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II.

Schon längst – am neunten Mai – war Nebogatoff mit seiner Division zu der Hauptflotte gestoßen, mitten da draußen auf der rollenden Chinesischen See: ungefähr auf der Höhe von Kap St. Jacques – aber ganz auf gleicher Höhe mit den anderen Blechpötten, in bezug auf Getrostsein und gute Aussichten.

Noch einmal wurde die ganze Armada weggescheucht wie ein Aussätziger von der Küste von Annam, wo sie – wie an so vielen Orten zuvor – sich vergebens Ruhe, Reparation, Briefe und Einkäufe zu verschaffen suchte.

Kohlen- und Transportschiffe wurden vorausgesandt nach der Mündung des Yantseflusses, wo man selber darauf am vierundzwanzigsten Mai anlangte.

Und nun waren es also diese letzten paar Tage vor der letzten Strecke Wegs.

Das Geschwader lag, in regelmäßigem Abstand vom Lande – etwas anderes wagte es nicht mehr – draußen in den Schären des Yantses, wo das gelbe Wasser noch hier und da in reißenden, flachen Wirbeln unter einem schwarzgrauen Himmel aus Blei und Kälte stand.

Die Fahrzeuge wurden mit Feuerung überfüllt; denn unterwegs von hier bis nach Wladiwostock, durch die Koreapassage, würde es nicht tunlich sein, anzuhalten, um zu kohlen: also blieben sogar die Decks gesperrt, worüber verschiedene aus zween Ursachen gelinde kichern mußten. Erstens, weil man infolge davon um das Exerzieren weg kam, dort oben in dem barschen Wetter – zweitens aber, und was weit wichtiger war: sintemal die ganze unsinnige Masse Anthrazit die Kästen niederdrückte, so daß der schwere Teil des Panzers, der einen in der Wasserlinie beschützen sollte, tief unter den Meeresspiegel herabsank; jetzt mußte also doch selbst der schafköpfigste von der Mannschaft einsehen können, daß sich nicht einmal ein ganz gewöhnliches sechszölliges Projektil genieren würde, einem ein Loch so groß wie eine Kapellentür da unten in die verwundbarste Nacktheit zu machen: mit anderen Worten, noch ein stark wirkendes Motiv zu Groll und Hoffnungslosigkeit, zu Haß und Übergebung!

Um diesen überwältigenden Eindruck vollständig zu machen, wurden darauf die allerletzten, bald trägen, bald übernervösen, in beiden Fällen aber läppischen Übungen, Schießereien und Evolutionieren abgehalten – während welcher sowohl Kommandanten, als die übrigen Befehlshaber und Gemeinen endlich und endgültig darüber aufgeklärt wurden: daß, ganz abgesehen von dem ebenerwähnten, wunden Punkt in der Panzerung der Schiffe, das Geschütz außerdem noch schlechter war denn je zuvor, die Munition total unzureichend, und die ganze Ausbildung phantastisch unmöglich!

Und unter so abgeklärten Schlußauspicien kam sehr prompt der Abend, an dem diese unüberwindliche und imponierende Armada ihren Kurs direkt nach der schmalen Stelle in der Straße von Korea genommen hatte: nach dem Engpaß, wo die beiden Tsushimainseln gleich einem länglichen, dunkelblauen Granitschlagbaum zwischen Japan und Korea liegen, mit Zacken, Haff und Glasscherben.

Es schlug also jene Abendstunde, in der Roschdjèstwenskij selbst von seinem Flaggschiff »Knjas Ssuwarow« Befehl erteilte: daß bis morgen früh vier Uhr überall klar Schiff zu machen sei mit Rücksicht auf die mehr als eventuellen Unterseeboots- und Torpedoangriffe; welch muntere Vue! ... Und wenn die Sonne aufging, würde dies langerwartete, allgemeine Niedermetzeln, ach was, Unsinn: der Kampf – wollte ich natürlich sagen, wahrscheinlicherweise stattfinden. In jedem Falle würde der Admiral auf Ehre und Gewissen am wenigsten von allem versuchen, der Bataille zu entgehen, das fehlte auch noch, nicht wahr, meine Herren: das unvermeidliche Ergebnis haben wir ja doch alle in acht harten und ununterbrochenen Monaten vorausgesehen, und lassen Sie uns deshalb so schnell wie möglich diese untragbare Verantwortung von unseren schmerzenden Schultern wälzen, je eher, je lieber; zum Teufel gehen muß die Geschichte ja doch, sintemal die Japaner alles haben, alles können, alles wissen – und wir besitzen einzig und allein Mängel, Meuterei, Mutlosigkeit ... das las man ohne Überraschung zwischen den Zeilen seines Tagesbefehls.

   

Während der Nacht ging, infolge der erteilten Orders, niemand in die Koje. –

Die Armada war in zwei große Kielwasserkolonnen formiert, die Seite an Seite dahinfuhren – eine dunkle Allee.

Die Fahrzeuge preschten langsam vor, stampfend, durch die Finsternis der schweren und kurzen Wellen; der treibende Qualm quoll ungeheuer aus allen Schornsteinen heraus.

Alle nach außen gekehrten Laternen waren erloschen, so daß nur die Hintermänner und Seitenmänner die rote oder grüne Reihe von Lichtern erblicken konnten, die hektisch oder makaber in der Nacht flatterten, links oder rechts oder dort weit vorne.

Eine ungeheure, stockfinstere Straße von rußgeschwärzten Wolkenkratzern, die ruhelos dahinwanderten – eine kilometerlange, entwurzelte Straße aus Dunkelheit, mit gähnenden Abgründen von Kaserne zu Kaserne, beißend von Rauch und Zugwind.

Eine widerlich stinkende Gasse ...

Die Offiziere trabten unaufhörlich umher, einzeln, fast ohne zu wissen, was sie unternahmen – in ihrem Gemüt flackerte wild das letzte Fieber und die Verzweiflung auf und nieder.

Sie hatten hin und wieder einige kichernde, kleine Lachanfälle, wenn sie aus Versehen in die Nähe voneinander kamen; gestikulierend wollten sie ihre Gesichter hinter Runzeln, Worten und winkenden Handbewegungen verbergen:

»Nun gut, alter Freund, nun gut und Glückauf!« sagten sie auf einmal, einander an den Knöpfen zerrend – »haha!

Na, sagen Sie mir doch ... was ich gleich sagen wollte ... kä, jetzt geht es wohl los, in ein paar Stunden!

So Gott beschieden hat!

Togo, Togo, ohoj!

Nicht wahr?

Wie?

Hahahaha!«

Sie trabten rastlos herum jeder für sich, und gaben sich erregt den Anschein, als untersuchten sie, ob alles in Ordnung sei, hier wie dort – verrückt vorwärtsgetrieben von ihrer bullernden Todesmüdigkeit und Sehnsucht, von ihrem brennenden Grauen und ihrem Kummer.

Aber inwendig in ihrem Innern glaubten sie ganz fest, grinsend und hicksend, entdeckt zu haben, daß die eigentliche, unbewußte Absicht mit diesem ihrem Herumdallern schließlich die folgende, hinterlistige war; daß ihr Selbsterhaltungstrieb auf diese Weise versuchen wollte, noch in dieser elften Stunde, ob sie die Herren Matrosen nicht zu ein klein wenig Protest, Empörung, am liebsten zur Übergabe aufstacheln konnten. Nein, wie klug doch das Unterbewußtsein sein kann, ohne daß man es selber ahnt, es greift wahrhaftig niemals fehl, das Genie! ...

Und also krochen sie nörgelnd von Ort zu Ort und hatten überall lose Handgelenke und Schimpfworte bei sich:

Sie hielten krakehlerische und springende Revisionen über alles denkbare: ob die Boote nun auch zum Schutz gediegen mit Torpedonetzen und Tauwerk umhüllt waren: kommen Sie mal her, Bootsmann, lassen Sie die Bewicklung auf der Stelle noch einmal machen, aber mit Windeseile, was sind das für Verräter, die das so schlapp besorgt haben! Bedenken Sie doch, Mensch, daß die Barkassen unser einziger Weg zum Leben sind, wenn wir – was höchst wahrscheinlich ist – in dieser Nacht einmal unvermutet getroffen, zersplittert, pulverisiert werden, fnssss, an euch kommt die Reihe ergo bald! ... Ob Splitternetze zwischen die Standplätze der Geschütze aufgehängt seien: Nehmen Sie ein Ende Kette, um das Loch da zuzudecken, aber ein bißchen plötzlich, zum Teufel auch, rappeln Sie sich, Soldat: Der Kampf ist bei Gott von vornherein schon ungleich genug zwischen Togo und uns, laßt uns doch nicht auch noch die winzig kleine Hoffnung auf Errettung verscherzen, die wir noch haben, gebraucht jetzt die Finger, oder, bei allen Heiligen, sagt mir: ihr glaubt doch wohl nicht, daß der liebe Gott euch freundlich empfangen wird, wenn ihr jetzt binnen kurzem per Explosion zu ihm hinauf gesandt werdet, ki, kihissss!? ... Ob die Mechanismen der Panzertürme zuverlässig funktionierten: Schwingen Sie mir die Kanone die vierzehn Grad nach Backbord hinüber, knik-knik-knik, ja ja, der Zahnkranz an der schmiegen Platte dort muß geschmiert werden, halt's Maul, verdammt und verflucht, sie muß geschmiert werden, was zum Deubel geht es mich an, ob Sie sie eingefettet haben oder nicht, sie muß mehr haben: so elend, wie sie gemacht ist, riskieren wir ja sonst, daß sie bei der allerersten Drehung bricht! Galopp! Der Satan frikassier mich, na ja, lassen Sie die Leute sich aufstellen, dann halten wir 'ne halbe Stunde schweißtriefende Übungen im Schmieren und Putzen ab, tretet an, wenn ihr um Mitternacht zur Hölle fahrt, gut, dann will ich dafür sorgen, daß ihr in gentlemanliker Verfassung dahingelangt, krrrrr! ...

   

Die Mannschaft saß sonst in der Hucke in ihrem Halbkreis rund um die Kanonen herum, brütend, ohne ein Wort zu sagen, sich den Anschein gebend, als schliefen sie, den Kopf an die Schulter des Seitenmannes gelehnt. Man hörte ihren kurzen, heißen Atem – als singe der tausendstimmige Chor der Mikroben da drinnen in ihren tiefen Wunden aus Heimweh, in dem zitternden Gewebe des Herzens aus Haß und Kummer in des Busens klagendem Tempo der Erbitterung. Sie fuhren hin und wieder in die Höhe, unter ihren qualvollen Seuchen der Ungewißheit und der grenzenlosen Sehnsucht nach allem, allem, allem in Rußland ...

Luschinskij hatte ein Gefühl, als seien es die Sekunden selbst, die da drinnen in seinem Busen fraßen und Geschwüre in seinem Nacken zusammenzogen. Als seien sie und ihre enormen Milliarden die schleimigen Bazillen dieser Fahrt: Jawohl, dachte er, keuchend, auf seinem Marsche innehaltend, um blind aufwärtszustarren, mit weitgeöffnetem Mund: vielleicht werden wir über Nacht getroffen, und dann haben wir noch gar keinen Plan gelegt! Möglicherweise werden wir jetzt in dieser Stunde getroffen – jetzt, wo wir doch alle zusammen eine halberstickte, flackernde Hoffnung haben, daß die Mannschaft ihre Sache durchsetzen und uns errettet heimführen wird zu Eudoxia, so wie ich es ihr versprochen habe! Binnen kurzem, in einer Viertelstunde vielleicht, müssen wir sterben – und ich bin doch noch nicht dazu gekommen, mit Iwan abzurechnen! In wenigen Minuten schon, kann es sein, daß wir alle wie ein Mann durch das Meer hindurchbammeln, gurgelnd, Unsinn lallend, während uns der Tod eiskalt an unseren Herzen sitzt, die erbleichen und getötet werden, ohne daß ihnen ihre Schuld vergeben ist! Bogduroff, ach, Bogduroff, auf dich warte ich, was hast du in dem letzten Monat bemerkt und gelernt – mit all deinem stummen Grauen und all deinen weißen, tränenreichen Blicken? Von dir habe ich bisher gehofft, würde die Erlösung meines Gemütes kommen, aber weshalb redest du denn nicht zu uns? hast du deinen schwankenden Kameraden gar nichts zu sagen? hast du noch gar nicht gesehen: was uns alle bange macht, ist keineswegs der Gedanke an das, was geschehen wird – sondern vielmehr an alles das, was längst in uns allen geschehen ist! Wir ersticken an der Vergangenheit – – wir, für die die Zukunft nur Schande in ihrem Schoße birgt! hast du ... hast du ... hast du uns nicht das geringste über unser Leben zu erklären – ehe wir sterben, o, Fedor Werowitsch Bogduroff!? ...

Man hatte das Gefühl, alle wie ein Mann – die Mannschaft, die Unterbefehlshaber, die Offiziere – als kennten sie sich nicht mehr richtig aus auf dem Schiffe.

Oder als sei es plötzlich ein ganz anderes Fahrzeug als gestern, vorgestern und die vorhergehenden Tage, Wochen, Monate – weil man wußte, daß man möglicherweise schon von morgen an, oder allerspätestens in ein paar Tagen nicht mehr hier sein würde, hier weder essen, schlafen, noch arbeiten, sich hier nicht mehr zanken, streiten oder peinigen würde: hier, wo sie so lange gelitten hatten, wo sie ihre ganze Lebenszeit zugebracht hatten, wo dreiviertel ihres Wesens getötet dalag: Stück für Stück aus ihrem Fleisch und Mark gerissen, Faser für Faser zerfetzt, Tropfen für Tropfen fortgefault war von Qual und Pest ... hier, auf diesem Schiffe voller Sorge und Schande, wo kein Mensch es je mehr würde ertragen können, zu wohnen!

Jawohl, und Gott helfe uns, wie kurz die Nacht war: und wer wußte, was dahinter lag! ...

Der rauhe Wind blies von den Kanonenpforten herein, ward zerstreut von den naßkalten Platten der grauen Stahlschilder, und wusch sich langsam durch Kleider und Fleisch. Er machte die Nerven zittern und hüpfen. Er zerbiß die Hände und zog einem das Gesicht zusammen: hin und wieder, wenn man auf eine Sekunde aus seinem Brüten auffuhr, infolge irgendeines Stöhnens der Seitenmänner, so hatte man ein Gefühl, als liege man schon da unten, in dem reißenden Meer von Kälte und Finsternis, und plätschere wild in dem letzten Schauder von Leben.

Peter Romanowitsch knöpfte seinen Mantel ganz bis an die Ohren zu, und ging an Deck hinauf.

Die See war pechrabenschwarz. Man konnte nicht sehen, wo das Schiff aufhörte und wo das Wasser anfing: als könne man schon bei dem nächsten Schritt Gefahr laufen, über Bord zu straucheln.

Der Himmel war eine einzige kohlschwarze Torwegwölbung.

Man spürte die Fahrt wie Zugwind.

Draußen an den Seiten liefen die lividen Wellenkämme und furchten die Luft mit ihrem blassen Gram.

Luschinskij beugte den Nacken hintenüber, gegen die scharfe Kante des Kragens, der leise knirschte, und streckte die Hände vor – eiskalt.

Da hörte er im selben Augenblick ein paar Aufschläge von Bjelostskijs Fußtritten; der hatte Wache und ging auf und nieder auf der Kommandobrücke, gerade über Peter Romanowitschs Kopf: es klang, als mache er mit Absicht Lärm: freilich, Bjelostskij-Goliath, der arme Gigant, der während der Einsamkeit der letzten Abende total vergessen hatte, daß er stärker war als die anderen!

Kä! Jawohl: Kräfte – verdammt und verflucht, wozu sollte man die auch wohl gebrauchen auf einer Fahrt wie diese, ach nein, im Gegenteil: hier sind Schwachheit weit mehr wert – denn sie machen es einem sicherlich leichter zu sterben! Gott helfe uns allen! –

Der Kommandant stelzte hastig von Ort zu Ort und nickte den Leuten zu.

Er hatte auch die voraufgehende Nacht nicht geschlafen, unaufhörlich überall unterwegs, überall bei der Arbeit mit dabei. In seinen Augen brannten Blitze des alten Feuers. Jedesmal, wenn er an einer neuen Schar Matrosen vorüberkam, die rings um ihre Kanonen herumsaßen, wurde seine Stimme stärker, und sein Kopf richtete sich mit einem Ruck in die Höhe:

»Gott segne euch, Kinder!« sagte er, auf einmal aus der Finsternis auftauchend, und trat an eine von den Gruppen heran. Er nahm seine Mütze ab, strich sich eine Sekunde über den Schädel, zwirbelte darauf zwischen zwei Fingern seinen Schnurrbart – der noch gelbgrauer, noch steifer aussah, denn je zuvor, spitz von Bajudz-Kenocz. Dann schlug er plötzlich mit beiden Händen aus:

»Ich verspreche euch Sieg!

Hört ihr: Ich verspreche euch Kampf und Sieg!

Ich verspreche euch Kampf, Sieg und Frieden! Gott und der heilige Andreas werden Rußland nicht im Stich lassen – wenn wir selbst nur wie Männer handeln wollen!

Hört jetzt einmal: Der Befehl des Admiral lautet, daß ihr nicht zu Bett gehen sollt – aber ich gebe euch die Erlaubnis, hier zu schlafen, auf eurem Platz!

Versucht ein wenig zu schlummern – wer weiß, vielleicht geschieht es auch erst morgen, daß wir mit dem Feind zusammen treffen!

Liebste Kinder: versucht, euch auszuruhen, so wie ihr da sitzet: die Ruhe, die man bekommen hat, kann uns niemand wegnehmen ... am allerwenigsten die kleinen, schiefäugigen Japanesen, nicht wahr!« – er nickte wieder, winkte mit der rechten Hand einen der Unteroffiziere zu sich heran in den Schein der Laterne und klopfte ihn auf die Schulter:

»Wohlan, Gurukowitsch, mein Sohn! Nun sieht es ja nach Avancement aus! Deine Frau und deine beiden kleinen, dicken Jungen, die ich über die Taufe gehalten habe, die lächeln sicher über Nacht in ihren Träumen!

Meinst du nicht auch?

Anastasia weiß sehr wohl, von allen den vielen Jahren: daß wenn du und ich zusammen sind, wir alle beide (und der Zar mit uns) Freude davon haben werden, wie?

Ach, Gurukowitsch: ich sehe, daß da noch ein kleiner, leerer Platz zwischen den Ehrenzeichen auf deiner Brust ist! Jetzt ist der Augenblick da, ihn zuzudecken!« sagte er und lachte. Der Laternenschein machte ihn gelb im Gesicht. Seine Mütze legte einen schwarzen Bogen von Schatten über seine Stirn und Nasenwurzel.

»Gott sei uns gnädig, Euer Hochwohlgeboren!« antwortete der Bootsmann, die Brust heraus, den Kommandeur unverwandt anstarrend. – »Ein kleiner, leerer Fleck auf meiner Brust, Euer Hoheit: gewiß, aber ob der nicht am Ende doch groß genug ist, daß ihn die Japaner finden können?

Ich habe gehört, daß sie heilscharf sehen können – auch bei Nacht!«

Und als Gregorow weg war, kicherten Unteroffiziere wie Mannschaften, indem sie einander anknurrten, bis es ihnen allen im Magen bubbelte und im Halse Bluff sagte. Sie rückten noch einen Stoß näher aneinander heran, und schlossen die Augen wieder, sich schüttelnd, murmelnd, mit langem Erbeben zwischen die Schulterblätter hinab. Wenn einer von ihnen eine oder auch zwei Minuten aufstand, aus irgendeinem Grunde, murrten seine beiden Seitenmänner, und klapperten plötzlich mit den Zähnen vor Kälte an dem Teil des Körpers, der nach ihm zugewandt gewesen war:

»Na, Wladimir!« stammelten sie, drehten auf einmal den Kopf von rechts nach links mit einem Ruck – »wie weit kommen wir doch mit deiner Geschichte, von eurem Gutsbesitzer und der Unschuld deiner Braut, die der Starost nicht beschützen wollte, kä, ich danke, ja, ja, die Großen, die wissen wohl, was sie tun – wenn sie uns Kleinen gütig zureden, wie, nicht wahr, und wir wissen, was wir wissen!

Oder was denkt ihr etwa von dem hochwohlgeborenen Herrn Gregorow, wenn der umherstolziert, den Sack voller Süßigkeiten! ...

Na, dann erzähl' nur mal zu!

Noch weiter, was?« ...

Einige von den Offizieren saßen unten in der Messe, ihr kurzbeiniges Glas vor sich.

Dr. Nakinskij kam einen Augenblick aus dem Operationszimmer herein, wo er beschäftigt war, Tee und Quas für die Leute zu kochen. Seine rechte Schulter hing ein Stück niedriger als die linke – als sei er allmählich in eine Ecke von sich selbst hinabgesunken:

»Sieh mal einer an!« sagte er lächelnd, indem er sich die Hände rieb – »hier bei Ihnen ist es, weiß Gott, warm, hell und gut!

Treffe ich die Herren noch an, wenn ich in einer halben Stunde aus dem Lazarett zurückkomme?

Geben Sie mir doch mal den Schlüssel zum Silberschrank, Kadett Reitzenstein, ich muß einen Punschlöffel für meine warme Mixtur haben!«

Reservearzt Mugin kicherte laut, bei dieser Bemerkung.

Er war an dem unteren Ende des Tisches untergebracht. Er hatte von seinem heißen Rumtoddy verschüttet, so daß da um den blanken Metallfuß des Glases ein länglicher, dunkler Fleck lag und ganz schwach dampfte:

»Das Lazarett! haha!« äußerte er, sobald Nakinskij das Zimmer wieder verlassen hatte; er sah sich um, das Kinn fast bis auf die Ellenbogen hinunter, die zwischen Asche und Zigarettenstummeln auf dem Tischtuch hingen; in den Muskeln des Oberarms hüpfend – »Ja, ich dank': »hier bei Ihnen ist es warm und gut, treffe ich die Herren noch an, wenn ich aus dem Lazarett zurückkomme«, kä!

Sagen Sie mir doch, gestatten Sie, meine Anwesenden, daß ich Sie ehrerbietigst frage, ob jemand von Ihnen – außer mir – sicher ist, lebendig über diese Sache über Nacht hinwegzukommen! Ich rede frisch von der Leber weg, ich bin ganz und gar kein Kriegsmann von Profession, man hat mich gezwungen, meine Tätigkeit auf dem festen Boden zu verlassen und meine Braut, die sich übrigens, als ich abreiste, in gesegneten Umständen befand; und sie hat nur mich, der für sie sorgt!

Ich bin hier gegen meinen Willen, ich habe vom allerersten Tage an protestiert – aber Gott sei Dank bin ich auf der anderen Seite, ziemlich überzeugt, doch wohlbehalten aus der ganzen Affäre herauszukommen!

Kissss!

Es sollte mich unleugbar freuen zu hören, ob jemand von den anderen Herren dasselbe von sich sagen kann!«

Graf Praxin leerte seinen Whiskypokal in einem langen, gurgelnden Zug, und streckte sofort seine weiße Hand nach mehr aus.

Er hatte seine winzig kleine goldene Uhr vor sich hingelegt. Seine Uniformbrust beulte sich zerknittert nach oben zu heraus, als habe er irgendein Paket da drinnen verwahrt. Wieder und wieder steckte er auf alle Fälle seine Finger da hinein, tastete damit hin und her, auf und nieder, während er ganz leise dazu lächelte. Jetzt runzelte er die Brauen und glotzte den Reservearzt eine Sekunde lang starr an. Ein roter Hauch huschte über sein Gesicht, aber dann lehnte er den Kopf hintenüber und zog schlürfend ein klein wenig Speichel wieder auf, das ihm auf die Lippe hinausgesickert war:

»Messieurs, messieurs ...« stammelte er speichelnd, mit einer dicken Zunge, offensichtlich betrunken. Sein linkes Auge saß ein wenig tiefer auf die Wange herab als das andere – »is' da ... sagen Sie mir doch, is' da ... is' da jemand von Ihnen, der daran gedacht hat, sich sämtlicher weißer Taschentücher und Tischtücher zu versichern ... zu dem Zweck, eine Garantie zu haben, sie eventuell gebrauchen zu können als Parla ... zu dem Zweck, eine Garantie zu haben, meine ich, daß die Mannschaft sich ihrer nicht bemächtigt und sie als Parlamentärflagge mißbraucht; wer weiß; ich bin so klug gewesen! ...

Na!

Was mich persönlich betrifft!« fügte er hinzu, indem er tödlich besoffen plötzlich in den Stuhl zurückglitt, so daß sein Nacken wagerecht gegen die Rückenlehne gestützt lag. Er lachte auf einmal leise, seine Stimme wurde immer heiserer und lallender, fast unhörbar:

» Ich fürchte bekanntlich selbstredend nichts!

Denn was ist der ganze Welt-Welt-Weltenraum mit den Erdbällen, die wir sehen, anderes, als die Kraft und der Same des ewigen, ungeheuren Liebhabers! Die Milchstraße ist seiner Befruchtung Flut, die Sonne und der Mond zielen nach mir, suchen Ruh' und Keimung in meinem Schoß zu finden, kä, ich weiß nicht, was die Herren von einem solchen wohlbeschützenden Schutz und solch einer ausgezeichneten Auszeichnung denken, ei du mein Gott!« – Seine Arme sanken an den Seiten herab, sein Antlitz erblaßte, bis es bläulich und gelb ward, er starrte zu der Decke empor; und redete weiter mit kurzen, abgerissenen Pausen zwischen den ununterscheidbar geflüsterten Worten:

»Ach, aber Sie haben natürlich alle gesehen, daß Sonne und Mond mich so sehnsuchtsvoll anglühen, bei Tag und bei Nacht! ...

Ganz gewiß, sie schluchzen beide vor Sehnsucht nach dem tiefen Raum meiner Lenden ...

Kkkk, sie zittern und jammern nach mir ...

Ja, klll, nach mir, der heimlichen, begnadeten Gattin der Welt ...

Ki!

Krrri!

Killll!

I' hab' nich' de' alle' gringsten Grun' b-b-ba-bange zu sein ...

Nich' de' alle' geringste' ...« ...

Luschinskij war an den Tisch getreten.

Er stützte die Ballen beider Hände gegen den Rand und zwinkerte mit den Augen:

»Erzählen Sie mir ...« sagte er schließlich, gedämpft, ganz dicht an Mugins Ohr, zu den anderen hinüberschielend, um zu sehen ob sie lauschten. – »Was meinten Sie eigentlich vorhin?

Was wollten Sie im Grunde andeuten mit der Frage, ob auch ich sicher sei, mit heiler Haut aus dieser Affäre über Nacht herauszukommen? Ich habe wichtige Sachen, die besorgt werden müssen – ehe ich ... eh' ich dies Schiff für immer in Frieden verlassen kann!

Sagen Sie mir ... jawohl, als Witz, oder auch nur als bloße und reine Äußerung von Verwirrung finde ich Ihre Bemerkung vorzüglich!

Aber sonst versteh' ich nicht ...

Was wissen Sie denn zuguterletzt?

Antworten Sie!«

Der Reservearzt hatte sich erhoben, die Stirn ganz karriert von Runzeln:

»Ich bitte Sie höflichst, mich in Ruhe zu lassen, Herr Premierleutnant! Ich meinte, Gott soll mich strafen, nicht das allergeringste! Sie sehen selbst, daß die Worte mir nur so aus dem Munde herausfielen, pardautz, nicht wahr, ich bereue meine Offenheit, was können Sie mit Billigkeit noch weiter verlangen?

Wie??« flüsterte er, indem er seinen Stuhl wegschob – und darauf ging er schnell die wenigen Schritte bis zur Treppe, die aus der Messe nach oben hinaufführte.

Aber Peter Romanowitsch folgte ihm, ohne selbst darüber nachzudenken, seine Hand fest in des anderen Rockkragen hineingehakt, offensichtlich lächelnd, ohne zu reden: aber in seinem Innern sagte er zu sich selbst: Gewiß, sintemal ich dafür sorgen muß, mich mit Iwan auszusprechen, und mir dadurch, das Recht zu erwerben, zu Eudoxia zurückzukehren, so bleibt mir nichts weiter übrig, als den da zu zwingen, seine Pläne von A bis Z zu enthüllen, heraus mit der Sprache, mein Gott! ...

»Lassen Sie uns zusammengehen, mein Freund, Sie und ich!

Kommen Sie!« erklärte er nur währenddes laut.

Aber gleich darauf, als sie alle beide, unbemerkt von den anderen, bis auf die zweitoberste Stufe gelangt waren, wo sich ihr Kopf und ihre Brust im Halbdunkel befanden, während die Stiefel weiße, blanke Flecke von Licht hatten – da schien es auf einmal, als wenn Mugin sich besonnen habe, oder er konnte sich plötzlich nicht mehr halten.

Jedenfalls drehte er sich jäh nach Luschinskij um, grinsend, das Antlitz strahlend:

»Gut, Herr Offizier!« sagte er, sehr leise, die Lippen ganz hinauf an Peter Romanowitschs Wange. – »In Gegenwart vieler würde es dumm von mir gewesen sein, meine Äußerung zu erklären, die an sich höchst leichtfertig war. Um so mehr, als ich ja auch Pflichten meiner Braut gegenüber habe, die übrigens unmittelbar bevor ich gezwungen war, sie zu verlassen, in gesegnete Umstände gekommen ist!

Aber hier, unter vier kameradlichen Augen, habe ich an und für sich nichts dagegen, Ihnen mein Wissen anzuvertrauen.

Ich baue auf Sie.

Gut, wohlan, Sie haben recht, ich meinte genau das, was ich sagte: Sintemal mein Platz während eines Kampfes unten im Lazarett ist, bin ich überzeugt wieder nach Hause zu gelangen! Denn dort unten ist's sicher! Das können Sie doch wohl verstehen! Selbstredend ist es total, ist es enorm zuverlässig unten im Lazarett – sonst hätte man es ja an einer anderen Stelle angelegt, das begreift sich doch von selbst! Die Sache ist einfach genug!

Und jetzt lassen Sie mich los, mein Herr, ich entsinne mich nicht Ihres geehrten Namens: lassen Sie mich in Frieden, ist es nicht häßlich genug von Ihnen, daß Sie mich zu dieser Erklärung gezwungen haben, Herrgott: versuchen Sie doch einmal, sich vorzustellen, was es heißen will, daß ich eine Braut daheim habe, na ja, ich bin kein Romantiker und sie auch nicht, aber deswegen lieben wir uns doch, wir passen vorzüglich zueinander; Herrgott: sie hat nichts weiter zum Leben, als meine Praxis, Familie hat sie nicht, übrigens ist sie im neunten Monat in diesen Tagen, sie ist obendrein von Natur ein wenig zart, ich habe seit drei Wochen kein Wort von ihr gehört, Herrgott: finden Sie nicht, daß das genug ist für einen Mann wie ich!

Lassen Sie mich gehen, mein Herr!

Lassen Sie mich los!

Hören Sie?«

Luschinskij gab die Schulter des anderen frei – plötzlich weiß ums Herz, erbleichend, wild. Blieb aber auf der Treppe stehen. Das Licht aus der Messe stieg empor wie eine gelbe Pyramide, aus flachen Schiefertafeln gebaut, die nach oben zu kürzer wurden; eine auf jeder Stufe.

Auch Mugin rührte sich nicht vom Fleck.

Jetzt beugte er sich langsam vornüber, lachte stark aber gedämpft, und klopfte sich darauf viermal langsam und lautlos auf das linke Knie:

»St, st!« sagte er, »das Lazarett! Brillant! Darf ich mir die untertänigste Frage erlauben, ob da auch nur ein einziger von den Herren ist – außer mir – der davon überzeugt ist, wohlbehalten aus der Schlacht über Nacht hervorzugehen; sie wird blutig, das können Sie mir glauben!

Ich bin kein Krieger, weder aus Neigung noch von Fach, und im übrigen ist meine Braut ... aber im Hospital ist es formidabel sicher! Diebssicher, sozusagen, kissss!

Sehr gut!

Sehr vorzüglich!

Darf ich mir allerdemütigst die winzige Frage erlauben, ob auch nur ein einziger Bruchteil von den Herr ...« – und damit nickte er Luschinskij wonnevoll, lautlachend zu; begriff sich, verneigte sich ernsthaft, und ging schnell, in ein leises Gekicher ausbrechend, die Treppe hinauf, in die Finsternis hinaus, war weg, entschwand.

Peter Romanowitsch fuhr fort, seine linke Hand rund um das Geländer zu klammern, und lauschte eifrig nach den Schritten des anderen, den Kopf auf die linke Seite gelegt.

Inwendig in ihm war nach und nach ein leeres und kohlschwarzes Gefühl entstanden:

Herrgott, dachte er: Ja ja, du mein Schöpfer, was sollte man nur zu einem Mann wie Mugin sagen, dieser verzweifelte Wurm: auch er sehnte sich ja danach, heimzukommen nach Rußland und zu seiner Eudoxia – die da drüben allein umherging, ohne Praxis und sich im neunten Monat in gesegneten Umständen befand ... im übrigen aber war es sicher im Lazarett! Ja – natürlich war es das, übrigens! Höchst sonderbar nur, daß diese Selbstverständlichkeit einem nicht schon früher eingefallen war! Im Grunde war es also, sozusagen, das allerbeste, was einem Menschen auf dieser Armada überhaupt passieren konnte: daß er eine Bagatelle verwundet wurde, nicht wahr? Ja, gewiß! Wer das Glück hatte, einen kleinen Riß hier oder da zu erhalten, der war auf der Stelle sicher, frisch, frei, frank von hier zu entkommen? ... Ach Jesus, jawohl, aber so sage mir doch einmal: was konnte einem nun dies alles helfen, solange man nicht zuvor seine privaten, sündigen Angelegenheiten geordnet hatte?! Iwan und er waren ja gegenseitige Mikroben, diese Sache war zuverlässig genug, leider: längst war Iwan tot – und nun war es offenbar seine Absicht, daß diesmal Peter Romanowitsch daran sollte, ohne Barmherzigkeit, Herr mein Gott, und erst darauf konnte man sich möglicherweise die Erlaubnis erwerben, zu Eudoxia heimzukehren: das alles hatte ja deutlich genug Iwan in der letzten Zeit proklamiert, Nacht für Nacht, und Bobr wollte, falls es nötig war, ihm Rache verschaffen, wozu soll ich doch nur greifen, Hilfe! ...

Es gab einen Ruck in Luschinskij, als er plötzlich hörte, was er sich selbst hier aus seinem allerinwendigsten Innern heraus erzählte. Seine Schultern fühlten sich so sonderbar schwer an: sie lagen wie ein paar Balken über seinem Herzen. Sein Blut rieselte wie Splitter durch seine Adern und Beine herab. Und oben, unter den Dachsparren seines Kopfes, dröhnte von neuem die ungeheure Einsamkeit aus den pechrabenschwarzen Abenden der vergangenen Woche:

Ach Gott!

Alles ist vorbei!

Meines Lebens Haus ist in Finsternis niedergebrochen!

Nur Mugin wird zurückgelangen – aber ich bekomme die Heimat, meine Eudoxia nie wieder zu sehen! ...

Sein Gesicht fiel mit einem Knix vornüber, er fühlte auf einmal einen lauwarmen, nassen Punkt auf seiner Hand, sah sich erstaunt um dabei ... und im selben Augenblick war da irgend etwas in seinen Adern und Muskeln: möglicherweise ein allerletzter Rest von Fleisch und Kraft in ihm, der gleichsam aufgeweckt wurde durch diese Bewegung, und der nun versuchen wollte, die Sache für ihn ins Reine zu bringen, trotz allem:

Kä! ›Mugin‹? Unsinn! ›Vorbei‹!? Ach nein, hol' mich der Teufel, Nonsens, nicht im geringsten war sein Leben vorbei, nicht im allergeringsten, im Gegenteil, wahrscheinlich war sogar das ganze Geschehnis mit dem Reservearzt und mit der Aufklärung über die Sicherheit im Hospital keineswegs etwas, worüber man sich zu beklagen hatte! Absolut nicht! So weit man sehen konnte, war es obendrein schlecht und recht ein Fingerzeig vom Himmel! Oder geradezu von Iwan selbst, wie, konnte man das nicht denken, ja freilich: Iwan war offenbar allmählich so unendlich gerührt worden über alle die Qualen, die man so viele Tage lang um seinetwillen erduldet hatte! Der brave Bursche vergoß Perlen von Tränen an Gottes Seite, schluchzte laut vor Ergriffenheit, fühlte seinen Busen komplett schmelzen – und hatte sich darauf augenblicklich die Erlaubnis vom lieben Gott erbettelt, seinem Mörder den ganzen Rest der Strafe zu erlassen, zu der er verurteilt war ... ja, ja, und das war, kurz und gut, der Grund, weshalb Mugin mirakulös gerade Peter Romanowitsch gegenüber sein Geheimnis verriet: nämlich um diesem Reumütigen den einzigen Ausweg zu zeigen, wie er sowohl seine Glieder als auch seine Gesundheit und sein Leben bewahren konnte!

Ach ja, selbstverständlich – dachte er weiter, grübelnd, plötzlich überrascht auf das Geländer niederguckend, das er noch immer festhielt: jetzt erst begriff er ja ganz und gar, daß er schon eine lange Zeit hindurch unter der Last der einsamen Nächte wirklich umhergegangen war, ganz davon überzeugt, daß er sterben müsse, geschlachtet, gemordet von Iwan – als Sühne und Buße für seinen an ihm begangenen Totschlag: nein, hahaha, sowas, Blödsinn!

Jawohl, freilich hatte er das getan – –: aber woher in aller Welt hatte man doch nur einen so wilden und unmenschlichen Einfall bekommen?!

Es war ja unerhört ... es war ja platterdings unmöglich, daß man so ganz von selbst hingehen konnte und sich so etwas ausdenken!

Kein lebendes Wesen kommt doch auf einen so verrückten Gedanken, sich selbst ohne Spur von Grund zu verurteilen!

Selbstredend tut man das nicht, aber ... jawohl, aber ...: von woher bekam er denn nur, diese mystische Idee an Tod und Gericht?

Wie?

Herr Christus!

Sollte es ... sollte es ... ja, sollte es also ganz einfach demnach eine flüsternde Stimme von Gott sein?!

Die unvermeidliche Stimme der Vergeltung – dieselbe, die sich auch in Bobrs lallenden Drohungen offenbarte?!

War es wirklich der Meister der Rache, der hohe, unbeugsame Führer der Heerscharen, der seinen Willen durch jene eigensinnige Idee verkündet hatte, deren Entstehen sonst so total unbegreiflich für einen selbst war?

Ach, Iwan, so vergiß denn meine kurze Sekunde voll Hochmut und Trotz! Jetzt weiß ich es wieder ganz genau: daß du mich noch keineswegs losgelassen hast – ebensowenig, wie ich dich loslassen will, ehe nicht alles mit Zinseszins bezahlt ist! ...

Peter Romanowitsch lehnte den Nacken hintenüber, mit weitgeöffneten Augen, elend – und erhob seine Hand, abschiedsvoll nach der Richtung hinwinkend, in der der Reservearzt verschwunden war:

Das war also nur eine neue Qual, mit der du mich züchtigtest, Iwan, indem du Mugin mir dies Mittel zur Rettung und Erlösung zeigen ließest – mir allein, von allen meinen Kollegen! ...

Unten aus der Messe, zu der die Tür noch offen stand, hörte er plötzlich das heisere Brüllen und Greinen der Kameraden:

Und es erschien ihm zum zweitenmal, als entdecke er jetzt: daß da zweifelsohne außer seinem gewöhnlichen Ich, das er so gut von dieser ganzen Fahrt her kannte – in der letzten Zeit zugleich irgend etwas Fremdes und bisher Unbekanntes in ihm aufgetaucht war. Etwas, das spornstreichs, sobald er allein war und nicht mit aller Macht aufpaßte, sofort seine Gedanken aufs Glatteis und auf verbotene Wege drängte – oder sie doch, auf alle Fälle, auf wahnwitzig dunklen Pfaden an solche Orte lenkte, wohin seine Arme, Beine und der ganze übrige Körper gar nicht zu folgen imstande waren! Ha, ja, bei meiner Seligkeit, seht jetzt einmal her, erst in diesem Moment, wo er von neuem die soliden Stimmen seiner Freunde unterschied, erst jetzt observierte er so recht, was für ein Erzgefasel, was für Lügen es im Grunde waren, alles das, worüber er hier nachgegrübelt hatte! Nicht wahr? Von einem Ende zum anderen Blödsinn! Pro primo: wie konnte er doch nur einmal in dem Maße abergläubisch und töricht sein, sich allen Ernstes auf eine solche Phantasterei einzulassen wie diese hier, die ihn selbst und Iwan betraf: Schnick, Schnack das Ganze, Hysterie, keine Rede davon, daß irgendein toter Mann einen Lebenden totschlagen kann! Keine Spur! Nie in diesem Leben! Meiner Treu! Wie? Das hättest du wirklich von selbst verstehen sollen, lieber Peter Romanowitsch, ohne daß deine Kollegen nötig hatten, sich mit Geschrei und Lärmen in deine Erwägungen zu mischen, wie? ... nun, und pro secundo: solche Prahlerei von Seiten Mugins, das mit dem Lazarett, haha, selbstredend war es gar nicht sonderlich sicherer dort als anderswo auf dem Schiff: Oder darf sich der Unterzeichnete vielleicht die untertänigste Frage erlauben, Herr Reservearzt Narr: was zum Teufel beabsichtigen Sie mit Ihrem schußsicheren Hospital zu tun, wenn die ganze Schute, vom Bug bis Ruder, nun binnen kurzem von einem blanken Torpedo mit einem Dampfhammer von vierhundert Kilo Shimoses Kraft zu Sägemehl und Eisenfeilspänen zerschmettert wird?

Haha!

Bewahre!

Eine Sache war es, seine schlechten Taten zu bereuen (und davon haben wir alle mehr als genug auf der Serviette, hier auf dieser Armada!): den Wunsch zu haben, sein ungewaschenes Leben noch einmal fleckenlos wieder zu leben; sich danach zu sehnen, einstmals, nach verbüßter und freiwilliger Strafe, den mit Süße erfüllten, wohlverdienten Frieden in Eudoxias güldenem Schoß zu genießen – jawohl, freilich, aber etwas ganz anderes ist es, zum Teufel auch, aus diesem Grunde in Alteweiberstreiche, Feigheit und Torheiten zu verfallen und seinen Körper und seine Seele widerstandslos dem Satan zu verschreiben, natürlich habe ich recht hierin! Aber, verdammt und verflucht, Herr Jesus, was soll ich doch nur tun, um mit heiler Haut aus dieser Mausefalle herauszukommen? ...

Luschinskij wandte das Gesicht nach den Stimmen hinab, die wieder aus der Messe aufkreischten.

Er hörte Gläserklirren; und Gekicher.

Sie waren scheinbar dabei, einen gemeinsamen Becher hinunterzugießen, die Kerle – während man selbst hier oben penibel stand und versuchte, die Situation für uns alle ins Reine zu bringen!

Ja, ich danke – dachte er weiter: aber so wenig hatte also all das Geschwätz bedeutet, das diese sämtlichen Kollegen da unten nun seit Monaten geführt hatten: entweder, ob man die Mannschaft dahin poussieren wolle, das Geschwader zur Umkehr zu zwingen, mitten während der Schlacht, und darauf schnurstraks zu Bräuten und Gattinnen heimzukehren – oder, ob man sie aufgeilen solle, daß sie sich dem Feind per Meuterei ergaben und dadurch den ersten Weltenfrieden in der Geschichte dieser Erde schufen, sofort, wenn der Kampf begonnen hatte! Ach Gott ja: da saßen nun alle seine Kameraden, toasteten und redeten Blech, ohne auch nur eine Hand zu rühren, ja, ohne auch nur eine Nagelwurzel in Bewegung zu setzen zur Ausführung dieser längst verabredeten Pläne zu gemeinsamer Befreiung vom Tode in Blei und Salzwasser!

Bedeutete das etwa: daß auch sie alle, ebenso wie er selbst, in erster Linie ihre intimen, unnennbaren Angelegenheiten mit Sterbenden und Toten in Ordnung bringen mußten ... oder daß sie, so wie Mugin, ein jeder für sich, ganz im geheimen, an das Lazarett gedacht hatten ... oder endlich: daß all das frühere Gerede über Kapitulation nur leeres Geschwätz und lose Worte, Gefasel und Unsinn gewesen war; daß man nur vorgegeben hatte, daran zu glauben, während man darüber schwatzte: weil es ganz einfach das einzige Unterhaltungsthema war, bei dem doch eine Spur nach auswärts und heimwärts wies!?

Kä, und von solchen lügenhaften Kollegen also hatte er sich in diesem Augenblick verlocken lassen, seine eigenen, tiefsten und persönlichsten Pläne aufzugeben und sogar zu verhöhnen – seine Pläne bezüglich selbstauferlegter Sühne und Buße, um sein Eudoxia gegebenes Versprechen, zu ihr heimzukehren, halten zu können?!!

Wie?!

Und nun Bogduroff?

Was war nun die Absicht mit seinem stummen Treiben in der monatelangen, lautlosen Einsamkeit: er meinte sicherlich in keinerlei Punkt dasselbe, wie die anderen, aber was denn?

Oder welche Todesart war es wohl, die Iwan einem bestimmt hatte, in Gemeinschaft mit Bobr – hoffentlich keine allzu ausgedehnte? ...

Luschinskij steckte verzweifelt das Kinn vor, begann langsam die Treppe weiter hinaufzugehen, heraus aus dem Lichtschein von unten her, hinein in die pechrabenschwarze Finsternis der Batterie: und im selben Nu fühlte er plötzlich ganz deutlich: daß da faktisch gleichsam zwei ganz verschiedene Individuen in ihm waren: ein dunkles und ein lichtes! Eins, das während des Schweigens und der Verlassenheit der letzten Nächte in ihm geboren war – ein anderes, das jeden Morgen erwachte, wenn er mit den Kameraden zusammen war!

Ja ha, hol' mich der Kuckuck, eigentlich sollte man also zusammengewachsene Brauen über seiner Nase haben: da man ein Mann im Sonnenschein war, aber ein Wehrwolf in der Dunkelheit!

Nicht wahr?

Oder, übrigens: war es nicht vielmehr umgekehrt?

Gewiß!

Jeden Tag, wenn er nur die Fratzen seiner Kameraden sah oder hörte – da fuhr all das Fremde in ihm in die Höhe! Aber in den Nächten ward sein wirkliches, uraltes Wesen von neuem aus Marfa Alexandrownas Schoß geboren und trank Kraft und Honig aus Eudoxias blütenvollem Busen!

Im Sonnenschein war er der wütende Schurke voll Fieber und Gewaltsamkeiten, der Iwan ohne Scheu totgeschlagen hatte – aber im Mondlicht saß er weinend da und brütete über seiner Reue und Schande! Danke sehr, hat man je so was gesehen: Krieg ist also, kurz gesagt, ein Messer, das mir nix, dir nix, die Leute mitten durch in zwei Hälften schneidet, wie roh!

Hä!

Ganz recht!

Aber hierzu kam, in dieser speziellen Nacht, noch folgendes, kompliziertes Dilemma: daß da auf der einen Seite allerdings Mitternacht war, und Einsamkeit zur Genüge; also Umstände, die dem besseren Menschen in einem die Alleinherrschaft verschaffen sollten ... gleichzeitig waren ja aber auch alle Kameraden wach und bewegten sich mit Gekicher oder Gebrüll rings um einen herum, was bewirkte, daß auch der Flegel im Charakter sich höchst lebendig einstellte mit einem Fluch!

Hol' mich der Teufel!

Ach Gott!

Nun ahne ich gar nicht mehr, wer in mir selbst ist!

O, Herr Christus, und wie unendlich lang doch die Nacht über Nacht ist! ...

Die Stunden krochen; als benutzten sie die Finsternis und alle diese schwarzen Gedanken, um ganz im verborgenen jede einzelne Minute zwei-, dreimal durchzunehmen, ehe sie sie von sich gaben: diese Minuten, die möglicherweise die letzten waren, mit denen sie jemals zu schaffen haben würden ...

Gegen ein Uhr nahm sich der Wind ein klein wenig auf.

Die Ventilatoren – deren obere Teile man noch nicht entfernt hatte – ragten über dem Deck empor wie kopflose Riesenhälse mit offenen, rotschimmernden Rachen. Sie brüllten unaufhörlich, leise: als sei der ungeheure Chor von Bakterien und Miasmen endlich soweit gelangt, sich durch sie hindurch einen Weg zu bahnen, von da unten her aus den bebenden Mannschaften, die in der Tiefe des Schiffes jammerten ...

Peter Romanowitsch war auf die Kommandobrücke hinaufgegangen zu Starck, der die Hundewache hatte.

Sie standen oben über dem wollartigen, grauen Deckel des Turmes und starrten in die Dunkelheit hinaus, die vorüberbrauste. Der Wind zerrte an ihren Mänteln, die schwer um ihre Knie klatschten – und er fühlte sich auf der Gesichtshaut an, wie Regen. Das Arbeiten der Maschinen ging wie ein Schaudern durch die Stahlpfeiler der Brücke und verpflanzte sich kalt, zitternd, in die Knochen der beiden.

Auf dem Laufgang, der nach hinten führte, hörten sie, hin und wieder, ein einzelnes Stapfen der Schritte des Navigationsoffiziers, Oberleutnant Orloff.

Gregorow kam auf der Leiter herauf, strauchelnd mit plumpen Metallbumpsen. Er schlenkerte hastig mit den kurzen Armen und sackte ein bißchen in den Knien ein:

»Alles wohl, alles wohl?« fragte er, auf seinem Wege nach achtern, indem er ein ganz klein wenig grüßte, die Augen nur halb geöffnet – »Wir haben ja ... nicht wahr ... wir haben ja Quelpart passiert?

Wie?

Nun gut!« – Und dann war er in der Dunkelheit verschwunden, mit dumpfen Schritten über den geriefelten eisernen Boden dahinpolternd.

Einige Ellen weiter nach links zu stand Bogduroff.

Luschinskij hatte ihn endlich gefunden. Aber auch diesmal war es ihm nicht möglich, einen Vorwand zu ersinnen, unter dem er ein Gespräch mit ihm anknüpfen konnte. Fedor Werowitsch war, soweit man es erkennen konnte, damit beschäftigt, vor sich hinzustarren – mit beiden Ellenbogen auf das Geländer gestützt, den Kopf seitwärts gegen den dicken Gummischlauch gelehnt, der lotrecht auf der Schulterstütze des Schnellfeuergeschützes saß. Sein großer Bart wehte. Hin und wieder schien es Peter Romanowitsch, als könne er hören, daß da drüben irgend etwas geflüstert wurde.

Hol' mich der Teufel, dachte Luschinskij schließlich, plötzlich ärgerlich und beleidigt, entweder auf sich selbst oder auf den anderen, er wußte es selbst nicht: Sprich laut, du schwarzes Gespenst, oder auch halt dein Maulwerk im Zaum!

Weißt du denn gar nicht, daß es höchst unpassend, Ärgernis erregend, ja plebejisch ist, so dazustehen und zu murmeln und für sich zu schwatzen, wenn andere in der Nähe sind?

Wie, du?

Haha!

Ja!

Ganz sicher! Ha, Bogduroff, entsinnst du dich wirklich nicht im geringsten mehr unserer ehemaligen nächtlichen Konversation einstmals auf den Doggerbanks – wo du wild drauf los predigtest, wo du mir die blinden Augen in einem Nu für den verrückten Gang des Lebens eröffnetest, während ich selbst keinen Seufzer über die Lippen brachte! Höre jetzt, du: Rede wieder mit mir, wie damals! Du weißt es: deine Worte vergesse ich nimmermehr! Sage mir, Chinesentiger und Forteroberer, erzähle mir: ob es Hoffnungslosigkeit oder Aussichten sind, was dich so schwer und tief macht? Ist es Scham über uns alle – über dich selbst, über mich, über das widerliche Treiben der ganzen Armada?

Ach, Fedor Werowitsch, du Großer: hast du denn ganz den Gebrauch deiner Zunge verloren ... oder fragst auch du, hol' mich der Kuckuck, vielleicht dich selbst in dieser Sekunde: ob es im Hospital wohl sicher ist!

Ksss!

Kk!

Schafskopf!

Was zum Teufel auch, glaubst du, daß es mich, in Wirklichkeit, schert, ob du herumkalberst und dich über harte Nüsse weich spekulierst! ...

Peter Romanowitsch wandte sich darauf, den Kragen in die Nackenhaare hinaufstreifend, nach Starck um:

»Jawohl!« sagte er, sehr laut, Bogduroff völlig den Rücken zukehrend, die Zähne eiskalt von dem Wind bis in den Hals hinein – »hören Sie einmal, Starck, alter Junge, nicht wahr ... was wollt' ich doch gleich sagen?

Na, nun geht es wohl bald los, glauben Sie nicht auch?

Oder grübeln Sie noch immer ausschließlich über die braune Dame in Diego nach, die Ihrer äußerst glaubhaften Behauptung zufolge genau so roch wie Absinth, Wermut und Chartreuse: haha, sie hatte also offenbar von unserer gesamten besoffenen Messe Besuch gehabt, unmittelbar bevor Sie sie beschnüffelten mit Ihrem sonderbaren Rüssel, hahaha, ja, ganz einfach, aber was geht das mich an: wie süß, wenn man sich nur l-l-liebet – und, Gott, wie sie an Ihnen hing!

Wie?

Nicht wahr?

Ja ja! Didelidelum, werden Sie nur nicht böse, Freund: da sind, verdammt und verflucht, zween fremde Herren – ich kenne jedenfalls nur den einen von ihnen; aber welchen, daß weiß ich bei Gott noch nicht – die abwechselnd aus mir heraus reden, sobald ich über Nacht das Maul aufmache, nehmen Sie mir deshalb meine Grobheit oben nicht übel!

Hahaha!

Kk!

Hören Sie, übrigens, sagen Sie mir einmal, Starck, kleines Kameradchen, Scherz beiseite, was ist nun Ihre Ansicht: ein Mann, ist das einer in Hosen, der stumm herumtrabt und in allen Ecken flennt ... oder ist das nicht vielmehr einer, der sich offen ausspricht – und seinen Kameraden auch dazu verhilft!

Haha!

Id est: Dreck und Scheiße! Bester Starck, geben Sie sich nicht damit ab, den Satz zu studieren: ich glaube bestimmt, daß ich ihn aus irgendeinem Hintertreppenroman habe, so klang er wenigstens!

Und das ist nun also mein Witz heute abend!

Adieu und auf Wiedersehen!

Hahaha!

Wie?

Und glückliche Wache, Verehrtester, in dieser Nacht, die schwanger ist von Schwarzem und Kriechendem – so wie Mura-o-as dunkle Inexpressibles! A propos: ist das wohl ein blutiger Stern, oder ein Schimmer ihres leibhaftigen roten Schoßes: das, was da so fern da drüben aufblitzt – – der Hölle zu!

Sagen Sie mir, war dies letzte wohl der verkehrte oder der richtige Herr Ich, der redete?

Kä!

Gott sei uns allen gnädig!« – Und damit schickte sich Peter Romanowitsch an, beklommen nach der Leiter hinzuschwanken – um schleunigst hinabzukommen, allein mit sich zu bleiben, und auf die Weise das verworrene Visitenkartenverhältnis seiner Seele ins Reine zu bringen.

Die Dunkelheit wirkte, als sei ihm eine beschützende Maske von seinem Gesicht genommen; wie eine brennende Hautlosigkeit, die einen schmerzvoll verzerrt in Stirn und Lippen machte, das Blut glühend in alle Poren hinauszerrte und einem das Herz zu einem Brand entfachte.

Die Stunden standen fast still, schaudernd, hicksend vor Warten und Sehnen.

Ach, du mein Gott!

Die Minuten zogen die Sekunden mehr und mehr in die Länge, machten sie ellenlang, spannten sie dünne aus, bis sie mit leisem, spinnendem Laut einem ins Ohr hineinklagten – und versuchten trotzdem, sie noch ein klein wenig mehr auszuziehen, bis sie schließlich mit einem Jammern zersprangen ...

Unten im Lazarett schlingerten die vierzig Hängematten im Seegang, je zu zweien übereinander aufgehängt zwischen vier braunen Pfählen, an den Wänden des ovalen Raums entlang – die Laken in einem breiten Rande um die gelblichgrauen Wolldecken gebogen. Gestern nachmittag hatte Nakinskij, in der Aussicht auf eine eventuelle, nächtliche Bataille, im ganzen Raum klar Deck gemacht, indem er die Kranken an Bord des Hospitalschiffes hatte bringen lassen, das den Fußspuren der Armada folgte – oder auch, sie waren gesund gemeldet. Aber schon jetzt waren etwa zehn Betten von neuem wieder besetzt.

Die beklommene Luft hatte etwas fettig-fahles – war bitter von Kampfer und Karbol, süßlich von Opiaten und von Chloroformdünsten. Sie zitterte dick um die vier elektrischen Flammen herum, die in einer Reihe von der Decke herabhingen. Von den Patienten schwälte ein qualmender Dampf auf – aus ihren verpesteten Rachen, Mägen und Gedärmen.

Der zweite Reservearzt Dobrotworskij saß – mit einer schwarzen Binde um sein stinkendes rechtes Auge – in der hintersten Ecke, zusammengekrümmt oben auf dem Sitz eines Stuhls, die Absätze seiner Morgenschuhe in den Rand festgehakt, murmelnd, brütend. Wenn das langgezogen wiegende Jammern der Kranken sich hin und wieder höher erhob zu irgendeiner kreischenden Spitze – entfuhr ein Zucken und ein bubbelndes Kichern seinen dünnen, weißen, schuppenübersäten Lippen in dem bartlosen Gesicht. Er sah sich verwirrt um mit seinem einäugigen Blick voll Mürrischkeit und Scheu, und begann gleich von neuem wieder, vor sich hin zu murmeln und brummen:

»Kä!

Jemini ... Gott segn' mich ... brüllt ihr nur dahinten: euch kann doch keine Menschenseele helfen, ich rühr', weiß Gott, keine Hand mehr! ...

Singt ihr nur drauf los ... ja singt euer eintöniges Melodrama aus Schleim und Röcheln, kä, eure klimpernde Serenade aus Qual und Haß und Vergiftung und Tod! Ich schließe wahrhaftiger Gott, meine Ohren! ...

Ach, wüßtest du doch, mein lieber Papa, der du so warm daheim sitzest und dich hinterm Ohr kratzest vor Entrüstung, während du das Gewäsch in den Zeitungen liest – ach, könntest du doch fühlen, auf welche Weise ich dir in meinem Herzen dafür danke, daß du mich überprahlt hast, freiwillig diese Fahrt mitzumachen zu Rußlands Ehre!

Oh ho ho, äh bäh, kssss, jawohl, um des glorreichen Rußlands willen ... sterben wir alle zusammen, dreiundzwanzig Jahr alt, an Hunger und an Fäulnisgeschwüren im Bauch – an Mißtrauen und Schurkenstreichen krepieren wir alle miteinander, ist das nicht wunderbar pa-pa-pa-patriotisch! Das heißt: Wartet ihr nur, bis wir nach Hause kommen! Dann wollen wir euch mit einem Radau dieselbe Freundlichkeit erweisen, die ihr uns gezeigt habt! Und wir wollen die Blase mit Juchhe ausrotten – von dem Friedensapostel Nikolaj bis zu dem kleinsten Sprößling in der Wiege! Von den fetten Ministern – bis zu den mageren Kopisten, die nur danach hinschielen, wie sie eine Kopeke stehlen können!

Laßt uns nur zurückkommen, mein Gott, früh oder spät!

Oh, laßt uns am Leben, damit wir unsere Rache bekommen!

O Gott, laß uns noch nicht sterben! ...

O Got' ...

O G' ...«

Im Bett neben seinem Taburett lag Matrose 84: er, der gestern abend in der blinden und albernen Hoffnung den Anfang einer effektiven Rettung für jedermann an Bord zu schaffen, versucht hatte, Gregorow mit seinem Gewehr totzuschießen. Und der darauf, als diese Tat auf Grund von Zitterei in seinen Nerven total mißglückte, geradezu, bumms, in eine jener ungeheuren, ewig wandernden Maschinen hinabgesprungen war: mit einem Klatschen von seinem Treibriemen nahm sie ihn ohne sonderliche Redensarten in Empfang, führte ihn besonnen zu dem großen Schwungrad hin, das gedankenschwer seine Füße, Schienbeine, Knie und Schenkel zu Labskunsch kaute und ihn dann friedlich auf den eisengegitterten Boden zehn Ellen tiefer herab fallen ließ – zur Disposition des Arztes. Nun lag er da, einigermaßen zusammengeflickt, nicht wahr, und fein eingebunden über den ganzen Körper, was, und hatte noch ein paar arbeitsfreie Tage übrig, um sein Leben fertig zu leben und um seine Rechnung mit sich selbst aufzumachen. Das Gesicht war die Kreuz, die Quer in Weiß eingehüllt, so niedlich; eine schwarze Sicherheitsnadel saß ihm mitten in der Stirn, er konnte sie fühlen, wenn er die Brauen runzelte; übrigens sah man nur seine Augen, die sich glänzend, in kleinen Sprüngen, von dem Fußende des Lagers hinauf zu der blanken Decke und wieder zurück fortbewegten, blinzelnd; dem linken Auge wurde es ein wenig schwer, der Bewegung zu folgen, aber was scherte ihn das weiter, sintemal die ganze Blickmotion nur zum Zeitvertreib geschah! Ach was, hier lag er, mit einem schönen weichen Klumpen, der laut darinnen in seinem Nacken sang, und hatte, kurz und gut, die Ruhe gefunden: hätte man nun bloß sein Gedächtnis an die zu Hause vergessen können, an Vater und Mutter, o Herr Jesus, wir werden ja geboren, ohne darum gebeten zu haben – sollten wir dann nicht eine Art von Recht zu sterben haben, wenn alles für uns schief geht ... Mutter, wein' nur nicht wieder, ich-ch hab' ihn ja nich' getroffen ...

Dr. Nakinskij kam und ging, stundenlang – gefolgt von dem ersten Reservearzt, der eine große, braune Tüte aus Packpapier auf dem Arm trug; und von vier Krankenwärtern, die je zu zweien eine schwere Spülkumme mit dem siedend heißen Tee und Branntwein zwischen sich hatten:

»Seht her, Leute!« sagte der Arzt, wenn er und seine Begleiter sich an einen neuen Kreis von Matrosen herangeschleppt hatten: »Nehmt nur ein paar Haferkakes von meinen privaten und einen warmen Schluck unter die Weste!

Wie?

Ein Feuertrank – und eine Medizin zugleich!

(Vier Kakes für jeden, Timon Arkadiewitsch, Herr Gott, so schlafen Sie doch nicht ein, während Sie zählen): das wird eure Mägen schon in Ordnung bringen, wie?

... Eure Mägen ... in ... Ordnung ...

Na!

Kommt her, kommt her, hol' mich der Teufel, kommt her, hab' ich in der späten Nacht dagestanden und euch diesen mächtigen Kessel voll gebraut – so ist es doch wohl eure Pflicht, ihn zu leeren, bis auf die Scharren, aus guten Sachen ist der Trank gemacht, nicht wahr?

Der nächste Mann vor! ...«

Die Mannschaft vermochte nicht mehr zu schlafen.

Sie standen oder saßen, aufrecht auf dem rohen Fußboden, ohne zu sprechen, beständig in ihren Halbzirkeln rings um das Geschütz herum. Die geputzten Bodenstücke der Kanonen leuchteten vag, gleich weißlichen Phosphorflecken im Halbdunkel. Die Zahnräder glänzten gelblich und fett. Ein fahler Schimmer fing an, durch die Luken hereinzusickern – das Licht der Laternen wurde sonderbar rötlich dadurch.

Sie verschlangen ausgehungert Nakinskijs Kakes – schmatzend, ohne auch nur vorher an diesen runden, körnigen, fremden Dingern zu schnüffeln. Jedesmal, wenn sich die Lippen hoben, sah man das blasse, geschwollene Zahnfleisch, das gleichsam lose von dem Gaumen herabhing.

Erst hinterher lutschten sie mißtrauisch an ihrem Gebiß, an dem noch einige klitschige Körner klebten – und sie schmeckten hin und wieder, unruhig, mit gerunzelten Brauen, wieder und wieder den süßen Speichel, der während des Kauens in ihrem Munde zusammengelaufen war.

Dann tranken sie den Teegrog – mürrisch, schulend, über alle Ränder verschüttend – während alles in ihnen mit ganzer Macht angespannt war: um zu erlauschen, ob nicht von da draußen her jener leise, gurgelnde Laut kommen sollte, der verkündete, daß ein Torpedo oder ein Unterseeboot im Anmarsch war, um sie zu treffen und sie alle zusammen totzuschlagen.

Jedesmal, wenn sich der Arzt besonders aufraffte, und versuchte, sie mit Schwatzen und Scherzen zu ermuntern, sprühten hastige Blitze aus ihren entzündeten Augen – und darauf zogen sie sich ohne Antwort von ihm zurück, einer nach dem anderen, danke, halt's Maul, sie hatten mehr als genug von ihren Vorgesetzten bekommen, zur Hölle mit allen den Lügenpetern, Galgendieben und Selbstbereicherern, macht, daß ihr wegkommt oder ich beiße, laßt uns anderswo hingehen, Kameraden: wo uns niemand in unserem Lauschen stört ... und schließlich merkte Nakinskij es; er ließ den Kopf ein wenig mehr vornüber hängen als bisher, und dann humpelte er langsam auf die nächste Batterie hinaus, wo der neue Pope, der hochehrwürdige Herr Forsoff, ebenfalls umherwanderte und mit den Leuten zu reden versuchte.

Aber auch ihn wollten sie nicht anhören – mit den Augen hatte sich jeder Mann eine Rettungsboje ausgesucht.

Und sobald irgendein plötzlicher Laut ertönte, huschte ein Zucken über das Gesicht und die Fäuste der Matrosen: hin zu den Pfeilern der Mittelwand, an der die breiten, weißgemalten Korkgürtel hingen und blaß aussahen, in dem schwachen, grauen Tageslicht ...

Die Offiziere hielten sich beständig einander fern.

Sie hatten sich nun darauf gelegt, frierend nach dem rauchenden Horizont hinauszustarren: würde es denn nicht bald ernst mit dem Torpedoangriff, auf den man jetzt, weiß Gott, so lange gewartet hatte! oder mochte doch ein Submarinier das Schiff auf einmal tranchieren, bitte schön, und sie alle, Mann für Mann (jawohl, gerade: Mann für Mann – namentlich keine Ausnahmen!), plötzlich meilentief in das eisige Wasser, bis auf den Grund herabsenden – so daß man seine Nerven wunderbar baden konnte, bis in alle Fibern und Zellen hinein! So daß einem alle Bazillen und Eiterklumpen gründlich aus dem Kopf gewaschen wurden, und man unangetastet in Kühle und Ruhe hinschwindeln konnte, sanft hinabsinken auf den Tang – und dem Herrn Tod serviert werden konnte, garniert mit dieser Unterseepetersilie!

Oh, höre nun her, ewiger Gott, laß es doch bald Tag werden!

Laß die Sonne aufgehend die dunklen Dünste zerstreuen! Erfülle die Luft mit Licht und Klarheit, so daß wir unsere Feinde erblicken und so viele wie nur möglich von ihnen töten können, ehe wir selbst niedergehauen werden! Laß uns alle miteinander Struïns Brüder werden – laß uns getötet werden, während wir noch den blanken Dolch blutrot in unserer Rechten geballt halten!

Herr: da wir doch alle wissen, daß es uns unmöglich ist, zu siegen, daß wir nur Schande und Schmach und Tod ernten können – so drehe den Himmel zu einem Keil in deiner Hand, zu einem donnerblauen Schwert, und gib uns den Gnadenstoß jetzt, mit einem Blitz!

Oder, o, du Allmächtiger, du brennender Dornbusch: wenn du nichts von alledem für uns tun willst, so streiche denn statt dessen mit deinem glühenden Atem über die Herzen und Sinne der Mannschaft, laß sie in einen Schrei ausbrechen und ihre Waffen gegen uns führen! Laß sie in dieser Sekunde uns alle abschlachten – so daß wir erbleichend, ohne unseren Posten zu verlassen, lächelnd umsinken können und die Ruhe bei dir erlangen! aber beeile dich, es hastet, du mußt es sofort geschehen lassen, ich werde bitter und krank von dem langen Warten: nun, so komme nur, so komme doch, so komme doch zum Teufel auch, in einem Ruff mit der Meuterei!

Herr, hol' mich der Satan, wie lange soll ich vergebens zu dir flehen: höre, ich habe noch einen Vorschlag, da du dich so kostbar machst, du wählerischer Schlaumeier:

Herr, wenn wir doch nur Niederlage und Schuld vor uns haben, so gib mir den Mut, den Schritt bis ans Ende zu tun, selbst ein Gewehr zu ergreifen und mit einem Knall in deinen Armen umzufallen, in deinem holdseligen Frieden, der von Ewigkeit zu Ewigkeit währt, nicht wahr, ach Gott, pfui, hol' mich der Deubel, du eigensinnige Kreatur da oben, ja, du nennst dich barmherzig und gerecht – und dann findest du dich fröhlich darein, daß wir auf eine Armada wie diese hinausgeschleudert werden, um im Geifer zu sterben! Aber nun will ich dir, bei meiner Seligkeit, auch den Rat erteilen, daß du mich nie wieder nach Russia zurückkehren läßt! Die Schlingel daheim; all meine Kraft will ich dazu weihen, um das Land in ihrem Blut reinzuwaschen! bei Jesus und Georg, nieder mit dem Thron und der Kirche, sie haben uns alle betrogen, alle beide ...

Oberleutnant Bogduroff saß unten in seiner Kammer, vor seinem Tisch – die halbgeöffnete Schublade stach ihn in den Magen hinein.

Nakinskij, der gerade mit seiner so wohlgelungenen Verteilung von Essen, Getränken und Ermunterung an die Leute fertig geworden, war matt in das Sofa ihm gegenüber geplumpst, und hatte sogleich seinen Nacken hintenüber gegen die Wand verloren.

Fedor Werowitsch zog ein Päckchen Briefschaften hervor, mit einem feinen, hellgelben Seidenbändchen umwunden:

»Sehen Sie!« sagte er auf einmal – »hier habe ich nun dreiundzwanzig Episteln.

Von meiner Mutter.

Nur die siebzehn ersten davon habe ich gelesen!« – Er kniff die Augen zusammen, lachte, glotzte dem Arzt über den Kopf hinweg, und fuhr dann, plötzlich schneller redend, fort:

»Sie hat also zweihundert Stunden daheim an ihrem Schreibtisch gesessen, tausend Meilen von hier entfernt. Und hat all dies Papier hier mit dem Repertoire ihres Flammeries gefüllt – mit jener Liebe zum Mut und zum Heroismus, die mein ganzes Geschlecht beseelt hat, von meinem langen Stammvater her, der unter Battu Chan mit den Tartaren ins Land kam, vielleicht der erste Mann in Europa, der Pulver gerochen hat – und ohne Unterbrechungen bis hinab zu meinem Vater und mir! Sie ist dunkelrot im Gesicht gewesen, sie hat bei jedem Wort gebebt, das sie geschrieben hat – weil sie mich so nahe fühlte und mich so fern wußte, ihr einziges Kind.

Und die letzten sechs von diesen Brandreden habe ich nicht einmal geöffnet!

Wohlan!

Ja, an und für sich ist das Ganze ja einfach genug – schließlich.

Aber dessen ungeachtet habe ich zwei Monate gebraucht, um mich selbst nach dem eigentlichen Grund zu fragen, weshalb ich diese Briefe nicht geöffnet habe: habe ich etwa keine Zeit oder keine Lust dazu gehabt; oder fand ich, daß es zuguterletzt gleichgültig sein könne, ob ich sie las – wenn nur sie die Freude hatte, die es ihr gewährt, sie zu schreiben ... oder wagte ich es ganz einfach nicht mehr, mich von Angesicht zu Angesicht all der Tapferkeit, all dem unerschütterlichen Glauben an Rußland gegenüber zu stellen, wovon sie, das wußte ich aus alter Zeit, handelten ... oder, endlich: war es vielleicht, im Gegenteil, ein Übermaß an Courage meinerseits: eine speziell männliche Überwindung des greulichen Bedürfnisses nach Trost, das die ganze Armada wie ein Fieber verzehrt??

Kurz, ist es Mut – oder Feigheit von mir ... darüber habe ich lange nachgegrübelt!«

Er legte das Bündel wieder genau an seinen Platz in der Schublade – zwischen einen Haufen großer Dienstschreiben, ein paar Photographien, die eine vergilbte, ausgefranste Rückseite nach oben kehrten, eine Menge kleiner, länglicher, blauer Pappschachteln mit Revolvermunition, und zwei mächtigen Berdanpistolen.

Dann erhob er sich von seinem Stuhl, mit einem etwas anderen Gesicht als zuvor, lachend; ging einige Schritte in der Kammer auf und nieder, hob seine langen Arme in die Höhe, so daß der Rock in dicken Falten über seinen Schultern saß. Es sah so aus, als tue er das, um so recht seine Knochen, seine Sehnen, seine Muskeln gründlich zu fühlen – nach all dieser Grübelei, auf die er eben hingedeutet hatte; oder als sei ihm auf einmal eingefallen, daß es gewiß verständig sei, auch vom rein körperlichen Standpunkt aus, sich so viel wie möglich zu rühren, so lange es noch Zeit war.

Nakinskij hatte die linke Braue ganz in die Stirn hinauf gezogen, um auch seinerseits nicht ganz müßig zu sein in bezug auf körperliche Bewegung – während er ebenso instinktiv und in aller Stille die Chancen für (und die Konsequenzen von) jeder einzelnen seiner beiden Erklärungen der Manieren des anderen erwog; jetzt schielte er noch einmal hastig nach Bogduroff hinüber, schob dann das Kinn resolut vor, trank einen Schluck von seinem Whisky, räusperte sich:

»Hallo!« begann er dann, innerlich beständig mit aller Macht grübelnd – indem er seine Augen von dem Oberleutnant abwandte – »wie beredt Sie auf einmal geworden sind, Fedor Werowitsch!

Warum haben Sie nun eigentlich in so wohltuender Weise ganze acht Wochen lang den Mund gehalten – wenn Sie doch die Absicht hatten, wieder schwatzen zu wollen?

Was geht, mit anderen Worten, eigentlich mit Ihnen vor, in dieser gar zu malitiösen Morgenstunde – von deren Herbheit, die auch ich habe empfinden müssen, ich mich jetzt zu erholen suche, indem ich hier sitze und mich wunderschön auf Ihrem herrlichen Sofa ausruhe! ...

Sagen Sie mir doch, bilden Sie sich möglicherweise ein, daß Sie ein schwarzer Schwan sind, wie, in Veranlassung Ihres kohlfarbigen Bartes, der Ihnen so majestätisch über das Weiße des Manschettenhemdes hinabsegelt – und daß Sie daher größere persönliche Verpflichtungen als wir anderen haben, in bezug auf Musik und Gesang, ehe wir eventuell kämpfen sollen, heute, morgen, oder der Kuckuck weiß, wann?

Wie? ...

Mut – oder Feigheit, sagen Sie!?« fuhr er gleich darauf fort, jäh, sich ein wenig vom Sitz aufrichtend, mit einem kurzen, kleinen, fast zärtlichen Lachen – »Unsinn, Bogduroff, ich habe Sie immer aufrichtigen Herzens bewundert, aber wie das doch einem heldenmäßigen Mann, wie Ihnen (dem Sohn einer Suite von neunzehn Heroen, oder wieviel es nun sein mögen!) ähnelt: nach einem zweimonatlichen Untertauchen in den klaren und spiegelnden See des Schweigens, so auf einmal auf diese lärmende Weise in die Höhe zu schnellen: prustend, plätschernd, spritzend, sich das Wasser aus den Ohren schüttelnd, und zu fragen: meine Herren, ist das nun eigentlich Poltronerie – oder Courage!

Ja, ja, Verehrtester, ich habe, weiß Gott, ganz und gar nicht die Absicht, mich auf irgendeine Definition oder Schätzung der beiden Dinge einzulassen! Bisher habe ich nur das eine observiert: daß der liebe Gott offenbar alle Mittel anwendet, um seine dunklen Pläne mit uns Menschen zu fördern, um uns aufwärts, dem Lichte zuzuführen!

Einmal habe ich dahingegen einen klugen Bauersmann getroffen; er kam zu mir und wollte gern Bescheid für einen seiner Jungen haben, der wohl Lust hatte zu studieren. Das war, während ich in Wologda wohnte, eine verdammt mangelhafte Praxis in ökonomischer Beziehung – aber Patienten waren da übrigens auch nicht, die Kälte konservierte da, weiß Gott, ganz einfach Menschen wie Mammuts, bilde ich mir ein. Nun, aber wir gerieten in eine längere Unterhaltung mit einander. Sagen Sie mir doch, frug er dann schließlich; wir hatten über Kollegien, über Universitäten, und über dergleichen mehr gesprochen: erzählen Sie mir doch, was in Fimbuls Namen sollen diese Bengels nun eigentlich mit all den Examen: erst ein Stücker zehn, zwölf in der Schule, und dann noch eine ganze Reihe dazu, später, Jahr für Jahr!? Warum kann man sich nicht damit begnügen, sie kurz und gut das zu lehren, was sie können müssen – ich finde, die Examen sehen nur so aus, als wenn man an der Tüchtigkeit der Lehrer zweifelte ... ja ha, so redete dieser schneidige, alte Kerl, der also die Menschen nicht genügend kannte, um zu wissen, daß wir, weiß Gott, alle zusammen verlangen, daß da hin und wieder eine größere oder kleinere Prüfung über das abgehalten wird, wozu wir taugen – – sonst endet es nur damit, daß nicht einmal wir selbst uns zutrauen, daß wir zu etwas zu gebrauchen sind!

Sehen Sie, Fedor Werowitsch: und ich meinerseits glaube, daß unsere Leben hier auf Erden (und deren haben wir eine ganze Menge, meiner Ansicht nach): daß gerade die des lieben Gottes Examina mit uns sind!

Eine Klasse (oder ein Leben, wenn Sie wollen) hat daher als Hauptfach das, was Sie Feigheit nennen – die nächste, höhere, hat den Mut als Pensum. Die dritte soll sich vielleicht mit den beiden Dingen beschäftigen – und die vierte sie möglicherweise beide entbehren können, wer weiß?

Aber der, der dasitzt und über Mut kontra Feigheit grübelt, der macht sich, meiner Auffassung nach, genau derselben Arroganz schuldig wie der Bauer: er zweifelt an der Leitung des ewigen Lehrers ... so ganz im allgemeinen! Während ich, was Sie speziell betrifft, gern die naheliegende Möglichkeit einräumen will, daß Sie vielleicht nur in einer höheren Klasse sind, als ich – so daß ich und nicht Sie, noch der Tor bin.

Denn für mich ist Mut, vorläufig, ganz einfach, die Reaktion eines gesunden Organismus gegen einen Konflikt – und Feigheit die eines geschwächten, voilà, genau dasselbe, was auch Sie in früheren Tagen annahmen!

Na.

Wie gesagt:

Genug davon, und wenn Sie nun eine andere Ansicht haben und mit Hilfe davon mehr aus dem Dasein machen können – eh bien, so kann ich bei meiner Seligkeit weder etwas Betrübliches noch Merkwürdiges darin erblicken. Das Leben kann es wahrhaftig aushalten, daß man darüber denkt, vollständig wie man will!

Das Leben hat nämlich Zeit genug, oho!

Auch in bezug auf uns!« – Und damit rieb sich der Schiffsarzt strahlend die Hände, sank – noch immer lächelnd – in das Sofa zurück, ließ dann langsam die Lider über die Augäpfel fallen, behielt aber doch eine kleine Spalte in diesen winzigen, weißen Markisen offen – damit er dadurch ein wenig zu Fedor Werowitsch hinüberschielen konnte ... und dann war es, als wenn er auf einmal den innersten und geheimnisvollen Kern enträtsele, der tief drinnen verborgen lag: sowohl hinter dem, was er gerade jetzt in Bogduroffs bleichem Antlitz erblickte, wie auch hinter dessen plötzlichem Anfall von Wortschwall und Bewegungsbedürfnis vorhin; und nun wollte Nakinskij auf der Stelle gegen das protestieren, was er solcherweise ahnend ergründete:

»Mut – oder Feigheit!« höhnte er, und steckte einen Augenblick die Zunge aus – »bäh! so ein Unsinn, puh, offengestanden, lieber Freund!

So stehen Sie doch nicht da und tun Sie, als ob Sie und ich es wirklich nötig hätten, etwas so Triviales festzustellen, wie die uralte Selbstverständlichkeit: daß kein Mensch imstande ist, auch nur einigermaßen mit Sicherheit, die Triebfedern unserer eigenen Unternehmungen oder die der anderen zu beurteilen.

Sowohl Sie, als auch ich wissen doch auswendig, selbst mit geschlossenen Augen und auf einem Bein stehend, daß das Motiv, hol' mich der Teufel, stets unbekannt ist!

Nein, Bogduroff, die Summe von allem, was ich allmählich auf dieser Fahrt begriffen habe, ist: daß auf unserer Armada hier, wo wir Monate lang keine Spur von Verwendung für unsere Tapferkeit gehabt haben, und auch nicht für unsere Feigheit – da haben wir schließlich auch ganz und gar das intuitive, unbestimmte Empfinden eingebüßt, in dessen Besitz wir doch sonst gewesen sind, nämlich ungefähr entscheiden zu können, was das eine ist – und was das andere!

Und deswegen finde ich, kurz und brutal: daß statt hoffnungslos zu grübeln und zu spekulieren, wir lieber zugreifen, uns nicht ersparen, alle unsere Kräfte gründlich gebrauchen sollen, bis zum letzten Tropfen! Jaha! und zwar jetzt, über Nacht, morgen, übermorgen, in den Tagen und Nächten, die mit dieser Stunde beginnen – da ist es unsere allereinfachste Pflicht, uns anzustrengen! Mit aller Macht!

Weiß Gott, das ist es!

Gerade in diesen Tagen sollen wir, ohne Parlamentieren, durch die Tat uns selbst und einander beweisen, daß wir doch auf alle Fälle Männer sind, mit der Ausdauer von Männern und der Tatkraft von Männern ... dann können wir, weiß Gott, die Nachwelt ruhig darüber urteilen lassen, ob sie unser Gebahren Feigheit oder Mut nennen will!

Sie kenne ich ja seit Olims Zeiten als einen von der echtesten Sorte – und also kann ich mit meinem besten Willen nichts anderes sehen, als daß Sie resolut mit Ihren Nabelbetrachtungen innehalten müssen; der Augenblick hat wahrhaftig größere Ziele, höhere Pflichten, als wozu die führen können, das sage ich Ihnen gerade heraus, als Arzt (für den die Heroen auch Verwendung haben können, hin und wieder) ... Ja, Fedor Werowitsch, denken Sie jetzt einmal nach: wir bedürfen, weiß Gott, totsicher, alle Mann, einen Helden in unserer Mitte zu sehen, zu hören, zu fühlen 1 Haben nicht auch Sie schon längst bemerkt, daß fast alle Ihre Kameraden immer und ewig um die Wette in Buchstabenreimen reden – das schlimmste Zeichen von Tollheit und Verrücktheit bei einem Mann! Hunderte von Malen müssen Sie bemerkt haben, daß, sobald das Wort Sonne einem oder dem anderen Ihrer Kollegen aus dem Munde tründelt, so folgt, sicher wie der Tod, die Alliteration Spucke und Seligkeit – oder Schweiß und Schweinerei direkt hinterher! Zum Kuckuck, Bogduroff, sie leiden ja alle ohne Ausnahme an Echolali – als wenn sie Paranoiker wären, Deliristen im letzten Stadium, samt und sonders! ihre todmüden Nerven gehorchen dem Gehirn so schlecht, als wären sie überhaupt immer auf Schienen gefahren – und hätten nie im Leben frei in ihrem Fleisch herumgefächelt!

Aber Sie sind einer von den ganz Wenigen, an die wir uns zu halten haben – mit Soldaten von Ihrem Kaliber steht oder fällt eine Sache!

Leugnen Sie es, wenn Sie es wagen – Sie, der Mann von Tientsin und Taku, der Chinesentiger!

Ja, zeigen Sie sich den Leuten in Ihrer Glorie – dann siegen wir am Ende doch noch!

Nicht wahr?

Wie?

Hören Sie, Bogduroff, hören Sie, was ich sage, schelten Sie mich nur aus, wenn ich frech bin, aber antworten Sie mir!

Ja, ja, lieber Freund, und wenn Sie nun nicht gar zu böse auf mich geworden sind – wenn Sie finden, daß nur ein ganz klein wenig Vernunft in dem ist, was ich gesagt habe – so fangen Sie sogleich an, o Fedor Werowitsch, zu allererst mich zu erfreuen, der ich Sie immer mit aller Macht bewundert hab' – und erzählen Sie mir hier auf dem Fleck noch einmal, ganz detailliert, mit Farben und Glanz, gerade so wie Sie erzählen können, wie es damals zuging, als Sie an der Spitze von zweihundert anderen schneidigen Kerls sich auf den gelben Schlammabhängen des Takuforts herauf krabbelten! Die Tat war unvergeßlich schön!

So legen Sie nur los, mein gewaltiger und alter Freund!

Ich sehne mich so sehr!

Nur heraus damit!«

Draußen vom Schiffe her vernahmen sie das langsame, schwere Geräusch von Schritten hin und her, her ... und ... hin, von den Batterien herab.

Aber unten aus dem Fußboden stieg das tiefe, leise, regelmäßige Dröhnen von dem unermüdlichen Wandern der mächtigen Kolben auf, ein Ton von Arbeit und Festigkeit, von Zusammenhalten – ein schöner Gesang von Fortschritt, von Ewigkeit; ein geistliches Lied für Männer.

Bogduroff stand an der Tür, die rechte Schulter gegen den Rahmen gestützt, mit dem hohen, langen Kopf im Takt zu dem sachten Bullern von unten her nickend. Sein Gesicht war wieder anders geworden, als vorhin, sonderbar geteilt – das sah Nakinskij: st, da sprang zitternd ein Schimmer von daher, aus dem lautlosen Feuer der schwarzen Kohlenaugen, aus der blanken Finsternis des großen Schnurrbartes ... aber der Mund saß so weiß mitten drin, ganz leise bebend.

»Es ist alles außerordentlich freundlich, was Sie da sagen.

Ich habe nichts dagegen einzuwenden – ausgenommen, daß ich mir nun weniger aus dem Urteil der Nachwelt über mich mache, als aus meinem eigenen; so egoistisch bin ich nun einmal.

Aber es sind übrigens ganz andere Sachen, die mich beschäftigen – als wie das, was Sie da äußerten!« fügte Fedor Werowitsch dann hinzu, vor sich in der Luft herumtastend mit den mächtigen, braunen Fäusten, um deren Handgelenke sich die Ärmelabzeichen golden spannten – »hören Sie jetzt ja, was ich meine ... und lassen Sie es dann ein für allemal nach, sich in das einzumischen, was ich glaube – oder was ich vornehme! Alter Kamrad! ...

Nein!

Sehen Sie, haha, ja, ich danke!

Nun habe ich, weiß Gott, Zeit genug gebraucht, um die Totalität Stück für Stück zu begreifen; um die tägliche Freude und den Stolz von vierzig Jahren auseinander zu zupfen, bis auch nicht ein Staubkorn mehr übrig war ... und besonders kompliziert erscheint die Arbeit mir übrigens nicht mehr, jetzt hinterher, keineswegs. Und doch hat sie mir also monatelange Mühe bereitet. Aber um so weniger läßt sich mein Ergebnis ändern. Was ich nach und nach an Protest im Ernst in meinen groben Kopf hineinbekommen habe – das kann, hol' mich der Teufel, nicht einmal da herausgeschossen werden, daß Sie es nur wissen!

Wohlan, Doktor, nun haben Sie geredet und Ihre Anschauungen mit Absicht dargelegt. Aber auch ich habe meine Gründe, weswegen ich Ihnen einen roten Faden aus dem spinnen will, was meine Meinung ist; und die ist nicht gering!

Hören Sie also!«

Und damit schnitt Bogduroff das Thema an und demonstrierte mit fester Hand sein Leben von Anfang bis zu Ende, in einem meilenlangen Bericht.

Alle die purpurnen Geschehnisse seiner vierzig Jahre von Mut, Krieg und Panslavismus hatte er in den Monaten seines Schweigens sorgfältig auf eine blutige Schnur von Schmerz gezogen – und zeigte sie nun zähneknirschend vor, eins nach dem anderen, so daß ein funkelnder Glanz dabei durch Nakinskijs Seele perlte.

Fedor Werowitsch sprach geschwind; die Worte entfuhren ihm mit einem kleinen, kurzen Knall; sie hatten sich ihm nach und nach widerlich in hohen Stapeln in Brust und Hals, in den Adern aufgehäuft, nur zu parat; es war ihnen anzuhören, daß sie schon eine lange Zeit hindurch tüchtig da drinnen in ihm quäruliert hatten, ehe sie endlich ihre respektiven, unveränderlichen Plätze fanden – in einer langen Reihe, unverrückbar, unabweislich, keine Rede davon, daß man das Faktum, antasten konnte, das sie zusammen ausmachten – aber für den Augenblick war dabei der Vorteil, daß er nichts weiter zu tun brauchte, als sie nur mit der Zunge herauszuknipsen, so schnell wie möglich, in der Reihenfolge, in der sie lagen.

Yes, persönlich stand er aber kolossal dort, gegen die Tür gestützt, gegen das ganze Schiff aus Eisen gelehnt, selbst aus Erz – und feuerte das Ganze ab mit Krachen und Blitzen. Seine enormen Hände fuhren illustrierend in der Luft herum. Seine Stimme bullerte und sang. Sein Busen hob sich, schwoll ungeheuer an – und entleerte sich langsam, nach und nach ...

Zu allererst wühlte er ganz kurz herum in dem Haufen seiner gewaltsamen Vorfahren voll Saft und Mut, mächtige Leute, alle zusammen. Ho, eine blutrote Kette von Helden – tief drinnen in dem Brunnen der Zeit! Zwanzig Generationen, Väterchen, die für Russia gekämpft hatten – seit den uralten Tagen der Tartarenkriege, als sie ins Land gekommen waren und sich zu Fürsten emporgesäbelt hatten. Es ging die Sage, daß das Geschlecht aussterben sollte, wenn seine Mitglieder mit eigener Hand eintausend Männer getötet hätten – und soviel Nutzen hatte diese Prophezeiung doch geschaffen, daß keiner von diesen schäumenden Herren jemals allzu unbesonnen Blut vergossen hatte, sie wünschten keineswegs blindlings dazu beizutragen, daß ihr Name verschwinden sollte ... Übrigens mußte dieser prophezeite Zeitpunkt bald erreicht sein. Wenigstens hatte Fedors Großvater in seinem späteren Alter hin und wieder damit geprahlt, daß die Familie mit ihm zu neunhundertundsiebzig Opfern hinaufgelangt sei; er war übrigens mörderlich groß und stark, dieser Grandpapa: von oben bis unten wie ein Balken; mit einer unerhört großen Nase, die ganz bis in das oberste Ende von ihm hinaufgehißt war; er sah aus wie ein Rammklotz. Decembrist war er und verlor Fürstenrang, Vermögen und Offiziersgrad im Jahre 1822; er wurde zum Gemeinen degradiert und kam in eine Strafkompagnie im Kaukasus, ein Uriasposten – aber zehn Jahre später hatte er sich Stufe für Stufe wieder emporgearbeitet bis zum Obersten! ... Ja, und dann mein Vater selbst: groß und breit, Kosakengeneral, seine Stirn war eine Welt von Freude und Kraft, seine Stimme die Musik eines fernen Donners, der drohend am Horizont herumgaloppiert; er hatte mehr als ein paar Dutzend getöteter Feinde, deren Geister ihm dienen mußten, wo er auch war: er berührte den Boden nicht, wenn er ging; und wenn er ritt, so sah es aus, als sei er es, der sein Pferd wie ein Sturm über die Steppen dahintrage! Es wurde eiskalt in einem Zimmer, wenn er die Brauen runzelte. Er war Mutters König, ihr Sohn – ein Liebhaber wie wenige, das Umfangen seiner Arme war Leben und Tod! ...

Dann sauste Bogduroff hastig dahin durch die Geschichte seines Heranwachsens: er zersplitterte einige Stücke von dem Baum seiner Kindheit: Rinde, Blätter und Blüten, und schleuderte sie Nakinskij ins Gesicht: denken Sie sich, diese wunderbare Mutter, die monumental wie ein Milliardär in einem winzig kleinen, roten Hause in der entlegensten Gegend von Nischnyj-Nowgorod lebte, reich an den Heldentaten ihres Mannes – und an den Erinnerungen an seine Wunden, von denen eine jede eine Tat bedeutete: Sieh her, Junge (sagte sie oft zu mir): diese schwarze Schirtingbinde hat dein Vater im Jahre 53 um sein Auge getragen, da unten gegen die kleinen, gezierten Franzosen und die stummen Engländer ohne Bart: die wahren Frauenzimmer, mein Bübchen; und diesen Klumpen Blei bekam er in seinen Ellenbogen, als sie Malakoff erstürmten, wo er stand; das Tuch da, hörst du, Sohn: das hatte er um sein Knie, als er im Jahre 63 heimkehrte von den kaukasischen Stämmen, die wir bezwangen, neun Monate vor deiner Geburt, ha: du wurdest gezeugt in dem Augenblick, als ich zuerst den Verband wechselte, du wardst geschaffen aus Mannesmut und Frauenwonne, wehe dir, wenn du ein geringerer Held wirst, als er! ...

Fedor Werowitsch erzählte zehn Worte von seinen unvergeßlichen Kindeserinnerungen aus dem Türkenkriege in den Jahren 77 und 78, wo der Vater während der letzten Kämpfe vor Plewna in der Stunde des Sieges fiel; er starb mit einem Seufzer der Befriedigung, ah, er ging mit Freuden von dannen, um Rußlands willen; alle Welt nannte ihn einen Heros ... seine Gattin feierte Jahr für Jahr seinen Todestag als Fest. Klagen kannte sie nicht; kurz: eine Frau aus Fleisch und Blut durch und durch, feurig, hoch, hehr und wild, verstehen Sie, Nakinskij: keine Spur von Erbleichen oder Schwäche fand sich drinnen in ihrer Haut, so weiß die auch war. Lieben – das hieß stolz und froh sein; und weshalb sollte sie denn nur jammern, wenn ihr Geliebter so schön starb, wie ein Mann nur überhaupt sterben kann! ...

Er berichtete weiter von seiner Knabenzeit unter der Zucht dieser Mutter: sie lehrte ihn persönlich alles, was er nötig hatte, um mit vierzehn Jahren auf die Akademie zu kommen. Lesen und Schreiben, Turnen, Französisch und Deutsch, Schwimmen und Reiten, Geschichte und Waffenführung; sie stachelte ihn an; sie war eine Peitsche aus Hohn, wenn er etwas nicht schnell genug begreifen konnte – aber ein Vulkan aus Zärtlichkeit und Dankbarkeit, wenn er größere Fortschritte machte, als sie es für möglich gehalten hatte.

Nun (und Fedor Werowitsch lachte froh bei diesen Erinnerungen, aus der Kraft seines Herzens; sein großes Lachen sprang ihm aus dem Busen wie ein klatschendes Banner – es zog rund und licht an dem Arzt vorüber wie ein ganzer Himmel von weißen, gekuppelten Wolken mit Sonne!) – und in einem Alter von siebzehn bekam auch er selbst endlich Gelegenheit zu kämpfen; es war im Jahre 1881, unter Skobeleff, diesem Stahlfelsen, der Barmherzigkeit nur dem Namen nach kannte – aber ein bezaubernd schlauer General. Wir gingen verteufelt kratzbürstig vor. Es war gegen die Teke-Turkomenen, wissen Sie, da drüben hinter dem Kaukasus, wo wir es immer so emsig gehabt haben. Skobeleff breitete barsch sein ganzes Armeekorps über das Land aus, wie eine Granitplatte, wie den Deckel auf einem Sarkophag, bums, wir klemmten das Leben aus jedem Widerstand heraus, verdammt und verflucht, das war nach keiner Richtung hin Scherz: ich nieste tüchtig, jedesmal, wenn das Blut der Mohammedaner mir ins Gesicht aufspritzte. Ja, Skobeleff war – meiner Meinung nach – ein klein wenig zu scharf. Und es war ja außerdem mein allererster Krieg. Es quabste mir denn auch hin und wieder arg unter der Brust – namentlich, wenn es sich um eine dieser größeren Scharen von Gefangenen handelte, die wir ziemlich häufig alle Mann auf Befehl niederpaffen mußten. Ich hatte zu Anfang einige schlaflose Nächte aus dieser Veranlassung. Aber dann dachte ich daran: daß man erst sehr viel Hartes durchgemacht haben muß, ehe man in der Lage ist und die Fähigkeit besitzt, an den richtigen Stellen weich zu sein. Ich prägte mir ein, daß es ganz sicher schlimm genug sei, so stante pede jeden Aufrührer niederzuschießen – aber schließlich, bei Lichte besehen, waren es ja doch Banditen; es waren keineswegs Leute, die wirklich für einen Plan, für eine Idee, für ihr Land kämpften, nein, es waren im Grunde blutberauschte Waldmenschen: Kerle, die sich offenbar nur dann am Leben fühlten, wenn sie andere totschlugen. Ein Rudel Wölfe, die augenblicklich aufeinander losgegangen wären, wenn wir sie in Frieden gelassen hätten – so wie sie es zu tun pflegten, ehe wir kamen ...

Ja, das alles mußte ich mir ausspekulieren, ehe ich Ruhe fand, denn vergessen Sie nicht, Nakinskij, daß sich niemand aus unserem Geschlecht je etwas aus Streit gemacht hat, einzig und allein um des Kampfes willen! Und auch ich nicht. Nein, im Gegenteil. Aber hier war offenbar keine andere Fasson möglich, diese Kabylen zu behandeln, eh bien, und so sagte ich denn einmal über das andere zu mir: mit jedem einzelnen, der stirbt, rücken wir der Eroberung des Landes einen Schritt näher, erklimmen wir eine winzig kleine Stufe, die zu unserem Ziele führt ... und dies Raisonnement wiederholte ich so oft, bis die Melodie es von selbst in meinem Herzen sang. Jaha, so kam ich schließlich darüber hinweg, ich fand, daß ich jetzt das Recht zu allerlei hatte – und so tanzte ich denn von Kampf zu Kampf; wir scharmützelten Tag und Nacht, meine Muskeln wurden zu Dynamit ... es waren Tage voller Brand, Tage, in denen ich das Handwerk aus dem Grunde erlernte – – aber die Idee darin sah ich bisher nur ganz flüchtig! ...

Und ganz fest und klar stand sie erst, peu à peu, in den nun folgenden zwölf Jahren vor ihm.

Auf der Kadettenanstalt nämlich, auf der Marineakademie, auf den Polygonen, in den Bibliotheken, auf der Universität, in den Panslawistenklubs – und auf den langen Reisen um die Welt, wo er die anderen Länder Europas und Amerikas sah!

Well, Signor, und während dieses Dutzend von Jahren geschah es, daß Fedor Werowitsch allmählich, nach und nach – durch Arbeit, durch seine Lebensstellung selbst, und durch den Verkehr mit den Männern, die innerhalb seines Kreises die leitenden waren – nicht nur den Sinn des Ganzen, sondern auch die Berechtigung, die darin lag, verstehen lernte! Ha, er erschaute das große Ziel, daß Millionen von Herzen daheim bewegt: den Plan, einstmals Russia als Herrscherin über die halbe Erde zu sehen, zuerst über Asien – und darauf über Europa! Wo alle Nationen der alten Welt in Petersburg zusammenströmen, unter dem weißen Zaren und seinem riesengroßen Ministerium, zusammengesetzt aus aller Weisheit und Wissenschaft und Klugheit – ach eine kaiserliche Republik, die die erste Ernte der Kultur und der Förderungskraft auf dem Erdball besitzt! Ein einziges gigantisches Vaterland, das alle Zwietracht beiseite lassen und jede Faser ihres Könnens auf die höchsten Zinnen der Menschheit richten konnte, U. S. A. sollte in einem Schwupp überholt werden; was war das treulose Meer von Kaufherren und Trustern gegen das neue Europien, das ewig junge, oh, das schöne Land, das Allewelt geboren hat – die zyklopische Mutter allen Lebens! -

»Ja, ja, das waren glückliche Träume – eine lichte Religion, eine energische Sehnsucht! Das war mir des Lebens blaue, sonnige Sage! Ein himmlisches Bild, das uns mit Freude und Kraft erfüllte, Hosianna!

Freilich, eine Utopie – kurz und gut (jetzt weiß ich es): aber damals! Ja! Sie, Doktor, der Sie sagen, daß Sie an Gott glauben, Sie müssen also dies verstehen können, daß im selben Augenblick, wo man mit allen Fibern einem Ideal entgegen brennt – man zu wissen meint, daß es erreicht werden kann, man will es erreichen, es soll erreicht werden ... und wenn auch Tausende sich dagegen auflehnen!« ...

Und als sein Sinn ganz hiervon erfüllt war, da erhielt Bogduroffs Arbeit ihr volles Wachstum, weil sie ihre tiefe Wurzel erhielt. Ja, er meinte, daß auch er – durch alles das, was er studierte, las, begriff, wirkte – daß auch er sein fast sichtbares Teil an dem Werk für die große Idee schuf! Sein Wesen entwickelte sich mannigfaltig, und er fühlte sich direkt aus dem Augenblick entsprungen – mit Richtung und Fahrt auf alles Kommende zu! Wahrlich, er war einer der Molekülen in dem ungeheuren Eisenbahnzug, der donnernd aus dem schwarzen Tunnel der Vergangenheit herauskam, auf Schienen, die direkt zu der Sonne der Zukunft hinaufzielten!

Wohlan, und also vergrub er sich lustiglich, Semester auf Semester, in seine Bücher; nahm frohen Herzens Stichproben für die Berechtigung des Panslawismus überall, die Kreuz und die Quer, marschierte so tief in die Dinge hinein, wie seine Fähigkeiten reichten, mit flatternden Fahnen und klingendem Spiel in allen Sinnen; versah sich mit einer immensen Bagage von alledem, was er für nötig erachtete, um an diesem grandiosen Feldzug teilnehmen zu können: Strategie, Soziologie, Geschichte, Sprachen, Nationalökonomie ... bei meiner Seligkeit, kurz: die Stammtafel der Rassen vom Kopf bis zur Zehe – und die kombinierte Biologie der Staaten ... und überall meinte er, daß er wirklich auch das erreichte, was seine Absicht war: noch eine Sprengkraft der Wissenschaft zu der Glaubenskanonade seines Herzens an Rußlands Recht hinzuzufügen! Ja, verstehen Sie, Doktor, ich sah, daß es ja tatsächlich wahr war, daß das Zentrum der Kultur sich stets auf der Wanderschaft befunden hat; in einer sonderbaren Serpentinenkurve hat es sich langsam durch Jahrtausende hindurch, auf allen Umwegen seinen Weg nach Norden hinaufgeschlängelt: von Athen nach Rom, von dort westwärts nach Madrid, direkt nördlich nach Paris, nach London, dann nach Berlin ... war es da nicht ganz natürlich (dachte ich), ja, war es nicht von vornherein klar, daß es jetzt also zu uns kommen würde! Jetzt sollte Rußland die Stätte werden, wo die Neuschöpfungen entsprangen! Ja, ja, es erschien mir, als könne es ja nicht anders sein! Unmöglich! ... Hören Sie einmal, Nakinskij, Ihnen kann ich noch dieses erzählen: daß ich gerade zu jener Zeit meinen ersten Vortrag in unserem Propagandaverein hielt; worin ich das hier zu beweisen suchte: indem ich sagte, daß die hellenischen und die römischen Völker ja längst degeneriert seien, Greise, etsch, sie haben sich längst nach dem schwülen Altenheim Mittelmeer zurückgezogen, und dort verbringen sie die Zeit auf den weißen Steinen in der Liegehalle, sie sonnen sich und kauen Erinnerungen wieder, quousque tandem abutere, Roma: du Leichendorn in dem veralteten Stiefel Europas! ... Und die Gallier sind demonstrativ zur Tür hinausgeworfen: in einem Jahrhundert bullernder Niederlage sind sie, laut fluchend, Stufe für Stufe die Treppe von Napoleons Palast für Adler hinabgetrundelt – und in ihrer Ohnmacht haben sie einander jetzt feierlich geschworen, in Zukunft nur zwei Kinder per Ehe zu zeugen: um so schnell wie nur möglich auf dem für sie natürlichsten Weg, vom Schauplatze ihres Unvermögens zu verschwinden! ... Oder Old-England, haha, Gott steh' uns allen bei – so setzte ich sardonisch meinen trübseligen Speech damals fort – sehen Sie doch, wie einem jeden Gymnasiasten in Europa schwindeln wird vor Spaß und Pläsier, wenn man ihm die beiden Worte nennt: Britannien, die düstere Welt des Nebels – und der blanke Sonnenschein der Menschheitkultur! ah, die kieferladenstarken Herren Bull haben ja längst das Vorrecht auf alles andere als auf Geschäfte und Kirchen, Hahnenkämpfe und viel zu süße Literatur verkauft ... Und wie denken Sie über Deutschland, das blind wie eine Eule in seinem stets wachsenden Turm von Büchern sitzt, ekelhaft schreiend, und selbst die Vogelschar kommandieren will, das Gewehr vor einem hochgeborenen Junker mit plattgedrücktem Bart zu präsentieren! ... Jaha, weiß Gott, Doktor: so glaubte ich damals, daß Europa aussähe – und ich bildete mir ein, daß es auf dem ganzen Weltteil nur ein Volk gäbe, das imstande sei, die neue Ära zu schaffen! ...«

Und den Beweis dafür, daß auch die Zeit erfüllet sei – meinte Bogduroff in der erneuten Agitation der Sozialdemokraten, der Friedensfreunde, des Christentums gegen den Krieg zu erblicken (entsinnen Sie sich, zum Beispiel, dieses Arbeiterkongresses einmal in Paris, im Jahre 1883, wo »dekretiert« wurde, daß der Patriotismus nur eine alte Gerissenheit von seiten der Bourgeoisie sei; für die große Masse existiere er nicht mehr! Oder erinnern Sie sich Beaumonts, der demonstriert, daß die allgemeine Wehrpflicht so ungemein ungerecht ist: weil die Armen, der kompakte Kern des Heeres, keinerlei Grund haben, Dinge zu verteidigen, die sie nie besessen haben: Diese beiden Sätze allein sprachen für mich lang und breit!): ja, und das alles waren ihm unumstößliche Beweise dafür, wie sehr die Nationen sich verzehrten vor Sehnsucht nach wirklichem Frieden, nach Abrüstung, nach Aufstellung einer anderen Ordnung, die jeden Krieg zu einer Absurdität machte, nach einem so festen, so innigen Zusammenschmelzen, nach einem totalen Ausrotten aller Grenzscheiden, nach der Einigung zu einem einzigen mächtigen Reiche, in dem der Kampf gar nicht denkbar sei ... ja, wohin er auch sah, erschien es ihm damals, als weise alles darauf hin, daß die Pläne des Panslawismus bald, bald, bald in Erfüllung gehen müßten!

Und dann fühlte er wieder seine Muskeln danach kribbeln, Verwendung zu finden, jetzt waren die Stunden im Studiersaal vorüber, jetzt mußte er wieder hinaus – zu etwas anderem als Fernfahrten! Er trat interimistisch aus der Marine aus (nach Avancement habe ich niemals gejagt, darauf kam es nicht an, für mich sicher nicht!) und wollte sich praktisch betätigen. Anfang der Neunziger war er mit dabei, Batum in ein Flottenlager am Schwarzen Meer umzuwandeln, ho, ein blaues und breites Bett für die großen, zahnreichen Kasten; wir wiederschufen in einem halben Lustrum von neuem die Bastionen des alten Romas in splinterneuer Form und unerhörtem Maßstab; inmitten einer Gegend aus Petroleum zündeten wir Tausende von elektrischen Flammen an, die Rußlands Schiffen auf den Wogen des Tschernoje More leuchten! ... Und dies war, kurz gesagt, das erste schwerwiegende Bein, das wir unverzagt in Zentralasien hineinpflanzten: wie weit wird der nächste Schritt wohl reichen und wann wird er getan werden – das fragte ich mich selbst, an dem Tage, als wir mit Salut mit Batum fertig waren. Ja, aber diese Wartezeit sollte nicht lange währen: schon ein paar Jahre später ward das Andreaskreuz in Pamir, dem Dach der Erde, gehißt. Ich streifte dort elf Monate als gemeiner Kosak umher; das war damals, als wir unsere Militärstationen da drüben hier und dort aufstapelten; bald hoch oben in den verdammt eiskalten Bergen ohne einen Menschen darauf – bald an einigen ewigen Flüssen, wo Vögel und Fische mit einem unschuldigen Lächeln stehen blieben, sie nickten: Gutentag, wer da; sie ließen sich mit den Händen greifen. Wochenlang galoppierten wir in Patrouillenritten umher und nahmen Land, Luft und Wasser in Besitz; wir stempelten die Erde adrett, jeder mit vier kleinen, unbeschlagenen Hufen; wir flogen dahin über die ungeheuren, gelben Steppen, ohne anderes Geleite als unsere eigenen Schatten – und die Träume von der großen Zeit, wenn die Eisenbahnen ihre tausende Tons von Waren und Produkten noch schneller dahinschleudern würden, durch diese selbigen Gegenden der Keuschheit und des Schweigens, des Raumes; wir dursteten und hungerten übrigens mit Aplomb – während wir dergestalt Vorschuß auf die Zukunft nahmen; die meilenfernen Horizonte flammten von Fiebererscheinungen und Fata Morgana: weit draußen im Westen und im Norden ward der Himmel strahlend wie Emaille, es zitterten goldene Streifen darin, und plötzlich waren es turmhohe Paläste aus kreideweißen Steinen, die dort standen mit Säulen und Kuppeln und Zinnen, mit gewölbten Portalen aus himmelblauer Seide, mit blitzenden Fensterscheiben, ach, ein aufstrebendes Lied aus Marmor und Porphyr, das waren die kommenden Tage, die sich uns auf einmal zeigten ... Wir schlissen uns fröhlich die Haut von unseren Lenden gegen den Pferderücken, unser Fleisch ward eins mit dem des Tieres; Roß und Reiter wurden ein einziger Freund, eine Ehe, haha, wir trabten Tag und Nacht, Tag und Nacht – bis die schiefäugigen Schurken (die in zehn Meilen Abstand unseren Spuren mit der Nase unaufhörlich gefolgt waren) den Grad unseres Hungers, unserer Mattigkeit gewittert hatten und über uns herfielen wie ein Steinrutsch in dem Reif der naßkalten Nächte; und dann lagen wir auf dem nackten Boden, in der schwarzen Finsternis, und wälzten uns in einem Knäuel, Feind und Freund; unsere Fingerspitzen wurden dadurch zu Nasenlöchern und Augen; wir lernten dem Herzschlag eines Mannes mit der Klinge unseres Dolches lauschen, ehe wir zustachen; und es war eine kaiserliche Wonne am Morgen die Toten zu zählen – denn es war ein Werk Erwachsener, dort zu kämpfen ... Oh, bei meiner Treu, es war eine vollkommen glückselige Zeit, die Monate drehten sich so schnell und glitten dahin, jeder einzelne von ihnen gab mir mehr Erfahrung als sonst Jahre zu geben vermögen; ich lernte den echten Kampf kennen: Mann gegen Mann. Ja, ich lernte bis auf den Grund den Stolz kennen, durch Streit stärker, klüger, mutiger zu werden als sein Feind! Die Glückseligkeit zu siegen – weil man ein Ziel im Hintergrunde hat, einen Zweck mit dem Handgemenge! ...

Fedor Werowitsch lachte von neuem, ein Lachen aus hoher Luft nach allen Seiten, aus rinnendem Wasser und glitzernder Luft:

»Ja, ich war stark und froh und voller Dank.

Die Sonne ging so warm und fein über meinem Kopf auf und nieder. Die Vögelein sangen immer und ewig. Mein Blut war so rot, so rot – sowohl, wenn ich daheim zwischen meinen Büchern, Tabellen und Karten saß, als wenn ich auf meinen langen Fahrten: nach Japan, China, Indien, und überall herum begriffen war – wie auch, wenn ich mich draußen im Krieg befand!

Bei Tientsin und Taku ward ich von allen gerühmt. Den Helden, nannten sie mich. Ach, Sie wissen es ja: alle Knaben in Rußland kannten meinen Namen. Ich gebrauchte, hol' mich der Kuckuck, weder Visitenkarten noch Prahlerei. Meine Brust ward mit Orden bedeckt, von denen ein jeder eine Bataille, eine Schlacht, eine Wunde bedeutete. Ich machte wahrhaftig, zum erstenmal in meinem Leben, einen Sprung in meinem Avancement: wurde einer der Adjutanten bei dem neuen Vizekönig da drüben im Osten, im Mandschurieland. Und dort nahm ich teil an den nächsten wichtigen Schritten zu Rußlands Vorwärtsschreiten: wie ich früher bei der Erbauung von Batum mit dabei gewesen war, so jetzt bei Dalny und Port Arthur. Haha, wir schnitten geradezu die Gipfel von den Bergen rings umher ab, rollten sie ans Wasser und schufen Molen, Kais und Häuser daraus! Ja, Russia sprengte sich seinen Weg vorwärts, von einem Ozean zum anderen, vom Niedergang der Sonne bis zu ihrer Geburt, vom Eismeer bis zu den heißen Seen! Rußland war das riesengroße Zentrum in Europa, das Herz eines formidablen Organismus – wir setzten einen Steindamm um den Auslauf seiner meilenlangen Adern! ...

Jawohl, so vergingen die Zeiten, die Sommer und Winter – Nakinskij, meine vierzig Jahre, hören Sie meinen Lobgesang. Ich lernte mein Fach, und dann dessen großes, unvergängliches Ziel kennen: jaha, das war nun meine Form des Glaubens an ein unendliches Leben!

Und niemand war glücklicher als ich!

Ich hatte alles, was ein Mensch begehren kann!

Ich fühlte mich in jeder Hinsicht überzeugt von dem Recht meines Vaterlands – und von seiner Kraft, den Platz zu erlangen, zu dem es geboren war. Und ich war meines eigenen Rechtes sicher: das Recht, das einem Manne zukommt, der ohne Aufenthalt arbeitet und kämpft – nicht für sein eigenes Leben, nicht für das von Frau und Kindern, nicht aus einem trunkenen Entzücken dabei sich zu schlagen, sondern aus überzeugtem Willen, die Forderungen der Zukunft zu erfüllen ...

Ja, darauf hin lebte ich wie ein Fürst, fast vierzig Jahre lang!

Verstehen Sie mich nun?«

Er lachte plötzlich, kurz und müde – und fing dann an, über den vorliegenden Feldzug zu reden, über diesen hier, zwischen Japan und Rußland. Seine Stimme hatte sich verändert, sie sprach noch schneller als bisher; eine kühle, rhythmenlose Stimme, die die Worte knapp und hart herausschleuderte, sie wegschmiß, eins nach dem anderen, zu einem Haufen – bis sie sich langsam erhitzten durch ihre eigene Fahrt, schließlich in Glut gerieten.

Zuerst – berichtete er – beim Ausbruch des Krieges, war er drüben in Wladiwostock gewesen und hatte dort einen Destroyer kommandiert, unter Kapitän zur See Reitzenstein; ja, ja, ganz gewiß, man tat ja was man konnte, aber man war doch trotzdem keineswegs blind dafür, daß es vorläufig weit davon entfernt war, so zu gehen wie es sollte. Die Japaner waren, zum Kuckuck auch, keine Trödelpeter, nein, ich dank', im Gegenteil: im allgemeinen haben wir sie in Rußland gründlich unterschätzt: ich selbst bin drüben in ihrem Lande gewesen (vor ein paar Jahren, gelegentlich General Kuropatkins Besuch) bei meiner Seligkeit: diese kleinen gelben Kerle sind weder aus Zucker, Talg noch Blei gemacht, nein, sie wichen nicht, weder vor Wasser, Feuer, noch Schlägen; nein, nein, sie haben gleich viel Kraft im Leibe, wie im Gemüt, ihre Knochen sind in brillanter Ordnung, ebenso wie ihre Moral; das Ganze, glaube ich fast, ist da zu Lande klassifiziert und nummeriert: sie würden nie und nimmer Feigheit mit Mut verwechseln, ebensowenig wie die Mittel mit dem Ziel.

Wohlan, aber schließlich, kurz nach der Affäre am vierzehnten August, als das Port Arthurgeschwader von Togo aufgefressen wurde – und als sie auch in Wladiwostock nicht mehr Schiffe genug für alle die Offiziere da drüben hatten, da war er nach Petersburg zurückgerufen, um mit Roschdjéstwenskij zu gehen!

Ja, jetzt horchen Sie nur: am ersten September 1904 stieg er also an Bord des Expreß (es war seine erste Fahrt mit der Bahn!), der ihn gen Westen über den halben Globus tragen sollte. Vier und eine halbe Woche flitzte er Tag und Nacht unaufhaltsam dahin, an der Schwingung eines Breitezirkels entlang: es war, als habe er nie zuvor die gigantische Größe seines Landes gekannt! ja, noch mehr: es war, als ziehe er durch fünf ganze Weltteile, von denen jeder die Größe des halben Europas besaß: der erste fast noch unbewohnt, ein Chaos, ein stockdunkles Australien – aber allmählich waren sie mehr und mehr bebaut, mit dem Gepräge von Menschen, von Kultur! Ja, es war eine abenteuerliche Fahrt, eine Traumreise durch fünf Querschnitte der Geschichte der Menschheit: von der Urzeit bis zum heidnischen Zeitalter, zum Mittelalter, zur neueren Zeit, zur Gegenwart: so tief reichte Rußlands Fundament in die Erde hinab!

Ja, während einiger Tage sauste er, zu allererst, wild und jagend durch den roten Sandozean der Mandschurei dahin – durch einen blutigen Kontinent, mit endlosen Steppen, auf denen man nichts Lebendes erblickte: nur die flammenden Sandsäulen, die kraterhoch an dem blanken Strahl der Bahn entlang wanderten – – – an Charbin vorüber, wo die Schienen der Querlinie nach Port Arthur ihr Paar gen Süden wenden, und wie zwei große, steif starrende Feuerpunkte an dem funkensprühenden Horizont verschwinden.

Dann passierte der Eilzug gellend die Schuppen und Teemaschinen der Mandschuriastation, wo Soldatenhaufen zusammengepreßt standen und warteten: die Menge ihrer großen, zottigen Mützen floß vorüber wie ein wogender Teppich aus Pelzwerk! Er donnerte sich hin, gen Westen, auf der unendlichen, geradlinigen Schiene; er schrie und stöhnte an den kleinen kubischen Balkenhäuschen der Wachtposten vorüber: vor dessen Türen hielt ein Kosak zu Pferd, mit Papacha und Bart, die Lanze auf seinen Steigbügel gestützt, ein Blitz des Lebens, eine Erscheinung, und dann lag das Ganze schon weit zurück; und mehr langsam begann das Stahltier sich hinaufzuschlängeln an den Transbaikalischen Bergen, Tag für Tag aufwärts, durch diesen neuen Weltteil, Nummer zwei. Die Tannen standen mit ihrer Kegelform, massiv von Schnee: Pyramiden aus kreideweißem Gestein, in einem unübersehbaren Wald aus Marmor – fern klaffte das Echo der Fahrt, ein unablässiges Hämmern. Weit vorn am Horizont ballten einem die Felsen ihr enormes Gewicht von Granit entgegen ... Er erreichte den Baikalsee, eine ungeheure, eisige, flintsteinharte Fläche, auf der der Nebel schwer und naßkalt lag; er ging an Bord der »Angara« gerade zur rechten Zeit, hussss: denn in jener Nacht erhob sich der Somarsturm, der den See bis auf den Grund zerklüftete und brüllend eine eiskalte Horde von Klippen über das Schiff hin wälzte; ein Posaunenorchester hielt sie zappelnd wach, alle Mann.

Und dann rasselte der Zug weiter von Irkutsk, unaufhaltsam, klappernd, ratternd. Tag für Tag wurde er durchgerüttelt, am Fenster des Aussichtswaggons sitzend, hinausstarrend: über die meilenweite Zone der Tundra, die niemals auftaut – der dritte Kontinent, den er durchfuhr: die stillen Regionen der großen Sumpfstriche, wo die weit voneinander entfernt liegenden Dörfer, dunkel und lautlos, schon im Begriff waren, sich beim Herannahen des Herbstes in den Winterschlaf zu begeben ... er surrte dahin über die Jenisseibrücke bei Kraßnojarsk, die schöne, kleine Stadt aus blutroten Balken und hellgrauer Rinde, wo das Wasser geduldig gen Norden rieselt, auf seiner breiten Fahrt von Tausenden von Werst, bis es ans Eismeer, an sein Ziel gelangt; ungefähr eine Woche später war da Tomsk (oh, der seltsam schöne Anblick der weißen Birkenstämme, der silbernen Kronen! Sie wissen nicht, Nakinskij: aber es war wie ein zahlloses Heer von unbeugsamen Greisen, eine Legion von Weisen, die mit Rat und Tat an mir vorüberzogen, auf dem Wege durch die unbewohnten Sphären, um sie zu einem werdenden Heim für Menschen zu machen, ja, auf der Wanderung gen Osten, nach dem Lande der Morgenröte, nach der Stätte der Verjüngung, dem Fortschritt entgegen, ach, alles war mir Visionen von der künftigen Größe Russias!)

Und eines Morgens, vier Tage später, knallte sich die Lokomotive durch Omsk: die Reiche des Feuers, des Gesteins, des Eises waren vorüber, es war zum viertenmal ein neuer Weltteil, zu dem wir kamen: die Domänen der Weiden ... sagen Sie mir, Doktor, ich will Ihnen erzählen: wie sich, als wir nun die Stationsstadt Petropawlowsk passiert hatten und auf die Kirgisische Steppe kamen, die Luft mit einem unsagbaren Wohlgeruch füllte! ach, hören Sie, ich dachte daran: ist es denn mit dem Duft eines Landes so, daß man von weither kommen muß, um sich vollständig daran erfreuen zu können – oder ist es wie bei einigen Weinen, die selber auf langen Wanderungen gewesen sein müssen, um ihr tiefstes Bukett zu erreichen ... ja, da war ein lieblicher Geruch von Blumen und Gras und Heu, von Sonnenschein und Regen und guter Erde, ein Duft, der langsam von Süden her gesegelt kam, salzig und süß war er, vielleicht kam er ganz aus dem Aralsee, aus dem Kaspischen Meer, von den Stätten meiner Jugend; ja, Wochen hindurch war er als warmer Frühlingsschauer hinauf gen Norden gerieselt, durch unzählige Gegenden hindurch, überall die Herzen der Männer und Frauen erfreuend, überall die Erde mit Wachstum schwängernd, unaufhaltsam sich selbst erfüllend mit dem holden Aroma eines ewig sprossenden Lenzes: frisch und süß wie Nüsse, feucht und heiß – und nun strich er mild und unendlich an uns vorbei, ich riß das Fenster des Abteils auf, in dem ich saß, ah, ich streckte die Arme aus, ich trank die Luft durch den Becher meines Mundes, es war als würde mir das Herz wieder rot wie in meinen Jünglingsjahren von neuem ... aber dann waren wir in Tscheljabinsk, der Grenze zwischen Asien und Europa, einem wunderlichen Ort, gelb und weiß, mit seinen Häusern und Kirchen aus Holz und Kalksteinen!

Und da waren wir bei dem fünften Reich angelangt: der Frucht-Erde Land! Das waren die Tage und Nächte über die russischen Prärien, oh, das Auge schritt so holdselig wiegend dahin, überall war das Werk von Menschen zu sehen, ich fühlte den Schoß meiner Mutter so nah'; Nächte und Tage wogten an mir vorüber, ich starrte wonneerfüllt zu den Dörfern hinüber, die vorübersurrten, sich im Frieden des Abends zur Ruhe legend, in den großen, blauen Schatten des Oktobers; ich rieb den feinen, rötlichen Staub von meiner Fensterscheibe und küßte ihn auf dem Rücken meiner Hand; mein Feuerroß jagte hufendonnernd durch das lange, geklöppelte Rohr der Wolgabrücke, das von den vielen Pfeilern getragen wird, die den Rücken zur Abwehr gegen den starken Strom in die Höhe schieben – und das mir einen Rhythmus von Männlichkeit und Tat vorsang, eine siegesschwangere Hymne, einen Stahltrost, Halleluja; und der Zug bullerte schnaubend weiter, ohne Rast: mit Gebell galoppierte er durch Moskwa, die auf der braunen Erde lag; die Mittagssonne brannte auf den himmelblauen und goldenen Kuppeln; ich erreichte Sankt Petersburg – – – – nach meiner wochenlangen Reise durch Rußland, durch fünf Welten, durch all das Kommende und das Vorhandene, die Seele blank von Dank, von Stolz und Freude: o Russia, meine Mutter, du einzige, Eva, ja: von Meer zu Meer breitet sich aus dein fruchtbarer Schoß, ja, vom Osten her bis an den Westen; ach, du Land der Sonne, des Schnees und der Saat, dein Duft ist so würzig und jung, deine Brust ist so schwer und kraftvoll, du trägst Europas Zukunft in deinem gespeilerten Bauch! ...

Nun gut, yes, kurz: und jetzt sollte Fedor Werowitsch also an Bord des Geschwaders in Libau.

Er sollte die Ozeane pflügen mit der größten Armada der Welt!

Er sollte mit dabei sein, dem Krieg den richtigen Gang zu geben, prunklos wollten sie Rußlands Feinde mitten durchbrechen und die Überreste zum Deubel jagen, Gott steh' ihnen bei!

Er sollte teil haben daran, daß man in ganz wenigen Monaten das Vaterland zu Sieg, zu Triumph führte, zu dem ersten entscheidenden Schritt für die Pläne der Jahrhunderte – alles das, was er auf seiner Reise noch näher und klarer denn je zuvor gesehen hatte.

Ja, ja, nimmer war seine Sehnsucht nach der Vollbringung so brennend groß gewesen wie im vorigen Jahr, als er nach Libau kam – haha, hol' mich der Kuckuck, war das ein munteres Erwachen aus dem Traum!

Aber hören Sie nur einmal:

Voll bis an den Rand, von seiner Begeisterung, ohne auch nur einen Moment zu zaudern, ohne ein einziges Wort von alledem zu hören, worüber Zeitungen und Kameraden schrien – stürzte er sich an Bord des Schiffes hier, bebend vor Entzücken bei dem Gedanken an das Ganze ... und begreifen Sie dann, was ich empfand, als ich, schon ganz wenige Tage später, merkte, daß jede einzelne Sache auf der Flotte verkehrt war! Die Maschinen, das Geschütz, die Munition, das Material der Schiffe selbst, die Mannschaft, die Offiziere, die Dispositionen – alles war Bluff! es war Trödel, es war Prahlerei von A bis Z – es war Lüge!

Die Fahrt begann.

Danke sehr, ja, die Flotte ging trotz allem in See, ach, wäre das doch nie geschehen! Übrigens erst nach einer Menge Verzögerungen, und zu einem Zeitpunkt, wo es augenscheinlich schon unmöglich war, das auszuführen, was damit bezweckt wurde: nämlich, Port Arthur zu entsetzen, nicht wahr, nun ja, aber allmählich kam man also doch von dannen. Und Tag für Tag zeigte es sich immer ungenierter, wie arg es bestellt war. Fedor Werowitsch las das ungeschminkte Verständnis davon in dem Antlitz jedes einzelnen sachkundigen Mannes – und übrigens bald auch in denen der anderen; ja, schon allein die Manier, wie das Geschwader spähend und bebend durch das dänische Fahrwasser ging, in Nervosität überall, Tag und Nacht, in Angst, das war, bei Gott, deutlich genug! Entsinnen auch Sie sich noch dieser Dutzende von täglichen kleinen Kollisionen, von ununterbrochenen Havarien unterwegs von Libau bis Bornholm! Der zween widerlichen Tage und Nächte dort, wo man sogar die Kanonen scharfgeladen vom Abend bis zum Morgen stehen ließ! All der Gerüchte aus Stockholm von japanischen Offizieren, die in Schweden gesehen waren – aus Fredenborg von mystischen Schiffen im Kattegat!!? ...

Ja, ganz gewiß, aber nun war die Reise ja einmal begonnen – und also war es zu spät, um damit anzufangen, über Regierung und Ministerium zu fluchen, über die Schlingel, die das gewaltige Ziel des Landes aufs Spiel gesetzt hatten, um für sich selbst einzusäckeln! über die Leitung der Flotte selbst, über die ungeübten Besatzungen – – und ergo begnügte sich Bogduroff damit, die Faust in seiner Hosentasche zu ballen, und seinen Mund zusammen zu beißen; er wollte sich nicht ergeben, versuchte von allen den Fehlern abzusehen, die er überall fand, wollte nur an das eine denken: daß ein Sieg, ja doch hauptsächlich von dem Mut, dem Opferwillen, der Gemütskraft abhängt ... bis er schließlich, die Nacht auf den Doggerbanks, während jener nur zu gut begründeten Eruption von Krankheit und Delirium, von Untauglichkeit und Verzweiflung, plötzlich nicht länger zu schweigen vermochte, und auf einmal Peter Romanowitsch gegenüber mit dem Ganzen herausplatzte – weil ihm der in dem gegebenen Moment zufällig am nächsten war:

»Verstehen Sie, Doktor?

In zehn Minuten Wahnsinn brach ich all mein Elend, meinen Zorn und meinen Haß vor dem Mann heraus, und erst in dem Moment, wo er wieder weg war, begriff ich jäh, mit einem Greinen von Schmerz und Scham: daß andere, die weniger an den Krieg gewöhnt waren als ich, vielleicht das Recht haben konnten, zu verlangen, daß alles, was Voraussehen und Sorgfalt ordnen konnte, im vollsten Maße geschehen sein muß – ehe die Zeit gekommen ist, die Mut und Aufopferung erfordert ... ja, aber ich, der Held von Tientsin und Taku, ich und andere aus meinem Kreise, wir waren just mit auf diese Armada beordert, weil die Krieggewohnten, die Tapferen die Fehler wieder gut machen sollen, die nicht mehr zu ändern sind! Nicht wahr, was zum Teufel soll man doch sonst mit Helden!?

Wohlan. Aber unter den vorhandenen Umständen war diese sonst so belebende Tirade ja an und für sich nur ein geringer Trost für mich. Sintemal es mir mehr und mehr so vorkam, daß ich in Wirklichkeit auch selbst bange gewesen sein mußte, da ich nicht imstande gewesen war, meinen geheimen Groll Luschinskij gegenüber zu verschweigen – der doch total unschuldig an allen den Fehlern war! Aber soviel war also schon von außen her in mich hineingekommen, von unerklärlichem Unbehagen, von dunklem Mißtrauen zu allem.

Und daher geschah es im Laufe der Nacht allzu oft, daß ich mich bei nutzlosem Brüten über mich selbst ertappte, wieder und wieder. Bald während der Pausen zwischen meinen Versuchen, mir kaltblütig klar zu machen, was die ganze nächtliche Begebenheit wohl realiter für uns alle bedeutete! Bald mitten in diplomatischen Erwägungen, inwiefern sich England unsere elende Torheit hier zunutze machen würde, um uns noch mehr als bisher in unserem Kampf gegen Japan zu genieren! Und bald in meinen komplett ergebnislosen Quälereien darüber, wie weit diese Affäre unser Prestige in Europa erschüttern würde – –: Ja, einmal über das andere entdeckte ich, daß ich von allen diesen verschiedenen und umfassenden Gedanken unabweichlich zu den Grübeleien über diese begrenzte Frage zurückkehrte: ob es nun auch in Wahrheit nur ein patriotischer Zorn und Kummer gewesen war, der meinen Mund Peter Romanowitsch gegenüber geöffnet hatte – oder war es nicht weit eher, weil auch ich an der äußersten Grenze meines Mutes angelangt war!? weil auch ich in meinem tiefsten Innern enerviert, unsicher geworden war – allmählich, seit ich die Tragweite des beispiellosen Leichtsinns eingesehen hatte, mit dem die sämtlichen Vorbereitungen zu diesem Zug getroffen waren!

Ich drehte und wendete die Sache mit leerer und bitterer Sorgfalt.

Ich fühlte hin und wieder tief drinnen in mir, unbestimmt, die unglückseligen Motive zu meinen unfruchtbaren Grübeleien, schob aber nach besten Kräften diese trübseligen Ahnungen von Bankrott wieder von mir, bei fortgesetztem Grübeln!

Nun ja, und am Teetisch, den nächsten Morgen, fand ich schließlich einen Ausweg!

Sie erinnern sich vielleicht noch, wie die meisten von den Kameraden bei der Gelegenheit – starräugig und bleich, aber beredt ohne aufzuhören – eine unglaubliche Menge von höchst seltsamem Geschwätz über die anderen Schiffe der Flotte von sich rappelten, und gleichzeitig wohl eingehüllt, aber ohne Scheu über ihren eigenen Anteil an den nächtlichen Ereignissen prahlten ... so daß ich eiskalt und stumm dabei wurde. Bis ich bemerkte, daß ich gleichzeitig triumphierend und bitter da saß und dachte, daß ergo ja gar nicht ich diese Nacht bange gewesen sei; daß es die anderen waren! Denn mutig zu sein, bedeutet ja doch nicht: niemals Furcht zu kennen – sondern: nie nötig zu haben, seinen Mut zu erwähnen! ...

Aber noch in derselben Sekunde begriff ich mit Scham, daß dies ja in Wirklichkeit minutiös dasselbe Räsonnement war wie das ihre – und da richtete sich alle meine Liebe zu Rußland und zu seinen Männern von neuem in mir auf! Sie strahlte in meinen Augen mit ihrem wunderlichen Glanz, der alles licht macht! Sie füllte mein Ohr mit ihrer süßen Stimme, die alles Böse wegdolmetschen kann! Sie rief alle meine Erinnerungen wach – begierig, daß die mir das geben sollten, was ich nötig hatte, um wieder vertrauensvoll und froh zu werden ... und das gelang mir in der Tat auch:

Denn ich hielt mir jenes Phänomen vor, das mir die ersten Male, als ich im Krieg war, so auffallend gewesen; das zu kennen die Jungen hier noch nicht Erfahrung genug besaßen; das mir aber vollkommen ihr augenblickliches Treiben erklärte: nämlich eine gewisse kleine, dreistufige Skala von fehlerhaften Beurteilungen – durch die sich unsere Erkenntnis immer hindurch bewegt, wenn wir uns kurz nach einer Katastrophe klar darüber zu werden suchen, was eigentlich vor sich ging!

Man fängt damit an zu finden, nicht nur, daß man selbst in Todesangst war, so lange die Sache währte, sondern daß man sogar der einzige war, der sich in der Verfassung befand! Dann geht man einigermaßen schnell zu der ganz entgegengesetzten Äußerlichkeit über (und bis zu dem Punkt waren die Kameraden rings um mich her gerade gelangt, das verstand ich!): wo man sich einbildet, daß es im Gegenteil die anderen waren, die zitterten! Und schließlich gleichsam vereint und klärt und ändert man gleichzeitig diese beiden widersprechenden Ansichten: indem man die Größe der Lebensgefahr, in die man geraten war, überschätzt! ...

Ich denke mir, es ist das Echo des kreischenden Alarms, mit dem das Blut unter der Angespanntheit des Ereignisses in unserem Ohr herumlärmte – das uns nun hinterher glauben macht, wir hätten geschrien oder gejammert. Ebenso scheint das Gedächtnis unserer Nerven von dem Zucken, mit dem das Gefahrbewußtsein sie befiel, uns jetzt ein unwidersprechbarer Beweis dafür, daß wir ganz einfach versuchten, zu entfliehen, weit, weit wegzulaufen! Und die Erinnerung an alle die wirren Gedanken, die während der ganzen Affäre durch unser Gehirn rasten, erscheinen uns als unzweideutiges Zeichen von Ratlosigkeit, von der Gelähmtheit des Schreckens, von unserer Untauglichkeit: wir waren so bange, daß wir nicht einmal imstande waren, eine Flucht zu vollziehen – denken wir mit fressender Schamhaftigkeit und Haß ... und erst langsam, ganz nach und nach, allmählich, wenn unsere Organe eins nach dem anderen wieder in Ruhe versinken; und während wir es unseren Umgebungen (die wir beständig kontrollieren) anmerken: daß sie auf alle Fälle keine Feigheit bei uns entdeckt haben, vielleicht sogar das Gegenteil: dann fangen wir endlich an zu hoffen, daß wir uns am Ende doch so benommen haben, wie wir sollten!

Aber noch dürfen wir uns nicht ernstlich an diesen guten und frohen Glauben klammern!

Gerade deswegen suchen wir ruhelos, auf alle möglichen, schlauen Arten, aufzuspüren, was denn der Grund dazu sein kann, daß die Kameraden keineswegs die tiefe, zitternde Unruhe bemerkten – die wir, das wissen wir doch, faktisch empfanden, wenn auch nicht nach außen, so doch in unserem innersten Innern!

Und so taucht das nächste Mißverständnis in uns auf. Wir räsonnieren so: wenn ich schrie, so haben doch auf alle Fälle die anderen meine Schreie mit den ihren übertäubt, da sie meine Stimme nicht hörten; und wenn ich eine Handbewegung machte, die der Anfang zur Flucht war, so hatten sie also augenscheinlich schon kehrt gemacht, hatten den Rücken gewendet – da sie nicht sahen, was ich vornahm!

Jaha, so schlußfolgern wir, mit einem Seufzer der Erleichterung, mit einem verborgenen Lächeln: die anderen sind nicht so mutig wie ich, sie waren bange! ...

Und diese Überzeugung hat in einem Nu ihre Wurzeln in den Grund unseres Wesens selbst hineingeschlagen. Sie hakt sich überall in unser Gemüt fest. Es vergehen Wochen und Monate, ehe sie einigermaßen ausgerottet ist – aber ganz verschwindet sie wohl niemals. Zuweilen glaube ich sogar, daß sie der Keim zu aller späteren Tapferkeit bei uns ist. Sie ist gleichsam ein kleiner heimlicher Stützstab, den wir in der Stunde der Not hervorholen: die verborgene, wonnevolle Ahnung, mehr wert zu sein als die anderen: mit größerem Recht, mit größerem Können, und mit größerer Aussicht, den Tod zu besiegen, der uns zu Leibe will!

Aber wenn der gröbere Teil dieser Selbstüberschätzung sich am Schlusse doch besiegt erklären muß gegenüber der ehrlich wiederholten und vertieften Frage in uns: warum jene anderen nun eigentlich sonderlich weniger mutig gewesen sein sollen als wir – dann gelangen wir zu dem letzten Fehler in der Skala, die ich vorhin erwähnte:

Wir übertreiben die Größe der Gefahr, in der wir damals schwebten!

Dadurch erreichen wir ja nämlich nicht allein, daß wir das Vertrauen zu unserem eigenen großen Wert bewahren – sondern gleichzeitig können wir auch den der Kameraden zum Teil erkennen! Wir sagen also zu uns selber: zweifelsohne waren sowohl wir als auch alle die übrigen tapfer und resolut – aber die Situation, die war so unfaßbar entsetzenerregend! Ja, es geht ein Schauder durch uns hindurch, jedesmal, wenn wir daran zurückdenken! Wir begreifen fast nicht, wie es zugegangen ist, daß wir nicht von Schrecken gelähmt wurden! Tief in unserem Innern stellen wir fest, daß, kurz gesagt, ein unendlicher Mut dazu gehörte, nur jenes Grauen zu überleben – geschweige denn, es so siegreich zu durchleben, wie es die meisten von uns taten! ... Und erst lange, lange Zeit nachher, wenn unser Gedächtnis in bezug auf jene Katastrophe genügend verblaßt ist, oder wenn Dutzende von neuen, blutigen Geschehnissen uns an Risiko gewöhnt haben – dann erst gelangen wir zu einer nüchternen Beurteilung dessen, was sich in Wirklichkeit damals zutrug!

Nicht wahr, Nakinskij!?

Verstehen Sie mich jetzt: dies alles war es, was ich mir an dem Morgen nach den Doggerbanks vorhielt – als meine Freude über Rußland meiner Kollegen und mein eigener gewandtester Rechtsanwalt war!

Ich tröstete mich und schalt mich gleichzeitig aus – weil ich nicht sowohl die anderen als auch mich mit diesen Augenblicken des Zweifels verschont hatte, indem ich sofort begriff: daß all ihr Schwadronieren ja selbstredend seinen Grund nur in der gewöhnlichen schwatzseligen Nervenerregung hatte, die auf jeden Kampf folgt, und hinter der die Anfänger zu verbergen suchen, daß sie selbst noch nicht wissen, ob sie mutig sind oder feige!

Und wieder fühlte ich mich überzeugt, daß bald, ja sehr bald, so wie nur all das chaotische und selbstwidersprechende in dem Eindruck der Nacht bei uns ausgeglättet war – alles wieder gut werden würde, ja, hundertmal besser als zuvor: jetzt, wo wir unsere Feuertaufe empfangen hatten!

Im übrigen – grübelte ich optimistisch weiter, indem ich mich von neuem erinnerte, wie ich mich Luschinskij gegenüber ereifert hatte: war es also nicht etwa denkbar, daß ebenso wie ich diesen Fehler nur infolge einer allzu großen Ungeduld begangen hatte – so war vermutlich auch die ganze Geschichte über Nacht nur geschehen, weil meine Kameraden von genau derselben Sehnsucht brannten, vorwärts zu kommen! zum Kampf zu gelangen, den Feind zwischen die Finger zu bekommen?! Ja, es war zweifelsohne ihr glühendes Begehren nach Handgemenge, das sie so blindlings hatte losrasen lassen, als sie glaubten, einen Gegner gefunden zu haben! Es war ganz sicher dieses ihr hitziges, nervenangespanntes, lange gekitzeltes Verlangen, die bittere Abrechnung von dem traurigen Anfang des Krieges mit Wucht abzuschließen I Ja, kurz und gut, war es ja gerade ein echter und glückseliger russischer Zug: wenn man lange genug geärgert ist und nun. im Ernst wiederschlagen will, es dann auch ein klein wenig die Umherstehenden entgelten zu lassen – die sich über das bisherige Mißgeschick allzu reichlich ergötzt haben! ...

Tag für Tag prägte ich mir das ein.

Und hatte währenddes meine Augen überall unterwegs, um auch bei den anderen das Zurückkehren von Urteilskraft und Freude mitzuerleben, das sich bei einem schneidigen Soldaten einfinden soll, einige Tage nachdem er zum erstenmal Pulver gerochen und sich dabei einen kleinen Schnupfen geholt hat.

Stunde auf Stunde machte ich mir klar, daß die Fehler, die begangen waren, wie gewichtig sie mir bisher auch erschienen sein mochten, doch nichts bedeuteten, wenn wir nur Mut, nur Liebe genug zu Russia hatten. Und ich hob mir hervor, daß die Aufgaben, die darauf warteten von uns ausgeführt zu werden, ja so gigantisch waren – daß schon allein ihre Größe selbst die geringsten von uns mit Kraft und Wachstum müßte erfüllen können! ...

Und als ich dann wirklich auch die Kameraden allmählich in die Höhe schießen, Tag für Tag weniger nervös werden sah, da hoffte ich schließlich voll und fest: daß, welch Verbrechen auch gegen die Flotte begangen war, ehe sie ausgesandt wurde, und was an Verkehrtem da sonst noch hier und da an Bord war – das alles nichts aufwiegen konnte im Vergleich zu Rußlands ganzem Willen!

Mit seiner jahrhundertelangen Pläne Gewicht und ihrer sich unaufhaltbar vorwärts bewegenden Kraft!

Mit unserer Absichten reinem und hohem Recht! ...

Ja.

Nicht wahr?

Auf die Weise arbeitete sich Fedor Werowitsch wieder empor, nach und nach – im Laufe einer Woche nach den Doggerbanks.

Von neuem lebte und atmete jede einzelne Fiber in seinem Fleisch, in seiner Seele, nur für das Bergzinnenziel, dem Russia jung und kühn entgegenstrebte:

»Ach, es war ihre Kraft, ihre freie Luft und ihr errötender Schimmer von Sonne – der auch mich stark, froh und frisch machte!

Und also gingen die Tage froh dahin mit Arbeit und Exerzieren.

Meine Leute konnten von vornherein nichts. Rechtes; folglich war da genug, um Zeit und Kräfte in Anspruch zu nehmen; aber sie waren im übrigen lernbegieriger, als ich erwartet hatte. Jaha, späterhin begriff ich ja genügend, was für eine zitternde Unruhe in ihrem Fleisch sie dazu antrieb, etwas zu tun, gleichgültig, was – um nur nicht Zeit zum Denken zu haben.

Aber damals erklärte ich es mir, im Gegenteil, als die Lust schneidiger Männer, tüchtig in dem Feld zu werden, wo sie angebracht sind!

Unter Spaß und Scherzen setzten wir in Spanien ein paar Offiziere an Land: die sollten unser aller Torheit bei den Doggerbanks mit einer Buße sühnen – das war ja nur das pflichtschuldige Opfer für den Gott Mars, der immer verlangt, daß jedes Heer wenigstens einen einzelnen Moment des Schreckens haben soll! Und nichts konnte besser sein, dachte ich: als schon jetzt die ganze Beberei überstanden zu haben!

Kä!

Haha!

Und wenn Sie nun meinen sollten: daß es nicht wenig naiv und sanguinisch von mir war, so schnell vollständig sicher zu werden – so kann es teilweise ja wohl sein, daß Sie recht darin haben. Aber teilweise ist der Grund auch wohl der, daß ich, übel von allem was geschehen ist, Ihnen nur einen winzig kleinen Faden von allen den Gedanken zu erzählen vermag, die mich jedesmal wieder auf die Beine brachten.

Im übrigen weiß ich nur, daß es etwas weit Größeres als mein Leben war, um das es sich für mich handelte. Und deswegen schäme ich mich keineswegs meiner Leichtgläubigkeit; davon haben viel bessere Leut' als ich ihr ganzes Dasein hindurch noch mehr gehabt! Nun, und außerdem, Doktor: es sollte wahrlich nicht allzu lange dauern, bis ich begriff, daß aufgeschoben nicht aufgehoben ist – und daß unsere Zeit des Bebens ganz einfach noch gar nicht angelangt war; wenn sie sich auch mit raschen Schritten näherte.

Und das erste, das mich dazu brachte, allen Ernstes wild zu starren eine Weile – das war damals, als Tschukow, mein alter Genosse herunterfiel und starb, da unten bei Tanger im Novembermonat, entsinnen Sie sich dessen noch?

Ich hatte ihn lange gekannt; er war mein Unterleutnant bei Taku, war im fernen Osten Kadett bei mir gewesen; ich hatte ihn gern; auf den langen Fahrten hatten wir zusammen gearbeitet und uns zusammen amüsiert; hin und wieder auch in Gemeinschaft ein paar Stunden von Rußlands Zukunftssonne geträumt; ich kannte jeden Ton in seinem Gemüt – glaubte es wenigstens; ich war mir klar darüber, daß er von der rechten Art war – obwohl ich hin und wieder, während dieser Fahrt, namentlich seit den Doggerbanks, die ganz vage Vermutung hegte, daß er sich darauf gelegt habe, einen Tropfen mehr zu trinken, als es sich für Männer geziemt.

Ja, aber jetzt in dieser Stunde der Offenheit, will ich Ihnen gerade heraus berichten: daß Tschukow zu mir herunterkam, die letzte Nacht, ehe er sich totfiel!

Verstehen Sie?

Ja, er kam in diese Kammer hinabgeschwankt, kreidebleich, verrückt, Speichel und Spiritus trieben ihm aus den beiden Nasenlöchern heraus!

Er pflanzte sich in den Stuhl dort und starrte mir dreckig ins Gesicht mit ein paar fremden Augen, und schrie: jetzt wisse er, zum Henker auch, das Ganze! Jetzt wär' er so verteufelt viel klüger geworden als sonst! Auf dieser bestohlenen Armada sei er wahrhaftig endlich in die rechte Auffassung von der Sache hineingetrundelt, auf die Hölle zu: Mut, das sei nichts als Dummheit und Roheit – wenn man an Bord einer splitternackten Flotte sei, einer Schlachterbude, wie diese! Ha – heulte er mir zu: du hast mich gelehrt, der Mut bestände darin, über das hinweg zu springen, durch das kein Teufel hindurchkriechen kann ... aber sage mir dann, Bogduroff, antworte mir: glaubst du nun auch allen Ernstes, daß du von Libau bis nach Port Arthur springen kannst – denn diese Schiffe können dich wahrhaftig nicht so weit schleppen! Oder bildest du dir wirklich noch fürderhin ein, daß du über den Berg von Schande und Mord, die diese Fahrt ist, hinweghüpfen kannst? Nein, Mut, auf einem Geschwader wie dieses, das heißt nur Söldner sein, Wegelagerer für private Zwecke – noch dazu aus einem Sauerteig, der weder mich noch andere ehrliche Leute was angeht, basta ... esch, das alles rappelte er herunter, ehe ich nur den Mund aufmachen konnte.

Nakinskij, dies war freilich nicht gerade gut – aber doch nicht allzu schlimm.

Ich habe schon früher Männer gesehen, denen eine Minute oder auch zwei im Zimmer schlimm und übel wurde (namentlich, wenn sie nicht nüchtern waren) und die hinterher im Felde doch tapfer genug waren.

Darum schlug ich ihn nur auf die Schulter, ziemlich hart, und lachte ein wenig bissig: Leg dich in meine Klappe und schlaf deinen Rausch aus – antwortete ich: oder mach', daß du weg kommst, Tschukow, du bist plakatbesoffen, du redest wie ein Schakal, du stinkst. Du weißt ja selbst nicht, was du sagst! ...

Aber im selben Nu, als ich seine Augen sah, die mir tief in den Kopf hineinglotzten – blinzelnd, bei meiner Seligkeit, als wolle er geradezu andeuten, daß wir beide uns im allerinnersten Innern gewiß ganz einig seien ... da erfüllte mich plötzlich ein funkelnder Abscheu, ein Haß: Scher dich zum Beelzebub, rief ich: verdufte, denn wenn der Sinn von all deinem Gefasel wirklich ist, daß du urplötzlich feig und bangbüchsig geworden bist, und dich nicht davon erholen kannst – daß du Angst hast, sowohl zu leben wie auch zu sterben ... so verschwind' in aller Eile, schrubb ab, tüll dich noch einen Grad schweine-sinnloser voll als du jetzt schon bist, dann findest du am Ende vielleicht Mut genug, das von beiden Teilen zu wählen, wovor du dich am wenigsten fürchtest! ...

Kurz, und dann sah ich ihn also den nächsten Tag wieder – als er faktisch seine Wahl getroffen hatte, oben vom Mars heruntergehüpft war, scheinbar infolge eines Fehltritts, und nun auf Deck lag, das Oberstübchen zerschmettert!

Ich sage Ihnen: zwölf Jahre lang war er mein Freund und Kamerad gewesen, ich hatte sein Herz mehr als einmal gewogen, es war aus Gold und Stahl, ich hatte schon längst im Laufe der Stunden das Gefasel vergessen, das er gestern abend bei mir von sich gegeben hatte ... aber nun stand ich da, in einem Haufen erbleichender Matrosen und Offiziere, die plötzlich gelähmt waren und nicht wagten ihn anzurühren, seine bluttriefenden Inwendigkeiten anglotzend, die ihm oben aus dem Schädel herauswuchsen – und da entsann ich mich auf einmal alles dessen, was er in der Nacht herausgeschrien hatte, ich erhob meine Rechte und verfluchte die Zeit, in der wir Genossen gewesen waren: Feigling, Frauenzimmer – dachte ich: stirb als der Hund, der du also warst, im innersten Innern deines Wesens! Ach, Gott, Tschukow, wie konntest du doch nur auf einmal so feige werden ... aber dann war es, als ob meine Augen plötzlich ganz anders würden, als bisher; sie sahen so verschleiert auf ihn herab; es erschien mir jäh, als gleiche sein Kopf einer ungeheuren, feuerroten Rose, ja, wie eine Purpurblüte sah er leibhaftig aus, er duftete betäubend schwül und süß! Ach, sein blutiges Gehirn hob sich wie eine Mohnblume aus den Scherben seines Kraniums hervor ... und im selben Moment war es, als rieche ich zum erstenmal Blut: es floß gleich einem faden Nebel durch meinen Sinn, es blähte sich in meinen Adern mit seinem Schmerz, seinem Rauch; es zog in einem murmelnden Chor von Grauen an meinem Ohr vorüber, es dampfte in einem salzigen Gespinst von Schleim und Rache an meinen Augen vorbei, ich hörte tief unten in meinem Busen eine flüsternde Stimme: du sollst nicht töten ... und plötzlich entsann ich mich der Doggerbanks, wo auch ich selbst, eine Weile, fast wörtlich dasselbe gedacht und gesagt hatte, wie er!

Ach, ich entsinne mich noch, ja, ich werd' es nimmermehr vergessen: wie mein Herz auf einmal plappernd stillstand, es pflanzte seine langen, roten Beine klaftertief in mir hinunter, und hakte mir mit einer dünnen Spitze in die Brust:

Ob es also in Wirklichkeit eine Feigheit in mir war, die mich angetrieben hatte, Tschukow über Nacht zum Tode zu verurteilen? Hatte ich mich von ihm befreien wollen, der dasselbe gemeint hatte wie ich – und mich sogar daran erinnert hatte!? War ich bange vor dem Ansteckungsstoff, den auch ich selbst verbreitet hatte?? War auch ich bis an die äußerste Grenzscheide meines Mutes gelangt? Oder war es, übrigens, überhaupt ein Memmenstreich von Tschukow, daß er sich getötet hatte?? Lag nicht, im Gegenteil, immer etwas Tüchtiges und Gutes darin, wenn ein Mann mit seinem Leben für seine Meinung eintrat – mochte sie nun richtig oder verkehrt sein! Hatte sich also nicht gerade Tschukow mutig erwiesen – während ich feige war? Ja, schließlich: war es nicht im Grunde richtig und wahr, trotz alledem, das, was er, wie auch ich, empfunden hatten: daß eine so planlose, so schlingelhaft schlecht ausgerüstete Fahrt wie diese, überhaupt keinen Mut bei den Teilnehmern erforderte – sondern Dummheit! War es nicht eine Torheit ohne Gleichen, ein Verbrechen, mit dabei zu sein? Dies war ja ein überlegter Mord an zehntausend jungen Männern, die gezwungen waren, mitzugehen! Ja – kurz und brutal gesagt: war es etwas anderes als Mangel an der hohen Kühnheit des freien Mannes, die mich veranlaßt hatte, die Stunde zu überleben, in der ich so klar eingesehen hatte, daß diese Armada nicht zum Siegen geführt werden konnte!? War es nicht das einzig wirklich männliche, unter Verhältnissen wie diese, sich gerade so aufzuführen, wie es sonst nur die Memmen tun: den Gehorsam zu weigern, zu protestieren – wenn nötig, mit seinem Leben selbst, so wie Tschukow es hier getan hatte!

Aber in der nächsten Sekunde war ich wieder obenauf, ach, es war die Kraft meiner vierzig Jahre, die sich noch nicht beugen ließ:

Ich tröstete mich damit, daß Tschukow wahrscheinlich nichts von all diesem bedacht hatte!

Bewahre, keine Spur, der Wurm!

Er hatte sich ganz einfach aus Angst getötet – aus Schrecken über das, was er zu sagen wie zu meinen über Nacht leichtsinnig genug gewesen war! Ihm hatte die Courage gefehlt, die ich selbst gehabt hatte: sofort seine Worte wieder in sich zurückzunehmen, einzusehen, daß sie nur die Rede einer kurzen und krankhaften Stimmung waren – und darauf Handlungen beweisen zu lassen, daß man sie nicht ernsthaft gemeint hatte! Und außerdem – grübelte ich weiter: selbst wenn es (worauf alles unumstößlich hinzuweisen scheint!) die Absicht mit diesem Geschwader nur ist, daß wir geopfert werden sollen, wohlan, was dann?! Ist es nicht schon Tausende von Malen geschehen, daß Männer haben sterben müssen, damit größere Dinge als sie leben konnten?

In der Tat, die Sache war vermutlich die – dachte ich dann, in einem Blitz: daß man in den tonangebenden Kreisen daheim jetzt allmählich die absolute Gewißheit erlangt hatte, daß der Krieg nicht gewonnen werden konnte, nicht wahr? Und draußen in Europa fing man schon so leise an, die Tapferkeit der Russen, die Ressourcen des Landes zu bezweifeln – aber dann war da ja nur eins zu tun: ihnen allen von neuem zu zeigen, daß wir Keckheit genug besitzen – selbst auf einer Armada, die keinerlei anderen Zweck hat als nur den! Eine riesengroße Flotte, die mit dem Befehl ausgesandt ist, unterzugehen und zu sterben!

Oh, ja, ich streckte die Arme zum Himmel empor: schlaf in Frieden, o Tschukow, mir hast du den Weg gezeigt zu dem rechten Verstehen und der Freude – und auch von allen anderen soll dir dein Tod verziehen werden, denn du hast dich ja selber gestraft, indem du das große Nu entbehren mußtest! Ja, wahrlich, wir anderen haben uns ein besser Teil erwählt, wir werden freiwillig mit einem Lächeln von hinnen wandern – um aller Welt zu beweisen: daß Rußland stark ist und schön, daß es selbst in der Niederlage die Mittel besitzt, mit größerem Vermögen um sich zu werfen, mit größeren Zahlen von Menschenleben als irgendein anderer Staat! Daß seine Kinder mit Jubel für ihr Land sterben wollen, daß Russia in Wahrheit zur Herrscherin über die Welt geboren wurde! ...

Ja, das alles sah ich in einem flüchtigen Schimmer, während ich krumm über Tschukows Leiche stand – ich schlug mit den Händen aus und lachte, ich richtete mich lächelnd auf und erteilte den Befehl, ihn wegzutragen: faßt ihn, Leute, behutsam an: er war in seinem Herzen immer tapfer ... und dann ging ich mit Freuden an meine Arbeit, Tag für Tag!

Ach, in den Zeiten spürte ich hinreichend, daß es weiß Gott keine Grille bei mir war, mein Glaube an Rußlands kommende Größe.

Ich brauchte mich keineswegs an meine Arbeit, an meinen Teil des Werkes, an meine Person zu klammern – keine Spur, nicht im geringsten.

Ich bildete mir niemals ein, daß es die Zukunft beeinflussen könne, wenn mein Leben sich anders formte, als ich es gedacht hatte.

Nein, mein privates Dasein genierte mich durchaus nicht in meinem Traum von Russia!

Verstehen Sie mich, Nakinskij: Und deswegen war ich immer hart wie ein Stein, sowohl, wenn es sich um mein Leben, wie das anderer handelte – aber biegsam wie eine Schlange, wenn ich die Mängel wegräsonnieren sollte, die ich hier auf der Fahrt entdeckte!

Nicht wahr?

Begreifen Sie: jener Tag im Oktober, als ich in Libau an Bord ging, da hatte ich ja gehofft, daß diese Fahrt die Einleitung zu dem Großen sein würde! Daß wir gleich, wenn Japan niedergeschlagen war – den errungenen Sieg verfolgen würden!

Ja, ganz gewiß, und die gewaltige Hoffnung war also für diesmal vorüber! Die Welt von Licht erlosch, für den Augenblick – in dem Moment, wo ich Tschukow dort auf dem Deck liegen sah!

Aber trotz allem ... ja, gerade, weil alles anders gekommen war, als ich erwartet hatte – so fand ich jetzt, daß mein früherer, ungeduldiger Eifer und mein Trachten nur Kinderei gewesen waren, eines Säuglings törichtes Greifen nach der Sonne! So große Ziele, wie die Rußlands, werden nicht so schnell erreicht!

Und jeden Abend starrte ich mich, glückselig, bis auf den Grund dieses neuen Zwecks, den ich erblickt hatte, das neue Land, die Stätte der Aufopferung – sicherlich weniger reich als das vorige, aber doch üppig an Versprechungen: meine Erkenntnis, daß wir sterben müßten, damit Rußlands Name und Ehre auch ferner unbefleckt dastehen sollten, selbst wenn der Krieg hier mit Niederlage und Verlust endete.

Und wenn der Gedanke an meinen eigenen, plötzlichen Zorn auf die Doggerbanks und auf das Benehmen der Kameraden damals, von neuem in mir auftauchte – so meinte ich zu sehen: daß dies möglicherweise nur der letzte vage Protest unserer Zellen und Muskeln gewesen war, die die selbstlosen Pläne unserer Seelen ahnten, aber nicht fassen konnten.

Das war die letzte schwache Auflehnung des Organismus – der erriet, daß sein Herr ihn freiwillig zum Tode verurteilt hatte ... nicht wahr, klang das das nicht plausibel genug?

Ich glaubte auf alle Fälle daran.

Ja, sogar Tschukow schien mir, hin und wieder, nur als ein Ungeduldiger, ein heftiger Zelot, der nur nicht die Fähigkeit gehabt hatte, zu warten! ...

Wir wanderten währenddes den Atlantischen Ozean hinab, ich ging wie im Tanz ... freilich, ich sah ja sehr wohl, daß die Kameraden (namentlich die jüngeren unter ihnen, Praxin und seine Freunde; und auch Sie, Nakinskij): Ihr betrugt euch ja nicht immer ganz so, wie ich es gewünscht haben möchte!

Aber ich erklärte mir selbst: daß das sicher die Wärme da unten war; es war der wollige Faden des Äquators, der irritierend eure Adern durchfeilte! (Das Phänomen habe ich schon früher ein paarmal erlebt!) Aber das würdet ihr bald verwinden, wenn ihr euch erst daran gewöhnt hattet!

Und später nahm ich an, daß es die greuliche Wartezeit bei Madagaskar war, die euch vor der Brust stand; und die Moskitos da drüben! Ja, ja: es waren die Dysenterie und Klimafieber, es waren die wahnwitzige Länge und die Glut der Tage – und der Nächte heiße Bisse von Koller; es war eurer eigenen Herzen Unduldsamkeit, die Hast, euer Ziel zu erreichen, ach, gleich einem Liebenden fand ich hunderterlei Erklärungen, jedesmal, wenn der Zweifel meinem Blick seine häßliche Fratze zeigte! Ja, sieh nur, wie traurig – dachte ich: so sind wir allesamt, daß selbst ein so großes Ziel, wie das, eine Stütze für die Zukunft der ganzen Erde zu sein, daß wir selbst das zuweilen vergessen können!

Aber dann fiel mir ein, wie natürlich es war, daß namentlich die Jüngeren hin und wieder ein wenig aufbrausten: denn sie haben ja viel mehr zu verlieren als wir, wenn sie sterben: diese Knaben, die noch niemals auch nur einen Schimmer von alledem gelebt haben, von dem sie sich jetzt, unwiderruflich, losgesagt haben!

Nicht wahr? –:

Ach, die Nächte hindurch grübelte ich mir von neuem, wie so manchmal zuvor während dieser Fahrt, langsamiglich und mühselig das alles hervor, das mir ihr Betragen erklären konnte!

Und dann begriff ich, allmählich: daß das grenzenlos Schwierige für diese achtzehnjährigen, heißen und stolzen Kadetten und für diese kleinen, brennend eifrigen Leutnants von zwanzig ist: daß es für jeden einzelnen von ihnen ja im Grunde bloß ein kleiner Teil ihrer Person ist, der Ja dazu gesagt hat, sterben zu wollen! Verstehen Sie: noch sind es nur die Verhältnisse auf der Armada, die sie nach und nach, fast unmerklich, dieser Entscheidung über ihr Schicksal gegenüber gestellt haben! Noch hat keiner von ihnen weder Alter, Ausblick oder Selbsterkenntnis genug, um wirklich bestimmt wissen zu können: ob es nun auch mit der Zustimmung ihres ganzen Wesens, ob es in Wahrheit freiwillig und wohlüberlegt geschieht – daß sie sich so für Rußland opfern wollen!

Sieh, denn auch ich weiß ja nämlich sehr gut: daß es für die Jugend ganz sicher so leicht ist, in einem begeisterten Augenblick zu sterben – weil ihre feurigen Herzen dem Feuerkeim der Erde näher sind, als die unseren; und weil sie weder Frau noch Kinder haben, die hilflos zurückgelassen werden müssen! Nicht einmal Erinnerungen haben sie, die sie allen Ernstes festknüpfen an den Gedanken an alles das, was das Dasein zu bieten vermag!

Ja: in einer einzigen flammenden Sekunde ist es unsagbar leicht, Verzicht zu leisten, auf all das, was man noch nie gekostet hat – aber wenn sich dann Tag an Tag reiht und von unserer Glut zehrt; wenn die Einsamkeit der schlaflosen Nächte unaufhörlich, erfrierend, wieder vorüberzieht; wenn die Ausgedehntheit der Wochen und Monate kommt und geht: so wird schließlich, ohne daß man es selbst so recht entdeckt: eben all das Ungekostete das, was einen am allerstärksten an das Leben bindet!

Und eines schönen Tages fragen sie sich selbst, diese Jünglinge, die in heiligem Eifer erwählten, sich hinzugeben: bin ich wirklich am meisten dazu geeignet, nur sterben zu sollen, erlöschen, vergehen, in einem Nu hinschwinden zu sollen ... oder sind da nicht, weit eher, tausenderlei Dinge, zu denen mein Leben hätte verwendet werden können?!

Ach, und langsam steigt vor ihrem Sinn die Vorstellung auf von den Zielen, die Männer für ihre Zeit und Kraft zu haben pflegen – und die sie selbst bisher nur unbestimmt und ferne schimmern zu sehen Muße hatten!

Oh, es ist ihr heldenmütiger Wille selbst, das Leben für das Wohl des Vaterlandes zu lassen, der sie schließlich dazu bringt, so bebend vor sich hinzustarren, ahnend, welche große, wunderbare Wonne es ist: durch jahrelanges, fortgesetztes Wirken alle seine Fähigkeiten sich höher und höher hinaufranken zu fühlen zu einem selbstlosen und strahlenden Ideal! Oder ihr Gefühl des Zusammenhangs mit der ganzen Armada, mit den Plänen der Regierung, mit der Idee der Staatsentwicklung, das macht sie grübeln, intensiv, mit zusammengezogenen Brauen: über des Ehrgeizes, der Machtbrunst, der Eroberung sonderbar grausame und unersättliche Lust. Oder sie brüten, plötzlich gar zu überdrüssig der rauhen Barschheit der Schiffsräume, über die trauliche Ruhe nach, die es gewähren muß, wenn man ein Heim mit Frau und Kindern hat, mit einer heranwachsenden Schar seines Geschlechts, die durch unsere Arbeit weiter vorwärts getragen wird! Am allermeisten aber träumen sie, bei Tag wie zur Nacht, unbewußt gemartert von der Enthaltsamkeit der langen Fahrt: von dem grimmigen und süßen Glück der Verliebtheit, von dem ewig wechselnden, leichten Spiel zwischen einem vollerwachsenen Manne und einer lebensreifen Frau, ja, ja: von Liebe phantasieren sie unaufhörlich: von ihr, die dem jungen Sinn so nahe liegt! die sie noch nicht wirklich kennen – von der sie aber doch genug erfahren haben, daß sich ihre Hoffnung von ihren Erinnerungen nähren kann!

Ach, dergestalt begreifen sie schließlich, tief drinnen im Grunde ihres Wesens, ohne es in Worten formeln zu können – aber eben darum auch ohne es durch Worte widerlegen zu können: daß nur eins von diesen Feldern vollkommen zu den Fähigkeiten und dem Charakter jedes einzelnen paßt: welches aber nun, das wissen zu können, haben sie noch nicht lange genug gelebt!

Ja, ja – sie fassen es endlich: daß sie in Wirklichkeit also gar nicht selber den Verzicht geleistet haben – denn sie kannten ja das, wovon sie sich lossagten, nicht!

Gar nicht sie selbst – nein, die Umstände, die anderen, die älteren haben für sie gewählt!

Das Leben hat, ohne sie zu fragen, alles abgemacht – und ihnen den Tod gegeben! –:

Und da geschieht es, daß es hundertmal so schwer für die Jungen wird, sterben zu müssen – als für uns! ...

Verstehen Sie mich nun, nicht wahr: das alles rechnete ich penibel aus, peu à peu, dort bei Madagaskar, als ich das Tasten dieser Jünglinge sah. Und erst durch diese Erwägungen ward ich wieder froh und dankbar über sie: weil es also wirklich eine Erklärung für ihre Unsicherheit gab, ohne daß man an ihren Herzen zu zweifeln brauchte! Ich sagte zu mir selbst: dann fehlte ja auch nur noch, daß sie nicht die Erlaubnis haben sollten, in ihrem tiefsten Innern hin und wieder das viel zu späte Pro-et-Contra dieser ungetroffenen Wahl zu empfinden!

Und im Grunde, dachte ich weiter: zuguterletzt ist es ja nicht einmal das, was bewirkt, daß sie sich dagegen auflehnen!

Nein, es sind nur die Mikroben, die die Luft hier unten hinterlistig eimerweise in ihr rotes Fleisch hineingepumpt hat – ja, es sind alle die tropischen Maladien, und es ist außerdem jene sonderbare, rätselhafte Art von Begier nach europäischen Frauen, die man stets auf langen Fahrten in diesen Zonen empfindet: wo man so fern von dem Schoß seines Vaterlandes ist! Ja, diese beiden Dinge sind es, die die Ungewißheit in ihnen bis zu einem Zweifel in die Höhe schrauben! Ach, es ist die vom Fieber gesteigerte Heimatsehnsucht, und das funkensprühende Frauenentbehren, die ihnen einbilden, daß ihre heißen Muskeln in einem Handgemenge gegen den Feind keine Verwendung für ihre Glut finden können – aber nur in dem Feuer eines Umfangens! Ihr von Krankheiten kochendes Blut verlockt sie zu dem Glauben, daß seine Flamme nicht in einem Kampf für Russia verwendet werden kann, sondern nur bei einer Geliebten! Es sind die Seuchen in ihrem brennenden Herzen, die sie verleiten zu meinen, daß sein Verlangen nicht in einem Krieg für die ewigen Ziele – sondern nur in dem Fleisch eines weißen Weibes gestillt werden kann!

Ja, Nakinskij, und ich verstand sie so gut – denn auch ich, für den Russias Sache in den letzten Jahren das einzige geworden ist, auch ich, der ich mich nie ernstlich an eine Frau gebunden habe, auch ich habe in der Periode meiner Jugend, während der langen Äquatorfahrten, den geifernden Koller – von Sehnsucht, seine Qual bei einer Geliebten unserer eigenen Rasse zu löschen, kennen gelernt!

Sie, Doktor, der Sie solche Reisen bisher nicht mitgemacht haben, wissen also noch nicht so recht: daß es am wenigsten von allem das Umfangen selber ist, wonach wir uns sehnen, es ist sogar von allem am wenigstens ein Körper, den wir begehren: nein, aber hier unten, unter dem sengenden Brand der Tropensonne, meilenfern von Europa – hier, wo alle Frauensleute entweder braun sind wie Rauch und Ruß, oder gelb wie Flammen, oder schwarz als seien sie bereits verkohlt von dem verzehrenden Himmelsfeuer: hier verlangt uns nach der klaren, behutsamen Seele unserer eigenen, arischen Frauen, nach ihrer weißen und kühlen Haut, nach ihren fröhlichen und vertrauensvollen Liebkosungen, nach der zärtlichen Leidenschaft der verschleierten Blicke!

Verstehen Sie: es ist allerdings zum Teil die Enthaltsamkeit der langen Monate, aber es ist außerdem auch das Heimweh, und es ist mehr als alles andere unser Rassenstolz, der uns nur bei unseres Gleichen einen vollständigen Trost zu finden gestattet ...: das alles schmilzt zusammen zu einer einzigen rasenden Fackel von Begier, nach dem Schoße der weißen, schmachtenden Weiber!

Ja, ja, zuweilen erbebt auch meine Brust, des Nachts, noch immer bei den schwindelnden Erinnerungen aus der Jugendzeit; aus jenen halbjahrlangen Fahrten, als ich Kadett oder frischgebackener Leutnant war, hier hinab in diese fieberverrückten Zonen – wo wir Monate hindurch nur selten an Land kamen, und dort nie etwas anderes sahen, als entweder Chinesenfrauenzimmer, oder Negerdirnen, oder die schreckenerregenden Bastards, deren unfruchtbares Feuer seelenloser Liederlichkeit schwälend in dem Ofen der viel zu großen, bodenlosen Augen glühte. Oder, wenn es hoch kam, ein paar verkommene europäische Huren, mit der unsagbaren Kälte ihrer Blutlosigkeit, ihrer Geldgier!

Ich erinnere mich des allen so deutlich – und erzählte es mir selber umständlich wieder, damals bei Madagaskar.

Ja, – ich entsann mich: wenn da zwanzig oder auch fünfundzwanzig Wochen vergangen waren, nachdem wir Rußland verlassen und hier hinabgelangt waren – so pflegte es anzufangen. Ganz so wie hier auf dieser Fahrt!

Bei Tische, wenn wir aßen oder tranken, kam die Rede rettungslos auf Russia. Ach, der Schnee, sagten wir zuweilen im Chor: nicht wahr, oh, wenn man denkt, wie wunderbar es sein muß, im Schnee zu waten! Ja, wenn wir in die Heimat zurückkehren, wollen wir in Zukunft jeden Tag mit bloßen Füßen im Schnee gehen, wir wollen bis über die Knie in dem feinen, eiskalten Flimmer waten, in dem daunenweichen Flor von Frost, ach ein Bad in dem jungfräulichen Weiß vom Himmel! Oder das Eis, riefen wir weiter und lachten mit erhobenen Händen: das Eis, das kohlschwarz ist unter unseren Füßen! wo die blanken Schlittschuheisen, leise klingend, ihr geschnörkeltes Monogramm aus Grazie und Geschwindigkeit einritzen! wo der Wind zuckersüß und kühl, einem an der ganzen Haut entlang rinnt! Ach, die rosablasse Sonne, die man liebt, von der man nie genug bekommen kann! He! Oder was sagen die Herren zu des Lenzes Durchbruch von gärender Wonne, zu dem zügellosen Entzücken, das einen erfaßt, wenn man die ersten grünen Knospen sieht! Ja, die Orgien von Frühling, die unsere Nase unaufhörlich feiert, wenn wir in einer klingelnden Telega auf den aufgeweichten Wegen der großen, sprossenden Wälder dahinfahren! ... Ja, stundenlang saßen wir da und füllten uns mit allem von daheim – bis wir uns gegen Abend trennten, und in die frische Luft hinauf wollten, ehe wir uns zur Ruhe begaben!

Und da oben befielen uns, nach und nach, sonderbar dumpfe und unbestimmte, langsam schwermütige Stimmungen ohne Ende. Wir liebten es gar zu sehr, einzeln, um Sonnenuntergang, dazustehen und gedankenschwer zu des Tropenhimmels Vulkan aus Blut im Westen hinüberzuschauen. Wir verloren unsere Blicke in den sanft dahinziehenden Wolken, deren weiße Umrandung sich allmählich entzündete – und hier und da in den dunklen Kumuluskuppeln brach schäumend ein brandroter Widerschein hervor. Wir starrten uns blind und durstend und stumm, in den blanken Kupferdeckel der Sonne hinein, der seinen Rand in das Sieden des blendenden Meeres hinuntertauchte, ein rinnendes Metall, ein flüssiger Haufe aus Gold. Und unmerklich schmilzt auch alles da drinnen in dem eigenen Busen, man empfindet, daß es nicht das Land daheim allein ist, nach dem man sich sehnt! Man greift so wunderlich zögernd an der Reeling entlang, man faßt sich selber nicht, und die Hand tastet auf einmal nach der Brusttasche hinauf, um den knitternden Laut des Briefes der Mutter zu vernehmen. Man beugt stumm den Nacken hintenüber, folgt des Sturmvogels steigendem Flug zu dem unermeßlichen Blau hinauf – hört plötzlich verwundert und bebend, sich selber seufzen ... und jäh fallen einem hunderterlei winzig kleine Dinge aus dem fernen Heim da drüben ein: oh, der Samowar, der jeden Abend unaufhörlich schnurren und spinnen kann; das kleine, lautlos flackernde Licht des Madonnabildes! die kleinen Schwestern, die lachend, mit ihren roten, feuchten Mäulchen, um das weiße Tischtuch sitzen, die Ellenbogen auf dem Tisch, und mit ihren Tassen klirren; die Traulichkeit der Teppiche, die vergoldeten Rahmen, die glühend die Gemälde umgeben; die gepolsterten Stühle; die schwarzen Fensterscheiben, die hinter den Gardinen sichtbar werden; die Wagen, die da draußen vorüberfahren. Und mehr und mehr steigt Mutters Bild auf, ihr ruhiges, sanftes Gesicht, das so verborgen lächeln kann; der zarte Schimmer von Freude auf ihrer Wange; ihre Hände, die alles so schnell und gut ordnen können; ihre Stimme, ja, ihre wunderbar volle und süße Stimme, die man nimmer vergessen kann!

Oh, nicht wahr?

Habe ich nicht recht, Nakinskij?

Haben nicht auch Sie, zusammen mit den anderen Jungen, das alles kennen gelernt, hier während unserer weitgestreckten und fatalen Fahrt? ...

Und dann kommt die Zeit, wo die Angst der Nächte beginnt:

Man geht in seine Kammer hinab, das Herz viel zu voll und viel zu warm von Erinnerungen an die Heimat, der Sinn unsagbar empfindlich und gespannt. Unter unserer Kehle steht ein seltsames Pochen. Man will um keinen Preis mit den Kameraden reden, kennt sie plötzlich nicht mehr, weicht ihnen allen aus.

Aber da unten in der siedendheißen Kajüte, da ändert sich schnell der Gedanken Takt. Wenn man ganz allein geblieben ist, und nur das so lange Zeit unbeachtete, leise Geräusch der Maschine hört, das unaufhaltsam zitternd uns vorwärts treibt zu neuen und abermals neuen Horizonten – so bekommt die Sehnsucht Flügel. Es genügt nicht mehr, um unser Entbehren zu betäuben, sich nur der Zimmer daheim, oder der Geschwister oder der Mutter zu erinnern. Schwer und schwerer wird unsere Stirn, man bebt ganz leise an den Händen: friert man etwa, ist da ein Brand in unserem Blut, ach Gott, man wird so wunderlich bange! Ja, man will nicht mehr denken, sich nicht erinnern, sich nicht sehnen, man will Ruhe haben, man will schnell ins Bett kriechen und schlafen!

Und wenn man dann in die Koje gekommen ist, wenn der schwindelnde Sturm der Nacht lautlos durch das Loch des pechschwarzen Fensters dringt, wenn die Gluten des Kreuzes-des-Südens da draußen an der brütenden Wölbung sichtbar werden, wenn der stumme Goldstrich der Sternschnuppen sengend über den Sammet des dunklen Himmels rinnt, wenn die Schwüle sich schwingend über unserem Kopf erhebt: da durchschauert einen jäh der grenzenlose Hunger nach der Weiße einer Frau, nach Küssen, die langsam über einen Marmorteint gleiten, nach der unfaßbaren Kühle der zartschimmernden Haut! Ja, ja, man streckt die Arme aus, man wirft sich ruhelos hin und her, reißt die Decken ab, das Herz pocht wild da drinnen unter den Schultern, man jammert sacht. Ach Gott, man flüstert die Namen, die einem lieb gewesen sind. Man sieht vor sich die Frauen, die man gekannt hat. Man wiegt verzweifelt den Kopf, man starrt mit weit aufgerissenen Augen, die schmerzen; man stottert. Man greift zähneknirschend nach den Gaukelbildern, die man sieht, will sie näher heran haben, und noch näher, ganz nah', man zerreißt ihre Kleider, atemlos befiehlt man ihnen, nackend zu werden ... ach, alles das hilft gar nicht. Es nützt nicht das geringste. Keins von diesen Phantomen besitzt Möglichkeiten genug, keins von ihnen gewährt dem Sinn die Erleichterung, nach der er schluchzt, keins kann die Grenzenlosigkeit von der Liebe Sturm und Sonne und Wetter umfassen, die man im Herzen trägt ... und erblassend sinkt man wieder auf dem Kopfkissen zusammen, wickelt das Laken um sich, klemmt die Augen zu – aber unverscheuchbar sieht man vor sich alle die, die man sich heraufgefabelt hat: und jäh zündet man Licht an, versucht zu lesen; aber die Sätze wollen sich nicht aneinanderfügen, die Worte stehen so unbegreiflich zerstreut, die Buchstaben flimmern unablässig, ich bin müde, ach Gott, ich will schlafen ... und endlich sinkt man dann wirklich in den Schlaf hinab!

Aber auch da hat man keine Ruhe!

Ach, durch die Träume windet sich betörend das verwirrende Gespinst der weißen Arme. Aus der Nacht heraus zieht ein blendender, betäubender Flor von Hälsen, eine Jasmingirlande von Brüsten. Es schwingt sich ein berauschender Zug von Weiße und Glanz und Duft durch unsere Sinne. Die verborgenen Organe in uns fordern Rache – weil wir ihre dunklen Lüste niederkämpften, als wir wach waren.

Wieder und wieder fährt man auf mit einem Schrei, heiß und trocken, das Herz steht still, die Kehle klemmt sich zusammen. Man ringt die Hände, weiß weder aus noch ein; hinter den Schläfen rast wahnsinnig die Erinnerung an die Bilder, die man kürzlich geschaut hat; im Ohr dröhnt dumpf das Echo von Worten, die geflüstert wurden: ach meine Geliebte, ja, ja, ich glaubte deine Stimme zu hören, ich gewahrte die Schönheit deiner schwellenden Lenden, ich fühlte die grausame Tiefe deines Fleisches, das sich selig um mich klemmte, ja, kehre zurück, in meinen Handflächen spüre ich dich noch beständig, ich kann nicht leben ohne dich, ich sterbe, hörst du, ich bin krank, komm, ach Gott, wo bist du doch nur, versprich mir, daß du zu mir zurückkehren willst, daß du mein sein willst, wenn ich nun wieder einschlafe ...

Und unendliche Zeiten nachher erhebt sich der Sonne verzehrende Pracht aus Feuer. Schlaflos starrt man ihr entgegen. Sie flammt in unseren Pupillen, die tief da drinnen sitzen, und uns den Kopf beschweren. Sie sticht in unser todmüdes Gehirn, das unaufhörlich gaukelt. Man fühlt selbst die Bleichheit seiner Wangen, die dunklen Schatten unter den Augen. Und da scheut man die Kameraden noch mehr. Man weiß, daß die Spuren von dem, was auch sie verwüstet hat, von neuem alle die eigenen Erinnerungen wachrufen werden. Man sucht, fieberhaft, Vergessen in seiner Arbeit zu finden. Man beeilt sich zu den Übungen zu kommen, fährt die Mannschaft wütend an, wundert sich über die sonderbare Schwere, die sie an den Tag legen – bis man auf einmal begreift, daß ja auch sie während der Nacht unter ganz demselben gelitten haben. Und dann hastet man hinab in die Messe, wo man sofort die Kameraden verhöhnt, sobald man sie sieht – um im voraus das Lachen über die eigene unzweideutige Mattigkeit zu entwaffnen. Man liest und schreibt, man spielt oder plaudert oder lacht, wirft sich auf alles mögliche. Und die Stunden gehen hin, während man einsam zu vergessen strebt, oder einsam zurücksinkt in sein Brüten über seine Seuche von über Nacht her. Gleich einem Nachtwandler, trunken von Fieber, wankt man rastlos umher, allein, ja, Hunderte von Malen mehr als allein – verlassen.

Abermals wird es Abend und Nacht, wo alle Fibern wieder eine grauenvolle Rache nehmen, weil sie im Laufe des Tages gezwungen waren, zu verschweigen und zu vergessen ... und wieder bricht der Morgen an.

Aber nimmer wird Friede.

Nie.

Des Tages Explosion von Sonne, und der Nächte mächtiges, düsteres Meer mit dem rauschenden Atem. Der Sterne verwirrender, feuchter Blick, der blinzelt. Der Finsternis miasmenerfüllter Mantel aus Schwarzheit. Jeder Stunde Laut und Duft. Der Maschinen schleichende Stimme und des Windes unendlich lange Seufzer ... Alles erzählt von dem, was wir nicht erreichen können. Es ist nicht mehr Sehnsucht, die in uns rüttelt, es ist ein geisteskrankes Verlangen, es ist Qual. Nicht mehr Begierde nach Liebe, sondern Haß. Kein Umfangen erscheint uns mehr wild und schäumend genug, wir heischen Vernichtung. Ja, ja, man fordert, seinen Tod bei Frauen zu finden, man will rettungslos vergehen, man will totbrennen – in ihrer weißen, unersättlichen Umarmung. Man will sterben in einem geifernden Meer von Blankheit, in einem himmelhohen Geheul von Wollust in ihren Lenden aus siedendem Schnee.

Und da kommt die Zeit der unnennbaren Nächte.

Wo man wieder und wieder aufgescheucht wird mit einem Gellen, aus der gierigen, gähnenden Verrücktheit der schändlichen Träume. Haßerfüllt spürt man, wohin sich die Hände verirrt haben, unter der bestialischen Perversität des Schlafes – und mitten in seinem Ekel darüber, hört man auf einmal, kälteschaudernd, das Glucksen seines eigenen heiseren, schamlosen Lachens. Oder man springt, greinend und wild und gierig, aus dem Schleim der treibenden Laken heraus!

Ach, Stunden der Marter und Entwürdigung eines rettungslosen Elends!

Tage der schmerzlichen Brunst von Männern. Nächte des Wahnsinns ...

Ja, ja, weiß Gott, Nakinskij: und das alles zehnfach schlimmer bei jenen Jungen hier an Bord, die wußten: daß sie nie mehr sollten der Gegenseitigkeit alles lindernde Seligkeit bei einer wirklich Geliebten empfinden.

Nie mehr sollten sie das vollziehen, wonach, wie sie unaufhörlich fühlten, ihre Glieder sehnsuchtskrank schwellend, sich sehnten.

Nicht wahr, begreifen Sie mich nun: so verstand ich das Ganze, so jagte ich alle meine Zweifel in die Flucht, jedesmal, wenn ich sah, daß einer von euch damals in seinem Benehmen schwankte ... und das alles bewirkte, daß meine Kameraden und ich uns mitten während des langen Aufenthalts bei Madagaskar dahin einigten: ob es nicht gut sei, wenn wir Älteren uns mehr mit ihnen abgaben, sie in aller Gemütlichkeit ermunterten, ihnen hin und wieder eine Flasche Wein in Gemeinschaft spendierten, um den Wurm zu töten, ihnen mehr von unseres Herzens, unseres Strebens Kameradschaftlichkeit mit ihnen zeigten? ...

Wohlan, Sie verstehen: es waren also die Tage des ›Zusammenschließens‹, die kamen. Oder der ›Übergang der Bogduroffs‹, wie es Praxin später gefallen hat es zu benennen – ehe er total platzte, aus der Todesangst Selbstüberhebung, aus ihrem Größenwahnsinn.

Eine Sache, über die Pläne zu machen, leicht genug war, in Wirklichkeit aber ein wahnsinniges Unterfangen, eine hoffnungslose, monatelange Fahrt, in einem ungastlichen Lande, voller Kälte, fern zwischen Menschen.

Haha, Gott soll mich bewahren; hören Sie, ich will Ihnen übrigens sagen: noch damals, als der Zusammenschluß bereits geschehen war, hatte ich nicht die leiseste Ahnung: daß das Motiv dazu, wie ich Ihnen vorher erzählte – nur eine von den zween Ursachen war, die mich in Gang gesetzt hatten.

Die andere dämmerte mir erst nach und nach – allmählich aufmerksam gemacht, wie ich war, durch den Widerstand der Herren gegen meine eigenen und meiner Kameraden Invitationen: und zwar war es die, daß auch ich selbst unruhig und ängstlich war, daß ich der Gesellschaft und Unterhaltung bedurfte!

Ja, haha, ach ja, hören Sie nur einmal: denn noch mitten während unserer Annäherungsversuche, die von Tag zu Tag hitziger wurden, ertappte ich mich zuweilen dabei, daß ich mir selbst im allertiefsten Innern die Frage stellte: kann es denn wirklich wahr sein, daß es Rußlands Absicht ist, uns zu opfern? Kann es möglich sein, daß ein Opfer an Menschen, die so dagegen anstreiten, wie die meisten von uns im Geheimen tun – wirklich irgendwelchen Vorteil für das Land bedeutet? Ist es nicht weit eher noch ein Mißgriff – so wie die strategische und auch die rein technische Seite der Entsendung der Armada? Ist es nicht, zu allerletzt, eine blutige, eine himmelschreiende Missetat?

Und da kam es mir vor, als könne ich eine Antwort auf diese Frage nur erlangen – indem ich mich unter alle die anderen mischte! indem ich lauschte, selber beredt, dem Unterklang, der auch in ihren Worten lag!

Danke bestens, ja: das war der wirkliche, intime Grund, der mich zu meinen Kameraden trieb, wieder und wieder, trotz aller ihrer Ablehnungen – – und ganz recht: bald las ich es überall immer klarer: daß jeder einzelne Mann an Bord wirklich dagegen ankämpfte; sie wollten nicht sterben; sie fühlten dunkel in ihrem Innern (ebenso wie ich selbst): daß selbst das bereitwilligste Opfer eines Lebens, unter Verhältnissen wie die unseren, keineswegs ein überzeugendes Zeugnis von Reichtum oder Überfluß oder schwellender Moral bei unserer Nation sein würde – nein, im Gegenteil, es war nur ein noch tieferer Fall, es war ein elender Hinterhalt gegen unser eigenes Dasein, ein überlegter, sinnloser Mord an der Jugend unserer Rasse ... und plötzlich durchzuckte es mich: ja, aber dann war es ja also doch das Richtige, das, was Tschukow und ich selber längst gesagt hatten – das, was ich nun auch in den Blicken all der anderen sah: daß auf dieser verrückten, verbrecherischen Flotte ein braver Soldat seinen Mut nicht durch Gehorsam zeigen sollte – sondern, indem er den Gehorsam verweigerte! Nicht, indem er starb – sondern, indem er leben wollte! Indem er leben wollte – um sein Teil beizutragen an der Schöpfung eines neuen Rußland!

Ach, mein Sinn ward so verwirrt: was ist Mut – und was ist Feigheit, in einem Kriege wie dieser; darüber grübelte ich stundenlang nach. Ist es wirklich der Mut in mir, der sagt, daß ich nicht sterben darf – oder ist es nur die Feigheit, die um jeden Preis leben will? Aber wenn es die Tapferkeit ist, die mich so lange naiv gemacht hat – ist es dann nicht Furchtsamkeit, die mich sehend macht? Und was soll ich da tun? Ist das am Ende alles nichts weiter, als ein neugeborener Weibersinn in meiner Brust? ...

Es trieb mich unaufhaltsam vorwärts.

Ich mußte Klarheit über das alles haben. Ich mußte bis auf den Grund sehen – nicht nur in mir selber, in den Kameraden, nicht allein in der Fahrt hier, sondern in alledem, an das ich bisher geglaubt hatte.

Es waren die kohlschwarzen Tage und Nächte des Zweifels, ach es war eine Wiederholung meiner Reise über die verschneiten Berge Transbaikaliens, es war von neuem meine heulende Fahrt über den Baikal in der rauchenden Sorma, es war noch eine dritte, eine herbere Welt, die mich zu sich nahm!

Ja, es war die Zeit des Zweifels – des Zweifels, den ich nie zuvor bis auf den Grund gekannt hatte, der mir geringer erschien als alles andere – aber jetzt zog ich in seinem dunklen, beschwerlichen Lande umher, aufs Geradewohl, Stück für Stück alles das verzehrend, was ich mir zusammengespart hatte im Laufe von vierzig Jahren!

Und ich vermutete bei meinen Kameraden dieselben, ewigen Fragen ohne Antwort, dieselbe Nacktheit in einem glitzernd eiskalten Raum von Schweigen: war es Feigheit oder Mut, daß wir weiter dahinsegelten, dem Tode entgegen, der wartete? Waren es nur unsere Nerven, die, krank von Fieber und Unruhe, fabelten – oder war es die verborgene Gewißheit von der Lüge, im allertiefsten Innern von uns? War da wirklich etwas ganz Verkehrtes – nicht nur bei uns selbst, nicht allein bei den Schiffen, bei der Mannschaft, der Fahrt, sondern vielleicht auch bei diesem ganzen Krieg mit Japan? War es Wahrheit, daß wir eine unverzeihliche Dummheit begangen hatten, als wir die kleinen Makakis zwangen, sich mit uns zu schlagen? als wir die ganze unzählige Schar von Mongolen reizten, bis sie sich über uns wälzten?? ... aber dann entsann ich mich des alten Feldrufes: die gelbe Gefahr!

Ach, und ich sehnte mich so sehr nach der ehemaligen Sicherheit in meinem Sinn. Es war so leicht, es war so gut, so gut für mich, das beste für mein Land hoffen zu wollen – und versuchen Sie sich vorzustellen, wie verlockend das aussah! Überall in Büchern und Zeitungen und Regierungen und Interpellationen, überall haben sie ja den Mund voll genommen von diesem fahlen Gespenst!

Und war es da nicht das Natürlichste von allem, daß gerade Rußland, gerade wir, die wir an der Grenze von Asien wohnen und über die Hälfte davon herrschen, daß wir Europens Bollwerk und Mole sein mußten? Daß wir es waren – wir, die den Plan hegten, das Ganze einstmals unter uns zu vereinen: unsere Pflicht war es, gegen das gelbe Risiko zu kämpfen, die Befreier der alten Welt zu werden! Ja, es stieg leuchtend auf, gleich einer goldenen Hoffnung in meinem Sinn, ein Schimmer von einer Möglichkeit für mein Leben ... noch einmal fühlte ich drinnen in meinen Muskeln, in meinem Blut, wie das Ganze für einen Augenblick in lindernde Ruhe versank: ja, es war also gar nicht um irgendein viel zu teuer erkauftes Prestige in Europa zu erringen, daß wir kämpften und litten!

Nein, es war der Sieg der weißen Rasse, den wir garantieren sollten! ...

Ich grübelte Tag und Nacht darüber nach – grub aus meinem Gedächtnis alles heraus, was ich gelernt und begriffen hatte.

Mein Schlummer war eine Reihe von abwechselnder Sehnsucht und Furcht. Ich sage Ihnen, daß ich alles Böse in meinen Träumen sah – und wild raste, um es zum Guten zu wenden.

Ich fühlte meinen Körper in Schweiß gebadet während des Kampfes, den ich deswegen führte.

Ich hörte unbestimmt meine Nachtwandlerstimme, die unaufhörlich in meinem Gehirn herumröchelte und für und wider plädierte.

Ha, ja, des Nachts lag ich stundenlang da und glotzte um mich: ich bat die Decke, so freundlich zu sein und mir Bescheid zu sagen, sintemal ich selber meine Gedanken nicht entwirren konnte: hatte Tschukow recht oder ich, soll ich leben oder sterben? ... Ich starrte hinaus auf das rollende Wasser, das sich noch mehr als ich um die Erde herumgewälzt hatte, und ich fragte ehrerbietig an, ob es mir nicht einen Rat zu geben habe, weil ich selber blind geworden sei: ist diese Fahrt recht oder nicht, sollen wir uns weigern, weiterzufahren, da hinüber, von woher du jetzt kommst – oder sollen wir fortfahren? ... Ich bohrte, zum Teufel auch, meine Nase ins Kopfkissen hinein, biß mich in meinen Bart und wandte mich kriechend an das Gutdünken meiner Fiebererscheinungen, die mir so viel von meinen innersten Wünschen zu wissen schienen: ist dieser Krieg wahr – oder ist er Betrug? Ist er ein Beweis für Rußlands Zukunft, oder ist er nur ein insofern gleichgültiger Mißgriff – oder ist er der beginnende, totale Verfall? ... ja, ich grübelte bei Licht und in Finsternis, wurde aber nicht klüger dadurch!

Keine Spur!« – und Bogduroff lehnte den Nacken hintenüber an den Türrahmen, hin und wieder in der Luft vor sich hin zappelnd, mit seinen knochigen, bleichen Händen. Nakinskij fand, daß es aussah, als sei Fedor Werowitsch auf eine sonderbare Weise eingeschrumpft: war sein Gesicht auf einmal kleiner geworden, hatten seine Züge sich jäh geringelt, welkte eine Schale seines Körpers nach der anderen weg, während seine Seele hier stand und alle seinen blanken Hoffnungen, seine Blüten zunichte zupfte? ...

»Ja!« fuhr Bogduroff nach einer Weile fort, mit seiner Stimme, die nur so klein war, gegen das, was sie in früheren Zeiten gewesen:

»Ich verbrauchte mich gründlich, weiß Gott, in den Tagen – während des letzten Teiles unseres Aufenthaltes bei Madagaskar.

Aber die Ausbeute war, bei meiner Seligkeit, nicht danach.

Nicht sonderlich!

Nein!

Nein, nichts lehrte mich Bescheid, was zum Teufel auch heißt mit Mannesmut tun, wenn ich sogar an der Existenzberechtigung des Mutes zweifle? Aber, auf der anderen Seite: wenn ich besorgt bin, eine Feigheit zu begehen – ist es da nicht noch gemeiner, nicht einmal sie auszuführen zu wagen? Was soll mir Aufklärung darüber geben, inwiefern dieser Krieg mit Recht geführt wird oder nicht? Oder ist es am Ende Beweis genug, daß die ganze Flotte, jeder einzelne Mann, so zähneknirschend zweifelt, wie sie es tun?

Ja, dachte ich: ist es nicht ganz offenbar Gefasel und Prahlerei, schließlich, ein feiger Strohhalm, an den ich mich anklammere: dies alles von der gelben Gefahr?

Wenn die Mongolen wirklich zu mehr zu gebrauchen sind, als wir, wenn sie der Zukunft höhere Botschaft zu bringen haben, als wir anderen – so ist es ja klar, daß es gar keine gelbe Gefahr gibt, sondern nur eine gelbe Hoffnung! Denn es würde ja doch nur idiotisch und roh sein, und obendrein unausführbar, gegen einen Fortschritt anzukämpfen – nur weil eine andere Rasse allein die Macht hat, ihn zu vollziehen?

Und falls wir mehr wert sind, als die Gelben, ja, ist dann ein Feldzug das richtige Mittel, unsere Position zu behaupten?

Was könnte auf alle Fälle ein Krieg wie dieser uns nützen, wo alles verrückt und verbrecherisch zuging, eine schändliche Kette von Niederlage auf Niederlage?! Hatte der Verlauf dieses Feldzuges nicht klar genug demonstriert, daß Rußland, wenigstens für den Augenblick, nicht imstande ist, dem Versuch der Barbaren, die Stärksten zu werden, eine Schranke zu setzen? Ja, ist es nicht gerade der entscheidende Beweis für die eigene mangelhafte Kultur Russias – daß wir versuchen mit Hilfe blanker Waffen einen Feind einzudämmen? Sind nicht England und Deutschland, die Reiche, die danach streben, Japan in der Industrie zu übertrumpfen, sie in der Konkurrenz, im Handel, in der Produktion zu zermalmen – ist es nicht einleuchtend, daß sie allein die richtige Kraft besitzen? ... Ja, nicht genug damit: aber daß sogar wir, halbwegs Barbaren wie wir es noch sind, früher oder später selber auch einmal von Europa vernichtet werden – gerade durch genau dieselben Mittel?

Und sofort häuften sich die Argumente in mir auf!

Ich begreife nicht mehr, woher sie kamen; sich vorwärtsschleichend, über mich herstürzend, blitzschnell aus jedem einzigen Gedanken aufwachsend; ich kannte nichts mehr in mir selbst; es war wie wildfremde Ideen und Gesichtspunkte in meinem Herzen ...: sproßten sie auf aus Madagaskars pesterfüllter Erde, aus dem Streit der Kameraden, aus meines Blutes Fieber und Tollheit und Kummer?

Ach, aber sie türmten sich auf, Berg auf Berg, aus Tatsachen und Daten: von unabwendbarem Verfall, von dem blinden und tötenden Despotismus der Jahrhunderte, von Knutenhieben und Gefängnissen und Sibirien, von dem unaufhaltbaren Heißhunger von Generationen, von dem ewigen Bestechungssystem, von den Diebstählen der Beamten, alles ohne Ausnahme, eine Jeremiade aus Schwachheit, ein Buch Hiobs!

Ja, mit Donner und Getöse schien mir alles zusammenzustürzen, alle Auswege auf Errettung!

Nur Schande und Ruin blieben zurück!

Aber da fand ich in meinem Entsetzen um das Schicksal meines Landes – oder in namenlosem Grauen über die Kleinlichkeiten meiner eigenen Gedanken, über ihre Gemeinheit: noch eine allerletzte, zarte Möglichkeit, ein Kind der Hoffnung, einen Keim: ho, › halbwegs Barbaren, wie wir es noch sind!‹ Ja, aber gerade das war ja die Bedingung, daß es alles würde glücken können: die Zeit und die Entwicklung vor sich zu haben und nicht hinter sich!! Ja, natürlich: so wie das hochkultivierte Rom in früherer Zeit nicht imstande gewesen war, die Longobarden zu hemmen – während die Ungarn, selbst ein halbwildes Volk, einige Jahrhunderte später die einzigen gewesen, die den Hunnen ein Ziel zu setzen vermochten – ja, so würde es jetzt gerade Rußland sein (Napoleons Bezwinger, schon einmal der Befreier Europas!): wir würden es sein, die einstmals die Mongolen vernichten würden! Wir würden uns in der Unbarmherzigkeit und Kraft unserer Jugend, in unserer grenzenlosen und frohen Stärke erheben ... ja, ja, dieser ganze Krieg war ja nur ein kindischer, tastender Versuch – aber er war zugleich die kostbare, unschätzbare Erfahrung in bezug darauf, wie stark Europa sich anstrengen muß! ...

Ja, hören Sie, Nakinskij, jetzt, in diesem Augenblick, erscheint es mir alles so sonderbar zart, fieberhaft; eines Traumes, eines Fiebers gar zu naheliegende und doch grenzenlos beschwerlich ausgegrübelte Argumente ... aber trotzdem haben mir gerade diese kleinen, unbedeutenden Dinge, die ich Ihnen hier erzähle, es möglich gemacht, überhaupt bis heute zu leben. Je nachdem eine Welt von Hoffnungen nach der anderen über meinem Haupte abbrannte – zog ich wieder und wieder nach neuen Kontinenten! Von dem reichsten bis zu dem nächstreichen und weiter und weiter hinab, zu den armseligen Ländern, zur Einsamkeit, zur Öde!

Ich ... ja, weiß Gott ... ich kämpfte wie ein ehrliebender Mann, um mein Leben ohne Schande festzuhalten. Ich bohrte mich mit Nägeln und Klauen auf den Grund meiner vierzigjährigen Erfahrungen; mein Herz keuchte Blut bei jedem Griff; aber ich wollte mich nicht beugen lassen, ehe alles aus war!

Nun ja, aber auch das sollte nicht so lange auf sich warten lassen – auch meine letzte Hoffnung sollte nicht altbacken werden!

Es war damals – während der Meuterei bei Simoffs Tode.

Sie wissen, ich lag um die Zeit im Lazarett mit einem dummen Fieber, aber mehr krank von Grübeln und Müdigkeit, von hundert Tagen der Reise von Land zu Land ohne Paß, aus Mangel an Freude an allem, was ich unterwegs gesehen hatte!

An dem Morgen, an dem sie Alexej Porphyriewitsch erschießen sollten – erinnern Sie sich noch: auf der Reede von Diego – da ward ich aus meinen Gedanken aufgeweckt durch den Raballer da oben auf dem Vorderdeck, als der Aufruhr mit seinem Donner ausbrach. Ich krabbelte verwirrt aus meinem Bett heraus; ich entsinne mich noch, daß mein Magen sich so sonderbar schwer anfühlte; eine Ahnung von Unglück, von einem letzten, unvermeidlichen Grauen ging mir durch die Brust; ich kroch auf allen Vieren, und hatte ein Gefühl, als sei mein Bauch schwanger von Verdruß – er gleichsam schlingerte plump nach rechts und nach links unter mir, er baumelte hart gegen den staubigen, heißen Fußboden, hier und da. Ich krabbelte, ziemlich entzündet und bebend, die Treppe hinauf, eiskalt, in Gottes Namen, was war denn da im Begriff zu geschehen, sie schossen, sie schrien, was für ein Traum war es denn jetzt, den wir verlieren sollten?!

Und dann sah ich die Kameraden da oben über mir umherrasen; die Fäuste einander in die Gedärme verfiltert; das Herz in kleinen Schreien aus dem Maul herausquakend, mit Augen, die vor verzweifeltem Mut brannten – und vor Feigheit funkelten. Ké! Und im selben Nu war ich bis auf den Grund des Ganzen gelangt: so führen sich Männer nur auf, wenn sie wissen, daß es alles Lüge ist! Wenn sie nicht mehr darüber in Zweifel sein können, daß sie einer Idee gegenüber Schlingel sind ... ach, ich entsinne mich der Fratzen, die bezahlte Späher zu machen pflegen, in dem letzten Moment, ehe sie an ihrem Hals aufgehängt werden, ihnen selber zur Strafe, anderen zum Schrecken: und dasselbe Gesicht erkannte ich nun wieder bei meinen Kameraden, ich spürte seine geschwollenen Streifen auch an meinem eigenen Kinn, von den Mundwinkeln abwärts laufend; ich fühlte ganz deutlich die trockenen, zwinkernden Augen, die bebenden Brauen, den speichelnden Kiefer, der sich zitternd bewegt ... und ich begriff auf einmal: daß dieser Krieg also Betrug war!

Eine Roheit!

Und noch schlimmer: eine Dummheit, eine meilengroße Prahlerei, der Gipfel einer barbarischen Eingebildetheit!

Nein, wenn es eine gelbe Gefahr gab – so war sie am allerwenigsten mit Kanonen und Gewehren zu beschwören! Und so, wie dieser Krieg geführt wurde, war er nur eine Schwäche, nur ein lumpiger Streich – nichts weiter als ein idiotischer Mordversuch gegen die Kultur in uns allen!

Ja, es war, als würden die Lider von meinen Augen gerissen, aber ich wollte noch nicht sehen, ich weinte – ha, Bogduroff schluchzte, er blendete sich selbst mit Tränen: ach, nun hatten wir so bestimmt geglaubt, daß dieser Krieg doch wenigstens der unsere sei! daß wir ihn geschaffen hätten, aus unseren tiefsten Motiven heraus, mit gigantischer Schlauheit und Diplomatie! daß wir ihn durch Jahr und Tag geplant hatten ... aber während ich da lag und klatschnaß nach dem Licht von da oben her hinaufblinzelte, da glaubte ich zu sehen: daß sich ja gerade Europa unsere hervorragende Torheit zunutze gemacht hatte!

Ja, ja!

Weiß Gott!

Die Kultivierteren, die wollten Japan und uns ans Leben! weil wir beide zusammen die gelbe Gefahr waren!

Europa hatte den ganzen Feldzug noch so fein arrangiert!

Sie hatten von Anfang bis zu Ende verstanden, beide Parteien aufzustacheln: schon bei dem Frieden in Shimonoseki hatten sie ihren wohlerwogenen Zweck damit, als sie mit runder Hand Japans teuer erkaufte Eroberungen von China an uns austeilten: Liaotung plus Port Arthur, bitte schön!

Verstehen Sie mich: denn da wußten sie ja, daß der Mikado unvermeidlich auf Rache sinnen, sich bei der ersten besten Gelegenheit auf uns stürzen würde!!!

Und sie bliesen mit aller Macht weiter ins Feuer hinein, das sie also selbst angezündet hatten.

Sie rührten scheinbar keine Hand, protestierten nicht einmal im allergeringsten – trotz aller der Fixfaxereien, die wir naiverweise in Korea unternahmen, wenn wir Wälder und Flüsse en gros kauften, nur um einen Vorwand zu bekommen, unsere Soldaten da hineinzusenden – – – aber mit lauter Stimme redeten sie interessiert über unsere schlauen Pläne: natürlich um die kleinen Japs mehr und mehr aufzustacheln.

Und als das endlich gründlich geglückt war, im vorigen Februar, als sich Togo plötzlich über Port Arthur wälzte und den Krieg einleitete – von dem Augenblick an hat ganz Europa uns ohne Unterbrechung beide gereizt:

Rußland haben sie geneckt und geplagt, indem sie endlos in allen Zeitungen den Mut und die Begeisterung der Japaner in die Welt trompeteten: ihre Moral ist freilich anders als die der Russen, ach, die Kultur der japanischen See-ee-eeele, Chrysantemum, Bushido, Samurai und Banzai, die ganze Kruke voll – – und die anderen geilten sie ebenso heiß auf, indem sie sich den Anschein gaben, als bewunderten sie die Verteidigung von Port Arthur, bravo Stößel, und die Leistungsfähigkeit der sibirischen Bahn, unseres Landes enorme Ressourcen, und die Tapferkeit und die Stärke des gemeinen Mannes ... ach ja, sie spielten so lieblich mit uns beiden auf der Mutter Schoß! England hetzte bei den Doggerbanks seine Fischerboote auf uns – Frankreich hat uns liebenswürdigerweise von einem Hafen zum anderen gejagt!

Wir sind aussätzig!

Wir sind von allen gehaßt!

Wir und Japan sind dazu verurteilt, uns gegenseitig aufzufressen ...

Ja, ja, nicht wahr, der Teufel soll uns alle holen, verstehen Sie, leugnen Sie es, wenn Sie es können: das alles las ich verborgen hinter jedem einzelnen Aufblitzen des zweifelhaften Hasses, mit dem meine Kameraden auf dem Deck einander wohlwollend zerfleischten! Lieber von Freundeshand sterben mit einem russischen Fluch auf der Lippe – als heroisch zu Tode gedolcht zu werden zum Spottgelächter für Europa! ...

Ja, Verehrtester, haha, Doktor, sehen Sie mich nur an: von dem Moment an war da kein Erdboden für große Hoffnungen in meinem Innern!

Ich hatte beklaglicherweise alle die Weltteile von Reichtum eingebüßt, die ich in meinen Träumen über Rußlands Zukunft besessen hatte.

Da war auch nicht einer mehr übrig!

Null! ...

Ich kroch rückwärts in meine Kammer hinunter und schloß mich ein.

Hören Sie nun, was mir einfiel: vor einigen Monaten, auf dem Wege von Wladiwostock nach Libau, durch den wechselnden Koloß Sibiriens, da war es mir erschienen, als ziehe ich durch einen heranwachsenden Weltball, durch den einen Kontinent nach dem anderen, immer schöner, immer reicher, immer höher – – aber hier, auf dieser Fahrt, die meine Reise rund um die Erde herum vollendete, da schloß sich der Kreis für mich, und das Ganze wurde zu nichts: denn für jede einzelne Wonne, die einstmals meinen Sinn erfüllt hatte, wurden jetzt die entsprechenden Wunden in meinen Glauben hineingerissen! Ja, ich war ausgefahren mit einer Welt von Hoffnung und Vertrauen, von stolzen Plänen über Rußlands Herrschermacht: aber die ward zertrümmert in der Nacht auf den Doggerbanks! Dann fuhr ich begehrlich nach dem nächstbesten Lande: dem frohen Gedanken, daß wir uns opfern sollten, damit Russias Namen ohne Makel bleiben könne – aber auch das Reich zerschlugen sie: der sterbende Tschukow war der Mann dafür! Und abermals wanderte ich hinaus, zu einer Steppe der Größe, die wir urbar machen und zur Blüte bringen konnten: für Europa, für die Zukunft der Rasse stritten wir, für den Triumph der weißen Geschlechter! Wohlan – aber auch das war nichts weiter als eine Wüste, als Quicksand, der zerrann, da sie dröhnend Simoffs Kopf in Stücke zerschossen! Zum viertenmal stürzte ich wahnsinnig in meiner Welt umher: und ich glaubte zu sehen, daß wir kämpften, um unsere früheren Eroberungen zu befestigen, weil unsere Politik es erheischte; ja, ich danke, ach – aber ich sah, daß wir nur die Felder der anderen mit unserem Schweiß, unserem Blut, unserem Leben gedüngt hatten! ...

Verstehen Sie mich: und als nun das alles in mir getötet, weggeräumt und vorbei war, für immer ... da fand ich doch noch einen Trost, der ward meinem Herzen so wunderlich teuer:

Ja, alle die Träume von Größe und Macht, die waren nur Lüge und Morast – sollte ich aber deswegen mein Land weniger glühend lieben?

Sollte ich aus dem Grunde den Kampf gegen unsere Feinde, die offenbaren wie die verborgenen, aufgeben?

Ach, Nakinskij, jetzt erst war es, als empfände ich so recht, wie sehr Russia auch meiner bedurfte, ja, jedes einzelnen Mannes im Reiche, ach, ich sah plötzlich: daß Russia ja für sein Leben kämpfte!

Wahrlich, dieser Krieg war weder aus Eroberungslust, noch Herrschsucht geschaffen – auch hatten wohl Europas Hinterlistigkeiten ihn nicht in Gang gesetzt! Nein, wir kämpften um unsere Existenz! Ja, England und Deutschland hatten uns ja längst überflügelt – wir entdeckten plötzlich, daß wir zu einem der kleinen Staaten gehörten! Wir waren das Dänemark von 64, das stritt und blutete, nur um nicht aus der Erdoberfläche ausgelöscht zu werden! Ach, diese Fahrt, dieser Krieg, das ist Rußlands Dannevirkezug!

Ja, und abermals fühlte ich das Blut tief und warm durch mein Herz strömen!

Ich erhob mein Haupt und ward von neuem vertrauensvoll!

Russia, meine Mutter! ...

Dies geschah während der Fahrt über den Indischen Ozean; eine Ruhe war über uns alle gekommen.

Ich weiß nicht mehr warum: aber es schien mir in jenen Tagen, als stände ich nicht allein mit diesen Gedanken! Als hätten auch alle die anderen begriffen, auf einmal, während der Prügelei auf der Reede von Diego: daß es jetzt die Existenz unseres Vaterlandes galt!

Es kam mir vor, als dächten sie genau dasselbe wie ich: daß, wenn es sich nun also so verhielt, daß wir als die allerletzte Reserve des Landes ausgesandt waren, um mit unserem Leben gegen die Vernichtung zu protestieren, um in Verzweiflung mit unseren Leichen einen Damm gegen das Unglück zu bilden, das uns unter die Füße treten will ...: dann ist es unsere unerbittliche Pflicht, zehnmal mehr auszurichten, als Menschen sonst vermögen!

Wir müssen uns wieder jung und heiß machen!

Wir müssen uns neue Muskeln und neue Seelen verschaffen!

Wir müssen uns ein reiches, ein üppiges Vermögen an Kraft und Mut und Besonnenheit schaffen ...

Und ich sah wirklich auch, ganz richtig, daß die ganze Fahrt über den Indischen Ozean sich faktisch zu einer solchen Epoche gestaltete, in der man nur aß, trank und schlief, um sich für den Kampf zu stärken – aber außerdem nahm ich jeden Abend meiner Mutter Briefe hervor und las von Mut! Ganz langsam, einen nach dem anderen, wieder und wieder durchpflügte ich sie.

Ach, Nakinskij, es wurde mir immer so leicht, zu vergessen, was ich an Bitterem gesehen hatte! Ich lächelte jede Nacht im Traum, ich fabrizierte mir Kräfte an Leib und Seele, ganze Lager – ich ruhte und arbeitete; ich verkehrte mit den verstorbenen Großen: in meinen Büchern, die ich von neuem hervorholte; ich studierte zum hundertstenmal Sabalkanskij, Skobeleff, Cäsars Kriege, Moritz von Sachsen, Friedrichs des Großen ›Oeuvres militaires‹ und Napoleons Kriegsmaximen, den tapferen Dragomiroff, Yomini und den angebeteten Clausewitz der Deutschen ... und ich suchte jeden Abend neue Freude in meiner Mutter Briefen, die ich so lange vernachlässigt hatte – ich fing ganz von vorn damit an.

Ja, ich füllte meine Nerven mit Krieg!

Ach, des Mutes Recht und des Mutes Forderung, des Mutes Lust und des Mutes Pflichten! Russia, du Geliebte!

Ich lebte von Kampf. Eine jede Fiber in mir war Handgemenge und Schlacht. Es stiegen leuchtende Wolken um mich auf, eine Morgenröte von Streit und Blut und Sieg; ich hatte Empfindungen, von denen ich bisher nie eine Ahnung gehabt hatte: es war ein Fieber von Krieg, das dampfend aus meinen Adern schlug, ein Rausch, eine Seuche ... und dann zuletzt ... entsinnen Sie sich noch ... neulich, als Struïn plötzlich genau dieselbe Melodie zu singen begann?!

Als er losknurrte, der mächtige Tiger, eine Stunde ununterbrochen, des Blutes dröhnende Janitscharenmusik aus Rot und Gold und Rausch – der Mannheit rauchende Weise von Leben und Tod, eine Kantate aus Bataille!

Weiß Gott, zuerst bebte mein Herz vor Fröhlichkeit und Dank!

Es schwoll in mir, wie in entschwundenen Zeiten, wie in meiner Jugend großen Tagen der Sonne; ach – (dachte ich glückselig, den Kopf im Takt zu seinem Liede wiegend: da ist sie ja wieder, die richtige Courage! Hört, hört, der Barde singt, lauschet, seinem Busen entsteigt eine Feuersäule, ein funkensprühender Vers von jeder Wunde, ein flammendes Gedicht von jedem Hieb, ein Liederbuch von aller Wonne über Risiko und Männlichkeit! Sing drauf los, du Purpur-Troubadour, du Krater, der du Leben und Tod aus deiner Seele speiest, in deinem Morgenröte-Scheiterhaufen!

Ja, ja, ja, begreifen Sie jetzt, nicht wahr, Herr Jesus, aber dann schließlich, auf einmal, als er den Ärmel aufstreifte und sich in seinen eigenen Arm hineinschnitt ... mein Gott, mein Gott, kéké, da roch ich plötzlich Tschukows Blut von neuem, ich sah vor mir sein Gehirn, das eine Blume aus Feuer geworden war in den zerrissenen Gefäßen seines Scheitels! ich entsann mich jäh der ganzen Fahrt, um die Erde herum, den mein Sinn mit Grauen gewandert war: von der Jugend frohem, planlosem Rausch, bis zu der Mannheit Willen und Fleiß, und dann zu meiner neuen Auffassung von Schmerz und Schmach! Ich übersah das alles in einem einzigen Nu! Ich erbebte und erblaßte: zum Teufel auch, ist denn Mut nur ein Rausch im Blut? Hat Tschukow recht? Ist alle Tapferkeit schließlich nur eine dunkle, törichte Überzeugung davon: heute sterbe ich nicht!?

Ist aller Krieg denn Schlächterei?

Hören Sie!« fuhr er fort, kreidebleich im Gesicht, von neuem hin und her wandernd, mit kurzen, abrupten Schritten, die Stirn von Schweiß knospend, sonderbar rot bis tief unter die Augen hinunter; er streckte bebend die Hand nach Nakinskij aus:

»Seit jenem Abend träume ich jede Nacht so sonderbar!

Sie wissen, bei meiner Seligkeit, nicht, was für ein genaues Gedächtnis meine Seele hat, wenn ich schlafe!

Und stets handeln meine Träume am Ende von Struïn.

Sie beschäftigen sich ausschließlich damit, mir viel zu eingehend auf meine Frage, was eigentlich Mut ist, zu antworten.

Sie drehen sich um grauenhafte Dinge.

Hören Sie einmal, mein Freund: neulich erlebte ich plötzlich noch einmal die ganze widerwärtige Geschichte mit Sonja, da drüben aus Libau, – an einem der letzten Tage, ehe Sie an Bord kamen im Oktober, aber Sie werden davon gehört haben, nicht wahr: wie wir eines Morgens dies Mädchen splitternackend, in einem der Kohlenbunker begraben fanden, bis zum Tode mißbraucht von Bootsmann Rodschanko und einigen anderen Unteroffizieren: gerade alles Leute, die sich ehrenvoll bei Taku bewiesen hatten, schneidige Kerls, die ihren Mut Hunderte von Malen bezeugt hatten, Krieger von der rechten Art, allesamt Löwen der Unerschrockenheit und Energie, wissen Sie!

Und die Sache hatte sich folgendermaßen zugetragen: ihr Liebster, ein Matrose hier an Bord, war eines Nachts ohne Urlaub ausgeblieben, bis an den hellen Morgen bei ihr geblieben, oben in ihrer Dachkammer irgendwo in der Stadt – weil sie ein klein wenig fieberkrank lag, und nun sollte er ja so weit wegreisen!

Nun ja, aber Rodschanko und ein paar von seinen Freunden faßten den Burschen ab, als er bei Tagesgrauen nach Hause geschlichen kam, sie brachten ihn zu dem Geständnis, wo er gewesen war – und ohne sein Wissen verhandelten sie dann mit dem Mädchen, bezaubert von ihren großen, schwarzen, flammenden Fieberaugen, die mit voller Kraft in ihrem weißen Gesicht brannten; sie schlugen ihr kurz und gut vor: daß, wenn sie jeden einzelnen von ihnen so recht vergnügt und zufrieden machen wolle und könne – der Liebste nicht wegen seiner Desertion gemeldet werden solle, was sagst du dazu, mein Pussel – und sie wollten ihm obendrein auch nicht einen Muck von dem schönen Preis sagen, der bezahlt worden war! Sie tischten ihre Waffentaten von Anfang bis zu Ende auf: na, mein Kind, was meinst du denn dazu, bei meiner Seligkeit, du sollst von Kopf bis zu Fuß mit Heldenkraft angefüllt werden! zum Teufel auch, deinen Bräutigam, mit dem kannst du dich ja immer noch verheiraten, mehr als früh genug, und er ist ja auch bloß ein junger Rekrut – was ist der wohl im Vergleich zu uns? ... Und als das alles nichts half, da wurde ihnen die Sache erst so recht ernsthaft; sie pufften sich gegenseitig eifrig in die Seiten, dunkelrot vor Wut und Beleidigtheit, so ein Zivilmädchen! –: und dann fingen sie an, sein Verbrechen in die Höhe zu schrauben! Sie machten sie noch mehr am ganzen Körper erzittern durch ihr Gerede über Sibiriens tödliche Kälte, pfui, wie er frieren wird, dein kleiner Junge, totfrieren wird er, weiß Gott! Sie erzählten von der enormen, verrückten Einsamkeit da drüben: ich hatte einmal einen Freund, verstehst du, der erschoß sich eines Tages, heulend wie ein Wolf, er war auf einmal ein Tier geworden – weil er siebzehn Jahre lang seinen eigenen Namen nicht gehört hatte! Sie klemmten ihr die Gedärme aus dem Leibe vor Angst, indem sie üppige Anspielungen auf die männermordenden Minenarbeiten im Ural machten – oder auf die grauenvollen Kohlengruben auf Sachalin, wo man nie das Licht des Tages sieht, ach weder im Winter noch im Sommer, mit Ketten beladen gehen sie umher und hungern und arbeiten in Schlamm und Ruß und Schande! ... Sie streichelten ihr gierig die kleinen runden Schultern, kniffen sie in das feine, mehlige Fleisch ihrer weißen Wangen, legten die Köpfe auf die Seite, fluchten voller Besorgnis: daß es, hol' mich der Teufel, den Hals des Liebsten kosten würde, wenn sein Fluchtversuch an den Tag käme ... ja, und schließlich konnte sie nicht mehr, sie zerplatzte elendiglich vor Hicksen und Weinen, sie zitterte wahnsinnig über den ganzen Körper und klapperte: Ja, ja, alles was ihr wollt, wenn er nur frei ausgeht ... wenn er nur ... wenn er ... hören Sie, Doktor, von ihr träumte ich ein paar Nächte nach Struïns Rede: denn Sonjas ganze Geschichte folgt dergleichen Mut und dergleichen Worten immer auf den Fersen: begreifen Sie, ja, Rodschanko und seine Freunde, die hatten ja im Laufe des Krieges eben dasselbe vergessen wie Struïn und ich: daß man sehr wohl ein Mann sein kann, wenn man auch kein Krieger ist – und deswegen konnten sie gar nicht verstehen: daß sie ihn ja liebte, ihren Bräutigam!

Herrgott, nicht wahr ... sie begriffen es nicht, keine Spur ... und das ist auf einmal ihre grenzenlose Schande und ihre einzige, aber große Entschuldigung: daß sie gar nicht zu fassen vermochten, daß jemand einen Mann lieben kann, der nie dem Tod ins Auge gesehen, der nie über eine Qual gelacht hat ... ja, und das alles liegt, wie gesagt, tief drinnen auf dem Grunde von Struïns Erzählung, aber hören Sie nun weiter, sie hieß Sonja, dessen entsinne ich mich nun plötzlich: klein und rund war sie, ach, zart und voll, so schön: und dann hatten sie sie also besessen, alle diese Kerle, erst die sechs, die das Ganze verabredet hatten, einer nach dem anderen; es ging in der Nacht unten in Rodschankos und eines anderen Kameraden gemeinsamer Kammer vor sich: aber als die fertig waren – da luden sie noch einige Genossen ein, auch zuzugreifen; sie meinten, das Mädchen sei ja willig genug, selbst wenn sie sich augenscheinbar nicht sonderlich viel daraus machte – und deswegen luden sie noch ein paar Stück auf das famose Milchfleisch ein, sie fielen beinahe um vor Greinen; das war ein Pläsier für wahre Mannsleute! Sie führten mit Kreidestrichen Buch auf einer Tischplatte: Komm her, Peter Michailowitsch! Hallo, Karpin, und du, Nikeis Karamasitsch! Keine Ausreden! Seht doch, die Dame wartet ... und wenn sie wimmernd zu protestieren suchte, ein klein wenig, schließlich: dann heulten sie nur noch lauter: Unsinn, mein Kind! Weiß Gott, sollst du! Sonst geht ja unser Handel spornstreichs wieder zurück! Haha! Stell dich doch nicht so an, mein weißes Täubchen, mein Vergißmeinnicht, natürlich magst du es sehr gern! Nicht wahr? Na, da siehst du ja selbst! Und dann bedenke, Boris Werris ist ein wahrer Teufel, was das Kämpfen anbetrifft, er ist einmal bei den Chinesen gefangen gewesen, oh, sie banden ihn an einen Pfahl, ohne einen Faden am Körper, sie quälten ihm das Leben halbwegs aus dem Leibe – aber er stand noch so unverzagt am Marterpfahl, und sang ein Vaterlandslied, bis wir kamen und ihn befreiten, einen stolzeren Mann kann keine Frau finden! Wenn er sich dir nun nähert, wirst du leibhaftig sehen, wo sie ihn langsam mit kleinen, glühenden Stöcken schimpfiert haben, der macht dir, weiß Gott, kein Kind, darauf kannst du dich verlassen! ... Und sie lag da, eiskalt von Fieber und Grauen, alle Nerven schreiend vor Jammer und Qual, sie hatte die Mundwinkel in die Breite gezogen, in einem bebenden Grinsen von Zähnen und Rotem: das sollte Wollust vorstellen und die Männer dankbar für das machen, was sie ihr raubten – damit sie ihr Versprechen erfüllten. Das Herz pochend vor Haß und Schande, hatte sie ihre Glieder in einer geistesschwachen Tortur gerungen – was, wie sich die Männer einbildeten, bedeuten sollte, daß sie himmelfroh war. Ihre Brust hatte sich zusammengeschroben zu einem unauflöslichen, tödlichen Geschwür von Entsetzen und Ekel und Furcht. Und dann war sie schließlich, plötzlich, mit einem knurrenden Schnappen nach Luft – unter den Fäusten und dem Gesabbel des Elften, unter seiner lallenden Verliebtheit – gleichsam total getötet, inwendig in ihrer Seele! Ihr Herz zersprang mit einem Schrei, und sie war tot ... Aber dann befiel sie alle wie ein Mann der Schrecken, lärmend und eiskalt, sie brachen in Flennen und Heulen aus! sie glotzten vor sich hin, erstarrt in Grinsen, mit einem Strom von Tränen! es rasselte ein Fieber über sie hin: sie verstanden auf einmal das Ganze für einen Augenblick, ohne selbst zu wissen, wie – und schwankend schleppten sie sie, splitternackend, durch das dunkle Schiff, warfen sie in die Kohlenbunker, schlossen die Tür ab. Aber schon am nächsten Morgen ward sie gefunden, ach, ich sah sie da unten liegen, weiß und naßkalt, die Arme und Beine von Holz wie eine Ertrunkene; da waren trübe, blaue Flecke auf ihrer Haut: von Fingern, von Schweiß und von Kohlenstaub, bis über die winzig kleinen Brüste; und auf ihrem Antlitz bebte noch das Grinsen und der Haß und der Jammer und der Wille alles zu ertragen, weil es dem Geliebten galt ...

Begreifen Sie, Nakinskij: soviel gehörte dazu, bis Rodschanko und seinen Freunden die Augen aufgingen.

Der Krieg hatte sie die dumme Lüge gelehrt: daß der Tod der einzige Maßstab für die Menschen ist.

Sie hatten das Leben ganz und gar vergessen!

Ja.

Hören Sie?

Das alles träumte ich drei Nächte hintereinander, nach Struïns wahnsinniger Speech: und jedesmal hatte Rodschanko Struïns Gesicht bekommen, und Struins Manieren angenommen, und Struïns Namen, und seine Stimme, so wie sie war, als er neulich aufbrüllte: aber im Traume bin ICH außerdem der Mann, unter dem sie stirbt, hören Sie, ach, noch wenn ich erwache, kann ich es in meiner Haut fühlen: wie ein Klatschen, eine Welle von Kälte durch ihren Körper geht, indem sie stirbt, sie sperrt den Mund weit auf mit einem Schnarchen, und im selben Augenblick bin ich in eiskaltes, unbewegliches Fleisch geklemmt, in den zu Eis erstarrten Morast eines Kadavers ...

Verstehen Sie mich jetzt, wie?

Fangen Sie nun so bei kleinem an, zu begreifen – nicht wahr?

Ja, ha, jetzt sehen Sie wohl ein, was ich allmählich gelernt habe!

Haha! Ja, Doktor, hören Sie nun her: zuerst träumte ich dreimal nacheinander von Sonjas Tode, ich zitterte an Armen und Beinen, wenn ich ins Bett mußte, der Schweiß trieb an mir herunter und machte mein Hemd klatschnaß ... und dann waren's, eine ganze Woche hindurch, die Erinnerungen aus meinen Kämpfen bei Taku, die mich holdselig in meinem Schlummer delektierten! Ach, hören Sie, ich will Ihnen nichts von alledem erzählen, was ich sehe – aber jede Nacht fängt es damit an, daß ich von neuem jene lange Reihe von Köpfen auf Stangen sehe, eine Allee von Wahnsinn – von damals her, als sich unsere Soldaten für alle die Folterqualen rächten, die die Chinesen an ihren Gefangenen ausgeübt hatten! Ach, verstehen Sie: das Halsfleisch zu sehen, und die schleimigen Adern, und die dicke, bleiche, geringelte Luftröhre, die langsam herabtropfte; die schielenden, überirdischen Blicke, die uns zu folgen schienen, wo wir gingen und standen! Ach, der langen, grauen Fliegen ewiger Gesang um die Pfähle, wo sie sich, surrend, in einem Ball von Gier um das schwarze, klebrige, zu Berge stehende Haar und die blutrünstigen Ohren spannen!

Ja, und dann waren es die Erinnerungen an meine Kämpfe in Pamir, die so freundlich zurücke kehrten! Die Zeit, die ehedem meine glücklichste war – auf die ich mit Stolz und Freude zurücksah ... aber jetzt ist das Ganze völlig verändert, jetzt sehe ich allem auf den Grund: ach, die Morgen nach den Kämpfen, wenn wir die Toten zählten; wenn wir – vor Hunger schlingernd, und mit den erstarrten Wunden, die schmerzlich bei jeder Bewegung aufbrachen – die Kleider der Gefallenen wendeten und drehten, um Mehl oder Korn oder windgetrocknetes Fleisch darin zu finden; ich entsinne mich noch dieser unbeugsamen Glieder, des sonderbaren Geruches, der übersüß daraus hervorstürzte – der gelben, backenknochigen Fratzen! Der Münder, in deren Winkeln schon kleine, längliche, entsetzliche Eier von Käfern lagen! Ich erinnere mich der Verwundeten, denen wir nicht helfen konnten, wie gern wir auch wollten; wir mußten unsere Augen zuklemmen, während wir das Gewehr an ihre Schläfe setzten und sie erschossen! Ich sehe noch so deutlich einen meiner Kameraden vor mir, den wir nicht dazu bewegen konnten, sein Teil an dieser Arbeit zu tun: wir schimpften ihn aus, wir bewiesen ihm Glied für Glied, daß dies das humanste war, was wir tun konnten; wir verhöhnten ihn ... aber er weinte trotzdem jedesmal, er schlich sich eine Strecke fort, mit vor Schluchzen bebendem Rücken ... ja, und schließlich, eines Morgens, verschwand er für immer: er hatte einen ganz jungen Mongolenburschen gefunden, höchstens siebzehn Jahre alt, dessen einer Schenkel zertrümmert war – und den wollte er retten. Er nahm ihn auf sein Pferd, und sagte, nun wolle er versuchen, seine Kameraden zu finden; sie ritten davon, wir starrten ihnen verwirrt nach, und sahen keinen von beiden wieder ... aber in diesen Tagen entsinne ich mich jäh: daß wir im tiefsten Innern nicht so entsetzlich betrübt, daß wir beinahe ein klein wenig froh darüber waren, daß er verschwand: denn wir fühlten ihn wie einen Zahn in unserem Gewissen, wie ein Nägelchen in unserem Herzen, er war ein Pflock in unseren Stiefeln! Ja, ja, ja, aber jetzt, Nakinskij, jetzt in diesen Nächten, brenne ich vor Sehnsucht, daß ich es gewesen wäre, der in die Steppen hinausritt mit einem verwundeten Feind, der da lag und nach seiner Mutter rief! ...

Oder, es waren die Erinnerungen an den Turkmenenkrieg, die meinen Schlaf erfüllten. Wenn Standrecht über diejenigen abgehalten war, die mit der Waffe in der Hand ergriffen wurden, und nun sollten sie erschossen werden. Wir stellten sie an einer Mauer auf, zwanzig, dreißig zur Zeit, und schossen drauf los, so lange da noch jemand übrig war. Herr Jesus, ich sehe die getünchte Wand vor mir, an die das Blut ein grauenvolles Meisterwerk von Spritzflecken und Tod malte! über die das Blut seine rote Spitze in einem Nu spannte, sein Netz, sein Spinnengewebe. Ich sehe die Haufen dort am Fuße der Mauer liegen: ja, es stieg eine zähneknirschende Qual von dort auf, die fahlen Gesichter mit den blanken, schwarzen Flecken des Pulverschlammes, die langsamen Hände, die unsagbar beschwerlich im Todeskrampfe um sich schlugen, mein Gott, mein Gott, der Krieg selbst zieht an mir jede Nacht in eigener Person vorüber! Ich wälze mich wild im Bett, ach, die Heldentaten aller Welt wiegen nichts gegen alle die Schrecken, die ich geschaut habe, hören Sie, Nakinskij: ja, ich weiß, was Krieg ist! Ich habe ihm in die Augen gestarrt – ich habe ihn sich in den Blicken anderer spiegeln sehen! Ach, alle die, die ich habe sterben sehen! Einige von ihnen schwänzelten wild ehrerbietig, wenn der Knochenmann kam, ach, sie beberten so lieblich um den Mund, sie wollten ihm so herzlich gern mit den süßesten Worten schmeicheln, die sie besaßen! Sie umbuhlten ihn mit ihrer letzten Kraft – er aber antwortete ihnen mit einem Grinsen, packte sie bei den nassen Haarsträhnen und drehte ihnen kaltsinnig den Kopf herum, bis der Adamsapfel mit einem Schmatzen glänzend heraussprang. Und ich habe andere gesehen, die ungestört lachten, die französisch mit den Achseln zuckten, die entschlossen nickten und sich zur Ruhe ausstreckten, so froh – wenn der Tod unvermeidlich war; sie starben wie Helden, jawohl, aber auch auf ihre Gesichter, wenn sie getötet waren: da saß genau dasselbe Grauen und kicherte bleich und bissig! Ach, die aufgespeilerten Münder, durch die die Seele entflohen war mit einem Geräusch von Schmerz und Qual, ach, die geschwollenen Gaumen, die dunkle, eingeschrumpfte Zunge, der entsetzliche Weitblick der gebrochenen Augen ...

Ja, ich weiß, daß der Krieg eine Lüge ist. Daß nichts von seinem Jammer kann von dem Heroismus ausgelöscht werden.

Die Zeit des Krieges ist vorüber.

Der Krieg ist tot!« – und Bogduroff ließ sich wieder, schwer, mit einem grenzenlos verheertem Gesicht, gegen den Türrahmen fallen; dann hob er die Nase in die Höhe und lachte ein wenig, leise:

»Ja – und zu all dem Verständnis gelangt zu sein, das ist ja etwas ganz ausgezeichnet Gutes, nicht wahr?!

Was könnte ich mir Besseres wünschen, als endlich ganz und gar eingesehen zu haben: was mir diese widerlichen Träume erzählen wollten, die Struins Rede wachgerufen hatte!

Habe ich nicht recht, das Ganze war so vorzüglich: ich sah gründlich ein, daß ich in Wirklichkeit selbst genau dieselbe Dummheit begangen hatte, wie Rodschanko und seine Kameraden. Auch ich hatte ja geglaubt, daß Krieg das einzige Mittel zur Erprobung des Wertes eines Menschen sei – allen Ernstes. Auch ich hatte die Friedensfreunde, die Kaufleute, die Gelehrten und Künstler verhöhnt – alle, die ihren Kampf in den Zimmern durchfechten! Auch ich hatte wieder und wieder gepredigt: daß, wer den Krieg von uns nahm, uns der höchsten, tiefsten und schönsten Lebensblüte: des Heroismus, beraubte ... ja, alle die Torheiten, mit denen die Menschen immer versucht haben, jeden Fortschritt zu hemmen, hatte ich begriffen – sie alle und ihre Nichtigkeit!

Du Heiligster, nicht wahr: durch meine Träume, in denen meine Seele blutrot und schonungslos zu meinem Gehirn sprach – da sah ich gründlich, daß ich in Wahrheit mit dem allen unrecht gehabt hatte, in jedem einzelnen Tüttelchen von meiner und meiner Väter Freude am Krieg!

Und das konnte ja insofern außerordentlich gut sein! Ein wunderbares Beispiel für die Friedenspropaganda, wie, ergreifend hübsch und schön, erhaben und edel von einem Ende bis zum anderen, he, mein Gott: aber mir hat es nur nicht im geringsten geholfen, keinen Funken!

Keinen Muck!

Denn, hören Sie nun hier, Nakinskij, ja, nicht wahr, auch Sie müssen ja merken können ... auch Sie müssen es mir ja anhören und sehen und riechen können: daß ich ja doch nicht bekehrt bin, trotz alledem!

Nur mein Gehirn, mein Geist, meine Seele, wie Sie es nun nennen wollen, haben gelernt, das Blutvergießenswerk zu hassen und zu fürchten – ja, ich danke, aber mein Körper, meine Arme und Beine, meine großen Hände wollen gar nichts von all dem Unsinn wissen, kähä, nicht einen Quark!

Verstehen Sie: ich habe ja schließlich nur das mittelmäßige Resultat erreicht: daß mein Wesen in zwei Teile geteilt ist! ...

Haben Sie es nun endlich total begriffen: und was sagen Sie denn zu so einem Dilemma: daß ich meinem eigenen Herzen ein fremder Mensch geworden bin!

Daß ich mich selbst nicht kenne!« – und er setzte sich, sonderbar unbeholfen, nach rechts und links schielend, auf das Sofa, ein Stück von Nakinskij entfernt:

»Aber nun will ich Ihnen den Schluß des Ganzen berichten – den Beweis dafür, daß meine Seele und mein Körper nicht mehr zueinander passen.

Jetzt, in den allerletzten Nächten, wo ich diese Spaltung erlebt habe, die mein Leben vernichtet – jetzt ist die Zeit der Träume vorbei.

Und statt dessen – kommt Tschukow von neuem wieder in meine Kammer herein, und redet mit mir wie in früheren Zeiten, auf unseren weiten Fahrten um die Erde.

Ganze Stunden lang:

Er setzt sich, mit einem wunderlichen Lächeln des Wissens und Friedens, auf den Stuhl da drüben – mir gerade gegenüber, und fängt an zu plaudern, genau so wie auf den langen Reisen, wo er noch ein kleiner Kadett war, der immer und ewig fragte, und ich sein Lehrmeister in Mut.

Ja, wir reden von Taktik und Strategie, von den Ländern, die wir mit einander gesehen haben, er ist so freundlich und angenehm, ganz wie in entschwundenen Tagen – ich nicke und lächle, meine Manieren sind so holdselig ... aber in meinem tiefsten Innern herrscht eine sonderbare Unruhe, tief drinnen in meinen Armen und Beinen; ich weiß anfänglich nicht, weshalb.

Aber schließlich, ganz nach und nach, bilde ich mir selbst ein: daß er wohl im Grunde etwas ganz anderes von mir will – als über all das Vergangene plaudern ... und dann runzle ich die Stirn, obwohl ich peinlich genau weiß, daß er nur treuherzig und froh ist, und sicherlich nicht die geringste Ahnung davon hat, daß ich Mißtrauen zu ihm hege; aber das macht mich nur noch verstimmter und schweigsamer, ich warte gespannt und schwitzend, am ganzen Leibe zitternd: was glaube ich doch nur, daß er eigentlich im Sinne hat?!

Höre – sagt er dann, auf einmal, wenn wir mit unseren Debatten fertig sind; er hat sich übrigens ein flötendes Organ zugelegt, eine Nightingalestimme, die so fein in meine Gedanken hineintrillert, aber wunderlich spitz in mein Herz hineindringt; ich liebe sie, werde aber trotzdem ärgerlich und ängstlich darüber, tief drinnen in meinen Knochen und Sehnen: höre; singt er mir zu, so sanft: ich komme ja übrigens, vor allen Dingen, um dir meinen Dank für neulich zu sagen! Lieber Freund, es war eine so ausgezeichnete Sache, die du mich lehrtest, als du mich dazu bewogst, alle meine beschwerlichen Gedanken aufzugeben, und nur von da oben vom Mast herunterzuspringen! Siehst du, es war mir so recht gründlich miserabel ergangen in der letzten Zeit vorher: ich grübelte so viel, ich konnte nicht aus dem Ganzen herausfinden, mein Kopf tat so weh von diesem Immerundewigdenken! Ach, Fedor Werowitsch, ich wanderte jede Nacht auf bloßen Füßen umher (genau so, wie du es jetzt machst), ich lauschte dem sachten, bebenden Glucksen der verzweifelten Matrosen: denn keiner von ihnen war ja freiwillig mitgegangen – so wie du und ich: sondern sie waren ganz einfach gezwungen worden, all das Daheim zu verlassen! Ich spannte meine Ohren an, ich sah bei den Leuten von meiner eigenen Batterie ein: bei diesen großen, braven Burschen von zwanzig Jahren, die von Kraft und Leben strotzten – aber trotzdem verdammt waren, ohne Nutzen zu sterben! ... ach, ich griff mit beiden Händen an meinen Hals, ich versuchte mir den Kopf abzunehmen und ihn wegzuwerfen, denn da drinnen saß ja die ganze Verantwortung und war so greulich schwer; ich hatte ein Gefühl, als wenn die Leute gehässig von mir träumten: sie stießen gleichsam mit Füßen nach mir bei jedem Schnauben, jedem Sprung, jedem Kribbeln in ihren mutlosen Fingern: sieh, du wirst für deinen Beruf bezahlt, flüsterten sie: du lebst vom Töten, du erhältst Ehren und Titel, und wenn du verheiratet bist, bekommt deine Frau Pension – aber warum sollen wir totgeschlagen werden, mein Weib und meine Kinder haben nur mich, von dem sie leben; was hab' ich dir doch nur getan, daß du uns in den Tod führen willst? ... Ja, jaha, ich grübelte mich abwechselnd hart und weich, ach, ich war Tag und Nacht so entsetzlich davon in Anspruch genommen, mich auf den Grund des Sinnes des Ganzen hineinzuwühlen – den fand ich aber erst in deinen Worten in jener Nacht, die mir bewiesen, daß ich nicht bange war, zu sterben: sondern zu leben, ja: zu leben, wenn andere gezwungen werden sollten, sich töten zu lassen!

Ah, Bogduroff – erzählt er weiter, und ich nicke ihm bei jedem Satz zu: daß er selbstredend recht hat; aber im innersten Innern meiner Nerven, in meinen Muskeln, in meinem Blut, da werde ich mehr und mehr von Haß und Zorn erfüllt, weil er den Krieg verdammt, den mein ganzes Geschlecht geliebt hat, Jahrhundert auf Jahrhundert, und für den auch jede einzelne Fiber meines Körpers geboren ist! Aber er fährt fort: ich entsinne mich des allen noch sehr wohl, sagt er: alles dessen, was mich durchflutete, nachdem ich mich entschlossen hatte, mich selbst zu töten: zuerst war da die Freude über das Bewußtsein, daß ich zum erstenmal wirklich gerecht handelte – und dann, während ich da oben auf der glatten Rahe stand und tief hinabstarrte auf das Deck und wußte, daß ich ganz da unten liegen würde, binnen ganz kurzer Zeit: dann war da ein leises Quabbern, das mich an der Brust, am Zwerchfell begrapste. Ja-a, ich vergesse niemals – erzählt er umständlich: wie meine Wangen abwechselnd warm und kalt wurden, meine Beine zitterten, als stände ich zum Examen über tausend Leben, und ich bekam ein wenig Wasser oben am Gaumen; ich fragte mich selbst zum allerletztenmal: Well, vielleicht werden meine Leute wieder froh, wenn ich nun binnen kurzem tot und weg bin; sie werden denken: seht nur einmal hin, den haben wir gestern noch beneidet, aber trotzdem ist er früher davon als irgendeiner von uns, wir sollen länger leben als er, wir haben es ja ganz gut im Vergleich mit ihm jetzt, es lebe das Leben! ... und dann gab ich mir im selben Augenblick einen Ruck und sprang!

Hui du, das tat gut, die Erde losgelassen zu haben, durch die Luft hinabzusegeln.

Ich war von all meiner Schwere befreit, ich flog so lieblich durch den Raum der warmen Atmosphäre, ach, der Windzug pfiff mir eine vergnügliche Melodie in den Ärmel, und fuhr so frisch gegen meine entblößte Brust, er sauste so munter unter meine Kleider und streifte mir das Fieber von der Haut!

Ich schlug überlegen mit den Armen, ich hatte Ferien von aller Qual bekommen, mir träumte, daß ich ein mächtiger Vogel sei – und ich sang aus vollem Halse ein schwirrend Lied; ich rief den Sternen zu, daß ich meine Schuld abgeworfen habe! Ich habe früher schlecht und dumm gehandelt, aber nun habe ich meine Strafe auf mich genommen: ich habe andere getötet – jetzt schlage ich mich selber tot! Ach, nehmt mich mit euch, ihr Kreise aus Gold, ich will mit euch ziehen, hinauf zu des Himmels Blau, zu dem Zenith, zur Sonne, ich will mit, ich will m ... und im selben Augenblick ward meine Bitte mit einem donnernden Getöse über meinem Scheitel erfüllt: Meine Kopfschale öffnete sich lärmend, mein Gehirn blühte auf in dem größten Verständnis mit einem Krachen, ich schlug polternd meine Wurzel in den Erdboden der Ewigkeit hinein, ich war völlig befreit von Schmerz und Kummer, ich ward so glückselig: und siehe, wie hübsch es mich kleidet, ein Engel zu sein, ein Prediger gegen den Krieg, ein Apostel des Friedens! ...

Liebster Nakinskij, ja, dergestalt sitzt Tschukow und redet jeden Abend verklärt und verführerisch zu mir, von der Freude, die es ist, zu sterben: wenn man kein Recht mehr sehen kann, für das zu leben, was unser Leben war – und ich nicke und lächle: das ist alles wahr ... aber jede Zelle in mir siedet und schäumt vor Haß, über das, was mein Geist begriffen hat; meine Finger bewegen sich krümmend, meine Arme und Beine lauern adrett auf den Augenblick, wo Tschukow den Rücken wendet; sie zittern vor Sehnsucht, die Versuchung zu töten, die für mich in seinen Worten liegt ...: und nun, in der vorigen Nacht, hören Sie, in der letzten Nacht, da ging die Sache also schief!

Lieber Freund!

Ja:

Gestern abend, als er zu mir kam, begann er auf ganz andere Weise in diesen Problem zu wühlen.

Er offenbarte endlich einmal, was für Absichten er mit alledem hatte, was er gesagt: ich sollte mit meiner ganzen Vergangenheit brechen, sollte darauf hinarbeiten, die Flotte zur Umkehr zu bewegen, und dann den Rest meines Lebens dazu benutzen, um unter uns allen Propaganda für den Frieden zu machen! ...

Hören Sie nun einmal:

Er ging ganz systematisch vor, bis auf den Grund des Ganzen.

Zuerst fragte er mich plötzlich, ob ich mich noch eines gewissen Vortrags erinnere, mit denen ich einstmals, vor langer Zeit, die Vorlesungen des Semesters über Kriegsgeschichte einleitete – in jenem Jahr, wo auch er mein Schüler auf der Marineakademie war: nämlich über die Ursachen, weshalb es so gut wie niemals vorgekommen ist, daß ein ganzes Heer sich geweigert hat, zu kämpfen und auseinander gelaufen ist!

Ich selber habe natürlich nicht das geringste von dem vergessen, was du damals sagtest – fuhr Tschukow in jener Nacht, sanft und spottend zu mir gewandt, fort: du fingst damit an, eine höchst auffallende Beobachtung zu zitieren – die der Feldmarschall, Fürst Ligne in seinem Buch ›Extraits des préjugés militaires‹ erwähnt, nachdem er an Feldzügen mit den Armeen aller größerer Staaten teil genommen hatte – und deren Richtigkeit bestätigt zu sehen du auch selber verschiedentlich Gelegenheit gehabt hättest. Sie lautet also: ›Ich weiß nicht‹ – schreibt er, soweit ich mich erinnere: ›ob wir, ob die moderne Lebensanschauung Schuld daran ist, daß wir nicht mehr imstande sind, die selbe Tapferkeit wachzurufen, die ehemals die Legionen Roms und Karthagos beseelte. Eins aber steht fest: die Hälfte unserer Soldaten und Offiziere sterben schon vor der Schlacht vor Angst – oder machen wenigstens den Eindruck. Und der Rest befindet sich augenscheinlich nicht viel besser!‹

Nicht wahr – fuhr Tschukow fort; er beugte sich ohne Lächeln dicht bis zu mir vor und starrte mir, sonderbar forschend, tief in die Augen; während ich blinzelnd auszurechnen bemüht war, worauf er mit all diesem hinaus wollte: Dies war der Ausgangspunkt deiner Auseinandersetzung!

Kurz und gut: nachdem du dann kritisch, Glied für Glied, den Wert der sämtlichen verschiedenen, allgemein hervorgehobenen Motive untersucht hattest, die gemeinsam bewirken sollen, daß es überhaupt möglich ist, ein Heer im Kriege zu führen, trotz Strapazen und des sie erwartenden Todes – also schlußfolgertest du endlich: daß, sintemal keines von diesen Momenten im Grunde das Rätsel zu erklären vermag, dem wir gegenüberstehen: so müssen wir annehmen, daß wir außer unserem Selbsterhaltungstrieb zugleich noch einen Instinkt besitzen – der obendrein, unter gewissen Umständen, noch stärker ist als der andere!

Und du bewiesest uns, wie diese geheime Triebkraft in einem und allem dem Mutterwillen der Frau entspricht – der verursacht, daß sie, ohne alle der langwierigen Schwangerschaftsbürden und Beschwerden zu achten, und trotz der brennenden Tortur des Gebärens, sich doch heimlich und heiß auf das neue Leben freut, das sich langsam in ihrem Fleisch entfaltet!

Ein wunderbarer Keim zu hoher und froher Selbstlosigkeit – sagtest du: eine strahlende Blüte der Menschlichkeit, die also verborgen und ungenannt auch bei allen Männern wächst: unser, das Gemeinwesen aufrecht erhaltender Trieb! ...«

Bogduroff erhob bleich sein Antlitz zu dem Arzt; in seinen Augen glühte seltsam ein Feuer; zitternd streckte er die Hände vor sich hin:

»Verstehen Sie mich, Doktor?« sagte er leise, hastig:

»Das einzige, das mir, der ich wieder und wieder die langsamen Mühsale und das Ungemach des Feldes erfahren, und Dutzende von Malen die brennende Qual des Schlachtengetümmels erlebt habe: das einzige, das mir die Tatsache erklärt, daß sich die Millionen doch immer bereitwillig haben in den Tod führen lassen, ist also das: daß wir Männer an Stelle der unendlichen Zärtlichkeit, die die Frauen für die Kleinen besitzen, eine ebenso tiefe und reine Fähigkeit in uns tragen! Eine, die unter den täglichen Verhältnisse nur flüsternd und leise hin und wieder einmal ihre Stimme hören läßt: wie ein fast lautloses Summen von Wonne, das sich sacht aus aller rechtschaffenen Arbeit aufspinnt, der wir uns allen Ernstes hingeben ... das wir aber erst ganz, in seinem wahren Wesen und in seiner wahren Stärke vernehmen, wenn wir in Scharen beieinander sind, wenn sich Hunderte oder Tausende von uns zu einem Zweck vereinen, der sich nicht um uns selber dreht, sondern um der Zukunft Hoffnung und Leben: und da schwillt es brausend wie ein Frühlingssturm durch unseren Sinn, es macht unser Blut so frisch, in unseren Augen leuchtet jugendlich eine wunderliche Flamme! Da strotzt unser Können mit der Früchte Reif', wir werden alle miteinander Männer, wir werden Brüder, ein Geschlecht von Helden!

Begreifen Sie, Nakinskij: genau so wie die Frau durch ihren Muttertrieb und ihre Mutteropferfreudigkeit, ohne jeglichen Egoismus Stunde für Stunde den werdenden Staatsbürger hegt – so sorgen wir für den Platz und das Ziel dieses Kommenden! Nicht wahr: es ist oft genug bewiesen, daß Männer keine wirkliche Liebe zu ihren Kindern kennen: nein, denn unsere Nachkommen sind ja die Zukunft selbst! Das Kind des Mannes sind seine Arbeiten, seine Ideen, Pläne, der Fortschritt!

Begreifen Sie nun auch mein Leben, den Grund meines Daseins, wie, Doktor:

Sehen Sie ein, daß das, was alle Tage die Basis für die Freude in meinem Wirken für die Sache Rußlands war – selbst wenn sie nur mit Hilfe eines Feldzuges siegen konnte – ja gerade das ist: daß es ausschließlich jener verborgenen und edlen Eigenschaft in uns zu verdanken ist, daß wir überhaupt einen Krieg zu führen vermögen! Unserem Gemeinwesensuchenden, Gemeinwesenfortsetzenden Trieb!

Die höchste Männlichkeit – die uns dahin bringt, lieber unser eigenes Leben zu verlieren, als zu versagen, wenn die Entwicklung des Gemeinwesens Gebrauch für uns hat!

Die schönste Menschlichkeit, im tiefsten Innern dieselbe beim Mann wie beim Weib: die jeden Tag das Gemeinwesen von neuem erschafft, aus der Vergangenheit heraus, die Gegenwart befruchtend und die Zukunft gebärend!

Das Gemeinwesen, das einzig und allein das unschätzbare Eigentum der weißen Rasse ist!

Das Gemeinwesen, das unser Weg zu allem Guten ist!

Das Gemeinwesen, das Gott ist:

Ewig wie er, unverletzlich, in seinen Mitteln unerforschlich wie er! Immer neu und immer alt! Zugleich unfehlbar weise – und jugendlich verschwenderisch und rücksichtslos! Weitschauend und scharfsehend! Grenzenlos behutsam, wo es sich um das Entscheidende handelt – eisenhart unbarmherzig, gefühllos wie Stahl allem Gleichgültigen gegenüber! ...

Wohlan, Nakinskij, alle diese meine ehemaligen Worte, die noch heutigen Tages die vollste Wahrheit für mich sind, die wiederholte Tschukow über Nacht allzu getreu in meinen Ohren – ohne das geringste auszulassen oder zu überspringen, ohne sich an all meine Ungeduld und Angst zu kehren.

Er starrte mir währenddes tief in meine Stirn, in meine Brust hinein.

Ich fühlte, unablässig, seine Blicke eisig in mein Herz hinabgleiten und es schäumend und fieberumschleiert machen:

Ja – sagte er zuletzt, trauererfüllt, mit einer brennenden Stimme und tastete blind und grausam in der Luft herum vor meinem Antlitz, mit seinen weißen, durchsichtigen Geisterhänden: o Bogduroff, so erklärtest du uns allen miteinander, daß es einzig und allein unser selbstloses Hingeben an das Gedeihen des Gemeinwesens ist, das uns im Kriege führen kann! Und ich habe unerschütterlich auf dich gebaut, alle die Jahre, die seitdem verstrichen sind: aber erzähle mir, warum hast du denn nicht längst alles getan, was du vermochtest, um diese Armada zur Rückkehr zu bewegen? Um uns dazu zu bringen, diese elende und desperate Fahrt aufzugeben, die – wie auch du selber sehr wohl weißt – nur zu Schande und Verlust für Rußland werden wird!? Ach, Fedor Werowitsch: war denn dein Mut nicht groß genug, zu etwas Höherem und Besserem, als nur zu kämpfen? War er nicht tief genug, um den Gedanken tragen zu können, daß andere es vielleicht Feigheit nennen würden?

Und höre, Bogduroff, antworte mir nun auch auf dies hier: aus welchem Grunde berührtest du nicht in jenem alten Vortrag die andere Frage, die Fürst Lignes Satz enthält: ob es uns, ob es unserer Zeit an Voraussetzungen fehlt, heutzutage die Heere zu begeistern? ... Geschah es mit Überlegung, daß du es damals unterließest, die Sache einzusehen, zu deren Ansicht du jetzt gelangt bist: daß es wirklich wahr ist, daß wir faktisch nicht mehr imstande sind, dieselbe Tapferkeit zu entflammen, wie in früheren Zeiten: weil nämlich Krieg nicht mehr notwendig für uns ist! Weil das Gemeinwesen unserer Zeit mehr als genug andere Felder aufzuweisen hat, wo die Selbstlosigkeit unseres Zukunftswillens erprobt werden und sich entfalten kann!!

Sage mir: ist alle deine Liebe nicht doch groß genug, um ein größeres Vaterland als dein eigenes lieben zu können?

War es trotz allem zu viel von dir verlangt, daß du davon träumen solltest, für das goldene Ziel der ganzen Erde zu träumen – statt nur für das Rußlands?

War es, auf der einen Seite, eine zu geringe Aufgabe für dich, deine Kräfte zu dem Versuch anzuwenden, Recht und Rechtssinn und Freude in der Heimat zu schaffen, bei den Tyrannen, wie auch bei den Unterdrückten, bei denen, die zu oft hungern, wie auch bei denen, die zu wenig arbeiten, bei alle denen, die viel zu wenig Zeit und Fähigkeiten zur Freude haben – – und wäre es auf der anderen Seite zu groß für deinen Sinn, eine Brüderschaft zwischen allen Nationen zu begehren?

O Bogduroff, erzähle mir das Ganze, tröste mich, hilf mir, ich kann plötzlich merken, daß es nun auf einmal mit meinem Wissen wieder aus ist! Es nützt mir gar nichts mehr, daß ich mich tötete, als ich erkannt hatte, daß dieser Krieg eine Lüge war – jetzt weiß ich auf einmal, daß ich das Gegenteil hätte tun sollen! Ja, ja, Fedor Werowitsch: lebend hätte ich für das wirken sollen, was ich begriff! Aber du, Bogduroff, der Held, an dem niemand zu zweifeln wagt, du sollst das alles ausrichten! Erhebe dich und rede, hörst du: jetzt mußt du dein ganzes Leben wieder von vorn an leben! Gehe hinaus aus deiner Kajüte und rufe deine Kameraden zusammen und sage: daß ihr jetzt die Flotte nach Rußland heimwendet zum Frieden! Erkläre ihnen, daß nur Mutlosigkeit in uns schuld daran ist, daß wir nicht schon längst nach Hause gereist sind – und darum werden wir auch nicht imstande sein, mit Kraft zu kämpfen, wenn die Stunde dafür gekommen ist!

Ja, Fedor Werowitsch, stehe auf, gehe hinaus, erhebe deine großen, unbefleckten Hände zum Himmel, und rufe die Wahrheit hinaus, die in deinem Herzen wohnt: daß jeder Weg zur Stärke durch das sinnreiche, millionenfach komplizierte Werk des Friedens geht, das von einem Tag zum anderen wächst! Für das niemand überflüssig ist, weder der Gesunde noch der Kranke, weder Mann noch Weib, weder der Ängstliche noch der Kühne!

Das rastlos schaffende Wirken des Friedens, das uns alle umspannt!

Die unaufhaltsame Arbeit des Friedens! ...

Ach Gott, Doktor: von ganzer Seele gab ich ihm recht, ich starrte ihn bebend an, ich wollte ihm zunicken: daß jedes Wort, daß er gesagt habe, richtig sei – – ja, aber im selben Augenblick sprang mein Blut mit einem Gebrüll in die Höhe, meine Muskeln krampften sich wild, ich fuhr auf mit einem Schrei aus der Kehle heraus, zitternd vor Gier in meinen Armen ihn und sein Wissen zu erdrosseln – und gleichzeitig erbleichend vor Grauen! Ich wälzte mich schluchzend über ihn; ich schlug ihn zu Boden mit einem Geheul von Scham und Zorn; ich grub verzweifelt und schäumend meine Nägel in seinen Hals: sieh, rief ich währenddes, sieh hier, nimm das und das und das – jetzt schlagen wir den Weltfrieden tot mit Gesang, in dir, wie auch in mir selbst!! ... Aber heute morgen, als ich erwachte, lag ich zitternd an der Erde vor meinem Bett, die geballten Fäuste noch gegen die Planken gepreßt, den Mund voll von Splittern, die meine Zähne aus dem Tischbein vor mir gerissen hatten – aber in meinem Herzen saß unausrottbar seine verlockende Rede, von der Ruhe, die darin liegt, wenn man sich auslöscht.

Und meine Seele fühlte sich eiskalt und tot an vor Kummer!

Wie!?

Nicht wahr!?

Verstehen Sie mich mehr und mehr?!« sagte Bogduroff, und erhob sein Gesicht, im Lichtschein blinzelnd, zu dem Arzt hinübersehend:

»Und in dem Augenblick, als ich mich erhob, wußte ich daher, was ich zu tun hatte.

Und das ist ganz einfach.

Denn es gibt ja nur das eine Mittel, um zur Ruhe zu gelangen! Sintemal es ärger und ärger in meiner Brust hackt, vor Sehnsucht nach dem Schweigen des Todes und nach seinem Frieden, nach der vollkommenen Ruhe in dem kühlen Meer – statt des Zwiespaltes, der unablässig in mir rast, zwischen meinem Gemüt und meinem Fleisch! Ja, zwischen meiner Seele, die alles haßt und verdammt, was des Krieges ist, die mit lauter Stimme fordert, daß ich mit meiner ganzen Vergangenheit brechen und mein Leben noch von vorne an mit größeren Zielen leben soll – und meinen Händen, meinen Armen und Beinen, die, dem Gesetz ihrer Ahnen getreu, doch, trotz allem, unbezähmbar zittern, vor Eifer, drauf loszuschlagen und das Glück zu versuchen! Und daher gehört nicht die geringste Kunst dazu, zu wissen: daß, obwohl ich also weit mehr als notwendig, eingesehen habe, daß Krieg schlecht ist – so werden sich meine Muskeln doch augenblicklich in die Schlacht hier einmischen, wenn sie kommt: falls ich sie ja nicht total verhindere, noch irgend etwas mehr zu unternehmen! ...

Zuerst, heute vormittag, dachte ich deswegen, daß ich nur stillschweigend meiner Wege gehen wollte; verschwinden – so wie ich es Tschukow einmal gelehrt hatte, und wie er es nun, gegen seinen Willen, mich wiedergelehrt hat; nur fortschleichen, ohne mit irgend jemand darüber zu reden.

Aber dann meinte ich, daß da mein ganzer Körper nun einmal von meiner Mutter zur Welt getragen, geboren und aufgezogen ist – nicht wahr, hören Sie nun einmal, und denken Sie auch an alle die Briefe, die sie mir geschrieben hat, in denen sie mir den ganzen schweigsamen Grund ihres Gemütes gezeigt hat: weil sie meinte, daß sie und ich eins seien ... wohlan: ja, Sie glauben doch an einen Gott; glauben, daß wir wieder leben werden, daß wir unsere Person in allem und einem bewahren; daß wir sie wiedersehen werden, nicht nur da droben, sondern auch hier unten, einmal über das andere, alle die, die wir lieben – und die uns geliebt haben ... aber das alles meine ich nicht (denn der Grund für meine Hingebung an Russia war ja, daß ich glaube: die Ewigkeit gehört nur der Kraft; Ewigkeit, das ist der Millionen gesammelte Stärke; Ewigkeit, das ist der ungezählten Massen unwiderstehlicher, gemeinsamer Wille zu der Zukunft lichtem und hohem Ziel!) – und deswegen meine ich, daß meine Mutter nichts erfahren soll von den Dingen, die ich in dieser Zeit gedacht habe! Ach, sie hat ja jede Muskel, jeden Gedanken, jede Fähigkeit in mir geschirmt! Ihre Sorgfalt, und der Brand ihrer Seele, die sitzen ja so unendlich da drinnen in mir und wollen sich nicht zur Ruhe begeben! Ach Gott, und sie würde verwelken vor versengender Scham, wenn sie auch nur eine Sekunde begriffe, daß sie das Innere ihres Wesens einem offenbart habe, der nicht denselben Gott hatte wie sie selber!

Und darum, Doktor, habe ich Ihnen das alles erzählen müssen: damit Sie ohne Widerspruch verstehen sollten, daß mir nichts anderes zu tun übrig bleibt, als zu sterben – und damit ich Sie um einen Gefallen bitten könnte: wenn Sie heimkehren in das alte Land, nach Russia, so sagen Sie zu meiner Mutter: daß Sie mich fallen sahen!

Ah-ha! Da kam eine ungeheuer große Granate da drüben von der ›Mikasa‹ herübergesegelt, mit einem Donnergetöse auf den Fersen, und traf mich gerade mitten in den Busen – während des gigantischen Lärms der Schlacht!

Erzählen Sie ihr, daß Sie selbst dicht neben mir standen und hörten, wie mächtig es donnerte und klang, als mein Herz flach geschlagen wurde! Beschreiben Sie ihr, daß eine Fontäne meines ererbten Heldenblutes sprudelnd aus meiner Brust aufstieg, ach, ein Fahnentuch aus Rot, eine Flamme aus Mut, eine Sonne aus Tapferkeit, Wonne und Leben!

Leben Sie wohl, Doktor, hören Sie, die Nacht schreitet vorwärts, trinken Sie Ihren Becher aus und gehen Sie.

Leben Sie wohl, Freund!«

Das Maschinengeräusch pulste sich leise von da unten herauf – rollend, lullend.

Der Fußboden hob sich ganz wenig in die Höhe, dem Wiegen des Schiffes folgend – und sank gleich nachher wieder hinab.

Draußen von der Batterie her kamen die schleppenden, langsamen Laute von den todmüden Schritten der Leute, bum, bum ... bum ... bum.

Nakinskij sah verstohlen zu ihm hinüber; erhob sich dann von seinem Platz auf dem Sofa, weiß unter den Augen, kurzatmig:

»Sagen Sie mi' ... Sag' ... Sage' Sie mir do' ...!« begann er plötzlich, schluckend. Er blieb einen Nu stehen, stützte sich mit beiden Händen auf die Tischplatte – »Sie reden ganz ... ja, Sie reden ganz hübsch, ich habe nichts einzuwen ... aber sagen Sie mir: woher wissen Sie denn nun so gewiß, ob nicht Russias Zukunft gerade Verwendung für alle die Qualen dieses Krieges, und dieser zum Tode verurteilten Seeschlacht Schande hat?

Ein Prophet sind Sie ja doch nicht?!

Wer kennt wohl des Fortschritts in Dunkelheit gehüllten Weg?

Bisher führte er stets durch Schmerz und Blut und Grauen – aber sein Ziel ist bei Gott, im Glück, im Licht! ...

Ja, hören Sie nur einmal, Fedor Werowitsch, ach mein Kamerad, hören Sie jetzt hier: ebenso wie ein Junge es nicht lassen kann zu wachsen, einerlei wie träge und unbeholfen er sich sonst auch anstellt, ja, einerlei, welch schlechter Bengel er auch ist, nicht wahr? ... genau so ist ja auch der Nationen rätselhaftes, jahrtausendjähriges Wachstum! Alles, was sie tun – das geschieht nur, weil gerade das für ihr Gedeihen notwendig war! Ja, ich habe es überall gesehen. Das ist der Entwicklung unbeugsamer, riesenmäßiger Zwang, der sich niemals weder unterdrücken, noch ändern läßt. Ich bin ganz sicher dessen, was ich sage – und eben dasselbe gilt ja auch für Sie und mich, für uns alle miteinander, für alles Lebende: keine, keine unserer Taten vermag etwas anderes, als uns zum Wachstum zu treiben, vorwärts und aufwärts, unaufhörlich, ohn' Aufenthalt, gleichgültig was wir selber oder andere über unser Treiben denken! Leugnen Sie das nicht!

Ja, aber weder Sie noch ich kennen doch die verborgenen Absichten und Gesetze des Lebens!

Nicht das geringste kennen wir!

Ach, mein Gott, Fedor Werowitsch, bilden wir uns doch nur nicht ein, daß wir wirklich wissen, ob der Krieg unmenschlich ist – wie Sie behaupten – oder nicht! Bestimmen wir uns noch weniger, mit dem Leben dafür zu büßen, nur weil wir unsere Jahre in dem Dienst der blanken Waffen gebraucht haben! Hören Sie, erzählen Sie mir doch: woher finden Sie nur einen einzigen gültigen Grund, das unmenschlich zu nennen, woran Millionen von Menschen teilnehmen? Nein, ich bin überzeugt, daß Sie darin nicht recht haben! Keineswegs! Nein, erst an dem Tage, wo die Vollkommenheit der Kriegsmaschinen bewirkt hat, daß nicht mehr Mut – sondern Idiotie dazu gehört, zu kämpfen! ja, erst wenn der Krieg so kostbar ist, daß ihn niemand zu Ende zu führen vermag ... nicht wahr, erst dann wird er wahnsinnig, unmoralisch, unmenschlich – wenn Sie wollen! Liebster, das ist ja der geheime Segen der Technik: daß sie allein das Verständnis der Seelen umzuwandeln vermag: in unüberschreitbare Grenzen für die Gelüste des Blutes, der Muskeln! Ach, das ist ja die ewige Heiligkeit der Realitäten: daß nur sie der Großen lichte und schöne Träume vom Recht und Unrecht verkörpern können, so daß sie unzerbrechliche Schlagbäume für Millionen, für uns anderen alle werden! ...

Ja, ja, hören Sie nun hier einmal, ich weiß selbst nicht, was ich Ihnen sagen will, Bogduroff, ach Freund, sterben Sie noch nicht, gehen Sie noch nicht von uns, es tut so weh drinnen in mir, bedenken Sie, daß wir uns so lange gekannt hab ... nein, nein, ich will schon stillschweigen, ja, ja, hören Sie, Sie haben mir ja auch gerade eben hinreichend von all Ihrem Wesen erzählt, bis ich finde, daß ich Sie so gut verstehe! Aber hören Sie, antworten Sie mir nur auf das eine, sagen Sie mir: Sie selbst haben mir doch auch gesagt, daß Sie im tiefsten Innern Ihres Herzens doch an Ihrem Recht zu sterben zweifeln:

Bogduroff, und nehmen Sie nun an, daß auch wir anderen alle, mutlos gemacht, weil Sie davongegangen sind, dasselbe Recht für uns fordern?

Daß auch wir, jammernd, alles aufgebend, Ruhe verlangten – statt des Grauens, das einstmals auf unsere Schultern gelegt wurde?

Wenn auch wir, alle wie ein Mann, die Leichtigkeit des Todes wählten – an Stelle des schwierigen Lebens?

Was dann?«

»Jawohl!« antwortete Fedor Werowitsch, und lachte leise; er beugte den Nacken ein wenig hintenüber; seine großen, weißen Zähne wurden ein bißchen sichtbar, blank unter dem kohlschwarzen Bart: » Das würde vielleicht gerade die Realität, die für kommende Zeiten allen Krieg unmöglich machte! Das wäre etwa imstande, aller Welt zu beweisen, daß Krieg ein unerträgliches Grauen ist! Wer weiß! Und dann wäre möglicherweise aller Streit auf einmal vorbei! Und der Preis wäre wohl nicht zu hoch!

Ja, dann gingen ihnen am Ende wohl die Augen auf – allen denen, die nie im Krieg waren, und die deswegen beständig so ein Geschrei davon machen. Und denen, die soviel im Kriege waren – daß ihre allerinnerste Stimme vom Pulverrauch erstickt wurde! ...

Aber im übrigen,« – er sprach auf einmal gedämpfter als bisher, ward ein klein wenig rot im Gesicht – »sind sie nicht schon tot – der größte Teil der anderen hier auf der Flotte?

Zuweilen fällt es mir für einen Augenblick ein – ein schwindelnd hochmütiger, ein lindernder Gedanke: daß da vielleicht nicht viel mehr als ich von uns allen übrig sind, die in diesem Moment leben: da ich der einzige bin, der zu sterben begehrt.«

»Ach!« sagte Nakinskij leise, mit einem wunderlich bebenden Lächeln, und trat ganz heraus aus der schmalen Passage zwischen Divan und Tisch, indem er seine Mütze auf den Scheitel setzte, nickte, und ganz langsam auf die Tür zuschritt – »da sprach wahrhaftig der Held von Tientsin und Taku!

Lassen Sie ihn doch noch eine Weile leben!«

Bogduroff lachte:

»Nein!« entgegnete er, seinen langen Kopf schüttelnd – » der hat auf alle Fälle, das Recht zu sterben, wenn er will! Wenn sein Leben ihm nicht mehr paßt!

Er hat redlich seine Zeit abgedient – das weiß ich! Er ist mutig genug gewesen, um das Recht zu haben, ausruhen zu wollen – indem er einmal feige ist!

Er ist frei wie ein Vogel!«

Der Arzt fächelte ein paarmal mit beiden Händen in der Luft, fühlte seinen Bart sonderbar zittern – als wenn sich die Mundwinkel beide hinabzögen – griff mit der Rechten nach dem Türdrücker, machte plötzlich kehrt, schlang seine Arme einen Augenblick um Bogduroffs Schultern, gab ihn wieder frei, lachend, mit einem merkwürdigen Laut aus seinem Hals heraus – ging schnell aus der Kammer und warf die Tür hart hinter sich ins Schloß.

Er sah hastig den Gang entlang, lauschend – machte einen Ruck hintenüber, bei dem dumpfen Knall eines Schusses da drinnen, fühlte, wie sein Gesicht grau wurde und förmlich lose im Fleisch, empfand seine Unterlippe schwer und feucht ... é ... é ... sah noch einmal nach beiden Seiten, drehte den Schlüssel im Schloß herum, steckte ihn zu sich, richtete den Kopf mit einem Ruck auf, häkelte sonderbar mit den Beinen bei dem ersten Versuch zu gehen; und dann marschierte er, die Knie bei jedem Schritt beständig zu hoch in die Höhe hebend, davon – um den Kommandanten aufzusuchen, und ihm Meldung zu machen. – – –

   

Luschinskij stand achtern auf Deck und fror, zwischen den beiden Kanonen des Turmes.

Der saure und herbe Geruch der Kohlen – die überall lagen, und wie ungeheure Haufen von dicker und ansteckungsfähiger Finsternis erschienen – floß in der Luft umher. Er fühlte sich an wie ein Teil dieser totschwangeren und bitteren Nacht. Dieser Nacht, in der dieses Schiff der Mittelpunkt der Welt war – das Zentrum, um das das Leben von Millionen kreiste; die pechschwarze Mitte der Gegenwart; deren Brunnen.

Peter Romanowitsch starrte zähneklappernd in den gräulichen Nebel hinaus, der in seinen Augen flimmerte – als stünde er hier in einem kohlschwarzen Loch und bellte stumm in das Licht hinaus. Und von neuem empfand er die Sehnsucht, mit Bogduroff zu reden! Ach, sich aus all diesem Dunklen und Blinden herauszuwickeln, und in etwas Klares und Weißes hineinzugelangen, nicht wahr: ja, warum war man doch nicht zu Fedor hingegangen, früher, dort auf der Kommandobrücke, da sein leises Murmeln einem so angenehm und einladend in die Ohren gegluckst und gerieselt war, ach ja, da hatte so eine seltsame, gleichsam blanke Stille über Bogduroff gelegen, während er so groß da oben stand ...: sollte ich, kurz, zu ihm hinabeilen, jetzt, gleich, geradezu, und ihn bitten, mir das Ganze von Anfang bis zu Ende zu sagen – von meinem Leben, von meinem Tode, von allem, was der Himmel mit uns allen beschlossen hat? ...

Er zerrte an seinem Mantelkragen, mit den Händen, die sich unmanierlich grob und rauh in der Kälte anfühlten – warf seinen Zigarettenstummel erstarrt von sich, machte langsam kehrt mit einem letzten Schaudern in den Knochen ... und einen Augenblick später arrivierte er vor Fedor Werowitschs Tür.

Fand sie aber, weiß Gott, verschlossen.

Ha, zum Kuckuck auch, da wurde ganz total nicht auf das Pochen geantwortet, und der Schlüssel steckte nicht im Schloß, wo war er denn nur, der große Mann, das geschwollene Schweigen in eigener Person; jetzt hatte man während der letzten zwei oder drei Stunden nicht das geringste von ihm gesehen oder gehört – wo war er nun, zum Satan? ...

Der Kapitän wankte unablässig von einem Ort zum anderen.

Er schnüffelte gegen die rauhe Luft an, die sich noch rußiger und naßkalter anfühlte, je mehr die Stunden vorschritten.

Sein Gesicht war sozusagen wieder alt geworden – von dem Moment an, wo er Nakinskijs Meldung von Bogduroffs Tod erhalten hatte ... und nachdem er einen Augenblick da unten in des Premierleutnants Kammer gestanden hatte, allein mit dem Heimgegangenen, ihm in das weiße Antlitz starrend, wo sich die errötende Schußwunde gekräuselt aus der Schläfe entfaltete.

Die Beine trugen den Kommandanten, als sei er eine Maschinerie. Seine Schritte strauchelten hart auf den Planken – und drinnen in seinem Kopf fühlte er hin und wieder eine höchst sonderbare Verlassenheit; ungefähr, als wenn er hin und wieder plötzlich alles mögliche vergessen habe, oder als ob alles ihn vergessen habe, wie, Unsinn, nutzen wir die Zeit aus, dazu haben wir sie ja! ...

Die Leute richteten sich nicht mehr auf, wenn er kam.

Einige von ihnen wandten ihm, den Teufel auch, den Rücken zu und kicherten kurz – während er vorüberging; ihr Greinen schlüpfte wunderlich kitzelnd zwischen ihren gar zu trockenen Lippen hervor. – Oder es entstieg der ganzen Schar ein ganz leiser, knurrender Ton mit einem Kläffen hier und da: als seien wilde Tiere, wütend von dem Anbruch des Morgens, zwischen ihnen verborgen. Die Unteroffiziere hicksten vor Haß, Berauschtheit und unempfundener Kälte; sie schlichen sich, abwechselnd – schlingernd infolge des Rausches wie auch des starken Seegangs in dem scharfen Wind, der sich aufnahm – in ihre Messe hinab und brachten einander dampfenden Tee mit Branntwein auf Deck in großen, hellblauen Blechspülkummen mit Beulen: ha, Kam'rad, da war' ich beinah' gepurzelt, und hätt' mir das Genick gebrochen, eine oder auch zwei Stunden zu früh, kissss, verdammt und verflucht in die heiße hohle Hölle 'rin! ...

Die Maschinisten tauchten von Zeit zu Zeit auf, drei, vier auf einmal, bebend im Nachtnebel nach der Hitze da unten – die kornblumenblauen Hosen in nassen Flatschen fest an der Haut von Schenkel und Lenden klebend, ein Stück gelber, stinkender Decke über den nackten Schultern; mit ihren viel zu weißen Augen in den knochenmageren, geschwärzten Gesichtern.

Sie gingen schwankend durch die Batterie hin, halblaut murmelnd, ohne es zu wissen, unaufhörlich einen Bausch grauen, ölfetten Twists zwischen den enormen, zitternden Fäusten reibend. Tief in der Luftröhre röchelnd, setzten sie sich ohne ein Wort nieder, bei den Unteroffizieren, in irgendeine Ecke; zogen die Knie unter das Kinn, um sich besser in ihre Wollfetzen zu hüllen – und leerten eine Flasche Fusel in einem einzigen bubbelnden Zug. Sie warfen die leere Pulle mit einem Rülpsen, einem Schmatzen weg ... dann baumelten ihre Köpfe ihnen auf den Busen nieder, und sie fielen auf einmal in einen schnarchenden Schlummer.

Bis da, kurz nachher, ein paar neue kamen und Platz begehrten.

Mit einem Grunzen und mit wilden Blicken erhoben sich die ersten. Sie standen einen Moment, schlingernd, krächzend, die entzündeten Augen von Kohlenstaub und Eiter zusammengekleistert ... und dann schmatzten sie langsam, auf ihren nackten Füßen, zurück durch die Batterie, nach dem Abstieg in den Maschinenraum – verschwiegen, speichelnd und scheu nach ihren tödlichen Träumen, mit krummem Nacken, strauchelnd.

Sie versanken förmlich durch das Stahlloch dort, entschwanden die steilen, eisernen Stiegen hinab, schaudernd, mit aufwärts gewendeten Knochenfratzen – als ob sie schon jetzt, sofort, noch ehe die Schlacht begonnen hatte, alles aufgebend und hoffnungslos, ganz auf den ungeheuren Grund des Meeres hinabsanken:

Hinab zu der riesengroßen, deformen Fische lautloser Entsetzlichkeit: zu ihrem zähnengefüllten Rachen, der in langsamem Schnappen sich über der Kälte des Wassers öffnet und schließt; hinab zu ihrem naßkalten, phosphorblauen, unergründlichen und starren Blick!

Hinab zu den verrückten Schrecknissen in den meilengroßen Tangwäldern, wo sich die Strömungen eiskalt vorwärtswälzen!

Hinab zu der unermeßlichen Einsamkeit Schweigen und Grauen ...


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