blieb, um es ganz in mich aufzunehmen.

Bevor ich mich dann zu meinem rechts am Vorsaal gelegenen Zimmer wandte, hielt mich ein leises Geräusch zurück, das von außen her zu mir hereindrang. Unwillkürlich blieb ich noch in der Tür zum Vorsaal stehen und hielt meinen Blick auf den Spiegel geheftet, in dem sich alles abmalte, was auf dem Flur hinter mir vorging.

Vielleicht war es ein vorahnendes Gefühl, was mich so gefesselt hielt. Aber was ich auch zu sehen erwartet haben mochte, die Wirklichkeit übertraf jede Vermutung. Die Geisterwelt wurde mir lebendig in diesem Augenblick. Des Hauses Gespenst gewann Gestalt und Leben, der weiße Mönch glitt hinter mir vorüber! Ich erkannte mit sehenden Augen, was ich für Erfindung abergläubischer Torheit gehalten hatte. Von unten her über die Treppenstufen, die mein eigener Fuß kurz vorher betreten hatte, kam die weiße Gestalt scheinbar aus dem Boden aufsteigend langsam herauf, trat für einen Augenblick in den helleren Lichtkreis des Flures, daß mir ein Kopf mit grauem Haar und Bart unter halbverhüllender Kapuze für eine Sekunde deutlich erkennbar war, und verschwand dann nach oben.

Es war keine Täuschung möglich, der weiße Dominikanermönch war mir erschienen.

Einen Augenblick blieb ich stehen wie gelähmt; in wilden Schlägen hämmerte mein Herz. Aber dann kam der Ärger über mein abergläubisches Entsetzen. Vielleicht war es ein lebender Mönch, der hier wohnte, den meine Phantasie zum Gespenst umgeschaffen hatte. Das mußte aber klar werden, ich wollte wissen, was ich gesehen hatte. So ging ich eilig zur Treppe und rief mit gedämpfter Stimme hinaus: »Heda, wer war eben hier unten? Antwort – ich muß es wissen.«

Meine Stimme stieg mit leisem Widerhall unter den Wölbungen des Treppenhauses hinan, aber kein Ton kam ihr entgegen aus der Stille der Nacht.

Nun lief ich die Stufen empor, die zum zweiten Stockwerk mit seinem Kreuzgang führten. Doch kam ich nicht bis nach oben; ein unerwartetes Hindernis hemmte meinen Fuß. Mitten in meinem eiligen Lauf erloschen plötzlich auf einen Schlag sämtliche Lichter im Hause, und undurchdringliche Dunkelheit legte sich um mich her.

Ich griff in die Tasche nach Streichhölzern und fand mit Ärger, daß ich keine bei mir führte. Der Brauch, das Haus auch bei Nacht erleuchtet zu halten, hatte mich zu dieser Nachlässigkeit verführt. So blieb mir nichts übrig, als mich im Dunkeln langsam die Treppe wieder hinunter und nach meinem Zimmer zu tasten; aber ich muß gestehen, daß mir nach dem Geschauten und Geschehenen in dieser Finsternis ein kaltes Grausen durch die Glieder lief.

Erst im Scheine der endlich gefundenen und angezündeten Kerze verlor sich die Beklemmung, die mir das Atmen schwer gemacht hatte. Nun kam ruhiges Überlegen mir zurück und ich beschloß, mit meinem Lichte bewaffnet noch einmal Suche nach dem verschwundenen Mönch zu halten. So stieg ich wieder die Treppenstufen hinan und ließ das flackernde Licht in meiner Hand über die weißen Mauern dahingleiten. Tiefe Schlagschatten erschreckten mich ein paarmal mit abenteuerlichen Gestaltungen, aber sonst war nichts Ungewöhnliches aufzufinden, obwohl ich durch die leeren Kreuzgänge rund um den Klosterhof ging, aus dem die Nacht mit leisem Baumesrauschen zu mir sprach.

Ich war immer noch tief erregt und wurde dadurch unsicher und ungeschickt. Ich hatte meine Hand vor das Licht gehalten, um nicht von ihm geblendet zu werden, und so entging meinen Blicken ein Stuhl, den ein Gast mit seinen Kleidern vor eine der Türen gestellt hatte. Gegen ihn stoßend warf ich ihn zu Boden, wobei hallender Lärm den Kreuzgang erfüllte.

Nach wenigen Sekunden öffnete sich auch schon eine benachbarte Tür, und Signor Domenico, der Padrone, trat halb angekleidet aus ihr hervor.

»Was gibt es denn?« rief er zornig. »Wer macht solchen Lärm, und warum ist es dunkel im Haus? Auch in meinem Zimmer hab' ich kein Licht – wer hat sich diesen dummen Scherz erlaubt?«

Er hatte mich in seiner Aufregung nicht erkannt, beruhigte sich aber nur wenig, als ich im Lichte meiner Kerze nahe vor ihn hintrat, denn sein Zorn brach verdoppelt wieder los, als ich in flüchtigen Worten von dem weißen Mönche sprach, den ich in dieser Nacht mit eigenen Augen gesehen hatte.

»Das ist ja Unsinn! Es gibt keine Gespenster, und hier in meinem Haus am allerwenigsten. Und wenn wir gute Freunde bleiben sollen, Signore, dann behalten Sie diese Träumereien hübsch für sich. Geträumt müssen Sie haben, das ist sicher, und von Träumen zu reden ist Weibersache!«

Der sonst so höfliche Padrone war ganz verwandelt, offenbar aus Angst um den guten Ruf seines Hauses. Ich fragte daher nur noch: »Woher kommt es denn, daß alle Lichter verloschen sind?«

»Weiß ich es?« rief er, noch immer nicht besänftigt. »Aber das hab' ich niemals gehört, daß Gespenster sich auf elektrische Beleuchtung verstehen. Vielleicht hat einer von den Gästen sich einen Scherz gemacht.«

Ein zorniger Blick auf mich sagte deutlich genug, wen er in Verdacht hatte.

»Vielleicht fehlt auch nur der Strom,« fügte Domenico dann ein wenig ruhiger hinzu. »Das passiert mitunter – wir wollen sehen.«

Er ging nach der Stelle, wo die Treppe mündete, und griff nach einem kleinen schwarzen Hebel an der Mauer, der mir bisher entgangen war. Mit einem Male entzündeten sich alle nächtlichen Lichter wieder, und ihre ruhige Helle schien auch ihn milder zu stimmen. Er gewann seine gewohnte Höflichkeit zurück, entschuldigte sich mit einigen Worten wegen seines barschen Wesens und wünschte mir eine gute Nacht. Über meine Mönchserscheinung aber sprach er kein Wort mehr.

Ja, das gewohnte, ruhige Licht herrschte wieder in dem alten Kloster und geleitete mich auf mein Zimmer zurück. Aber die gewohnte Ruhe war nicht in meiner Brust. Mehr als ich es vermutet hätte, zitterten Schrecken, Staunen, Zweifel in mir nach. Ich wollte nicht an den von mir gesehenen Geist glauben, aber die Nerven gehorchten meinem Verstande nicht. Und während ich nun auf meinem Bett in dem wieder verdunkelten Zimmer lag, das nur von außen her ein wenig verdämmerndes Licht erhielt, packte mich ein körperliches Grausen an, das mächtiger war als Vernunft und Überlegung. Ich wagte nicht, einzuschlafen, und starrte mit weit offenen Augen in das Halblicht um mich her. Beim unablässigen Hinstarren auf die kleinen, grauschwarzen Kreuze, die sich an der Wand vom hellen Tapetengrund abhoben, begannen sie sich zu bewegen, und helle Flecken tanzten daneben umher. Ein Palmettenornament am Fußende meines eisernen Bettgestells verzerrte sich zur grinsenden Fratze, die mich höhnisch anlachte. Die gewohnten Töne der Nacht verwandelten sich für mein gereiztes Gehör. Die Stimme des Windes wurde zum Geflüster unverständlicher Worte, das Rauschen des Meeres klang mir wie das Drohen von übermenschlichen Stimmen, das Ticken meiner Uhr dröhnte gleich Hammerschlägen auf Eisen.

Erst als das frühe Licht des Morgens in mein Zimmer langsam hereinquoll, fand ich ein wenig Schlaf, doch war mir immer noch wüst und übernächtig zumute, als ich aufstand.

Mein vorsichtiges Fragen beim gemeinsamen Frühstück, ob den anderen Gästen in der Nacht irgend etwas Besonderes begegnet sei – Signor Domenicos Mahnung zum Schweigen wirkte noch in mir nach –, hatte kein Ergebnis, und unbehagliche Zweifel wurden dadurch in mir wach, ob nicht in der Tat allein meine Phantasie die weiße Mönchsgestalt erschaffen hätte.

Nur das tatsächliche Verlöschen der Lichter im Haus bestätigte mir scheinbar, daß irgend etwas Außergewöhnliches darin vorgegangen sein müsse.

Der Neugier, die durch meine Fragen erweckt worden war, wich ich mit ein paar mühsamen Scherzworten aus, aber ich versank unmittelbar darauf in ein stummes, tiefes Grübeln. Das Erlebnis der Nacht hatte mich stärker gepackt, als ich selbst es für möglich gehalten hätte. War ich krank, daß meine Pulse noch immer so gewaltsam schlugen? Und wenn es war, konnte nicht alles ein halbwacher Fiebertraum gewesen sein? Oder gab es wirklich Dinge zwischen Himmel und Erde, von denen unsere Schulweisheit sich nichts träumen läßt? Waren meine Blicke hell geworden in der Nacht, um hinüberzuschauen über die Grenze, die Natürliches und Übernatürliches voneinander trennt?

Je mehr ich aber fragte, um so mehr verwirrten sich meine Gedanken, und ich fühlte wieder und wieder das abergläubische Grausen der Nacht mir durch die Glieder strömen.

Meine ernste Zurückhaltung, die mit meiner sonstigen Art nicht übereinstimmte, fiel auch den übrigen auf, und in seiner lauten Art rief mir der Major lachend über den Tisch herüber zu: »Was ist denn mit Ihnen heute los, verehrter Herr Doktor? Sie machen wahrhaftig ein Gesicht, als wenn Sie den weißen Mönch gesehen hätten.«

Gerade bei diesen Worten kam Elena herein, um etwas mit Gaetano zu besprechen, und es fiel mir auf, daß ihr hübsches Gesicht noch bleicher und ernster war als an den Tagen zuvor. Auch trat ein Ausdruck plötzlichen Erschreckens daraus hervor bei den Worten des Majors. Aber sie sagte nichts und ging eilig wieder hinaus.

Heute fehlte Locatelli zum ersten Male an unserem Tisch, und ich fühlte nun erst recht, wie lieb mir der hübsche Mensch mit seinen schwermütigen Augen geworden war. Und wenn ich auch allen anderen gegenüber hartnäckig schwieg, mir hätte viel daran gelegen, wenigstens mit ihm zu bereden, was mir begegnet war. Aber ein losbrechender Gewittersturm, der an diesem Abend tobte, hielt mich ab, noch in die Stadt zu gehen und ihn aufzusuchen.

Lange lag ich hinter verschlossener Tür in meinem Bett und horchte hinaus, ob in den Klostergängen sich wieder etwas regte. Doch vernahm ich nichts; auch war der Lärm von Meer, Sturm und niederprasselndem Regen so stark, daß er wohl jedes leise Geräusch im Haus übertönt hätte.

Am anderen Morgen traf ich zu meiner Freude Umberto bei der gemeinsamen Arbeit. Er wurde sehr nachdenklich bei meinem Bericht über das, was mir in vorletzter Nacht begegnet war, um dann vor sich hinzumurmeln: »Das erklärt vielleicht –«

Ich wollte Näheres wissen, weil er verstummte, doch blieb er verschlossen und sagte nur: »Ich bitte Sie, Signore, halten Sie die Augen offen. Sie können vielleicht ein gutes Werk tun.«

Weiter war nichts aus ihm herauszubringen, und ich verließ ihn einigermaßen verstimmt über sein ablehnendes Wesen.

Das Gespräch mit ihm hatte mir also keine Klarheit und Erleichterung verschafft, und ich fühlte mit angstvollem Unbehagen, daß die Spannung meiner Nerven sich nicht verlieren wollte. Bei plötzlichen Geräuschen fuhr ich zusammen, Temperatur und Puls waren erhöht, und ich mußte mir sagen: wenn ich nicht schon krank war seit mehreren Tagen, so war ich doch jetzt auf dem sicheren Weg, es zu werden. In meiner Seele mischte sich auf merkwürdige Weise die Furcht vor Dingen außer mir und in mir selbst. Ich fürchtete mich vor einer durch Krankheit hervorgerufenen Täuschung meiner Sinne, zugleich aber vor etwas Wirklich-Unwirklichem, das unerwartet neu vor mich hintrat.

Es half auch nichts, daß ein paar Nächte vergingen, ohne daß irgendein Ton oder ein Anblick mich erschreckte. Das Warten auf das Übernatürliche, das einmal – eingebildet oder wirklich – in mein Leben getreten war und sich nicht wieder zeigte, war fast aufreibender, als der Schrecken über sein erneutes Erscheinen es hätte sein können. Ich bildete mir das wenigstens ein.

Aber ich sollte Gelegenheit haben, mir diese halbfriedliche Wartezeit wieder zurückzuwünschen. Denn jetzt kam ein Ereignis, das mich im Tiefsten erschütterte.

*

Es war ein wunderschöner, schon sommerlicher Frühlingsabend mit unbewegter Luft, stillem Sternenlicht und fernen Mandolinenklängen gewesen, der uns bis tief in die Nacht hinein auf der Terrasse versammelt gehalten hatte. Mein angstvoll-aufgeregter Zustand hatte mich in diesen Tagen die menschliche Gesellschaft mit Eifer suchen lassen, und ich hatte mich mit gezwungener Lebhaftigkeit an Gespräch und Scherz beteiligt, so daß niemand etwas von der Norm Abweichendes an mir hätte bemerken können. Der mir mit Absicht auferlegte Zwang aber veranlaßte vielleicht eine noch stärkere Reaktion der Nerven als gewöhnlich, und als ich in mein Zimmer trat, packte mich ein Angstgefühl so gewaltig an, daß ich allen Ernstes anfing zu überlegen, ob ich nicht meine schon weit vorgeschrittene Arbeit im Stiche lassen und Hals über Kopf abreisen sollte.

Dieser Gedanke beruhigte mich ein wenig, und als ich noch eine Zeitlang in dem kleinen Raum bei weit geöffnetem Fenster auf und ab gegangen war, hatte die Nervenspannung so weit nachgelassen, daß ich mich niederlegen konnte. Der Schlaf hatte mich in den vergangenen Nächten so hartnäckig geflohen, daß ich auch heute nicht auf ihn hoffte; doch ich wollte dem durch Wachen und Aufregung übermüdeten Körper wenigstens Ruhe gönnen.

So lag ich denn wieder mit offenen Augen lange Zeit und horchte hinein in die Nacht. Heute schien die Welt ringsum in tiefem, friedlichem Schlafe zu ruhen. Das besänftigte Meer atmete so leise, daß kein Ton zu mir heraufdrang; die ferne, verliebte Musik war verstummt; sogar der sonst immer wache Wind war eingeschlafen und streichelte nur im Traume noch das alte Kloster mit leiser Hand. Aber ich fühlte die tiefe Stille nicht als Wohltat, sondern als eine feindliche Reizung der Nerven, und ich empfand mit sich steigernder Angst, wie der Schlaf, der alles andere sanft umfing, auch in dieser Nacht immer weiter vor mir zurückwich. Es half nichts, daß ich mich in Gedanken mit meiner Arbeit beschäftigte, daß ich ein wissenschaftliches Werk hernahm und mich mit Anstrengung darin vertiefte, daß ich endlich das elektrische Licht löschte, um in der halben Dunkelheit – von der Straße schimmerte die gewohnte matte Helle zu mir herauf – doch vielleicht Entspannung der Nerven und Schlaf zu finden. Alles war vergeblich; keine Ruhe kam über mich, die nächtliche Stille lag auf mir gleich einer schweren, drückenden Last.

Schon war ich im Begriffe, das hilfreiche Licht wieder aufzudrehen, als das Furchtbare geschah. Zuerst war es nichts als ein plötzlicher, matter Lichtschein von außen her, der mich erschreckte. Die Tür von meinem Zimmer ging, wie schon gesagt, auf den großen Vorsaal mit seinem Spiegel hinaus, in dem ich die weiße Mönchsgestalt erblickt hatte. Zur Beleuchtung dieses Vorsaales dienten bei Tage die runden Fenster, die hoch über jeder Zimmertür in der Mauer angebracht waren. Dies Fenster, das in meinem Raume dem Bett gerade gegenüber war, hatte sich durch einen Lichtschimmer unerwartet erhellt. An sich war das nichts Außergewöhnliches oder gar Übernatürliches. Einer der anderen Gäste konnte spät nach Hause gekommen sein und beim Eintreten die Tür vom Vorsaal zum beleuchteten Flur hin offen gelassen haben. Was mich dabei stutzig machte, war nur die vollkommene, tiefe Ruhe, die draußen herrschte. Kein Fußtritt klang vom Steinboden zu mir herein, kein Türschloß redete mit metallenem Klang. Das große, gewaltige Schweigen der Nacht wurde durch keinen Ton gestört.

Ich lag und schaute mit angespannten Blicken auf die runde Helle dort über der Tür und wartete mit aufgeregter, unbestimmter Empfindung auf ihr Erlöschen. Aber sie blieb unverändert in ihrem stillen Leuchten ein paar Minuten lang. Dann erst geschah, was mir das Blut erstarren machte. Kein Ton auch jetzt, aber ein stummes, gleitendes Heransteigen eines grauen Schattens an der mattbeleuchteten Scheibe von unten her. Der Schatten wuchs empor, wurde fester, nahm bestimmte Gestalt an und verwandelte sich in seinem geräuschlosen Aufsteigen in einen menschlichen Kopf. Das ihn umfließende Licht war nur matt, aber es war hell genug, um erkennen zu lassen, was mich mit Grausen erfüllte. Graues Haar und grauer Bart umschlossen ein, wie mir schien, totenblasses Menschenantlitz, eine weiße Mönchskapuze legte sich als Rahmen darum her. Es gab keinen Zweifel für mich: der weiße Mönch schaute durch das Fenster dort über der Tür zu mir herein.

Ich war wie gelähmt, aber ich fühlte, wie das Bett unter den Schlägen meines Herzens bebte. Ich konnte mich nicht bewegen, konnte nicht schreien. Was mich in jenen schrecklichen Augenblicken vor allem beschäftigte, war die Frage: »Wird er zu dir hereinkommen?« Ich wußte mit Bestimmtheit, ich hatte die Zimmertür, wie jeden Abend, fest von innen verschlossen, aber ich fragte mich immer wieder: »Wird er trotzdem zu dir hereinkommen?« Ich bildete mir in krankhafter Spannung ein, ganz ruhig zu sein, und erwartete regungslos die Beantwortung meiner Frage durch das Geschehende, wie der Forscher auf das Ergebnis einer wissenschaftlichen Untersuchung wartet.

Ich weiß nicht, wie lange Zeit ich so gelegen habe. Ganz kurz kann sie nicht gewesen sein, wenn auch mein gespanntes Gefühl sie vielleicht verdoppelt oder verdreifacht hat. Aber eine geraume Weile blieb sicher der graue, weißumhüllte Kopf dort hinter der Scheibe, die Blicke so starr auf mein Lager gerichtet, wie die meinen sich auf ihn hefteten. Er bewegte sich nicht, er blieb in unveränderter Stellung, von der Fensterumrahmung mit ihrem Kreis umschlossen gleich einem Bild im Rahmen. Aber dies Bild war mit nächtlichen Farben gemalt, es glich einer grauweißen Schattenerscheinung.

Endlich bewegte sich der Kopf aufs neue, versank so geräuschlos wie sein Aufsteigen gewesen war. Mein gesteigertes Herzklopfen sagte mir: »Jetzt wird er hereinkommen!« Aber die Tür öffnete sich nicht, kein irdisches Geräusch erklang, die runde, leere Helle blieb noch einen Augenblick in der Wand, um dann plötzlich zu verlöschen. Mein Auge vermochte die Stelle kaum noch zu sehen, wo sie gewesen war.

Aber ein paar Minuten vergingen, bis der Starrkrampf, der mich gefesselt gehalten hatte, von mir wich. Überlegung und Vernunft fingen wieder an, dem krankhaft gesteigerten Gefühl zu widersprechen. War es nicht vielleicht ein Mensch, ein verkleideter Betrüger, der hier in der Stille der Nacht sein Unwesen trieb? Ich fragte mich freilich vergeblich, welchen Zweck er dabei verfolgen könnte, weshalb er gerade mir erschien; und aus dieser unbeantworteten Frage wuchs plötzlich riesengroß die gräßliche Angst hervor, daß alles nur eine Wahnvorstellung meines Gehirns gewesen sei, der traurige Beweis einer vielleicht hoffnungslosen Erkrankung. Zwei gleich furchtbare Gefühle vermischten sich in mir: Angst vor dem Überirdischen und vor mir selbst, Angst vor fremden, geheimnisvollen Mächten und vor den Zerrbildern einer zerrütteten seelischen Sehkraft.

In diesem doppelten Angstgefühl duldete mich's nicht auf meinem Bett; ich machte Licht, sprang empor und kleidete mich notdürftig an. Darauf nahm ich die Kerze, die mir außer der elektrischen Flamme leuchtete, und ging zur Tür. Von mir selbst verschlossen, öffnete sie sich nicht auf meinen Versuch; ich drehte daher den Schlüssel im Schloß, um hinaustreten zu können.

Aber nun geschah wieder etwas Unerwartetes, Überraschendes. Obwohl der Schlüssel sich leicht bewegen ließ wie sonst, gab die Tür nicht nach. Ich wiederholte den Versuch ein paarmal – er blieb ohne Wirkung. Ich war ein Gefangener in meinem eigenen Zimmer!

Jetzt war ich kaum noch imstande, ruhig zu überlegen, wie das möglich war, daß eine von mir verschlossene Tür, deren Schlüssel ich in meinen Händen hielt, sich mir nicht auftat. Im Gefühl dieser einsamen Gefangenschaft in der ehemaligen Klosterzelle kam ein so gewaltiges Verlangen über mich, eines Menschen lebendige Stimme zu hören, daß ich trotz der nächtlichen Stunde jede Rücksicht beiseite setzte und mit bebender Hand auf den Knopf der elektrischen Glocke drückte.

Der helle Ton klang leise zu mir aus der Ferne her. Ich fühlte mich durch ihn schon entlastet und wartete geduldig eine Weile, daß jemand kam und mich aus meinem Gefängnis befreite. Doch Minuten vergingen, alles blieb draußen still. Ich klingelte noch einmal, wartete wieder und klingelte zum dritten Male so lange, daß der feine, zitternde Ton sekundenlang ununterbrochen zu mir hereindrang. Ich ertrug es nicht mehr, mit einem Angstgefühl, wie diese Nacht es auf mein Herz gelegt hatte, hier eingesperrt zu sein.

Endlich kam Erlösung. Das runde Fenster über meiner Tür wurde plötzlich wieder hell, und wenn auch ein Gefühl nervösen Erschreckens bei diesem Anblick abermals über mich kam, so war mir doch jeder Wechsel in meiner Lage schon angenehm. Und jetzt erklang ein leises Klopfen an meiner Tür.

Mit bebender Stimme rief ich: »Herein!«

Da geschah wieder etwas höchst Überraschendes: Die Tür, die meinen Versuchen, sie zu öffnen, so hartnäckig widerstanden hatte, tat sich ohne jede Schwierigkeit auf. War auch das nur Einbildung von mir gewesen, daß ich zum Gefangenen geworden war in dieser Zelle? Das Angstgefühl vor mir selbst, vor einer möglichen Störung meines geistigen Gleichgewichtes wuchs abermals mit atemraubender Kraft in mir empor gleich einem zweiten, furchtbarsten Gespenst.

Ganz damit beschäftigt, warf ich nur einen halben, zerstreuten Blick auf den Kellner Gaetano, der in flüchtiger Bekleidung vor mir stand. Er trug nichts weiter als Hemd und Hose; das dichte, braune Haar, das tagsüber immer schön geglättet war, lag in einem verworrenen, wüsten Büschel auf seinem Kopf. Kam es daher, daß mir sein glattes Gesicht plötzlich weit ausdrucksvoller als gewöhnlich erschien?

Aber die Frage flog mir nur ganz flüchtig durch den Sinn. Was mich fast ausschließlich beschäftigte, war das unheimlich leichte Öffnen meiner Tür, und in der Verwirrung darüber tat ich die töricht klingende Frage: »Wie sind Sie hereingekommen?«

Gaetano lächelte sein leichtes, höfliches Lächeln. »Ich verstehe Sie nicht, Signore. Die Tür war ja nicht verschlossen.«

»Nicht verschlossen? Lassen Sie mich einmal sehen.« Ich riß ihm den Türflügel, den er halb offen hielt, aus der Hand. Und ich entdeckte nun etwas daran, was ich bisher niemals beachtet hatte, was mich nun aber ebensosehr mit Erstaunen wie mit Beruhigung erfüllte. Nicht innen, sondern außen an der Tür befand sich ein Riegel, der sie fest verschloß, wenn er vorgeschoben war. Nicht Einbildung also hatte mich gemartert und gequält, sondern von außen mußte meine Tür durch irgend jemand versperrt worden sein.

»Die Tür kann unmöglich offen gewesen sein,« rief ich dem Kellner zu. »Sie müssen den Riegel zurückgeschoben haben, bevor Sie hereinkamen. – Aber was bedeutet überhaupt solch ein Riegel außen an einer Hoteltür?«

Er lächelte wieder. »Bei uns hier ist manches anders als anderswo. Solche Riegel werden der Signore an den meisten Türen finden, wenn der Signore sich die Mühe geben, darauf zu achten. Früher waren, wie mein Vetter, Signore Domenico, mir gesagt hat, überhaupt nur diese Riegel an den Türen. Die Schlösser sind erst später angebracht worden.«

»Mit Hilfe dieses Riegels hat man mich also heute hier in meinem eigenen Zimmer eingesperrt. Ich habe ja nur darum geklingelt, weil ich das bemerkte.«

»So, darum?«

»Ja, darum. Es ist kein angenehmes Gefühl, gefangen zu sein. Sie müssen den Riegel unbedingt vorgeschoben gefunden haben.«

»Verzeihen der Signore, wenn ich widerspreche. Die Tür war nicht verschlossen.«

»Dann muß dieselbe Hand sie wieder geöffnet haben, während ich klingelte, die den Riegel vorher vorgeschoben hat. Es gibt für mich keinen Zweifel darüber.«

»Ich widerspreche ja nicht. Haben der Signore weiter keine Befehle?«

»Nein. Und entschuldigen Sie, daß ich Sie geweckt habe. Sie haben sicher schon geschlafen.«

»Ja, sehr fest. Ich bitte darum auch zu verzeihen, wenn ich vielleicht nicht gleich zur Stelle gewesen bin auf Ihr Klingeln. Gute Nacht, Signore.«

»Gute Nacht.«

Ich war wieder allein, aber mit verändertem Gefühl und veränderten Gedanken. Das Angstempfinden war durch Mißtrauen abgelöst worden. Die Furcht vor mir selbst war von mir abgefallen durch die natürliche Lösung des einen mich quälenden Rätsels, und ich sagte mir immer bestimmter, daß nun auch das, was noch geheimnisvoll und rätselhaft blieb, sich ebenso natürlich lösen würde.

Dieser Glauben erhielt am nächsten Morgen unerwartet eine Verstärkung. Ich hatte nach den Aufregungen der Nacht weit in den Tag hinein geschlafen und fand beim Frühstück im Speisesaal nur noch Miß Fraser, deren leuchtend frische Gesichtsfarben heute dem Weiß ihres Haares um einen Schein angenähert erschienen.

Ihr Ausdruck war ängstlich und sorgenvoll, und sie sagte nach der Begrüßung leise zu mir: »Etwas muß ich Sie erzählen.«

Ich bat sie, sich zu mir zu setzen, während ich meinen Kaffee trank – sie selbst war schon fertig damit, hatte nur noch auf mich gewartet –, und nun berichtete sie mir mit geheimnisvollem Flüstern, was ihr in der Nacht begegnet war. Sie hatte lange noch gelesen und an einem Briefe für ihre Schwester geschrieben, sich dann mit gewohnter Ordnungsliebe daran gemacht, ihre tags zuvor geschehenen Ausgaben zu buchen. Dabei war ihr das Fehlen einer Handtasche aufgefallen, in der sie den Geldbeutel aufzubewahren pflegte. Die Tasche konnte nur abends im Speisesaale liegen geblieben sein, und die Amerikanerin machte sich daher trotz der späten Stunde rasch entschlossen auf den Weg, um dort nachzusuchen. Ihr Zimmer lag im Obergeschoß am Kreuzgang, und sie ging durch die stille, matterleuchtete Halle zu dem Speisesaal, fand auch auf ihrem Platze gleich die Tasche, die sie mit sich nahm. Beim Heraustreten aus der Tür nun, die hinter ihr offen geblieben war, geschah das, was ihren heiteren Sinn so stark erschüttert hatte. Geradeaus von der Tür zum Speisesaal, am Ende von der einen langen, gewölbten Halle des Kreuzgangs, wo die Treppe von unten mündete, war der weiße Mönch, der mir zweimal erschienen war, auch vor ihren Augen vorübergeglitten. Eine halbe Sekunde nur hatte sie die mattbeleuchtete Gestalt gesehen, dann war sie verschwunden gewesen, aber Miß Fraser versicherte mir mit eifrigem Flüstern: »Ich habe ihr gesehen, wie ich Sie hier jetzt vor mir sehe. Ganz genau so. Getäuscht kann ich mir nicht haben; das Mönch ist unterwegs hier im Kloster.«

Ich setzte die Amerikanerin einigermaßen in Erstaunen, indem ich sagte: »Sie machen mich sehr glücklich durch Ihren Bericht!«

»Glücklich – auf welche Weise?«

»Weil der weiße Mönch mir auch schon zweimal erschienen ist, und weil ich fürchtete, daß kranke Nerven mir seine Gestalt vorgetäuscht hätten. Jetzt bin ich im klaren, seit ich eine Zeugin für das habe, was ich selber sah. Sie werden an wirkliche Geister so wenig glauben wie ich. Und nun wollen wir zusammen herauszubringen suchen, was hier im Hause nicht in Ordnung ist.«

»Da haben Sie getroffen das Nagel auf den Kopf. Es ist nicht in Ordnung hier in das Haus. Ich kenne nicht wieder die kleine Elena, wo nur immer hat gesungen und gelacht. Gestern abend« – sie beugte sich noch ein wenig näher zu mir herüber und flüsterte noch etwas leiser – »bin ich gegangen in die Kirche hier beim Haus. Es war schon vorüber an sechs, und um sechs Uhr wird immer die Kirche geschlossen. Von hier aus aber es gibt ein Gang und eine zweite Tür, und ich bin gegangen oft um diese Zeit, weil ich so gerne in Kirchen bin in die Dämmerung. Und so ich bin gegangen auch gestern. Und ich bin erschrocken, weil ich sonst immer dort bin gewesen allein, aber weil ich nicht bin gewesen allein gestern abend. Ich zuerst nicht habe gesehen, nur gehört. Es hat geweint in der Kirche. Darum bin ich gegangen hin, wo es hat geweint. Und ich habe gefunden unsere kleine Lazerte ganz übergeschwemmt in Tränen. Auf die Stufen von das Altar hat sie gelegen und ist gewesen sehr erschrocken, wie sie gehört hat meine Stimme. Was ihr denn fehlt, ich habe gefragt, aber sie hat immer nur gerufen: ›Ich möchte sterben – ich möchte sterben!‹, und hat mir nicht gesagt, warum sie das will tun. Und ich muß glauben, wenn ein junges Mädchen will sterben, ist es immer unglücklich verliebt. Aber gegen wen sie verliebt ist, ich nicht habe bringen können heraus.«

»Das kann ich Ihnen sagen. Sie liebt unseren hübschen, braven Umberto Locatelli, doch keineswegs unglücklich. Er liebt sie genau so wie sie ihn, und wenn gegenwärtig etwas nicht in Ordnung ist zwischen den beiden, dann kommt es nicht aus ihnen selbst, sondern von außen her. Und wenn ich mir das, was wir beide gesehen haben, zusammenhalte mit ihrem veränderten Wesen, dann muß ich sagen –«

»Daß das weiße Mönch ist schuld an ihre Verwandlung,« fiel die Amerikanerin mir lebhaft ins Wort.

Ich konnte nur erwidern: »Sie sagen damit, was ich selber denke. Und ich verstehe nun auch, warum Locatelli mich bat, ich sollte meine Augen offen halten hier im Hause.«

»Das hat er gesagt? Oh, das ist gut. Und ich bitte Sie, lassen Sie mich helfen bei das Offenhalten von die Augen.«

Ein Schutzbündnis für die beiden Liebenden wurde so zwischen uns geschlossen, und im Bewußtsein geschenkter Klarheit und übernommener Pflicht gewann ich selbst ein tagelang vermißtes Gefühl beruhigten, genußfähigen Daseins mir zurück.

Aber die mühsam eroberte Ruhe wurde noch am selben Tage wieder schweren Erschütterungen ausgesetzt. Bis gegen Abend ereignete sich nichts Außergewöhnliches. Elena zeigte sich nur flüchtig, aber ihre verweinten Augen bestätigten der Amerikanerin Bericht. Ich machte wiederholte Versuche, sie zu stellen und auszufragen, doch mit ihrer eidechsenhaften Geschwindigkeit wich sie mir immer wieder aus.

Es war ein trüber, mit Frühlingsregen drohender Tag, und schon zeitig schlich sich die Dämmerung in die Hallen und Gänge des alten Klosters. Ich hatte mir vorgenommen, etwas nach sechs Uhr, wenn die kleine Kirche geschlossen war, dort nachzuschauen, ob ich Elena nicht weinend und betend wieder auf den Stufen des Altars fände. Dort in der kirchlichen Einsamkeit und Stille würde sie mir – so sprach meine Hoffnung – vielleicht Rede stehen. Und ein Viertel nach sechs Uhr stieg ich daher von meinem Zimmer zum Kreuzgang hinan und öffnete die mir wohlbekannte Tür, die den schmalen Seitengang zur Kirche hinüber verschloß.

Ich hatte jedoch kaum ein paar Schritte in seine Dämmerung hineingetan, als ich erschrocken zusammenfuhr. Von der Kirche her war ein lauter Schrei zu mir gedrungen, ein Schrei, der mir genau so klang wie jener erste, der nachts in mein Schlafzimmer gedrungen war, und mit seinem Tone, der so voll war von Schrecken und Angst, all die Unruhe der letzten Tage gleich einem drohenden Vorspiel eingeleitet hatte.

Nur einen Augenblick hielt mich Bestürzung an die Stelle gebannt. Ich eilte der Kirchentür zu. Doch bevor ich sie noch erreichte, wurde sie schon von innen aufgerissen, und Elena stürzte mir entgegen.

Sobald sie mich erkannte, klammerte sie sich mit beiden Händen hilfesuchend an mich an, sank vor mir auf die Knie und schrie zu mir empor: »Helfen Sie mir, Signore, helfen Sie mir! Ich sterbe sonst vor Angst!«

Ich hob sie vom Boden empor, hielt sie stützend aufrecht und sagte: »Kommen Sie, Elena, begleiten Sie mich zu Miß Fraser. Dort wollen wir weiter sprechen.«

Sie blickte noch einmal angstvoll zur Kirchentür zurück und flüsterte: »Ja, kommen Sie fort von hier. Und bitte, bitte, lassen Sie mich nicht allein.«

Wir gingen schnell durch den Kreuzgang zum Zimmer der Amerikanerin, ohne daß wir jemandem begegneten.

Meine alte Freundin begrüßte die zitternde Kleine mit beruhigend-freundlichem Wort und schloß die Tür hinter uns, damit wir in Ruhe hören und reden konnten.

In dem stillen Hafen dieses von Damenhand behaglich gemachten Raumes kam anfangs tränenreiche Schwäche noch einmal über Elena. Wir ließen sie ruhig weinen, bis der Krampf der Angst vorüber war; dann setzte Miß Fraser sich neben sie, faßte sanft ihre Hand und sagte: »Sie sind ganz in der Sicherheit hier, und wir wollen so gern Ihnen helfen. Aber vor allem, Sie müssen uns jetzt sagen, was Ihnen fehlt. Sie müssen, müssen es uns sagen.«

Elena hob ein wenig ihr Gesicht. »Ich will es tun. Ich muß es tun. Ich weiß keinen Ausweg mehr, und ich sterbe vor Angst. Aber Sie werden mir vielleicht nicht glauben, wenn ich Ihnen sage –«

Sie brach ab, rang nach Atem.

Ich kam ihr zu Hilfe mit klärendem Wort. »Nicht wahr, Sie haben den weißen Mönch gesehen?«

»Oh, woher wissen Sie –«

»Wir wissen, was wir selbst gesehen haben, Miß Fraser und ich. Der Mönch ist uns erschienen wie Ihnen.«

»Wirklich? Wirklich? Was hat er zu Ihnen gesagt?«

Ein rascher Blick flog zwischen Miß Fraser und mir hin und her. Hier war etwas Neues: das an uns nur stumm vorübergeschwebte Gespenst hatte dort gesprochen.

»Erzählen Sie zunächst, was er mit Ihnen geredet hat. Denn das ist vermutlich entscheidend für das, was wir tun müssen.«

»Oh, es war so furchtbar!« schrie das Mädchen auf. »Es ist eine Woche her, da kam er zuerst. Ich war in meinem Zimmer am Abend – plötzlich öffnete sich die Tür, und in ihr sah ich den Mönch. Ich hab' ihn gleich erkannt mit seinem grauen Haar und Bart. Er glich Zug um Zug meinem Großohm. Das Bild von ihm auf dem Tisch in meinem Zimmer stand lebendig vor mir.«

»So, Sie haben dort ein Bild von dem Verstorbenen? Stand es offen da, konnte jeder es sehen, der in Ihr Zimmer kam?«

»Ja, ja, gewiß. Er hat es mir geschenkt, als ich gefirmt wurde. Gefürchtet hab' ich mich immer ein wenig davor, weil der Großohm ein so strenger Mann war, aber zum Andenken an ihn hab' ich es doch bewahrt und aufgestellt. Und neben seinem Bilde – ja, daneben hat ein anderes gestanden.«

Sie senkte den Kopf in so reizender Verwirrung, daß es mich abermals trieb, ihr zu helfen. »Das Bild von Umberto Locatelli – nicht wahr?«

»Oh, Sie wissen das auch?«

»Ich weiß, daß ihr euch lieb habt, und ich hoffe sehr, daß ihr noch recht glücklich miteinander werdet.«

Sie machte traurig abwehrend eine diesen schönen Traum weit von sich weisende Bewegung. »O nein, das werden wir niemals. Er hat es ja verboten.«

Wieder ein Blick des Verständnisses von Miß Fraser zu mir. »Oh, das hat er also gesprochen!«

»Ja – das heißt, gesprochen hat er das erstemal nicht gleich, als er plötzlich in meinem Zimmer gestanden hat. Ich bin ganz gelähmt gewesen vor Schrecken bei seinem Anblick. Und er hat seine Hand aufgehoben und auf das Bild von Umberto gezeigt und einen Finger hin und her bewegt zur Verneinung. Ich habe gleich gewußt, ich soll Umberto nicht mehr lieben. Vom Grabe her ist mein Oheim gekommen, weil er mich bewahren wollte vor dieser Sünde. Dafür muß ich ihm ja dankbar sein, aber es ist so furchtbar, furchtbar traurig, daß ich Umberto –«

Tränen erstickten wieder ihre Stimme. Sie schluchzte laut auf und preßte die Hände vor das Gesicht, während ihr Oberkörper sich in verzweifeltem Schmerze hin und her bewegte. Durch ihre Worte war meine Hoffnung, sie von diesem Schmerze befreien zu können, aber mächtig erstarkt. Ich kannte nun den Zweck der geheimnisvollen Erscheinung, und aus diesem Wissen wuchsen die Zweifel an irgend etwas Übernatürlichem sieghaft empor.

»Also gesprochen hat er das erstemal nicht?«

»Nein, kein Wort. Vielleicht hat er sprechen wollen, aber als er mir nur einen Schritt näher kam, da bin ich so furchtbar erschrocken, daß ich vor Angst laut aufgeschrien habe. Darauf hat er sich langsam umgewandt und ist hinausgegangen. Ich habe die ganze Nacht geweint und alle folgenden Tage und Nächte. Ich wußte gleich, daß ich von meinem Umberto lassen sollte nach dem Willen der Madonna. Heute hat er es mir auch noch deutlich gesagt.«

»Erst heute? Hat er sich in der Zwischenzeit nicht sehen lassen?«

»Gesehen hab' ich den Großohm nicht wieder bis heute. Nur seine Stimme hab' ich gehört. Es war tief in der Nacht – ich hatte mich eingeschlossen, obwohl ich ja weiß, daß Geister auch durch verschlossene Türen kommen, und lag noch wach und weinte. Da hat es an meine Tür geklopft, und eine tiefe, heisere Stimme hat gerufen: ›Elena, mach' auf!‹ Ich wußte gleich, wer es war. Die Stimme klang, als wenn sie tief aus dem Grabe käme. Trotz meiner Todesangst hab' ich auch gewußt, ich mußte gehorchen. Ich bin aufgestanden und habe nach meinen Kleidern gegriffen. Ich bin ungeschickt gewesen, weil mir die Hände so zitterten, und es hat einige Zeit gedauert, bis ich fertig war. Und ich habe seine furchtbare Stimme noch einmal gehört, sie hat mir wieder zugerufen: ›Mach auf!‹ In dem Augenblick aber, als ich öffnen wollte, kam etwas anderes. Ich hörte draußen ein lautes, heftiges Läuten von der elektrischen Glocke. Da war ich froh, daß jemand noch wachte, der mir vielleicht helfen konnte. Das gab mir Mut, und ich öffnete die Tür. Aber nichts, gar nichts war draußen zu sehen.«

»Und heute?«

»Heute – das war am schrecklichsten von allem.«

»Wo war es?«

»In der Kirche. Zu der Mutter Gottes hab' ich mich geflüchtet und habe jeden Tag eine Stunde lang vor dem Altar auf den Stufen gelegen – in der Dämmerung, wenn die Kirche schon geschlossen und ich dort ganz allein war, und habe zu der Madonna geschrien und sie gebeten: ›Hilf mir, gnadenreichste Mutter, ich kann ohne meinen Umberto nicht leben!‹ So war es auch heute. Nur dunkler war es als gewöhnlich, und ich konnte das Antlitz der Madonna kaum noch erkennen über dem Altar. Und wie ich so hinausschaue, ob ich in ihrem Gesichte nicht ein Zeichen der Gnade finde für mein armes Herz, da hebt sich plötzlich hinter dem Altar etwas empor, als wenn es langsam aus dem Boden hervorkäme. So stieg die weiße Mönchsgestalt vor mir auf.«

Vom erneuten Gefühl der Todesangst überwältigt, verstummte sie für einen Augenblick. Dann aber trieb das gleiche Gefühl sie wieder zum Reden.

»Er sprach leise, ganz freundlich: ›Fürchte dich nicht, Elena, die allerheiligste Madonna schickt mich dir zu deinem Wohle. Durch meinen Mund befiehlt sie dir, von deiner Liebe zu diesem Umberto Locatelli zu lassen, der ihrer nicht würdig ist. Anderes hat für dich die Gottesmutter beschlossen, ein anderes, größeres Glück ist für dich aufbewahrt. Aber ich darf an diesem heiligen Orte nicht weiter sprechen von solchen weltlichen Dingen. Laß heute nacht an deiner Tür den Riegel offen. Dann will ich zu dir kommen, wenn es Mitternacht schlägt, und will dir genau sagen, was du zu tun hast. Lebe wohl bis dahin, meine Tochter Elena!‹ Das hat er gesagt, und ich vergesse keines von seinen furchtbaren Worten bis an meinen Tod. Aber dann ist er langsam hervorgekommen hinter dem Altar, daß ich seine ganze Gestalt habe sehen können, und es war mir, als wenn er auf mich zugeschwebt käme. Da hab' ich wieder laut aufgeschrien und bin hinausgestürzt aus der Kirche. Nun aber weiß ich, daß er heute nacht in mein Zimmer kommen wird, und ich weiß, daß ich das nicht ertragen kann. Ich hätte sonst auch heute noch nichts gesagt, aber das kann ich nicht ertragen, ich vergehe vor Angst. Helfen Sie mir, Signore, bleiben Sie bei mir, Miß Fraser, um der Madonna willen!«

Das also war's. Der Zweck, Elena von ihrem Umberto zu trennen, war bei dieser gespenstischen Erscheinung so deutlich, daß ihr höchst irdischer Ursprung nicht mehr bezweifelt werden konnte. Nur fehlte noch jeder Anhalt, wer sich unter dem weißen Mönchsgewand verbarg. Ich dachte zuerst an Guazzo; vielleicht hatte der den abenteuerlichen Plan ersonnen. Aber wer es auch sein mochte, der Zorn packte mich an über diesen gemeinen Störer jungen Glückes und reiner Liebe. Dies Gefühl trieb mich zu heftigem Wort. »Schändlich hat man Ihnen mitgespielt, liebes Kind. Ein lebendiger Schurke steckt unter der Maske des toten Mönches. Wir aber wollen ein deutliches, kräftiges Wort mit ihm reden und ihm diesen Geisterspuk für immer verleiden.«

Elena, deren Glaube an das übernatürliche Wesen der Erscheinung so leicht nicht auszurotten war, widersprach, weinte, bat, ihr Schicksal durch Auflehnen gegen den Willen der Madonna nicht noch zu verschlimmern. Die Amerikanerin mischte sich lebhaft ein und machte Vorschläge, denen ich meinerseits nicht beistimmen konnte. So gab es für einige Zeit ein erregtes Hin und Her, endlich aber fand ich die Zustimmung für einen von mir entworfenen Plan. Elena sollte sich abends heimlich in das Zimmer von Miß Fraser begeben, in ihrem eigenen, erleuchtet bleibenden Zimmer aber sollte sich Locatelli verbergen, um den Geist bei seinem Erscheinen verdientermaßen zu empfangen. Ich selbst wollte mich, für den Notfall mit einem Revolver bewaffnet, in einem nahen, zurzeit unbesetzten Gastraum aufhalten, um erforderlichenfalls Hilfe leisten zu können.

Elenas Angst für sich selbst war beim Besprechen dieses Planes in Sorge für den Geliebten umgeschlagen, und ihr letztes, bittendes Wort klang mir noch lange nach im Ohr: »Beschützen Sie nur meinen Umberto. Wenn ihm Böses geschähe meinetwegen, ich würde nie wieder froh.«

*

Eine gewitterhafte Spannung legte sich mehr und mehr auf unsere Seelen. Äußerlich ließen wir uns aber nichts anmerken, sprachen auch vor anderen kein Wort von unserem Plan. Elena, die sich in den letzten Tagen viel verborgen gehalten hatte, ging auf meinen Wunsch ein paarmal im Speisezimmer ein und aus. Von der früheren, anmutigen Elastizität war an diesem Abend wieder etwas in ihrem Wesen, und nur manchmal bat ein verstohlener, warmer, flüchtiger Blick um Schutz für ihren Geliebten.

Als letzte der Gäste verließen die Amerikanerin und ich die Terrasse neben dem Speisesaal, über der eine dunkle Sternennacht mit ihren ruhigen Lichtern hing. Wetterleuchten fern über der schlummernden See drohte mit Stürmen hinein in den scheinbaren Frieden. Ein leiser, warmer Wind aber streichelte wie mit beruhigender Hand unsere Stirnen.

Als kein lebendes Wesen im Kreuzgang mehr zu sehen war, ließen wir Elena zu Miß Fraser hineinschlüpfen. Umberto, der von mir noch eilig benachrichtigt worden war und von wütendem Eifer brannte, den falschen Mönch zu entlarven, hatte sich auf meinen Rat wieder einmal an unserer Mahlzeit beteiligt, sich aber gleich hinterher zum Schein von uns verabschiedet und in Elenas Gemach verborgen. Ich selbst nahm den in der Nähe befindlichen Hilfsposten ein.

Ich mußte dort in dem einsamen, unerleuchteten Zimmer eine halbe Stunde noch wartend verbringen. Selten ist mir eine halbe Stunde so lang erschienen. Die Dunkelheit, in der ich mit meinen vom Lichte noch geblendeten Augen anfangs keinen Gegenstand unterschied, belebte sich nach und nach durch die matte, vom Fenster herkommende Helle, doch nahmen die bei Tage so nüchternen Möbelstücke des Gemaches in dieser Beleuchtung unheimlich verzerrte, dunkle Gestalten an. Ein kleiner Spiegel zeigte mir mein Gesicht in so verschwommener, unwirklicher Form, als wenn ich, der hier auf das Erscheinen eines Geistes wartete, selbst schon in das Reich der Geister gehörte.

Langsam, langsam rannen die Minuten vorbei. Zuweilen klang noch ein Schritt im Kreuzgang draußen, ein paar Türen wurden verschlossen, dann kam die tiefe Stille stummer Nacht. Ich konnte nicht nach der Uhr sehen und meinte schon, daß Mitternacht längst vorüber sein müsse, dachte dabei bereits daran, mein anscheinend zweckloses Warten aufzugeben, als ich plötzlich aus meinem peinigenden, tatlosen Zustand herausgerissen wurde. Vom Kreuzgang her tönte der Klang einer heftig aufgerissenen Tür zu mir herein, eine laute, leidenschaftliche Männerstimme zerriß den Frieden der Nacht.

Ich stürzte hinaus in die Halle vor meinem Versteck, vernahm Umbertos Schrei: »Du Schurke! Betrüger!« und sah die weiße Mönchsgestalt vor ihm her durch den Kreuzgang fliehen, gerade mir entgegen. Als der Flüchtende mich aber vor sich erblickte, fuhr er zurück und sprang zur Seite, durch eine der Öffnungen in der Steinbrüstung in den Innenhof hinein. Seine weiße Gestalt schien mit geisterhafter Schnelle durch die Dämmerung dort unter dem Gesträuch dahinzuschweben, und von den Rosenbäumen, die sein Gewand im rasenden Laufe streifte, fiel ein Regen von Blütenblättern herab.

Umberto war nahe hinter ihm, ich folgte den beiden laufend in kleinem Abstand. So ging es auf schmalem, grünumwehrtem Wege quer durch den Innenhof bis dahin, wo das rötliche Brunnenrund mit seinen beiden Säulen sich erhob. Der Weg endete dort, auf beiden Seiten des Brunnens drängte dichtes, dorniges Rosengesträuch sich eng heran.

Umberto schrie frohlockend: »Jetzt hab' ich dich, Schurke!«, während er die Hand erhob, den Verfolgten zu packen. Mit schlangenhafter Geschwindigkeit und Gewandtheit aber entschlüpfte der weiße Mönch seinem Griff und schwang sich, eine der Säulen erfassend, auf den Brunnenrand hinauf, um, das Rund umlaufend, in den gegenüberliegenden Arm vom Kreuzgang zu flüchten, der hinter dem Brunnen ganz nahe dahinlief.

Umbertos Rufen aber mußte gehört worden sein. In diesem Augenblick öffnete sich die benachbarte Tür vom Zimmer der Amerikanerin, und sie selbst mit Elena kam eilig hervor in die Helle des Ganges. Und nun erfolgte die Katastrophe des Dramas mit ungeheuerer Schnelligkeit. Elena stieß beim Anblick des vermeintlichen Gespenstes einen lauten Schrei aus, die weiße, dort auf der Brunnenbrüstung schwebende Gestalt fuhr beim Ton ihrer Stimme zusammen, taumelte, griff mit ausgestreckten Händen in die Luft, verwickelte sich mit einem Fuß in das lange, weite Mönchsgewand und stürzte mit einem dumpfen Laute rückwärts hinunter in die dunkle Tiefe.

Eine Sekunde lang standen wir wie gelähmt und erstarrt. Ich sah nur ganz undeutlich Signor Domenico, die alte Margherita und ein paar von den Gästen durch den Kreuzgang laufen und hörte Fragen und Rufe von ihnen, die mir aus weiter Ferne zu klingen schienen.

Umberto war der erste, der Tatkraft und Entschlossenheit wiederfand und mit lautem Ruf auch in uns anderen weckte: »Stricke, Leitern! Wir müssen sehen, ob er noch lebt. Es ist ein Mensch, kein Gespenst.«

Ein hastiges, geschäftiges Hin und Her begann auf seine Worte, doch verging immer noch einige Zeit, bis ein paar Leute mit Leitern und Seilen herbeigekommen waren und sich hinunterließen in die Brunnentiefe. Wir standen und warteten und flüsterten ganz leise miteinander. Eine halbe Stunde beinahe verging – für unser Gefühl eine weit längere Zeit, bis endlich der hinabgestürzte Körper an um ihn geschlungenen Stricken langsam wieder emporschwebte, bis er, von Wasser triefend und von Schlamm geschwärzt, in der starren Ruhe des Todes auf den Steinplatten des Kreuzganges im Scheine des elektrischen Lichtes grauenvoll dalag.

Wir alle standen um den regungslosen Körper her, auf den wir mit erstaunten, erschrockenen Blicken schauten. Denn jetzt enthüllte sich uns das Geheimnis. Eine Perücke war dem Stürzenden vom Kopfe herabgeglitten, während ein grauer, besser befestigter Bart noch immer das blasse, beschmutzte Gesicht umgab. Er aber genügte nicht mehr, es unkenntlich zu machen. Wir sahen und erkannten mit ungeheuerem Erstaunen, wer da vor uns am Boden lag, und Elena faßte das Gefühl, das uns alle bewegte, zusammen in den Ausruf: »Er – Gaetano!«

Ja, Gaetano war es, der die Rolle des weißen Mönchs gespielt hatte – Gaetano, der unbewegte, gleichmäßig marionettenhafte, dem niemand von uns Leidenschaft oder Phantasie zugetraut hätte. Gaetano, der von allen Menschen der letzte gewesen wäre, den wir unter der Maske des Geistes gesucht hätten.

Aber wir sollten jetzt auch erfahren, was ihn zu seinem abenteuerlichen Unternehmen getrieben hatte. Signor Domenico war neben dem Körper niedergekniet und hatte sein Gewand und Hemd aufgerissen, um zu sehen, ob noch Leben in ihm war. Ich half ihm bei seinen Bemühungen, doch zeigte sich bald: hier war keine Rettung mehr. Dabei kam aber ein kleines Ledertäschchen hervor, das auf der nicht mehr atmenden Brust lag, und als wir es fortnahmen und öffneten, zeigte sich uns eine Photographie darin, auf deren Rückseite, vom Wasser halb schon ausgelöscht, ein paar geschriebene Worte standen: »Mein alles – mein Glück – meine Göttin!« Das Bild aber trug die Züge von Elena Serra.

Signor Domenico wandte sich, sobald er das erkannte, zornig und erstaunt an seine Nichte. »Dein Bild auf seiner Brust! Was ist gewesen zwischen euch beiden?«

»Nichts, Oheim – nichts! Lieb gehabt hat er mich, das ist alles!«

»Du hast es gewußt?«

»Ja, ja, ja – denn er hat es mir hundertmal gesagt. Es hat angefangen sehr bald, nachdem ich hierher gekommen war. Zuerst hat er es mir nur in kleinen Aufmerksamkeiten und Freundlichkeiten gezeigt, aber dann hat er es mir auch in Worten gesagt. Er war ein so merkwürdiger Mensch, so verschlossen und kühl nach außen hin, und so voll Leidenschaft in seinem Herzen. Mir hat er sie gezeigt, aber –«

Sie verstummte, nur ihre Blicke, die Locatelli suchten, sprachen weiter, und wir alle sahen am Leuchten ihrer Augen, wer dem Toten im Wege gestanden.

»Du hättest es mir sagen müssen. Ich hätte den Menschen aus dem Hause gewiesen, wenn er auch mein leiblicher Vetter war.«

»Ach, das war es ja, was er fürchtete. Deshalb hat er mich wieder und wieder gebeten, zu niemandem ein Wort von seiner Liebe zu mir zu reden. Und ich hab' es versprochen und hab' es gehalten, weil ich dem armen Menschen ja schon so weh getan hatte. Gezittert aber hab' ich immer im stillen vor ihm und vor seiner Eifersucht auf jeden Mann, der in meiner Nähe war. Neulich abends noch – Sie kamen ja dazu, Signore, da hat er den Guazzo fortgewiesen aus dem Hause, weil er mir aufgelauert und versucht hatte, mich zu küssen. Dabei hat er sich aber sehr beherrscht und sich nichts anmerken lassen, wohl weil er wußte, daß ich ihn sah und hörte. Was er getan hat, er hat es ganz gewiß nur aus Liebe zu mir getan, und ihr dürft ihm nicht böse sein. Meinetwegen ist er gestorben, und ich glaube, daß ich nie wieder froh werden kann.«

»Dafür laß nur mich sorgen, Elena.« Mit einem raschen Schritte war Locatelli neben sie getreten und legte seinen Arm um ihre Schultern. »Du darfst ihm verzeihen, aber du hast keinen Grund, um ihn zu weinen. Er hat unverantwortlich, mörderisch an dir gehandelt. Er hätte dir den Verstand rauben können mit seinem wahnsinnigen Geisterspuk. Er wollte deine Liebe zu mir aus deinem Herzen reißen, vergiß das nicht. Jetzt laß mich für immer dein Beschützer sein – ich hoffe, daß Ihr nichts dagegen habt, Signor Domenico?«

Mit stummer, ausdrucksvoller Bewegung ergriff Elenas Oheim Locatellis Hand, um dann zu sagen: »Zunächst müssen wir für den Toten sorgen. Von anderen Dingen sprechen wir ein andermal. Und ich hoffe, nachdem dieser Geist sich so menschlich enthüllt hat, glaubt niemand mehr an das Gespenst von Amalfi.«

*

 


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