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Der Postbote war den alten Wandrahm entlanggegangen und hatte bei Sprekelsen, Sprekelsen und Nottbohm, Schiffsreederei, die Morgenpost abgegeben. Der jüngste Lehrling hatte sie in Empfang genommen, und Herr Ladwig, der Prokurist, sortierte sorgfältig den großen Packen. Zunächst ein Haufen Geschäftsbriefe. Kamen auf Sprekelsens Tisch im Privatkontor. Ein Brief an Madame Hellwig. Sah aus wie von der Schneiderin. Der wurde zur Seite gelegt. Elise trug ihn nachher hinauf. Endlich noch ein Schreiben, das zeigte zwar eine flotte, ausgeschriebene Kaufmannshand, sah aber trotzdem nicht wie ein Geschäftsbrief aus.

»Herrn Amadeus Sprekelsen persönlich.«

Otje Soltau, der jüngste Lehrling, sah heimlich auf den alten Herrn, wie der das weiße Kuvert hin und her drehte, und es – bildlich gesagt – von allen Seiten beschnupperte. Eine schwache Stelle hat jeder, und Ladwig, dies Muster aller Vollkommenheit, war brennend neugierig. Was hier im Hause vorging, das mußte er wissen. Von diesem Brief und seinem Schreiber wußte er nichts.

Nach genauestem Überlegen beschloß er, den Brief jedenfalls nicht gleich nach oben in die Wohnung zu senden. Man konnte hier unten vielleicht doch seine Schlüsse ziehen.

Elise kam mit dem Milcheimer in die Haustür und über die große alte Diele.

Bei dem schönen Maiwetter stand die Kontortür offen. Ladwig erhob ein wenig die Stimme: »Die Post, Elise.« Das Mädchen kam herein. Schlank, nett, im dunkelblauen Morgenkleidchen mit winzigen, weißen Sternchen darin, eine hellere bunte Kattunschürze darüber gebunden. Auf dem Kopf das zierliche, weiße Häubchen mit den getollten Tüllstreifen. Alles blitzte von Sauberkeit, und am meisten blitzten die Vergißmeinnichtaugen des niedlichen Mädchens. »Was? Nur ein Brief? Nur für die Alte – Madame«, setzte sie hastig hinzu, denn Ladwigs Augen warnten sie. »Nichts für Fräulein Adelheid?«

Sie griff nach dem einzigen Brief und wollte davonklappern.

»Da liegt ja noch einer«, rief Otje Soltau von seinem Pult her.

»Geht der Sie was an?« fragte sein Vorgesetzter. »Es ist gut, Elise, der hier ist für Herrn Sprekelsen, der bleibt hier unten.«

Man hörte Sprekelsen schon die Treppe herabkommen.

Es hallte auf der weiten Diele, wenn jemand mit festem Schritt durch das Haus ging, denn die ersten Besitzer des Hauses waren Weinhändler gewesen, und der Dunst aus jenen Riesenfässern, die einstmals auf der Diele gelegen, schien noch mit den Mauern verbunden. Nach den Weinfässern waren Kaffeesäcke gekommen und Reistonnen und heiße südliche Gewürze, und alles hatte seinen Atem abgegeben an die Mauern, daß er verwachsen schien mit dem alten Bau. Sprekelsen, wenn er die Treppen herabkam, meinte ihn jedesmal zu spüren, und er spürte ihn gern, denn es war die Erinnerung an all die Hamburger Geschlechter, die hier seit Jahrhunderten geschafft und gearbeitet hatten.

Seine Hand, wie er jetzt herabstieg, lag auf dem reichgeschnitzten Geländer der Treppe, das vom Alter dunkel gefärbt worden war, aber unverändert standhielt, ebenso wie die dicken Quadern des Fußbodens da unter ihm, die ausgetreten waren von unzähligen, lange vergangenen Füßen, und doch dabei von Sauberkeit blitzten, denn Madame Hellwig ließ sie jeden Sonnabend von den Mädchen mit heißer Seifenbrühe schrubben, und vor den drei hohen Festtagen ölen.

Links vom Flur lagen Sprekelsens zwei ganz persönliche Zimmer, ein kleines Arbeitsstübchen und ein größeres Schlafzimmer. Er hauste hier unten seit langen Jahren, denn er war früh Witwer geworden, zwei Jahre nach der Geburt der Tochter, und den kleinen, wenige Tage alten Sohn hatte die junge Frau mit ins Grab genommen.

Rechts vom Flur lagen, zwei Fenster breit und auch im Mittelraum hell, denn das Haus war ein Eckhaus, hintereinander drei Kontore. Das erste und größte, mit sieben Pulten, diente dem Personal mit Herrn Ladwig an der Spitze, im zweiten stand ein großer Doppelschreibtisch, der war für Herrn Sprekelsen und seinen, sich zur Zeit in England aufhaltenden Sohn bestimmt. Aber Ernst Sprekelsen hatte es nicht eilig mit dem Heimkommen.

Nottbohm der Kompagnon, war nur noch ein Name im Firmenschild, denn der einstige Träger desselben war schon seit zehn Jahren tot.

Das dritte, meist geschlossene Kontor, klein und behaglich ausgestattet, war nur für besondere Besprechungen mit besonderen Geschäftsfreunden in besonderen Angelegenheiten. Alle diese Angelegenheiten waren nach alter Art des Hauses streng solide, reell, absolut zuverlässig.

Reellität war der Grundzug der Firma. Sprekelsen ließ sich nie auf unsichere Dinge ein. Lieber zehntausend nicht gewinnen, als tausend an ein zweifelhaftes Geschäft wagen.

Er ging mit sicheren Füßen über sicheren Boden.

»Die Post, Ladwig.«

»Liegt auf Ihrem Tisch, Herr Sprekelsen.«

Und Ladwig machte einen langen Hals und schielte aus den Augenwinkeln nach der Tür des Privatkontors. Würde er sie schließen? Nein, der breite Spalt blieb offen. Man konnte sehen, wie Sprekelsen, an seinem Schreibtisch sitzend, die Papierschere nahm und sorglich die Siegel ausschnitt, denn die meisten Schreiben waren in sich gefaltet, und nur das eine, das aufregende, steckte in einem besonderen Umschlag. Ladwig hatte es zu unterst gelegt. Herr Sprekelsen sollte sich mit Ruhe daran machen.

Endlich! – Sprekelsen sah den Brief gerade so mißtrauisch an wie vorhin sein Prokurist. Von wem kam der?

Jetzt schnitt er ihn auf. Jetzt entfaltete er einen Bogen, der einen breiten Respektrand zeigte. Jetzt stutzte er, las – begann noch einmal – Plötzlich stand er auf, ging zur Tür und zog sie in das Schloß. Also – was bedeutete das? Die sieben Herren im ersten Kontor, die alle spürten, da war etwas Besonderes um den Weg, taten doch, als fände keiner etwas Ungewöhnliches in diesem ruckartigen Türschließen. Aber während sie schrieben und rechneten, lauschten alle mit gespitzten Ohren.

Da ging drinnen die Tür, die direkt zum Flur führte. Die Tür, durch die Sprekelsen so selten ging. Nun wanderte er treppauf. Nun hörte man seinen Schritt oben im Wohnzimmer, gerade über dem Kontor. Die Federn mühten sich, lautlos über die Seiten zu gleiten, der Atem wurde unhörbar eingezogen und ausgestoßen. – Jetzt droben die Stimme des Prinzipals – jetzt eine hohe weibliche – aha, Frau Hellwig trat in Aktion – jetzt – die Federn ruhten, alles war nur noch Ohr –

»Hüls! Hüls! Ok Piepenreimers!« schrie draußen eine gewaltige Stimme und übertönte jeden Laut aus den oberen Räumen.

Auf der Freitreppe vor den Fenstern stand ein hagerer Bauer mit rotgegerbtem, schlauem Gesicht, hielt seinen Korb mit Katzenfallen (Hülsen) vor die Scheiben, fuchtelte mit den Pfeifenreinigern – Federkiele bis halb zur Spitze glatt geschabt – in der Luft und dröhnte von neuem: »Hüls, Hüls!«

»Ok Piepenreimers!« fielen Kommis und Lehrlinge ein, und Herr Ladwig stieß ärgerlich das Fenster auf.

»Wir brauchen seine Katzenfallen nicht. Und rauchen tut keiner im Kontor. Laß Er doch sein ewiges Geschrei hier am Fenster, Piepenreimers.«

Der Bauer grinste, daß sein Gesicht ein einziges Faltenbündel war, schwang die Federspulen und höhnte: »Keen Hüls för de Katten? Wat hebben se dat god, Herr Ladwig. Keen frömde Katten im Hus? Bi Wittrock an'n Brook hebbens letzt Woch dörtein mit min Hüls infangen.«

Ladwig schloß kurzerhand das Fenster, und Piepenreimers, den rechten Namen wußte kein Mensch, schrie seinen Schlachtruf weiter in den hellen Maitag hinein: »Hüls, Hüls! Ok Piepenreimers!«

Emil, der große, gelbe Hauskater, sah ihn mißtrauisch an, als er mit seinen Fallen vorbeiging. Dann drückte er sich durch eine offene Luke in den Keller, wo Elise die Obstborte säubern mußte. Verrückt! Am hellen Maitag, wo es oben und draußen so schön war, da schickte Madame Hellwig sie in den Keller Obstborte zu scheuern. Ehe Äpfel und Birnen reif waren, waren die Borte ja lange wieder verstaubt und schimmelig.

Da steckte was dahinter.

Herr Sprekelsen war heraufgekommen, ganz außer der Zeit, und hatte nach seiner Schwester gerufen, und hatte einen offenen Brief in der Hand gehabt, und sie waren in die Wohnstube gegangen, und Madame Hellwig hatte gesagt: »Elise, du kannst erst Tassen waschen«, denn sie wollten gerade im Wohnzimmer frische Gardinen aufstecken, und als sie so ein bißchen vor der Tür stehengeblieben war, hatte die Dame noch einmal hinausgesehen und hatte gesagt, so wie sie manchmal was sagen konnte: »Du gehst wohl am besten erst mal in den Keller und scheuerst die Obstborte ab.«

Wenn die den Ton annahm, wurden den Dienstmädchen die Füße flink. Elise schoß nur so nach Eimer, Scheuerbürste und Fatuch und hinunter in den Keller.

»Na, Emil,« sagte sie zum Kater, »ist dir auch die Petersilie verhagelt? Wollt Piepenreimers dich mit sein Hülsen fangen? Nee, laß man, du bist unsern feinen Emil, dir sollen sie nich das Genick umdrehen. Was gähnst denn so? Bist wieder heute nacht auf den Dächern gewesen? Hast mit den Katzen getanzt, du alter Rümmerdriever du?« Und als das Tier sich schnurrend gegen ihre Knie rieb: »Ja, ja, du bist en richtigen verliebten Kater. Ihr habt das gut. Geht alle Abend zu Tanz auf den Dächern, und wenn unsereins mal Sonntags en büschen nach Jüthorn 'raus will oder auf 'n Süllberg bei Blankenese, denn sagt Madame: So wo geht en anständiges Mädchen nich hin.« Sie schrubbte in hellem Zorn so gewaltig über die Borte, daß die Tropfen sprühten, und Emil sich beleidigt zurückzog.

Und sie hätte ebenso gern wie Herr Ladwig und das ganze Kontor gewußt, was es mit diesem Brief auf sich hatte, denn wenn Herr Sprekelsen einmal nach dem Kaffee hinuntergegangen war, kam er sonst vor dem zweiten Frühstück grundsätzlich nicht wieder nach oben.

* * *

»Immerhin ist es eine große Ehre«, sagte Madame Hellwig. »Ich muß gestehen, ich habe nicht daran gedacht. Adelheid ist doch erst zwanzig, und er –«

»Er ist fünfundvierzig, ich weiß es ganz genau. Außerdem hat er sich verpflichtet gefühlt, es mir hier noch schwarz auf weiß mitzuteilen. Eine unangenehme Sache. Eine ganz unangenehme Sache.«

»Du bist also fest entschlossen, seinen Antrag abzulehnen?«

Sprekelsen ging erregt auf und ab. »Was soll man machen? Was soll man machen? Er hätte doch erst sondieren lassen können. Dann wäre der Fall nicht so eklatant.«

»Ja, gewiß, der Altersunterschied ist sehr groß. Immerhin – denke an Schröders. Da sind noch drei Jahre mehr, und wie harmonisch hat das Paar miteinander gelebt!«

Madame Hellwig sprach, wie es ihre Art in feierlichen Augenblicken war, in einem gezierten Ton, den ihr Bruder nicht ausstehen konnte, obgleich er zwanzig Jahre Zeit gehabt hatte, sich an ihn zu gewöhnen.

»Wenn ich mich auch über den Altersunterschied hinwegsetzen wollte – aber er ist kein sicherer Geschäftsmann. Er ist ein waghalsiger Draufgänger. Man kann zuweilen denken, er spekuliert. Und einem Spekulanten geb' ich meine Tochter nicht.«

»Glaubst du im Ernst, daß er spekuliert? Das hat er doch wirklich nicht nötig. Er soll doch reich sein, direkt reich. Madame Averdieck sagte neulich, ihr Mann hielte ihn für einen Millionär.«

»Richtig. Bei Averdiecks habt ihr ihn ja letzte Woche getroffen. Hat er denn da dem Kinde Aufmerksamkeiten erwiesen?«

»Ich habe nichts bemerkt. Er saß allerdings eine Weile bei mir und sprach davon, daß er dich bisweilen im Einbekschen Hause getroffen habe, und redete auch von Adelheid, wie wohlerzogen sie sei, und daß dies mein Verdienst sein dürfte.« Sie verstummte.

Ihr Bruder sah zu seiner Verwunderung, wie ihr mageres Gesicht sich langsam von unten her mit einem rötlichen Schein überzog. Aber um nichts in der Welt hätte sie es einem einzigen Menschen eingestanden, daß die Aufmerksamkeit des eleganten Mannes ihr ein stilles Wohlgefallen geschaffen.

Sprekelsen fuhr sich über die Glatze. »Ich hoffe nur, daß niemand um diese Werbung weiß. Es fiele ein häßliches Licht auf uns. Man kann einen Mann wie Heinecken kaum abweisen.«

»Man müßte angeben, Adelheid sei noch zu jung und zu zart.«

»Zwanzig Jahre und blühend wie eine Rose!«

»Oder sie wollte überhaupt noch nicht an die Ehe denken.«

»In dem Alter denken sie alle dran.«

»Vielleicht, wenn du um Bedenkzeit bätest! Der Antrag sei so überraschend gekommen.«

»Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.«

»Adelheid stand sich so sehr gut mit Edwin Nottbohm. Ich dachte immer, daß sich da ein zartes Sentiment anspänne. Du dürftest das vielleicht nur andeuten – –«

»Hm.« Noch drei Runden wurden durch die Stube gelaufen. »Hm. – Und wenn das nur einseitig ist?«

»Einstweilen sitzt er in Indien. Bis er wiederkommt, kann Heinecken längst eine andere Partie gemacht haben.«

Herr Sprekelsen zog am perlengestickten Glockenzug. Niemand kam. »Wo steckt denn Elise nur wieder? Sie soll mal Adelheid rufen.«

»Ach Gott, die hab' ich in den Keller geschickt.« Sie lauschte. – »Und Marie ist zum Einholen. Sie soll Schollen holen vom Hopfenmarkt.«

Madame Hellwig lief selber mit schnellen Schritten über die Galerie, die oben vor den Zimmern hinging und den Blick auf die Diele hatte. Niemals blühende Oleanderbäume standen am Geländer. Hinten an der Treppe rief Madame zum zweiten Stockwerk empor: »Adelheid! Adelheid!«

Sie hörten den Ruf unten im Kontor.

Die beiden Kommis tauschten einen Blick: »Aha!« Mit der Tochter hing es also zusammen.

Die Federn gingen womöglich noch lautloser über die Blätter. Eine summende Fliege wurde von Otje Soltau kurzweg erschlagen.

Die, der all die ganze heimliche Erregung galt, ahnte nicht, daß ihr Schicksal vor der Tür stand, die große Lebensfrage an sie zu richten. Sie war in ihrem Stübchen, das nach dem Hof hinausging, beschäftigt, Staub zu wischen und dem schmalen, hohen Empirespiegel mit Hauchen und Reiben höchsten Glanz zu verleihen. Drohnen gab es nicht im Sprekelsenschen Hause. Auch die Töchter hatten stets mit anfassen müssen.

Wie die Tante rief, warf Adelheid noch einen kurzen Blick in das Glas, einen zweiten auf die Hände – nein, alles war tadellos – dann hinaus und die Treppe hinunter. Ihre Bewegungen waren schnell und leicht, aber durch Sitte und Erziehung bis zu einem gewissen Grade gebunden. Nie wäre eine Sprekelsen auf der Treppe gelaufen, nie ein Backfisch dieses Hauses auf dem Geländer abwärts gerutscht. Madame Hellwig hielt die Zügel kurz.

Unten wartete sie auf der Galerie. »Papa will dich sprechen, Kind.«

Mein Gott, wie die Tante durch die Nase sprach! Schon am frühen Morgen, wo kein fremder Mensch im Hause war. Was hieß das?

Sprekelsen sah sein eintretendes Kind an wie einen Gegenstand, den er auf seinen innersten Wert prüfen sollte. Es gab schönere Mädchen. Gewiß, nicht zu leugnen. Es gab Schönere, Stattlichere, Elegantere, mit stolzerer Haltung, mit regelmäßigeren Zügen, na überhaupt mit allem, was den Leuten in die Augen fällt. Adelheid war kaum mittelgroß, hatte ein Stumpfnäschen und einen nicht zu kleinen Mund. Aber diese Quellfrische! Diese dunkelblauen, sonnigen Augen! Diese Apfelblütenfarben zu dem tiefbraunen Haar, das sich immer bauschte und krauste und im schlimmsten Hamburger Wetter, in Nebel und Schlackerschnee nur um so lustiger ringelte. Und das ganze Drum und Dran. Alles so blitzsauber, so weich und doch so zierlich.

Immerhin, ein Mann wie Heinecken, der die Frauen aller Länder kannte und, wie man sagte, ihr verwöhnter Liebling war, der konnte Ansprüche machen. Es war doch eine große Auszeichnung für Adelheid. Sprekelsens Augen strahlten auf. Natürlich fatal, sehr fatal! Trotzdem – sie konnte stolz sein.

Adelheid sah ihn erstaunt an. Was hieß dies? Der Vater so stumm sie musternd, die Tante – nachdem sie die Tür sorgfältig geschlossen – halb hinter ihr stehen bleibend. Es war fast wie vor vier Jahren, als ihr angekündigt wurde, sie solle in die Pension in Hannover.

Als gewiegter Kaufmann fiel Sprekelsen nicht mit der Tür in das Haus. »Kind, du mußt dich nicht wundern, wenn ich dich auch einmal zu einer ernsten Besprechung rufen lasse. Aber ich habe da einen Brief bekommen – hm, ja – das nachher. Ich möchte dich erst etwas fragen, etwas gewissermaßen Geschäftliches. Du weißt, es ist so gut wie abgemacht, daß Edwin Nottbohm an Stelle seines verstorbenen Vaters einmal in die Firma eintritt. In ein bis zwei Jahren kommt er aus Indien zurück. Mir sehr lieb. Er schrieb kürzlich geschäftlich. Spielte dabei auf die gemeinsame Kindheit und Zukunft an. Ich weiß nun nicht, ob er damit nur deinen Bruder Ernst meinte – ich wüßte es aber ganz gern.«

Adelheid zeigte nicht das geringste entgegenkommende Verständnis.

»Ihr waret früher gute Freunde, nicht wahr? Oder – ich will nicht unzart sein, mein Kind, oder war es mehr?«

Nun verstand sie. Aber das Lächeln um ihren Mund war ganz zwanglos.

»Mehr? Nein, Papa, mehr war da nicht. Von keiner Seite.«

»So so. Tut mir leid. Ein tüchtiger Mensch, der Edwin. Und Jugend gehört zur Jugend. Wenn auch deine Tante meint –«

Adelheid wandte sich um zur Tante. Die schwieg, nur das Gesicht sprach in allen Zügen von einer feierlichen Staatsaktion.

»Was meint Tante Anna?«

»Daß so junge Mädchen wie du auch mit Männern glücklich werden können, die ein Vierteljahrhundert älter sind. Na –?!« Er sah die Tochter ganz erstarrt an. »Warum wirst du denn so feuerrot?«

»Ich? Ich werde doch nicht –« und wurde immer heißer.

»So so! So ist das? Und wie lange schon?«

»Was meinst du eigentlich, Papa?«

»Herr Karl Anton Heinecken hat bei mir brieflich um deine Hand angehalten, im Fall er hoffen dürfte, dir nicht unwillkommen zu sein.«

»Ach!« Nur ein Laut, aber die Augen sprachen.

Sprekelsen lief wieder ein paarmal im Zimmer auf und ab. »Und davon hab' ich nichts gewußt.« Mit einem Ruck blieb er vor seiner Schwester stehen. »Warum hast du mich nicht rechtzeitig avisiert?«

Sie hob die Hände. »Ich bin doch gerade so überrascht wie du, Amadeus. Ich sagte es dir doch schon.«

»Scheint mir sehr unwahrscheinlich. Ihr Frauen habt immer eine gute Witterung für beginnende Liebeshändel.«

»Du drückst dich wirklich merkwürdig aus.«

»Dies verwirrt die Sache ja noch mehr. Noch viel mehr. Wenn so etwas auf Gegenseitigkeit beruht –«

Adelheid trat einen halben Schritt auf ihn zu. »Darf ich den Brief lesen, Papa?«

»Du? den Brief? Na ja, lies ihn. – Mein Gott, was einem alles im eigenen Hause passieren kann! – Adelheid, du strahlst ja.«

»Ich bin so glücklich, Papa.«

»Du kannst den Mann doch nicht im Ernst heiraten wollen, mein Kind. Sein Sohn ist ja nur wenig jünger als du. Heinecken ist ein Greis, wenn du noch eine junge Frau bist.«

»Ich – ich verehre ihn so sehr, Papa. Er ist so klug, so stattlich und vornehm. Er weiß so viel. Und wie er sprechen kann! Die jungen Herren sind alle dumme Jungen gegen ihn.«

»Hilft alles nichts. Er ist kein zuverlässiger Kaufmann.«

»Aber Papa!« Sie wußte, was dies Wort hieß im Munde des Vaters.

»Er hat uns da neulich in der Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft eine Rede gehalten – heller Wahnsinn. Die deutsche Kaufmannschaft müsse wieder werden, was sie in den Tagen der Hanse gewesen: Beherrscherin der Meere. Und dazu müßten wir eigenen Besitz im Ausland haben. Niederlassungen an der chinesischen und brasilianischen Küste, Inseln in der Südsee – und so weiter, und so weiter. Ein paar Heißsporne klatschten ihm Beifall. Wir verständigen Leute konnten nur die Köpfe schütteln.«

Das Mädchen sagte sanft und beharrlich: »Ich wäre so glücklich, Papa.«

Sprekelsen hatte nur die eine Tochter. Und sie glich so sehr der Frau, die ihm nur wenige, aber um so glücklichere Jahre geschenkt hatte. Und er hatte seinem Kinde noch nie einen Wunsch versagt. Er war im Geschäft von größter Nüchternheit und Trockenheit, aber als Mensch und Vater war er wenig widerstandsfähig.

Wie sie ihn umfaßte und den Kopf an seine Schulter legte, versuchte er eine letzte Abwehr. »Es geht nicht, es geht nicht. Es ist eine ganz unglückliche Angelegenheit.«

Aber der Schwarzkopf flüsterte so zärtlich und bittend: »Ich würde grenzenlos glücklich sein, Papa.«

* * *

Otje Soltau fuhr zusammen. Herr Sprekelsen, der mit schnellen Schritten eingetreten war, stand an seinem Pult und sagte: »Passen Sie auf, Soltau, wenn Herr Heinecken kommt und mich sprechen will. Führen Sie ihn gleich in das Extrazimmer. Sie kennen Herrn Heinecken?«

»Aber natürlich, Herr Sprekelsen.«

»Gut, gut. Also, passen Sie auf.« Er ging in sein eigenes Kontor, die Tür klappte.

Sie sahen sich alle an, fragten alle mit den Augen: Was soll das? und fuhren alle nieder auf Bücher und Briefe, denn Herr Ladwig sagte kurz und scharf: »Haben Sie nichts zu tun, meine Herren?«

* * *

Es war keine Sitte in Hamburg, im Kabriolet zu fahren, das man selber lenkte, während hinten, mit feierlich übereinandergeschlagenen Armen, der Diener saß. Karl Anton Heinecken lenkte selber das leichte Fuhrwerk, und der edle Rappe davor ließ sich von keiner anderen Hand leiten.

Es war keine Sitte, einen hellgrauen Zylinder zu tragen. Kaum daß eine Kunde in die deutsche Stadt gekommen war, in London gingen einzelne Gentlemen mit dieser Kopfbedeckung. Aber Karl Anton trug den auffallenden Hut durch Hamburgs alte Giebelstraßen, als sei der eigens für seinen kühnen, dunklen Kopf erfunden worden.

Es war keine Sitte, damals noch nicht, im eigenen Segelboot durch den Alsterkanal in die Elbe zu steuern und stromab bis Kuxhaven, stromauf bis Bardowiek zu fahren, dabei selber die Segel zu richten und das Steuer zu stellen. Heinecken segelte wie ein Finkenwerder Fischer, dessen Familie seit Generationen auf dem Wasser zu Hause gewesen ist.

Es war keine Sitte, in Handel und Wandel eigene Wege zu gehen, die von alter Hamburger Art abwichen, es war noch vieles andere nicht Sitte, aber Karl Anton Heinecken kümmerte sich nicht im geringsten darum.

Er tat, was ihm das Rechte schien, und was ihm wohlgefiel.

Freunde hatte er und Feinde, beide zahlreich genug. Die Freunde schüttelten manchmal bei aller Bewunderung den Kopf, und die Feinde mußten ihn bei allem absprechenden Urteil heimlich bewundern; ganz gleichgültig ihm gegenüber blieb jedenfalls niemand, der in seine Kreise geriet.

Die Frauen liebten ihn blindlings, vergötterten ihn, wären alle selig gewesen, Frau Heinecken zu heißen. Aber er hatte fünfzehn Jahre gezögert, ehe er sich entschloß, seine Witwerschaft aufzugeben.

Mit fünfundzwanzig hatte er zum erstenmal geheiratet. Die Frau, aus einer Hamburger Senatorenfamilie, war blond, still und wenig in die Augen fallend gewesen. Doch sein außerordentlich lebhaftes Temperament war gerade von ihrer Ruhe angezogen worden. Außerdem war er ein Jahr vorher elternlos geworden, Vater und Mutter, die ihm ein glückliches Zuhause geschaffen, waren an den Blattern gestorben, er sehnte sich, einsam und reich zugleich, nach jemand, der ihm wieder die behagliche Häuslichkeit zurückgab, die bis dahin seine Gewohnheit gewesen. In das große, schöne Haus an der Alster gehörte eine Herrin.

Helene Gräpel regierte sanft und mit der Selbstverständlichkeit der Tochter aus einem ersten Hause. Alles ging wie am Schnürchen, Karl Anton war durchaus zufrieden, und wenn er etwas vermißte, war er viel zu vornehm in seiner Gesinnung, seine Frau das empfinden zu lassen. Außerdem schenkte sie ihm nach drei Jahren einen Sohn, Paul, und hatte also jede Pflicht erfüllt, die man von ihr erwarten konnte.

Als sie ein Jahr später an einer Brustentzündung schnell und unerwartet verschied, war dem Ehemann die Lücke zu seinem eigenen Erstaunen nicht so fühlbar, wie er hätte annehmen dürfen.

Er war nun erst dreißig Jahre alt. Er hatte eigentlich schon alles gehabt, was ein Mann haben will. Geld, ein schönes Haus, einen guten Namen, eine angesehene Stellung, Weib und Kind. Und hatte doch, als er sich das so in der Stille überlegte, das Gefühl, als solle sein Leben erst beginnen.

Also redete er mit seinem Kompagnon, Herrn Schröder, ein ruhiges Wort über das, was werden könnte, und nach seinen Wünschen werden sollte. Schröder, der zwanzig Jahre ältere, sollte die Hamburger Geschäfte weiterführen – Import von Reis, Kaffee und Chinawaren – und Heinecken wollte selber in die Welt hinaus, die Interessen des Geschäftes in den fremden Ländern zu vertreten, neue Verbindungen anzuknüpfen, zu sehen, zu lernen, und – aber das wurde nicht ausgesprochen – die Fremde und ihre Freuden zu genießen.

Zehn Jahre war er fort. Nur zu kurzem Aufenthalt kam er zweimal in die Heimat. Seine Kusine, Frau Beckmann, betreute den kleinen Paul, der sich ohne sonderliche Überraschungen entwickelte. Der Kompagnon arbeitete still und fleißig für das Gedeihen des Hauses und hatte nur bisweilen Tage des Erschreckens, wenn aus fernsten Zonen Briefe von Karl Anton eintrafen, die immer mehr zu Fanfarenstößen wurden und bald neue Verbindungen meldeten, glänzend und überraschend, bald ein Tempo des Geschäfts forderten, das niemals in der großen Reichenstraße, da lag das Kontor, Mode gewesen war. Und dann die immer neuen Waren, die das Haus führen sollte. Zuletzt, als Herr Schröder, dessen Haare schon bedenklich grau wurden, bereits entschlossen war, endlich ein energisches Veto einzulegen, kam noch die neue Verbindung mit Brasilien, um Farbhölzer einzuführen, wie sie Zipperling und Keßler in ihrer Mühle raspeln und mahlen ließen, um sie dann an die inländischen Farbwerke zu senden, die aus Blau-, Gelb- und Rotholz all die schillernden Farben zogen, die in tausend verschiedenen Zusammenstellungen wieder hinausgingen in Industrie und Kunst.

»Das ist nicht mehr zu übersehen«, sagte Schröder zu Sprekelsen. »Er ist geradezu genial. Ich gebe das ohne weiteres zu, aber er stürzt sich in Unternehmungen, denen er einmal nicht mehr gewachsen sein wird. Wer hätte in diesem Baltensprößling, in diesem Offizierssohn solchen Kaufmann vermutet! Sobald er zurückkommt, trete ich vom Geschäft zurück. Ich habe mein Schäfchen im Trocknen, ich kann in diesem Tempo nicht mehr mitmachen.«

1835 im Juli kam Karl Anton zurück. Ein englisches Schiff brachte ihn, denn er war noch auf einen Abstecher nach London gewesen, das er im Laufe der zehn Jahre schon zweimal besucht hatte. Sprekelsen hatte am Hafen zu tun, und hatte sein Töchterchen bei sich, das noch ein halbes Kind war. Wie der englische Dampfer an den Vorsetzen festmachte und mit lautem Heulen seine glückliche Ankunft über den Hafen meldete, standen sie an der Brücke, wo die Passagiere an Land gingen. Da kam mit dem alten Herrn Schröder ein anderer Herr heran, groß, schlank, fast überschlank, der ließ seine lebhaften Augen blitzend in die Runde gehen, nahm gewissermaßen mit den Blicken wieder Besitz von Hafen und Stadt.

Er grüßte Sprekelsen sehr aufmerksam, und doch – Adelheid hatte einmal den dänischen König in Hamburg gesehen –, sie meinte, der schöne, elegante Mann hätte etwas ähnliches in seinem Gruß gehabt. Sehr liebenswürdig, sehr verbindlich, aber wie ein Fürst Untergebene grüßt.

»Wer ist das?« flüsterte sie dem Vater zu, als die beiden Herren in einen wartenden Wagen gestiegen waren.

»Schröder und Heinecken.«

Sie kannte die Firma, sie fragte nichts weiter. Daß ihr junges Herz von da an einen bewunderten Helden besaß, erzählte sie keinem Menschen. – –

* * *

Die Heineckens waren kein Hamburger Geschlecht. Seit langen Jahren, zum mindestens seit zwei Jahrhunderten, waren sie in den Ostseeprovinzen, im Baltikum, ansässig. Sie hatten aus ihrer Familie dem Lande Gelehrte und Kaufleute, Prediger und Offiziere gegeben, waren geadelt worden und hatten – zum Teil – als vornehme Herren auf den weiten Edelsitzen gesessen. Einer von ihnen, Karl Otto, war am Ende des achtzehnten Jahrhunderts nach Hamburg gekommen, hatte dort die Tochter des Herrn Averdieck, Anita, kennengelernt, und eine glühende Liebe zu dem jungen Mädchen gefaßt. Herr Averdieck, dem alles ausländische Wesen Mißtrauen einflößte, war durchaus nicht geneigt, sein Kind in die Ferne gehen zu lassen, und so hatte der junge Mann sich entschlossen, Hamburger Bürger zu werden, und als Offizier bei dem Hamburger Militär einzutreten. In der Stadt, die streng auf ihr republikanisches Gepräge hielt, war sein Adel nicht wohl angebracht, er legte ihn ab. Sein Sohn nannte sich, wie er, einfach Heinecken, ohne das kleine Wörtchen von vor dem Namen.

Die Ehe war so glücklich gewesen, daß der Sohn, der beide Eltern im Zeitraum von wenigen Tagen verlor, die Empfindung hatte, es hätte gar nicht anders sein können. Die Mutter würde nie fähig gewesen sein, ein Leben ohne den Vater weiterzuführen.

Die Bilder der Eltern, von einem Hamburger Künstler geschaffen, hingen in dem Hause, in dem die Familie dreißig Jahre gelebt hatte, über dem Schreibtisch des jetzigen Inhabers. Die junge Frau in der Tracht der Königin Luise, in lichtroter Seide, den blauen Florschal leicht von den Schultern niedergeglitten, ein Band von der Farbe des Kleides in den blonden, lockig aufgepufften Haaren. Daneben das Bildnis des Bürgerkapitäns in roter Uniform, das Haar gepudert, die feinen Aristokratenzüge sehr stolz und herablassend, denn es war da immer in einem Herzenswinkel noch eine Stimme gewesen, die hatte gesagt: »Du bist doch eigentlich mehr als diese Kaufleute.«

Im Sohn hatte sich der Stolz des Aristokraten mit dem Bürgerstolz vor Königsthronen, wie ihn die Hamburger vornehme Kaufmannschaft seit Jahrhunderten besaß, verbunden. Dabei war aber dieser Stolz auf das engste vereint mit großer Liebenswürdigkeit und menschlicher Güte. Wer Hilfe und Rat brauchte, ging nie mit einer Abweisung von Heinecken fort. Als er von seinen langen Reisen heimkam, war ihm das große Haus am Jungfernstieg sehr leer. Es war so gar nicht auf einen Junggesellen zugeschnitten. Die vielen Stuben mit ihrem reichen Inhalt lockten zu großer Geselligkeit, der Stall war für sechs Pferde eingerichtet, in den weiten Kellern war Raum für die Vorräte einer großen Familie. Und Karl Anton benutzte zur Zeit nur zwei Stuben und das große Speisezimmer, und hatte nur ein Pferd im Stall, Satan, seinen Rappen, auf dem ihn die schönen Hamburgerinnen bewunderten.

Er war entschlossen, zu heiraten, aber er ließ sich Zeit beim Wählen. Was er finden wollte, wußte er, und er war sich auch sicher, daß er es finden würde.

Seine erste Ehe lag hinter ihm wie ein freundliches Bild, das mit dem eigentlichen Leben nicht mehr viel zu tun hat. Der junge Mensch von damals und der reife Mann, der jetzt auf Freiersfüßen ging, hatten nur noch entfernte Ähnlichkeit.

Als er Adelheid Sprekelsen bei ihren Verwandten Averdieck begegnete, und man ihm das junge Mädchen als Muster aller Vortrefflichkeit rühmte, hatte er nur ein flüchtiges Wohlgefallen an ihr. Jung, lieblich, wohlerzogen, nicht gerade ein Gänschen – nun ja, so gab es mehr.

Dann fiel ihm auf, wie sich das Mädchen ihm gegenüber zurückhielt. Es kam sofort eine gewisse Verschlossenheit und Sprödigkeit in das weiche Gesichtchen, so oft er sie ansprach. Das begegnete ihm sonst nicht, und das reizte ihn. Er beachtete Adelheid mehr als die übrigen jungen Damen, die sich ihm mehr oder minder geflissentlich in den Weg stellten. –

Er traf auch Sprekelsen auf der Börse, im Ratskeller und auf einigen Herrenabenden, und er fand bei ihm die gleiche Zurückhaltung, die fast Ablehnung war. Da packte es ihn an: »Die soll es sein, gerade die. Mich übersieht man nicht.« Er warb um die Zwanzigjährige. In seinem Schreiben standen die Worte: »Sollten Sie nicht geneigt sein, meiner Werbung Gehör zu geben, sollte Ihr Fräulein Tochter bereits anderweitig über ihr Herz und ihre Hand bestimmt haben, so bitte ich, mir durch einen Boten eine kurze Nachricht zu senden. Darf ich aber hoffen, Sie mir nicht ungünstig gesinnt zu finden, so erwarte ich weiter keine Nachricht und werde mir erlauben, mittags um zwölf Uhr persönlich in Ihrem Hause zu erscheinen, um aus Ihren Händen ein Glück in Empfang zu nehmen, das meinem Leben den höchsten Wert verleihen wird.«

Morgens um halb zehn etwa mußte Herr Sprekelsen den Brief erhalten haben. Eine Stunde später hätte, vorausgesetzt, daß man sich zu einer absoluten Ablehnung entschloß, der Bote da sein können. Jetzt zeigte die Uhr zwanzig Minuten vor zwölf, es war niemand gekommen.

Heinecken stand vor dem hohen Stehspiegel in seinem Ankleidezimmer. Der Spiegel war in einem dicken Goldrahmen, die Möbel, Schränke, Stühle, ein Sekretär – denn er schrieb bisweilen noch abends hier oben – von dunklem, blitzblankem Mahagoniholz.

Die Tür zu einem kleinen Nebenzimmer stand offen, und man sah eine Badewanne aus Kupfer. Die Sonne funkelte im Metall, liebkoste es förmlich und wunderte sich, wie dies Stück hier hereingekommen sein mochte. Denn es war noch nicht die Zeit, in der Privatpersonen sich solchen Luxus gestatteten, und man erzählte sich, der Prinz Wilhelm von Preußen, der auch der Mode warmer Bäder huldigte, ließe oft jede zweite Woche aus einem Berliner Hotel die dort vorhandene Wanne kommen. Ein Karren, mit einem Pferde bespannt, führe sie in sein Palais.

Karl Anton hatte die Neigung zu warmen Bädern von seinen Reisen mitgebracht und das teure Stück von Kupferschmied Hermes am Rödingsmarkt anfertigen lassen.

»Hat ihn bar und blank hundert Taler gekostet«, sagte Hermes. »Bar und blank hundert Taler Banco.«

Johann putzte die Wanne sorgsam und nachhaltig. Johann stellte sie noch über das englische Service und die silberne Taufschale. Diese Wanne war für ihn das unwiderlegbarste Zeichen, daß er im vornehmsten Hause Hamburgs diente.

Jetzt stand Johann, die Kleiderbürste in der Hand, hinter seinem Herrn, um dem grünen Tuchrock noch einen letzten Strich zu geben. Ein kostbares Stück, der Rock. Allerfeinstes Tuch, neueste Mode. Die Taille legte sich im Rücken und über den Hüften dicht an den Körper, die elegante Figur markierend, dann sprang der Rock in weiten Falten aus. Vorn offen, zeigte er die gestickte weiße Weste und Beinkleider von hellgrauem Kaschmir. Man trug schon viel bei festlichen Gelegenheiten weiße Beinkleider von gleichem Stoff, aber bei einer so feierlichen Gelegenheit, wie es eine Werbung war, hatte Heinecken die dunklere Nuance für passender erachtet. Wie Schnee schimmerte das weiße Halstuch um den ebenso schimmernden Kragen.

Johann sah mit zufriedenen Blicken auf seinen Herrn. So einen sollten sich die andern nur suchen.

»Der Redingote,« sagte Heinecken, fuhr in den bereitgehaltenen weiten Staubmantel, griff nach dem Zylinder, »der Wagen soll vorfahren.«

Johann schoß fort. Er spürte es in der Luft: Da war etwas im Werden. Heinecken schritt die Treppe zum Parterre hinab, und wie er auf die Straße trat, war der Wagen schon vorgefahren. Johann stand, den blanken Hut mit rotweißer Kokarde – Hamburgs Farben – in der Hand, daneben. Emil, der Stallknecht, hielt das Pferd. Vorn auf dem Sitz neben Heineckens Platz lag, in Papier geschlagen, ein Rosenstrauß. Eine Minute später trabte der Rappe den Jungfernstieg hin zur Bergstraße und bog bei der Petrikirche in die Schmiedestraße ab.

Vor der Kirche, auf der Treppe, einen Holzschemel unter sich, saß eine Zwergin, Rutsch-Anna, ein ältliches Weibchen, dessen Beine so verkrüppelt waren, daß es sich sein Leben lang nur rutschend vorwärts bewegen konnte. – Niemals bat die Alte um ein Almosen. Aber die Hamburger kannten sie und gaben ungebeten. Sie saß dort in Sommer und Winter, immer eine große, weiße Haube auf dem Kopf und ein großes, blitzsauberes Taschentuch in der Hand. Man sagte, dies Tuch spreche seine eigene Sprache. Je nachdem die Alte es hob oder senkte, trete ein Vorübergehender an sie heran, beuge sich und ließe ein Geldstück in die Linke unter dem Tuch gleiten. Wenn er sich aufrichtete, es konnte auch eine »Sie« sein, halte er ein Briefchen in der Hand.

Rutsch-Anna spielte für die Hamburger Jeunesse dorée den Postillion d'amour, ein nutzbringender Posten, so lange die Einrichtung postlagernder Chiffrebriefe noch nicht bestand.

Als Heinecken mit seinem Wagen an der Kirche vorüberfuhr, hob sie den Kopf und reckte den ganzen verkrüppelten Körper. Sie erspähte jede Kleinigkeit. Nichts entging ihr, denn sie hatte Augen wie ein Luchs. Sie sah die weißledernen Handschuhe, den Strauß auf dem Vordersitz, den besonderen Ausdruck in den Zügen. Was bedeutete das? Und warum gönnte er ihr keinen Blick? Er gehörte doch zu den Freigebigen, und Johann hatte oft abspringen müssen, ihr ein Geldstück zu reichen. Und so vor zwanzig Jahren, als seine Eltern noch lebten, ehe er noch die Erste genommen, hatte sie auch ihm hübsche rosa oder violette Briefchen zwischen die Finger geschoben.

»Rutsch-Anna, was ist denn mit Heinecken los?«

Aha, die Demoiselle Wagener vom Stadttheater. Auch eine feine Dame, wenn ihr Vorüberkommen auch nie mehr als zwei Sechsling trug. »Der sah ja aus, als ginge er auf Freiersfüßen.«

»So sah er aus, Mamsell. Fuchba fein ins Zeug! Und die Schmiedestraße ist er runtergefahren und, ich glaub', auch die Brandstwiete. Aber auf wen er da ein Auge hat, da kann ich mir keinen Vers auf machen, Mamsell.«

»Sie weiß doch sonst alles, Rutsch-Anna.« Es klang gereizt.

Die Alte zuckte mit den Schultern und kicherte. »Was die Jungen sind, Mamsell Wagener, die jungen Deerns und Mannsleute, die klönen mich allens vor. Da weiß ich viel, was hier in Hamburg begäng is. Aber so 'ne großen Herren wie Herr Heinecken, oder so 'ne feinen Damens, wie die Theatermamsells, die bin ich viel zu gewöhnlich. Wenn die was um die Fingers haben, denn suchen sie sich feinere Apportendräger, Dieners und Jumfern.«

Kuck an, die Alte konnte auch boshaft sein!

Die Demoiselle Wagener sah hochmütig auf die kleine Person herab, warf ihr einen Schilling in den Schoß und ging ohne Gruß weiter.

Rutsch-Anna lachte ihr nach. »Tjä, mein Deern, hast auch woll dacht, er soll dir da en Thron in sein Haus bauen, weil er dir mal mit auf 'n Wagen gehabt hat! Och, mein Deern, da haben noch ganz ander gesessen und sind auch nich Madame Heinecken geworden.« – – –

Otje Soltau schoß so hastig von seinem Pult hoch und zur Flurtür, daß Ladwig nervös zusammenfuhr. »Soltau, was – ach so.«

Da hielt der elegante Einspänner vor dem Haus. Johann sprang vom Sitz und faßte die Zügel, Heinecken schwang sich, gewandt wie ein Jüngling, nieder, griff den Strauß vom Sitz, sah mit belustigtem Lächeln auf all die neugierigen Gesichter am Kontorfenster und verschwand im Hause. Otje stand und dienerte. »Bitte, bitte. Hier hinten herein. Herr Sprekelsen läßt bitten. In das Kabinett.« Er griff dienstbeflissen nach dem weiten Mantel, den Heinecken von den Schultern gleiten ließ, riß die Tür auf und verkündete: »Herr Sprekelsen, Herr Heinecken kömmt.«

Sorgsam hing er den Mantel an den Haken neben dem Büfett, strich bewundernd über den seidig feinen Stoff, versuchte im leisen und langsamen Vorüberschreiten an der Tür ein bedeutsames Wort zu erhaschen, und kehrte stolz und wichtig in das Kontor zurück.

»Geschäfte sind das nicht, Herr Ladwig. Er hatte Rosen bei sich. Man konnt' es durch das Papier riechen. Mit Rosen macht man doch keine Geschäfte.«

»Ich hab' Sie nicht gefragt«, sagte Herr Ladwig barsch.

* * *

»Daß Sie mich annehmen,« sagte Karl Anton Heinecken, und sah den kleinen Herrn Sprekelsen von seiner Höhe herab mit verbindlicher Liebenswürdigkeit an, »das weckt in mir die schönsten Hoffnungen. Darf ich hoffen, mit meiner Werbung Ihnen und Ihrem sehr verehrten Fräulein Tochter nicht unwillkommen zu sein?«

Sprekelsen konnte es absolut nicht vertragen, wenn große Leute so auf ihn niedersahen. Er war überhaupt ein ungewandter Mann, sobald es nicht um das Geschäft ging. Der elegante Weltmann da vor ihm war ihm äußerst unbequem. Und ausgerechnet so einer sollte sein Schwiegersohn werden.

»Wir wollen uns setzen«, schlug er vor. Im Sitzen kam das Übergewicht des andern nicht so stark zur Geltung. Jedenfalls richtete er sich selber auf seinem Stuhl straff empor.

»Hm, ja, also – es ist mir eine große Ehre gewesen. – Ja – ich muß gestehen – ich habe nicht im entferntesten an etwas Derartiges gedacht. Meine Schwester – meine Tochter – man gab mir nicht den leisesten Wink.«

»Ich würde mir nie erlaubt haben, Ihrem Fräulein Tochter von meinen Empfindungen zu sprechen, ehe ich nicht wußte, ob Ihnen, dem Vater, eine Bewerbung willkommen sei.«

Mit Speck fängt man Mäuse, dachte Sprekelsen, und fühlte doch, wie glatt ihm die höflichen Worte seines Gegenübers hinuntergingen.

»Ich bin mir bewußt,« fuhr Heinecken fort, »daß es eine große Kühnheit ist, wenn ich, der Vierziger, um ein zwanzigjähriges Mädchen werbe. Was ich an äußeren Gütern zu bieten habe, mag nicht unbedeutend sein, aber ich weiß wohl, daß ein junges, rein- und edeldenkendes Mädchen wie Fräulein Adelheid sich nicht durch Äußerlichkeiten blenden läßt. Auch bin ich nicht bescheiden genug, mich mit einem Ja zu begnügen, das lediglich meinem Haus, meinem Namen, meiner Stellung gelten würde. Vielleicht ein unbilliges Verlangen – aber es ist vorhanden.«

Sprekelsen riß es fort. »Ich will Ihnen lieber gleich kurz und klar die Wahrheit sagen, lieber Heinecken. Wenn es nicht wäre, weil mein Kind mit seinem Herzen attachiert ist, ich hätte Ihren Besuch nicht erwartet. Denn gegen ihren Willen würde ich Adelheid nie zu einer Heirat überreden.« Er hatte eigentlich ganz anders und sehr viel geschäftlicher sprechen wollen, aber als ihm dies Geständnis herausgefahren, fühlte er, daß ihm nun nichts mehr übrigblieb, als seinen Segen zu geben.

Heinecken war zu vornehm denkend, seinen Vorteil auszunutzen. »Ich bin außerordentlich glücklich über Ihre Worte, Herr Sprekelsen. Ich brauche Ihnen wohl nicht erst zu versichern, daß es mein aufrichtiges Bemühen sein wird, das Glück zu verdienen, das Sie mir in Aussicht stellen. Als Vater können Sie aber erwarten, daß ich Ihnen zuvor meine Verhältnisse klarlege.«

Da kamen sie denn in das Fahrwasser, in dem Sprekelsen sich zu bewegen wußte. Nach einer kleinen halben Stunde, in der er immer zufriedener geworden, erhob er sich. »Also – alles zwischen uns Männern in Ordnung. Ich will Sie denn nun zu Ihrer – hm – Braut führen. Wir gehen nach oben.«

An der Tür hielt er noch einmal an. »Es ist mir peinlich – aber um alles gleich ein für allemal abzusprechen –«

»Bitte. Wenn ich noch irgend etwas vergaß –«

»Geldsachen sind das nicht. Durchaus nicht. – Aber – mmm – ja. – Sie wissen, Hamburg ist eine große Familie. Und in einer Familie späht jeder dem andern in seine Angelegenheiten. Und – und – na, es wäre mir also sehr lieb, wenn Sie bei Ihren Ausfahrten künftig nicht mit Damen gesehen würden. Es mögen ja sehr nette und anständige Damen sein, wie die Welt aber einmal ist –«

»Ich gebe Ihnen mein Wort, verehrter Schwiegervater, daß künftighin Adelheid meine einzige Begleiterin sein wird. Im übrigen hat man diesen kleinen Harmlosigkeiten eine Bedeutung beigelegt, die sie wirklich nicht verdienen.«

»Mag ja sein. Mag ja sein. Wir wollen nicht mehr davon reden.«

* * *

Oben – Heinecken war von ihm in die beste Stube geführt worden, Mahagoni mit rotem Samt, wo Adelheid wartete – suchte er seine Schwester auf.

»Ja, Anna, das ist schnell gekommen. Er spricht jetzt mit ihr.« Erregtes Streichen über die Glatze. »Weißt du, daß er über anderthalb Millionen hat? Ohne das Haus. – Und läßt gleich für Adelheid hunderttausend Taler sicherstellen. Für alle Fälle. Auf Leben und Sterben. – Bot es mir selber an. Nobel, ümmer nobel! – Es ging mir beinah zu glatt. Ich kann mir nicht helfen, ich hab' immer solch Gefühl: Wenn er nur durchhält. Wenn er als Geschäftsmann nur nicht zu großartig ist. Was er mir da erzählte von seinen Geschäften und Plänen und Aussichten – wunderschön, wunderschön. Aber mir ist, als wenn ich auf Glatteis gehe.«

* * *

Eine Stunde hielt der leichte Wagen vor dem Hause, da kam Karl Anton die Treppe wieder herunter, warf den Staubmantel um und bestieg seinen Sitz.

»Nu führt hei wedder af«, verkündete Otje Soltau.

»Das geht Sie gar nichts an«, sagte Herr Ladwig. »Sind die Briefe für Brasilien fertig? Dann machen Sie, daß die fortkommen. Morgen früh fährt der ›Hermes‹.«

Oben in der besten Stube, vor dem Tisch mit der roten Samtdecke und der Alabasterschale, in der niemals Blumen waren, stand Adelheid und sah auf die dunkelroten Rosen in ihrer Hand.

Nun war sie also Braut.

Braut des stattlichsten, reichsten, begehrtesten Mannes in der Stadt. Braut dessen, den sie längst in der Stille angebetet hatte. – Und doch – es blieb da ein Rest.

Man konnte freilich von einem Heinecken nicht die Glut eines Jünglings verlangen.

Man war ja auch schon bei seinem Handkuß rot geworden, und glühend heiß, als er mit den Lippen die Stirn der Braut berührte. Man war eigentlich förmlich in Angst gewesen, er könnte auch den Mund küssen, was er glücklicherweise nicht tat, und doch –

Tante Anna kam.

Nein, sie kam nicht in die Stube, sie trat ein.

Ihre Stimme saß ganz in der Nase. »Mein geliebtes Kind. Möge des Himmels reichster Segen auf eurem Bunde ruhen. Es ist ein großes Glück, das dir zuteil wird. Erweise dich seiner würdig.«

Auch sie wollte die Stirn küssen. Da machte Adelheid eine leichte Bewegung, und Tante Anna berührte mit den gespitzten Lippen nur noch den Rand des Ohrläppchens.

* * *

Heinecken war zufrieden mit seiner Werbung.

Die Familie war tadellos.

Die junge Braut liebenswert und liebenswürdig.

Zudem war sie Wachs in seiner Hand. Der Menschen- und Frauenkenner hatte es gefühlt in dem leisen Zittern, das unaufhörlich durch sie hinrann, wenn die Finger des Verlobten nur mit ihrer Hand in Berührung kamen. Noch ein ganz unberührtes Geschöpf, noch ein ganz reines, jugendheißes Herz.

Dies junge Kind würde sich ihm in voller Hingabe zu eigen schenken, ohne daß er befürchten mußte, einmal unter zu ungestümem Temperament zu leiden. Denn er wollte, nun bald an die zweite Hälfte der Vierzig heran, leidenschaftliche Überraschungen in seinem Leben nicht mehr haben.

Er schnalzte leicht mit der Zunge. Der Rappe griff schneller aus. Sie fuhren durch die engen Gassen der alten Stadt, so rasch es bei der Menschenmenge, die um die Mittagszeit in Bewegung war, eben ging. Es war noch nicht zwei Uhr, da hielt der Wagen draußen vor dem Lübecker Tor an einem der Landhäuser, die vereinzelt in großen Gärten an der Straße nach Wandsbek lagen. Breit hingebaut, solide, behäbig lagen sie da hinter ihren schmiedeeisernen Gittern, weite Rasenflächen vor der Front, hohe Bäume in den Hintergärten, Rosenrabatten ringsum. Noch waren die Bäume durchsichtig im Laub, und an den hochstämmigen Rosen zeigten sich kaum die ersten Knospen. Aber Narzissen und Terzetten, Hyazinthen und Vergißmeinnicht blühten, die Wege waren sauber geharkt, erste Gänseblümchen zeigten sich im Rasen.

Das Tor der Einfahrt stand offen. Heinecken lenkte vor die seitlich gelegene Haustür und gab Johann die Zügel. »Fahren Sie ein bißchen den Weg nach Wandsbek hin, und seien Sie in einer kleinen Stunde wieder hier.« Dann ging er, seinen Sohn aufsuchen.

Paul Heinecken saß an seinem Schreibtisch und schrieb einen Schulaufsatz säuberlich in Kladde. Er arbeitete in der Kladde ebenso langsam und genau wie in Reinschrift. Jeder Buchstabe stand gerade und ordentlich, wie ausgemessen, neben dem Nachbar. Es war ein Vergnügen für die Augen der Lehrer, die Aufsätze von Paul Heinecken zu lesen. Für ihren Geist war das Vergnügen geringer, denn inhaltlich gab der Schüler nur das wieder, was ihm in der Stunde vom Munde des Lehrers vorgesprochen war. »Eigene Gedanken!« hatte Professor Bubedey mehr als einmal mit roter Tinte unter solchen Aufsatz gesetzt und drei große Ausrufungszeichen dahinter gemacht. Aber Paul Heinecken hatte keine eigenen Gedanken über den Charakter des Leicester in Maria Stuart, und der Schwur auf dem Rütli lag ihm reichlich fern.

Jetzt schrieb er über ein Wort aus der Braut von Messina: »Aber der Krieg hat auch seine Ehre, der Bezwinger des Menschengeschicks.« Er wußte selber, dieser Aufsatz würde mager ausfallen. Was geht einem Hamburger Kaufmannssohn der Krieg an. Seit die Franzosen vor fünfundzwanzig Jahren aus der Stadt gezogen waren, dachte kein Mensch mehr an solche Dinge. Die schleswig-holsteinischen Heißsporne, die davon redeten, daß es über kurz oder lang zu einer Entscheidung der Waffen zwischen ihnen und Dänemark kommen müßte, waren Hitzköpfe, nach denen man nicht hinhörte.

Im übrigen war Hamburg freie Hansestadt, weder mit Dänemark noch mit Holstein alliiert. Es konnte durch eine Parteinahme nur Schaden haben. Aber darüber schrieb man nicht in einem Schulaufsatz.

Paul Heinecken sah auf, denn der schnelle Schritt auf der Treppe sagte ihm, wer käme. Er legte sein Buch in die Schublade. Der Vater hatte eine Art, seine Arbeiten zu kritisieren, die ihm wenig zusagte.

Da stand der schon in der Tür.

»Guten Tag, Paul.«

»Guten Tag, Vater.«

Beide fast von gleicher Größe. Beide fast überschlank. Aber was bei dem Vater rassige Geschmeidigkeit war, war bei dem Sohn ein aus der Kraft Geschossensein. Und wenn die Köpfe ähnliche Linien zeigten, und die Augen das gleiche Blau hinter langen, dunklen Wimpern, so hatten Linien und Blick von Karl Anton ein Leben und Feuer wie bei einem Zwanzigjährigen, und in Pauls Gesicht war eine Zurückhaltung, die schon mehr Unsicherheit war, und wenn er mit Menschen sprach, sahen seine Augen überallhin, nur nicht geradeaus in das Gesicht des Partners.

Ob er anders gewesen wäre, wenn ihn der Vater aufgezogen hätte, statt einer gutherzig ängstlichen Tante? Es lag doch wohl als Erbteil der Mutter in ihm, und das Leben verstärkte nur die angeborenen Anlagen.

»Hast du Zeit?« fragte der Vater. »Mußt du wieder zur Schule?«

»Es ist ja Mittwoch.«

»Richtig. Dann wollen wir uns setzen, ich habe dir etwas mitzuteilen.«

Aber kaum niedersitzend auf dem schwarzen Sofa mit dem Bezug von Wolldamast – sehr solide und sehr langweilig solch Sofa – sprang er schon wieder auf.

»Also mein lieber Junge, ich will keine lange Vorrede machen. Ich heirate wieder. Habe mich verlobt, soeben, und möchte dich heute abend deiner neuen Mutter vorstellen.« Er stockte. »Mutter.« Hm. Es war doch ein eigen Ding, diesem langen Menschen, dem schon der erste Bartanflug keimte, eine zwanzigjährige Mutter zu geben. Unterlassen wir das Wort also lieber.

Paul Heinecken schob die Hände ineinander und sah die Wand an. Warum sollte sein Vater nicht wieder heiraten! Die Menschen wunderten sich ja immer, daß er es nicht längst getan. Aber wie, um alles in der Welt, sollte er sich dabei verhalten? Er wand sich innerlich förmlich vor Unbehagen.

»Wünschst du mir nicht Glück?« fragte der Vater. »Ist dir der Gedanke an eine junge Mutter – ich gebe zu, sie ist noch sehr jung – ist dir der so unangenehm?«

»Nein, nein. Ich gratuliere dir. Ich hoffe, es wird dir viel Glück bringen. – Ja, ich –« Mein Gott, daß ihm in solchen Augenblicken auch gar nichts einfallen wollte!

Karl Anton lächelte. Man mußte den Jungen nehmen, wie er war. Aber daß er, gerade er, solchen unbeholfenen Sohn hatte! Das Leben spielt merkwürdig.

»Ich habe im Hause unserer künftigen Verwandten, des Herrn Sprekelsen, wenn du den Namen kennst –«

»Doch. Sprekelsen und Nottbohm, Reederei.« Ja, in den kaufmännischen Dingen der Heimatstadt wußte er Bescheid.

»Also da habe ich versprochen, dich heute abend mitzubringen. Du sollst dich vorstellen lassen, und ich hoffe, daß du einen guten Eindruck machen wirst.« Pauls Augen hingen schon wieder in irgendeinem Stubenwinkel. »Du holst mich um halb sieben ab. Zieh deinen guten blauen Tuchrock an und die weißen Hosen. Und bring' Fräulein Adelheid, meiner Braut, ein paar sehr schöne Rosen mit. Ich könnte sie dir besorgen, aber du mußt lernen, solche Dinge selber fertigzubringen. – Tante Hanna Beckmann brauchst du nur zu sagen, du wärest heute abend zu mir befohlen. Meine Verlobung wird übermorgen veröffentlicht. Weiß sie es vorher, weiß es ganz Hamburg.«

Er setzte sich nun doch und fragte freundlich: »Wie steht es denn eigentlich mit der Schule? Willst du dich nicht entschließen und zum Herbst abgehen? Bubedey, er ist ja wohl dein Klassenlehrer, lobt deine wissenschaftlichen Fähigkeiten leider nicht übermäßig. Oder möchtest du doch studieren?«

»Mich würde nur Kunstgeschichte interessieren, oder vielleicht Naturwissenschaften. Aber das soll ja zu nichts führen. Und dann müßte ich noch drei Jahre weiter zur Schule gehen.«

»Drei Jahre, wenn du immer versetzt werden wirst. Ich glaube, damit dürfte es hapern.«

Paul kniff den Mund ein und schwieg verärgert.

»Na?« fragte Karl Anton nach einer Weile. »Also, was ist dein Wunsch und Wille?«

»Ja, denn kann ich ja abgehen. Und werd' Kaufmann.«

»Mein Sohn, Kaufmann werden ist nicht solche Sache, daß man es wird, weil man nichts besseres weiß. Dazu steht der Kaufmannsstand denn doch zu hoch.«

Wieder eine Pause. »Ich werde es ganz gern.«

»So. – Gut. – Erwartet hab' ich es übrigens auch. – Ich denke, es wird sich machen lassen, daß du bei Sprekelsen lernst. Es ist ein gutes, solides Haus. Nichts Aufregendes von Geschäften. Das dürfte dir auch kaum liegen. Ladwig, der Prokurist, ist dafür bekannt, daß er seine Lehrlinge scharf an die Leine nimmt.« Ein Lächeln, als er die schlaffe Gestalt des Sohnes musterte. »Er wird dich wohl kaum zu fest halten müssen, ein Durchgänger wirst du nie. Aber ein bißchen aufrappeln tut dir nötig. – Ich will in den nächsten Tagen mal mit meinem künftigen Herrn Schwiegervater sprechen. – Adieu, mein Junge. Sei pünktlich um sechs bei mir.«

An der Tür kehrte er noch einmal um.

»Wenn du dann die Schule verlassen hast, ist es doch das beste, du wohnst künftig bei mir. Die Wege werden auch zu weit für dich in das Geschäft.«

»Ich kann mit dem Wandsbeker Omnibus fahren.«

Karl Anton spürte einen Widerstand. »Nein, du kannst nicht mit dem Omnibus fahren wie bisher zur Schule. Es ist dir gut, wenn du morgens laufen mußt. Und es ist dir noch viel besser, wenn du aus Tante Hannas Verweichlichung herauskommst und nicht immer in deinem Traumwinkel schläfst. Wir werden ein Haus machen, und mein Sohn wird zeigen, daß er den Platz auszufüllen weiß, der ihm durch die Geburt zugefallen ist.« Seine scharfen Augen blitzten den Jungen an. Der zog in Unbehagen die Schultern hoch und wagte doch kein Widerwort.

»Mit der Tante Hanna rede ich selber. Sie ist sehr gut gegen dich gewesen, dagegen läßt sich nichts sagen. Aber ich hätte doch besser getan, dich anderen Händen zu lassen. Ja, da ist nichts mehr zu ändern. Von jetzt an aber hat das stumme Herumhocken ein Ende.«

Paul sah dem Vater nach, wie der durch den Garten der Straße zuging und mit einem kurzen Pfiff den Wagen heranrief.

Die Ankündigung der Verlobung hatte ihn wenig bewegt. Der Vater stand so seitab von seinem Leben, wurde nur hin und wieder unbequem empfunden – warum sollte er nicht wieder heiraten? Aber daß diese Veränderung in sein eigenes Leben einschnitt, daß er aus allen Gewohnheiten, aus der großen Stille und dem Gleichmaß seiner Tage plötzlich herausgerissen werden sollte, das war so peinlich, so widerwärtig – ihm kam eine jähe Abneigung gegen die, die schuld war an dem allen. Wie sie auch sein mochte, die er Mutter nennen sollte – er stellte sich ihr von vornherein mit Abneigung gegenüber. – – –

Heinecken hatte sich kaum an seinen Schreibtisch gesetzt, da kam Johann. »Es ist soeben ein Brief für Herrn Heinecken abgegeben worden.« Der Duft des Umschlags sprach, ehe noch das Federmesser die Oblate gelöst hatte.

 

»Teuerster Freund!

In allen Logen war gestern ein Sturm des Beifalls, als Ihre arme Violetta die »Tochter des Gefangenen« kreieren durfte. Es hätte vollauf genügt, ein anspruchsvolles Herz zu sättigen, aber dies Herz, das auf der Bühne die niedergehenden Rosen und Veilchen an sich pressen und dazu lächeln mußte – dieses Herz kann alle Beifallsstürme opfern – ach, wie gern opfern! – für das liebenswürdige Lächeln des Freundes, das ihr sagt: Du hast Großes geleistet. Du hast mir gefallen. Mir, Deinem Gönner, Deinem – Ach, welcher Name wäre würdig, den zu nennen, der allein mein Leben in seiner Hand hält!

Aber er war fern, für den allein Violetta spielte! Er sah sie nicht. Er hörte nicht die beweglichen Klagen ihrer einsamen Seele. Er sah nicht die Tränen in ihren Augen. Sie waren echt.

Wann werde ich ihn wiedersehen? Wann werden sich meine Sehnsuchtsseufzer in Jubel wandeln? Lassen Sie mich nicht zu lange schmachten. Es ist hart, sich in Sehnsucht zu verzehren.

Immer die Ihre! Violetta.«

 

»Na ja«, sagte Heinecken. »Man muß abrechnen. Reste soll man in ein neues Leben nicht mit hinübernehmen. Johann, ich gehe noch einmal aus.«

Auf den Hohen Bleichen lag ein kleines Juwelengeschäft. Die Auslagen zeigten nichts Auffallendes, aber Herr Bleichmann kannte seine Kundschaft, und hatte für jeden Geschmack in seinen Schränken das Richtige vorrätig.

Heinecken wählte zwei Armreifen.

Der eine, aus dicken Goldplatten gefügt, zeigte ein Schloß von Amethysten, war protzig, mußte daher im Rampenlicht mächtig funkeln und blitzen.

Der zweite, schmal und fein, von rötlichem Dukatengold, trug nur einen einzigen Brillanten als Schmuck, aber dieser Stein repräsentierte ein kleines Vermögen.

Den schmalen Reif steckte der Käufer in die Brusttasche seines Mantels, den zweiten, den er nach kurzem Besinnen auch mit sich nahm, ließ er durch Johann zur Demoiselle Wagener tragen, nachdem er seine Visitenkarte in das Etui gelegt hatte.

Die Demoiselle, als sie den Schmuck sah, stieß einen Schrei der Begeisterung aus, dem unmittelbar ein Wutschrei folgte, denn die Karte trug in der rechten Ecke die Buchstaben: p.p.c.

Es gab eine dramatische Szene höchster Verzweiflung, was aber nicht hinderte, daß dies Armband am Abend von neidischen Kolleginnen auf der Bühne bestaunt wurde. – Freilich, die Heineckensche Loge, der sich die Blicke der Tragödin immer wieder zuwandten, blieb leer, denn Karl Anton feierte in kleinstem Kreise seine Verlobung, legte Adelheid eigenhändig den feinen Reif um den Arm und schob ihr den goldenen Verlobungsring an den Finger. Und wieder küßte er die Stirn, die sich ihm zuneigte. Denn in der Nähe stand Tante Anna und verfolgte jede Bewegung des Brautpaares mit den Blicken, und Heinecken haßte jede Gefühlskundgebung vor neugierigen Augen. Sonst – ihn hätte der junge, weiche Mund wohl reizen können.

Paul überreichte die Rosen, versuchte – auf vorherigen Befehl der Vaters – die Hand der jungen Mutter zu küssen, was total mißlang, und zog sich dann in irgendeine Ecke zurück, aus der man ihn hervorziehen mußte, als es zum Essen ging.

Sprach Adelheid zu ihm, liebenswürdig und freundlich, wie es ihre Art war, so wurde er heiß und verlegen, und es schien ihm mehr eine Qual als eine Auszeichnung.

»Du wirst der Tante Beckmann nichts sagen«, mahnte der Vater noch einmal, als er ihn abends an das Haus brachte. »Es soll erst übermorgen mit den Anzeigen bekanntwerden.«

Aber es kam schon am nächsten Morgen herum.

Da frühstückten Sprekelsen und sein Schwiegersohn in Kölns Austernkeller und tranken dazu einen ganz ausgezeichneten Rüdesheimer. Und Sprekelsen, der sich bereits mit dem Schicksal aussöhnte, und der es gar nicht gewöhnt war, morgens Wein zu genießen, kam in sehr erleuchteter Stimmung an die Börse.

Sein Schwager Averdieck wurde vom Makler Peemöller darauf aufmerksam gemacht, Sprekelsen müsse krank sein. »Denn, Herr Averdieck, er hat mir schon zweimal eine falsche Auskunft über die Schiffe nach Havre gegeben. Zweimal, Herr Averdieck! So was ist ihm im Leben noch nicht passiert. Und er hat so heiße Augen, als wenn er im Fieber wäre.«

»Bist du krank?« fragte Konrad Averdieck und kam von hinten an den Schwager heran.

Sprekelsen wandte sich um. »Warum soll ich krank sein?«

Da ging ein sanfter Dunst von ihm aus, den Averdieck an diesem Orte und an diesem Manne im Leben nicht erwartet hatte.

»Amadeus – hast du –?« Seine Augen fragten.

»Na ja, ich hab' auch mal bei Köln gefrühstückt. Ist das Sünde? Verlobst du alle Tage eine Tochter? Und ich kann dir sagen, Heinecken hat eine verflucht gute Weinkenntnis.«

»Heißt das: Heinecken und deine Adelheid?«

»Eine andre Tochter hab' ich ja nicht.«

Makler Peemöller, der sich in der Nähe gehalten, spitzte die Ohren, und dann lief es zwischen dem Auf und ab der Kurse, zwischen Schiffslisten und Börsenzetteln, zwischen Korn- und Warenproben durch die Börse:

»Heinecken hat sich mit Adelheid Sprekelsen verlobt, und Sprekelsen hat zum erstenmal in seinem Leben einen kleinen Schwips.«

Die Herren trugen es heim zu den Gattinnen, und nach drei Stunden wußte es die ganze Stadt, denn damals war Hamburg noch eine einzige große Familie.

Sie feierten eine große Verlobungsfete in der Reichenstraße. Alles war da, was zur Verwandtschaft und Freundschaft des Hauses zählte.

Tania Anna näselte entsetzlich, Sprekelsen schwankte zwischen Stolz und Wehmut, nur die junge Braut war ganz unverändert in ihrer ruhigen Liebenswürdigkeit. Sie wunderte sich selber, daß ihr innerstes Wesen so wenig Veränderung erfuhr. Immer war ihr, als müsse das Eigentliche, das Wesentliche erst kommen, immer noch stand etwas zwischen ihr und dem Verlobten wie eine unsichtbare Glaswand.

Wie nach Tisch die Herren auf der Galerie ihre Zigarren rauchten, stand sie zwischen zwei Kusinen, und Maria Averdieck sagte enthusiastisch: »Du bist zu beneiden, Heide, du bekommst den ersten Mann Hamburgs.«

Aber ihre Schwester Elise, ein stilles, blondes Mädchen, das allen Dingen auf den tiefsten Grund ging, und sie unter göttlichen Rat stellte, wiegte ernsthaft den Kopf.

»Du bist nicht so mit meiner Wahl einverstanden?«

»Ach, meine Heide, ich gönne dir von Herzen das beste und schönste, aber ist Heinecken der Mann, dein Leben zu führen? Kann nicht deine Seele Schaden erleiden neben ihm? Verzeih, ich will dich nicht kränken –«

»Das weiß ich, aber ich weiß auch, daß du solche Worte nicht ohne Grund redest. Warum plinkst du ihr zu, Marie? Doch, ich sah es. Ihr habt etwas gegen Karl Anton. Heraus damit.«

»Es ist nur –sagte Marie zögernd, »wir hörten, er sei sehr Weltmann. Was man so nennt. Nämlich –« Wieder ein Stocken. Dann ein kühner Entschluß: »Weil er doch mit den Herrschaften vom Theater verkehrt.«

»Ist das Sünde?«

»Sünde? – Nein, natürlich nicht. Aber siehst du, ihr Leben ist ein Leben des Scheins, nicht des Seins. Und mit der Demoiselle Wagener fährt er spazieren.«

Irgend etwas tat weh drinnen im Herzen. Adelheid ließ es sich nicht merken. »Was Karl Anton tut, wird schon richtig sein. Oder habt ihr schlechtes über die Dame gehört?«

»O nein, gewiß nicht.«

»Also dann –« sie lachte, und dann gingen alle drei über die Galerie, wo Sprekelsen, Averdieck und Heinecken neben den Oleandern standen und ihre Importen rauchten. Sie waren angeregt und heiter.

»Sieh da,« rief Vater Averdieck, »die holde Jugend, verkörpert in den drei Grazien. Kommt heran, Kinder.«

Er zog seine Elise an sich, sie blieben alle drei stehen. Und mit schnellem Entschluß schob Adelheid die Hand in den Arm des Verlobten und schmiegte ihr Gesicht an seine Schulter, denn weiter reichte sie nicht. Er spürte die warme, junge Wange durch das Tuch und – die Zigarre auf den Kübel werfend – legte die Rechte auf ihre Hand, zog die Braut fort von den andern zum Fenster der Galerie, wo man hinabsah in den Hof, und fragte zärtlich: »Ist dir dieser Tag ein Tag des Glücks in deinem Leben, meine liebe Adelheid? Glaubst du wirklich, daß du mir mit Freuden in mein Heim folgen kannst? Wir haben noch so wenig Gelegenheit gehabt, uns allein zu sprechen, du konntest mich noch so wenig kennenlernen – wird nicht einmal eine Enttäuschung folgen?«

Die Veilchenaugen sahen ihn groß und ernst an. »Ich habe so viel über dich gehört, Karl Anton, schon seit Jahren, ich glaube, ich kenne dich besser, als du denkst. Vielleicht besser, als du mich.«

Er lachte leise. War solch kleines Mädchen nicht durchsichtig wie Glas? Da konnte man kaum vom Kennenlernen sprechen.

»Ich bin gewiß sehr unbedeutend, ein dummes Ding gegen dich«, fuhr Adelheid fort. »Ich habe nicht viel gelernt und von der Welt nichts gesehen. Und was ich so in mir gedacht habe, mag ganz falsch sein. Aber ich will versuchen, mich in dich und dein Leben hineinzufinden, so daß ich alles begreifen kann, was du willst, und was du vorhast. Vater hat davon gesprochen, und andere auch. Ich möchte wohl, du erlaubtest mir, dir so ein bißchen etwas wie ein Kamerad zu werden.«

Und wieder lächelte der Mann. Daß doch die Frauen immer nicht begreifen können, wozu sie auf der Welt sind. Kleine, reizende Singvögel. Gute Hausmütter, feinstes Spielzeug. Je nach ihrem Vermögen und ihren Anlagen. Daß sie immer meinen, der Mann könne mehr wünschen, und sie könnten mehr geben als das.

»Du bist ein süßes Wesen, meine Adelheid«, flüsterte er in ihr Ohr. »So wie du bist, bist du unendlich anziehend, und ich fürchte, du wirst mich noch einmal beherrschen wie Omphale den Herkules.« Im Schutz der Oleander zog er sie fest in die Arme und küßte wieder und wieder den jungen Mund. – Adelheid spürte zum erstenmal das Aufflammen der Leidenschaft in dem Verlobten, wurde sich bewußt, daß sie Macht gewinnen könnte über ihn und war doch unbefriedigt von dem Erfolg ihrer Worte.

* * *

Sie heirateten schon im August, denn Heinecken behauptete, für einen längeren Brautstand zu alt zu sein. Und Adelheid war es recht so. Vielleicht, wenn sie erst Mann und Frau waren, schwand dies Trennende, dies Fremde, das noch immer zwischen ihnen stand.

Zu selten waren sie allein. Heinecken hatte wenig freie Stunden, die Zeit, die ihm das Geschäft nicht nahm, nahmen ihm seine Ehrenämter. War er aber mit der jungen Braut zusammen, so gab es Besuche, Gesellschaften, Theater, Konzerte, zu einer ruhigen Aussprache kamen sie nie. Sie wären gern einmal allein gewesen. Adelheid war der ganze Trubel unlieb, und in Heinecken erwachte eine immer stärkere Verliebtheit für das reizende Mädchen. Aber Tante Anna duldete auch im Hause kein Tete-a-Tete. Bis eines Tages Adelheid ruhig, aber bestimmt äußerte, sie würde am nächsten Tage mit dem Verlobten in seinem leichten Wagen eine Ausfahrt nach Wandsbek machen. Sie wollte einmal das Wandsbeker Gehölz im jungen Grün sehen, und da Johann hinten auf dem Wagen säße, wären sie ja auch nicht allein. Madame Hellwig war in schwerer Sorge. Konnte das angehen? Aber Sprekelsen entschied, dies eine Mal könnten sie mit Johann fahren. Als man Heinecken zum Schwiegersohn nahm, hätte man darauf gefaßt sein müssen, nicht in allen Dingen den gewohnten Weg zu gehen.

Es wurde verabredet, daß Karl Anton am nächsten Mittag die Braut bei Mamsell Schröder am Neuen Wall abholen sollte, wo sie mit der Tante Aussteuerangelegenheiten besprach.

Pünktlich zehn Minuten vor zwei hielt das Kabriolet vor dem Hause der Weißnäherin. Die Nähmädchen stürzten alle an die Fenster. Mein Gott, wie vornehm. – Wenn ihnen auch solch Glück zuteil wurde! – Aber es war immer nur so in den Romanen, daß die vornehmen Herren ausgerechnet die Nähmädchen heirateten. Es war Schicksal, daß die einen köstliche Wäsche und entzückende Kleider bekamen, und die andern von all der Schönheit nur zerstochene Finger und müde Rücken davontrugen. Und sie sahen zu, wie Adelheid Sprekelsen aus dem Hause trat, wie Heinecken – »ein himmlischer Mensch, nich, Jette?« – sie fast hinaufhob auf den Sitz und dann an die andere Wagenseite ging, auch seinerseits aufzusteigen.

In eben diesem Augenblick kam die Demoiselle Wagener mit ihrer Freundin, Demoiselle Krüger, der Naiven, den Alten Wall herunter und verhielt wie unwillkürlich den Schritt.

»Ah, Herr Heinecken! Sieht man Sie auch einmal. Da kann ich doch meinen herzlichsten Glückwunsch aussprechen. Ihnen und Ihrem Fräulein Braut.«

Adelheid neigte den Kopf und sah ihren Verlobten an. Er mußte die Damen miteinander bekanntmachen, es ging nicht gut anders.

»Wir sind einander wohl nicht mehr fremd«, lächelte die Wagener zu Adelheid hinauf. »Ich sah Sie schon letzten Winter verschiedentlich im Theater, Fräulein Sprekelsen. Und ich sah einmal, ich gab die Maria Stuart, Tränen in diesen schönen Augen. Das war an jenem Abend mein größter und mich beglückendster Erfolg.«

»Sie hatten mich tief bewegt, Fräulein Wagener. Ich danke Ihnen noch in der Erinnerung für jene Stunden.«

»Möchten Ihnen nie Tränen fließen, Fräulein Sprekelsen, die bitterer brennen. – Aber Satan, wie schnaubst du denn? Bist du noch immer so ungeduldig, du wildes Tier? – Er hätte mich einmal fast um das Leben gebracht, Fräulein Sprekelsen. Ich fuhr mit Herrn Heinecken nach Reinbek hinaus – den Weg muß er Sie auch einmal fahren – und Satan scheute vor einem aufgeregten Huhn, das durchaus zwischen seine Füße rennen wollte. Es wäre nie gut gegangen, wenn Herr Heinecken nicht Muskeln von Stahl besäße. So kamen wir noch mit dem Leben davon. Aber der Schreck lag mir drei Tage in den Gliedern. Seitdem konnte ich mich nicht entschließen, diesen Wagen wieder zu besteigen.«

Eine kleine Kunstpause. »Ich hoffe, es ist Ihnen nicht unlieb, daß auch ich Gelegenheit hatte, die Fahrkunst Ihres Herrn Bräutigams zu bewundern.«

Mit vollkommener Haltung entgegnete die junge Braut: »Aber gewiß nicht. Ich weiß, wie mein Verlobter das Theater und die Künstler bewundert. Ich kann viel von ihm lernen in allen Dingen der Kunst. Und wenn er seinen Dank auf solche Weise denen zum Ausdruck brachte, die ihm schöne Stunden bereiteten, tat er, was alle tun sollten, die im Theater unseren großen Dichtern nahe treten dürfen.«

»Sie haben eine vornehme Auffassung von Dingen und Menschen, Fräulein Sprekelsen. Au revoir.«

Die beiden Schauspielerinnen schritten weiter, Heinecken gab dem ungeduldigen Pferd die Zügel frei, und das stob die Straße hin, so schnell es die herrische Hand des Lenkers duldete.

Wohl eine Viertelstunde wurden nur vereinzelte Worte gewechselt. In den belebten Straßen hatte Heinecken genug mit dem Tier zu tun, und Adelheid sah nach allen Seiten über die Menschen hin und erwiderte mit Lächeln die vielen Grüße der Bekannten.

Erst als sie nach Hamm hinauslenkten und auf weiten Umwegen zwischen den dichten grünen Reddern Wandsbek zufuhren, als der tiefe Sand der Landwege Satans Feuer ermüdete, kamen sie in ein Gespräch. Doch Johanns schweigsame Anwesenheit auf dem Rücksitz ließ sie an den Äußerlichkeiten des Tages bleiben.

Erst im Wandsbeker Gehölz, wo die schmalen, stillen Wege zum Absteigen und Wandern lockten, wurde das anders. Johann bekam Order, langsam zum alten Posthaus zu lenken und dort das Tier einzustellen, bis die Herrschaften nachkommen würden.

Dann gingen die beiden Menschen, zum erstenmal in ungestörtem Alleinsein, hinein in das Holz. Die Buchen des Unterholzes waren so dicht begrünt, daß man den Weg nur wenige Schritte weit übersehen konnte. Er zog sich in Schlängellinien. Ein winziges Wässerlein, das nebenher floß, war von dem Kraut der Anemonen und wilden Veilchen umstanden, plätscherte über jeden Kiesel und hatte es sehr eilig und sehr wichtig.

In den Kronen gurrten Wildtauben, und ein Eichhörnchen schoß an den schlanken Stämmen in die Höhe. Menschen waren nicht zu sehen, denn an Wochentagen geht der Hamburger nicht draußen spazieren. Es mußte Sonntag sein und Tanzmusik in Jüthorn, um die Menschenmassen hinauszulocken in das kleine waldumschlossene Landstädtchen.

Adelheid sah mit stillen Augen um sich her. Das war schön! Das war Frieden und süße Heimlichkeit. Wenn nur nicht da drinnen das Herz so dumm gestoßen hätte. – Man mußte darüber kommen. Natürlich mußte man das. Man war ja nicht so dumm, wie Vater und Tante dachten und anscheinend auch der Verlobte. Man wußte vom Leben, man ahnte noch mehr, als man wußte. Und man trug in der Stille nicht leicht um dies Wissen.

»Wie sanft und rein ihre Züge sind«, dachte der Mann, der – die Hand der Braut leicht tändelnd – sie von der Seite beobachtete. »Wie ahnungslos sie allem gegenübersteht, was Leben heißt. Fast ist es Sünde, sie so ahnungslos zu lassen. Aber wenn sie manches wüßte – – junge Mädchen wollen geschont sein.«

Er konnte es trotzdem nicht lassen, den Namen zu nennen, der ihnen beiden durch die Gedanken ging.

»Die Demoiselle Wagener machte aus einer kleinen Unruhe des Satans vorhin eine lebensgefährliche Aktion. Vielleicht hast du künftig Furcht, wenn wir mit dem Tier fahren.«

»O nein. Ich habe weiter keine Furcht. Ich denke, die Demoiselle und so – – – ich meine – das ist abgetan.«

»Adelheid!« Heinecken stand still. Es hatte ihm einen Ruck gegeben. »Wie meinst du das?«

Sie sah zu ihm auf. Etwas Dunkles war in den Augen, doch der Blick klar und fest. »Du weißt schon, wie ich das meine.«

»Die Menschen haben dir etwas zugetragen?«

»Ja, die Menschen. Gute und schlechte. Aber das ist ja alles vorüber.«

»Ja, selbstverständlich ist das alles vorüber. Wir Männer haben in unserem Leben alle unruhige, leichtsinnige Tage –«

»Ich weiß wohl. Du hättest aber nicht um mich geworben, wenn das nicht abgetan wäre.« Ein felsenfestes Vertrauen sprach aus Wort und Blick. Dem reifen Manne war zumut, als sehe er zum erstenmal tief in eine reine Mädchenseele. Sie hatte das gewußt, und hatte – das junge Ding – nicht mit einer Wimper gezuckt, als sie vorhin der andern gegenüberstand. Und hatte geantwortet, so höflich und beherrscht, wie es mancher reifen Frau nicht möglich gewesen wäre!

Es kam ihm, daß sie recht gehabt haben mochte, als sie sagte, da hinter den Oleandern: »Ich kenne dich vielleicht besser als du mich.«

»Ich wußte, daß ich mir einen Schatz errang, als du mir dein Jawort gabst, mein geliebtes Mädchen. Aber wie groß der Schatz ist, das erkenne ich jetzt erst. Jetzt wollte ich, ich wäre zwanzig Jahre jünger, und das Leben läge noch ungelebt und ohne Staub und Flecken vor mir, daß wir zusammen seinen ganzen Weg gehen könnten.«

»Sei nur zufrieden, wie es ist. Daß du, der so viele gekannt hat und der die Wahl hatte zwischen allen hier in der Stadt und draußen, daß du mich haben willst, mich junges, dummes Ding, und daß du mich lieb hast, das ist wie eine Krone, die du mir gibst. Ob wir noch zehn Jahre zusammen leben oder dreißig oder vierzig – das Leben hat mir das Höchste gegeben.«

Langsam gingen sie die Wege hin, sein Arm um ihre Schulter, ihr Kopf zu ihm geneigt, bisweilen fiel ein leises Liebeswort, bisweilen standen sie und sahen sich in die Augen, und die Lippen suchten einander, und um sie her war Sommersonne und Waldeinsamkeit und heiliger Frieden.

»Heute beginnt mein Glück«, sagte das Mädchen einmal leise.

»Heute erst?«

»Das andere war alles noch wie ein Warten. Zwischen uns stand eine Glaswand, die ist nun gefallen.«

»Ich will sorgen, daß sie nie wieder aufwächst.«

»Und wirst du mich auch teilnehmen lassen an deinen Plänen und Geschäften?«

»Muß auch das sein?«

»Sonst gehörst du mir nicht ganz.«

»Es sind oft sehr langweilige Dinge.«

»Was du planst, ist nie langweilig. Die andern – die verstehen dich nur nicht.« Heinecken lachte. – »Du kannst gern lachen. Ich hab' es doch gehört, wie Onkel Averdieck und Papa davon sprachen, daß du und Doktor Sieveking wolltet, wir Hamburger sollten ferne Inseln erwerben – wart' nur, ich weiß auch den Namen – ja, die Chathamsinseln, und dann würden wir erst als Handelsstadt die richtige Bedeutung bekommen.«

»Sie lachten, als sie darüber sprachen, nicht?«

»Nein, sie lachten nicht, aber sie schüttelten den Kopf. Sie sagten, ihr zwei, Ihr wäret von denen, denen die Heimat zu eng wäre, und ihr wolltet Hamburg mit Gewalt ein neues Kleid schaffen, das ihm zu groß sein würde.«

»Es hat, so lange Hamburg steht, hier immer zwei Parteien gegeben. Die eine, die nur erhalten will, die andere, die vorwärts drängt. Die eine sagt: So war es von alters her, und wir sind gut dabei gefahren – die andere ruft: Neues, neues. Das Alte überlebt sich, wir wollen auf dem Alten neue Burgen bauen. – Und da kommt es zu Reibereien, bis das Neue sich sieghaft durchgesetzt hat. Denn waren wir nie vorwärts gegangen, Hamburg wäre längst versumpft.«

»Du bist von denen, die vorwärts gehen. – Und der Vater steht auf dem Alten. – Sie sagten damals auch –« Ein Stocken.

»Sprich offen aus, was sie sagten. Es interessiert mich, es kränkt mich nicht.«

»Es war Onkel Averdieck. Er sagte, du wolltest ein Welthaus bauen. So wie die Häuser in London wären und in Paris, und wie sie früher vielleicht auch oft hier gewesen wären. Wie es bei uns noch die Jänisch sind, und Godeffroys und Schröders. Aber das sei ein waghalsiges Unternehmen.«

»Und wenn es gelingt, dann hab' ich es nicht für mich gebaut, sondern ebenso gut für die Heimat. Denn das ist Hamburgs Stolz und Glück, daß alles Schaffen des Einzelnen im ganzen begründet ist und dem Ganzen dient. Je mehr große Häuser, um so mehr Waren, je mehr Waren, um so mehr Schiffe. Aber wir müssen alle Schiffe selber bauen hier an der Elbe. Und wir müssen uns große Kais anlegen, wie sie London hat, und unsere Firmen müssen ihre Vertreter im Ausland haben in eigenen Stationen – wir müssen wieder werden, was wir vor Jahrhunderten waren, Mitherrscher auf dem Weltmarkt, nicht nur geduldete und heimlich gestoßene Arbeiter. Ich bin zu lange draußen gewesen, um mich begnügen zu können. Ich sah, wie man drüben vor England den Hut zieht und den Rücken krümmt, und sah auch, wie man den Deutschen als lästigen Eindringling ansah. Und doch hat England erst durch uns gelernt, seinen Markt zu gründen und seine Schiffe zu bauen.« – Er hatte sich heiß gesprochen, stand wieder still, nahm den Hut ab, wischte die Stirn, in die das dicke, lockige Haar hineinfiel und sprang ab. »Das ist alles etwas für die Winterabende, wenn ich vom Geschäft komme. Jetzt wollen wir den schönen Tag genießen. Drüben sieht das alte Posthaus schon durch die Bäume, Wir müssen zurückfahren. Aber wir machen noch einen Umweg über die Brücke an der Holzmühle und nachher fahren wir über Wendemut, da stehen die schönsten Pappeln in der ganzen Umgegend.« »Wie du willst.« – Und es sang in Adelheids Brust: Wieder ein Stück näher zueinander gekommen.

* * *

Die Leute, die von dieser jungen Ehe etwas ganz Besonderes erwartet hatten, kamen nicht auf ihre Kosten.

Heineckens lebten die ersten sechs Wochen still für sich, machten dann die notwendigen Besuche und nahmen, als der Winter kam, am gesellschaftlichen Leben teil, ohne über den üblichen Rahmen hinauszugehen.

Aber Sprekelsen traute seinem Schwiegersohn doch nicht. »Wenn er nur nicht immer diese weltstürmenden Ideen hätte«, sagte er zu seiner Schwester. »Nun wieder die Farbholzmühle da in Wandsbek, fünfzigtausend Taler hat er da hineingesteckt, sagt Peemöller. Und wie ich ihn darauf anspreche, macht er so seine großartige Handbewegung: Bester Schwiegervater – eine ganz einfache Sache.«

»Er hat ja anderthalb –«

»Millionen. Weiß ich. Wenn er sie verpulvert hat, hat er gar nichts. Na, ich hab' ihn nun mal als Schwiegersohn und kann ihn nicht wieder abschaffen.« Sprekelsen lief zur Börse und ärgerte sich über Peemöller, der ihn gleich stellte. »Wissen Sie schon? Ihr Schwiegersohn hat für die Eisenbahn nach Berlin über Hagenow vierzigtausend Taler gezeichnet.«

»Hagenow? Hab' ich im Leben nichts von gehört.«

»Ist ein mecklenburgsches Nest. Wird aber jetzt Knotenpunkt für die Bahn.«

»Ja, ja. Muß jetzt alles mit Dampf gehen. Passen Sie mal auf, Peemöller, diese ganze Dampfgeschichte, die geht noch mal in die Luft.«

Er brummte und murrte, und Makler Peemöller lies weiter und erzählte überall: »Sprekelsen kann sich wieder mal nicht in die Zeit finden. Na, der wird an seinem Schwiegersohn noch das blaue Wunder erleben.« Und Hamburg freute sich.

Heinecken ließ den Alten murren. Das war so ein kleines Opfer an die Schicksalsgötter für all das Glück, das sie ihm gegeben. Solch Glück hatte er nicht erwartet, als er um Adelheid warb. Von Tag zu Tag stieg seine Liebe für die junge Frau, denn aus der leidenschaftlichen Verliebtheit, die in den letzten Wochen des Brautstandes erwachsen war, wurde eine tiefe Herzensliebe. –

Und wie sie es verstand, den Jungen zu nehmen! Am ersten Oktober war Paul als jüngster Lehrling bei Sprekelsen eingetreten. Drei Tage vorher siedelte er in das väterliche Haus über. Adelheid hatte es einzurichten gewußt, daß Paul seinen Einzug um die Mittagszeit hielt, als Heinecken auf der Börse war.

Wie er in das Haus kam, trat sie ihm schon auf dem Flur entgegen. »Willkommen, Paul. Ich bringe dich selber in deine Zimmer. Du mußt mir doch sagen, wie sie dir gefallen.«

»Danke«, sagte er steif.

Sie gingen zwei Treppen hinauf, und dann sagte Adelheid: »Es sind die Stuben, in denen dein Vater früher seine Sammlungen untergebracht hatte. Wir haben sie in die Hofstuben verbannt. Ich dachte mir, du hättest doch gern den Blick auf die Alster.« Sie stieß die Tür zu einem der Vorderzimmer auf. Der Blick flog weit hinaus über die Wasserfläche hin bis zur Außenalster, auf der einige Segelboote durch die Flut strichen, und weiter zu den grünen Wiesen und Baumgruppen der fernen Ufer.

»Sieh,« sagte sie herzlich, »ist es nicht schön hier oben? Und du bist hier ganz dein eigener Herr. Wenn wir dir unten zu unruhig sind, kannst du in dein Tuskulum flüchten, und niemand stört dich. Wir müssen doch Freunde werden,« fuhr Adelheid fort, »wir zwei müssen doch zusammenhalten, meinst du nicht? Aber dann mußt du mich auch ansehen und anreden. Bis jetzt siehst du immer von mir fort, und wenn wir miteinander sprechen, weißt du nicht, wie du mich nennen willst.«

Paul wurde noch unsicherer. Er konnte ihr doch nicht sagen, daß der Name »Mutter« ihm nicht über die Lippen wollte. Er fürchtete auch den Zorn des Vaters, denn der Vater war ihm immer ein Gegenstand der Furcht. Da sprach sie schon aus, was er dachte:

»Ich glaube, dein Vater hat es nicht ganz richtig angefangen, als er uns zusammenbrachte. Er sagte: Sieh mal, das ist nun deine Mutter. – Und weißt du, Paul, ich bekam einen nicht geringen Schreck, denn wie soll ich wohl solchem großen Menschen Mutter sein? Und wie kannst du mir wohl den Namen geben, den für jeden Menschen doch nur ein Mensch tragen kann? Du hast deine Mutter verloren, als du ein ganz kleiner Kerl warst. Du kannst dich an sie nicht erinnern. Aber du hast dir sicher ein Bild von ihr gemacht, und hast das in stillen Stunden mit diesem Namen gerufen. Mir kannst du das ruhig sagen, denn mir ist es gerade so gegangen. Ich hätte auch niemand anders Mutter nennen mögen. Und am wenigsten solch grünes Ding, wie ich selber bin. Ich bin ja kaum vier Jahre älter als du. Darum wollen wir das ein für allemal unter uns abmachen. Du nennst mich einfach mit Vornamen. Das ist das beste und natürlichste. Und damit du doch etwas vor den andern Leuten voraus hast, die mich Adelheid rufen, sollst du mich so nennen, wie meine Freundinnen es tun. Die rufen mich Heide. Denn das habe ich mir fest vorgenommen, Freunde müssen wir werden, und was ich mir vornehme, das setze ich durch. Bist du damit zufrieden?«

Ein tiefes Atemholen. »Ja, Heide.«

Singend ging sie die Treppe nieder. Sie hatte einen Sieg errungen, den sie nicht gering anschlug.

»Sie haben Ihren Platz da am Fenster neben der letzten Tür, Heinecken«, sagte Herr Ladwig am ersten Morgen, als Paul in das Kontor kam. »Es hat hier alles seine Ordnung und seinen genauen Gang. Sie haben im ersten Monat die Post zu holen, zu ordnen, mir vorzulegen, die Briefe, die ich Ihnen übergebe, in Herrn Sprekelsens Kontor zu tragen, die Tintenfässer in Ordnung zu halten, Gänge zu tun, und, wenn es sich macht, Eintragungen in die erste Kladde zu machen. Sie werden sich, wenn man Ihnen sonst nichts auftrug, mit den Schiffslisten beschäftigen, die Namen der Schiffe und ihre Routen sich einprägen – – Was grinsen Sie, Soltau? Ihnen hätte es nichts geschadet, wenn Sie sich mehr um Ihre Arbeit kümmerten. Sie sind flüchtig und haben Dummheiten im Kopf.«

Paul Heinecken hatte keine Dummheiten im Kopf, und was ihm aufgetragen wurde, und wenn es nur das Füllen der Tintenfässer war, das erledigte er mit peinlichster Sorgfalt. Nie lag ein Papierfetzen unter seinem Pult, nie auch nur ein Federhalter schief auf der Platte. Schnell war er nicht, aber exakt.

»Exakt, Herr Sprekelsen,« sagte Ladwig, »so exakt, wie wir noch keinen hatten. Schreibt auch eine saubere Hand. Man kann ihn schon Briefe kopieren lassen. Rechnen auch gut … Langsam, aber fehlerlos. Der wird, Herr Sprekelsen.«

»Nie genial, Ladwig.«

»Nicht die Spur, nicht die Spur. Was tu ich mit einem genialen Lehrling. Sowas hat eigene Gedanken und treibt Unfug. Gestern hat der Soltau dem Emil, dem Kater, einen Papierhelm aufgesetzt, festgebunden, und ihm eine rote Schabracke von Löschpapier umgebunden. So saß das Vieh vor der Tür, und Piepenreimers stand davor, wollt' sich totlachen und schrie den Leuten zu: Sprekelsens Kater hätt' das als Auszeichnung bekommen, weil er keine Mäuse fangen könnt'! Er wär' zu fett dazu.« Der alte Herr war ganz gelb vor Galle. »Ich war am Hafen und Herr Sprekelsen war ja an der Börse, und Madame Hellwig war wohl ausgegangen, und als ich wiederkam, standen die Menschen und juchzten, und Emil hatt' sich auf das Sims überm Fenster geflüchtet und mauzte von da herunter. Ich wußt' es ja gleich, wer das angestiftet hatte. Nein, Herr Sprekelsen, vor solchem Unfug sind wir bei Heinecken sicher.«

»Und sieht doch seinem Vater sehr ähnlich.«

»Äußerlich, Herr Sprekelsen, nur äußerlich. Glauben Sie mir, ich hab' doch Erfahrung mit den Stiften, der wird.«

Sie waren miteinander zufrieden, der Prokurist und der Lehrling. Paul gefiel das Gleichmaß der Arbeit, die genaue Regelung dieses Lebens, das vom ersten zum letzten Glockenschlag in gewiesenen Bahnen lief, und wenn Otje Soltau ihm allerlei kleine Streiche spielte, um ihn ein bißchen für die Welt zu erziehen, so nahm er das als unvermeidliche Beigabe hin und lächelte dazu, wie erwachsene Leute über kleine Kinder lächeln.

Er war zufrieden in Sprekelsens Kontor, und sein Vater ließ ihn gehen. Er mußte sich darin finden, daß dieser Sohn nicht der Erbe seiner Gedanken sein würde, aber vielleicht schenkte ihm Adelheid einen zweiten, der mehr nach dem Vater artete. Aussicht war vorhanden. Doch als das Jahr um war, und das Kind erschien, war es eine Tochter. Auch gut. Sie konnten noch eine ganze Kinderreihe um sich sehen. Zunächst war das kleine Ding da in der Wiege ein ganz reizendes Spielzeug.

»Es ist Unsinn, zu sagen, ich sei deine größte Liebe«, neckte Adelheid. »Brigittchen ist es. So siehst du mich nie an wie das Kind.«

»Verleumdung! Verleumdung! Weil Brigittchen dein Abbild ist, liebe ich sie so. Weil sie schon ebenso lächelt wie du, meine dunkle Madonna.«

Sie hielt ihm den Mund zu. »Das laß niemand hören. Sie spitzen schon auf unsere Turteltaubenehe. – Mach, es ist Zeit für das Kontor. Paul ist schon seit einer Stunde fort.«

Heinecken ging und summte sich ganz jugendlich und leichtfertig ein Lied dazu. Der helle Oktobermorgen, der die ganzen Alsterufer in seine Herbstpracht hüllte, behagte ihm ausnehmend. Wenn es wieder Frühling wurde, hatten sie draußen in Hamm ein Landhaus mit großem Garten und kiesbestreuten Wegen. In acht Tagen, wenn man taufte, sollte das sein Geschenk für Adelheid sein.

Wie sie strahlen würde! Wie sie schelten würde! Richtig jung wurde man, wenn man sie jubeln hörte. –

Und dann war Taufe.

Draußen war ein leichter Reif gefallen, obgleich man erst den zehnten November schrieb. Der Winter schickte einen kleinen Vorboten. Als frischer Junge kam der aus Norden gesaust, hatte sich bei der Fahrt über die See Salzschaum und Nebeldunst in seine Wolkensäcke gesammelt und streute die leichte Beute über Hamburgs Gassen und Gärten aus, blies darüber hin und hatte in einem kleinen Stündchen die alte, ehrwürdige Stadt mit einem ganz leichtfertigen, weißen Spitzenschmuck überrieselt.

Die Alster lag strahlend blau unter dem kalten Blau des Himmels. Ihre Schwäne hatten das Gefieder aufgeplustert und zogen weite Kreise am Ufer hin. Ein paar Jungen warfen Brotbrocken. Die stolzen Tiere bogen tauchend die Köpfe und ließen die Wassertropfen niederrieseln über Hals und Rücken.

Adelheid stand am Fenster ihres Ankleidezimmers, dicht neben der Wiege des Kindes, sah hinaus und fühlte sich eins mit dem Licht und der Schönheit und all der herben Frische in der Welt.

Elise, hinter ihr stehend, hakte das gestickte Tüllkleid zu. Elise war seit drei Tagen im Hause, die kleine Prinzeß zu betreuen, denn eine Amme wollte Adelheid nicht.

»Wo doch jetzt jede junge Frau eine hält«, sagte Tante Anna. »Wie gebunden bist du, wenn du selber nährst. Es ist wirklich nicht mehr Sitte.«

»Aber Sittlichkeit«, sagte Adelheid, und Tante Anna klagte:

»Zu merkwürdige Ansichten hast du. Als wenn das nicht dasselbe wäre.«

Heinecken kam eben in das Ankleidezimmer, als Elise den letzten Haken schloß. Seine Augen leuchteten auf beim Anblick der mädchenhaften Gestalt vor dem Spiegel. Die Mutterschaft hatte der jungen Frau nur eine noch größere Lieblichkeit gegeben. Ein wenig zarter waren die Linien des Gesichts geworden, etwas schmäler sein Oval, das Lächeln um den Mund tiefer, inniger. Ein reizendes Mädchen hatte er gefreit, eine bildschöne Frau war ihm geworden.

»Fertig, Elise? So? Dann sehen Sie nach Brigittchen. Meine Frau muß hinunter, die ersten Gäste kommen gleich.« Er griff in die Tasche. »Da ist ein kleines Andenken an den Tag.«

Elise bekam ganz starre Augen. Ein Dukaten! Im Leben hatte sie noch kein Geld in Händen gehabt. Sie knixte und stammelte einen Dank, Heinecken wehrte mit der Hand. Er war beschäftigt, seiner Frau das Taufgeschenk um den Nacken zu legen, eine Kette aus goldenen Gliedern, deren jedes in der Mitte einen Granat zeigte. Vorn ein Anhänger mit einem Halbbogen aus Granaten und an sieben kurzen Kettchen sieben schimmernde reine Perlen. Der Wert des Schmucks lag weniger in dem Material, als in der Arbeit. Die Kette war von einem Künstler geschaffen, es gab kein zweites gleiches Stück. Wie fein das Gold und die roten Steine zu dem bräunlichen Samt der Haut stimmten! Wie der junge Kopf förmlich unterstrichen wurde durch den Schmuck! Heinecken genoß den Anblick seiner Frau nicht nur mit den Augen des Mannes, sondern auch des Kunstliebhabers.

Adelheid schmiegte ihre Wange an seine Hand. »Du Verschwender! Du schenkst dich arm für mich. Wie soll ich das vergelten? Heute morgen das Landhaus in Hamm – heute mittag solch ein Schmuck –«

»Und das Kind? Ist deine Gabe nicht tausendmal mehr wert?«

Zusammen gingen sie hinab in das große Vorderzimmer. Da war der Tauftisch gerichtet. Dreiarmige silberne Leuchter rechts und links der Taufschale auf spitzenumsäumtem Damast, und trotz des Novembers eine Girlande von Myrtenzweigen und Monatsrosen ringsum gelegt. Ständer mit blühenden Blumen standen in allen Ecken, und hart an der Wand, die Blütenpracht überragend, kostbare Fächerpalmen.

»Wunderschön, wunderschön!« seufzte Madame Hellwig begeistert. »Amadeus, es ist wie ein Märchen.«

»Verrückt, ganz verrückt. Macht kein anderer so«, knurrte der Bruder. »Schrecklich übertrieben.« Dann ward sein Gesicht heller. Adelheid kam auf ihn zu und küßte seine Wange.

»Wie schön, daß ihr die ersten seid, Vater. Nun hab' ich dich noch einen Augenblick allein. Komm, Tante Anna, du frierst in deinem Seidenen. Setz' dich hier an den Ofen, Johann hat tüchtig geheizt.«

»Ein neuer Schmuck?« fragte Sprekelsen.

»Eben bekommen von Karl Anton. Zur Erinnerung an den Tag. Ich will ihn rufen lassen. Er sieht eben nach, ob die Tischplätze in Ordnung sind.«

»Laß, Kind, laß ihn nur. Ich wollte dich fragen – ist das wahr mit dem Haus in Hamm?«

»Ja, Vater. Ist es nicht zuviel? Daß das Kind und ich im Sommer einen Garten haben.«

»Adelheid, ich will nichts gegen deinen Mann sagen. Aber so kann das doch nicht weitergehen. Er lebt über seine Mittel.«

»Solltest du dich nicht täuschen, Vater?«

»Sagt er dir von seinen Sorgen? Er redet dir nur das vor, was du gern hörst. Und Peemöller sagte mir gestern an der Börse, die Geschichte mit der Bahn nach Berlin, die klappt nicht. Sie sind da hinter Reinbek in ein sumpfiges Gelände geraten, wo der ganze Boden gefestigt werden muß. Schlamm und Wasser und solche Geschichten. Das kostet neue Hunderttausende. Da können die wieder zahlen, die schon ihr Geld in dem Bahnbau haben, denn neue Dumme finden sie nicht. Dein Mann hat ein Vermögen gegeben – wie will er das wieder herausholen? Man konnte sich ja gleich sagen, daß solch Unternehmen Unfug ist.«

»Es waren kürzlich Herren hier, Ingenieure, die sprachen sehr zuversichtlich.«

»Natürlich. Ist ja ihr Brot. – Na, erst mal muß er wieder einzahlen. Muß seinen fünfzigtausend vielleicht noch hunderttausend nachwerfen, wenn er die nicht verlieren will. Soll mich verlangen, wie lange er das aushält.«

Heinecken trat in das Zimmer, gleich hinter ihm Paul, der das Schwesterchen über die Taufe halten sollte – es wurde eine allgemeine Begrüßung, und dann fuhren draußen die ersten Wagen vor, der Strom der Gäste zog ein in das Haus.

Adelheid hätte lieber eine Familienfeier gehabt, aber sie mochte nicht darauf dringen. Ihr Mann konnte große Geselligkeit nicht entbehren. Er behauptete, mitten in solcher lebhaften Gesellschaft, bei Wein und Zigarren, bei dem Anblick schöner Frauen und den vergnügten Anekdoten würdiger Herren kämen ihm die besten geschäftlichen Eingebungen. All das Leben rundum setze sein Gehirn in schnellere Schwingungen, und aus solchen Schwingungen ströme das, was weit über die Stunde und ihren Scherz hinaus nach Leben verlange, was Arbeit und Segen schaffe. Sollte sie da den Mut finden, ihm abzureden? Schwirrende Stimmen, Händedrücken, Rauschen von Schleppen, ein gedämpftes Lachen hier und da – der feierliche Teil des Tages stand doch noch bevor, dann ratterte Heineckens eigener neuer Landauer heran, Pastor Röpe stieg aus. –

Paul hielt das Spitzenbündelchen im Arm, und sah mit eingekniffenen Lippen nieder auf das friedliche Gesicht der Schwester. Sie war so satt, daß sie keinen Mucks tat. Es war ihr wohl, und ihre dunklen Augen schauten weitgeöffnet und freundlich in die Züge des Bruders. Wie gräßlich diese Situation war! Seit drei Tagen hatte Heide täglich einmal von ihm verlangt, daß er zur Probe Kinderfrau spielen mußte. So sehr er ihren Befehlen gehorchte, bei dieser Gelegenheit hätte er das sanfte Joch gern zerbrochen. Aber der Vater! – Der dazu lachte! Der sich über seine kleine energische Frau freute und dem ungeschickten, langen Jungen diese Lektionen von Herzen gönnte. Gegen den Vater war jeder Widerstand unmöglich. Er hielt die Kleine ganz gut, und doch perlte ihm der Schweiß auf der Stirn. Alle diese Menschen ringsum! Fremde und Bekannte, und die Bekannten ihm noch unheimlicher als die Fremden. Er der Mittelpunkt mit seinem Bündel. Er, der bis dahin immer ein stilles Leben in den letzten Zimmerecken geführt, plötzlich in das hellste Licht gestellt, als müßte das so sein.

Mein Gott, war Pastor Röpe erst eben mit dem Predigttext zu Ende? Und nun kam noch die ganze Rede? – Seine Arme würden das Kind fallen lassen, ehe die halb vorüber war.

Da huschte Madame Sievers, die weise Frau, an seine Seite, nahm ihm das Kind aus den Armen und legte es Madame Hellwig in die ihren, und aber nach einer Weile dem Großvater Sprekelsen, und dann dem Doktor Sieveking und dann noch einem Herrn und einer Dame, die er nicht kannte, denn die kleine Brigitte hatte nicht weniger als sechs Taufpaten. Aber als es zur Taufe kam, als einer herantreten mußte an den Tisch und das Haupt des Täuflings dem Geistlichen entgegenneigen, damit er es segne mit dem heiligen Wasser, da hatte diese schändliche Sievers es ihm doch richtig wieder aufgepackt.

»Armer Junge«, flüsterte Adelheid, als er ihr endlich die Schwester in den Schoß legen konnte, »du hast eine schlimme halbe Stunde hinter dir.« Da stand schon der Prediger neben ihnen, und er trat ohne Antwort zurück.

»Hast deine Sache ganz verhältnismäßig gemacht«, sagte der Vater. »Aber aussehen tatest du, als möchtest du Brigittchen am liebsten morden. Na, nun hast du es überstanden. Nun geh hin, und unterhalte deine Tischdame.«

Paul drückte sich mit linkischen Bewegungen zwischen all den Fracks und Schleppen hindurch in das Nebenzimmer, wo die Jugend sich zusammenfand, verneigte sich vor Lulu Schröder und sagte: »Ich werde die Ehre haben, Sie zu Tisch zu führen.«

»Ehre?« lachte das sechzehnjährige Ding. »Ist es kein Vergnügen für Sie, Herr Heinecken?«

»Ja, natürlich, ja, natürlich«, stammelte er, stand da und wußte nichts mehr zu sagen. Dies konnte noch schlimmer werden als der Taufakt. Aber die Stunden gingen endlich hin, und die Wagen rasselten davon. Johann räumte mit den Lohndienern die Tische ab, in der Küche war großer Klatsch, Elise, die das Kind betreut, gab es der jungen Mutter, als die heiter und warm vom Sprechen, Lachen und Glück in das Ankleidezimmer kam, und Brigittchen begann zu schreien, denn man hatte sie mit Zuckerwasser hingehalten, und sie verlangte nach der Mutter.

»Du Süßes, du Süßes«, lachte die Frau. »Du mein kleines Christenkind nun. – Weißt gar nicht, was sie alle dir zu Ehren gegessen und getrunken und geredet haben. Wenn nur die Hälfte wahr wird von all den guten Wünschen, bist du ein Sonnenkind bis an dein Lebensende.«

Als sie dem Kind sein Recht gegeben, ging sie noch einmal in das Zimmer ihres Mannes. – Die Fenster hatten offen gestanden, aber immer noch spürte man den Atem vieler Menschen im Raum, und die behaglichen Stimmen der satten Männer schienen nachzuklingen von den Wänden.

Nur eine Lampe brannte. Sie stand auf dem Schreibtisch. Der Hausherr saß dort und rechnete in einem dicken Buch, in das er die täglichen Ausgaben einschrieb. Etwas summarisch. Einzelheiten überließ er Frau und Dienerschaft.

Auf dem dicken Teppich gab Adelheids leichter Schuh kein Geräusch. So stand sie hinter ihm, eh er ihre Anwesenheit merkte.

Ganz vertieft schrieb er Summen unter Summen, strich aus, multiplizierte, setzte unverständliche Buchstaben in seiner großen, schwer leserlichen Hand vor die einzelnen Posten und brummte einige Male unwirsch vor sich hin.

»Karl Anton«, sagte eine süße Stimme hinter ihm.

Das Buch flog in die Schublade, der Mann streckte die Arme nach seinem jungen Glück aus. »Ich dachte, du wärest schon schlafen gegangen.«

»Ich besorgte nur das Kind. Jetzt muß ich doch nach meinem alten Mann sehen. Was rechnest du denn noch an solchem Tage? Sage mal, ich muß heute immer denken – – leben wir auch über unsere Verhältnisse?«

»Ob wir – – Ach du kleines Baby, macht das Kind sich solche törichten Sorgen?«

»Karl Anton, ich sah, wie Senator Schröder seine Augen durch alle Zimmer wandern ließ, als wir zum Essen gingen, und wie er bei Tisch in seiner schweigsamen Art alles beobachtete, das Geschirr, das Silber, das Kristall, und als er mir gesegnete Mahlzeit sagte, meinte er: »Ehe Sie in dieses Haus kamen, Frau Heinecken, war es herrschaftlich, jetzt ist es fürstlich geworden.«

»Es ist nur die Fassung, die einem Edelstein wie dir zukommt.«

»Ach, wenn du wüßtest, wie leicht der Edelstein solche Fassung entbehren könnte. – Und dann – ich hörte von der neuen Bahn sprechen, die sie bauen, und daß – –«

»Aha. Da sieht der Fuchs zum Loch heraus. Nein, darum mach dir keine Gedanken. Kaufmanns Glück und Erfolg ist schwankend. Schwankend wie ein Schiff auf hoher See, aber ein sicherer Steuermann führt es durch alle Fährlichkeiten gut in den Hafen. Das Schiff, die Güter und die Passagiere. Und wenn er so liebe Passagiere an Bord hat wie Karl Anton Heinecken, dann ist auch das Glück mit ihm. – Übrigens, wie fandest du, daß Paul sich benahm? Für seine Verhältnisse ganz leidlich, was? Er wird am Ende noch ein gewandter junger Mann.«

»Ach, Liebster, das wird er wohl nie. Es geht gegen sein innerstes Wesen. Es war schon viel, daß er da am Tauftisch stand, Brigittchen hielt und nicht fallen ließ. Aber laß ihn nur, es können nicht alle Menschen Lebenssieger sein, wie du einer bist. Und Paul wird seinen Weg schon gehen. Wenn er selber glücklich und zufrieden ist, ist es ja auch ganz gleich, ob er der Welt viel gibt oder nicht.«

»Nein, Adelheid, mein Sohn sollte fortführen, was ich begonnen, sollte den Bau unter Dach bringen, zu dem ich erst den Riß entworfen. Und seine Söhne hätten es mit Schmuck und Schönheit verzieren sollen wie ein Schloß. All meine Unternehmungen müssen doch einmal weitergeführt werden.«

»Du bist selber noch jung, Karl Anton.«

»Und bis ich alt bin, hast du mir geschenkt, was mir in Paul nicht geworden ist, wie? – Ich möchte ein halbes Dutzend Buben hier in den Zimmern toben sehen.«

Adelheid lachte. »Ich arme Mutter, die werden mir den Kopf heiß machen.«

»Wer solch warmes Herz hat wie du, der fürchtet sich nicht vor einem heißen Kopf.«

Sie ging die Treppe wieder empor zu ihrem Schlafzimmer und dachte: Wieder einmal hat er mich nicht hineinsehen lassen in seine Sorgen. Denn er hat Sorgen. Ich sah es an seinem Gesicht. Aber nur an seinen Freudenstunden soll ich teilhaben, an den dunklen nicht. Glaubt er nicht, daß ich fähig bin, die zu tragen? Liebt er mich zu viel oder zu wenig?

* * *

Im Mai zogen sie hinaus nach Hamm.

Da lag das große, weiße Landhaus mit seinem blauen Schieferdach und den grünen Fensterläden zwischen Lindenbäumen und Rasenplätzen. Hyazinthen blühten noch auf den Beeten, die Rasen waren wie Samt, alle Flieder- und Jasmin- und Goldregenbüsche hatten lichtgrüne Zweige, die Stare flöteten auf dem Dachfirst, und die Luft war wie ein Rauschtrank.

Am Himmelfahrtstag sollte Sprekelsen mit Madame Hellwig zum ersten Mittagessen bei seinen Kindern sein.

»Ganz einfach«, sagte ihm Heinecken an der Börse. »Ganz ländlich, lieber Schwiegervater. Umstände machen wir da draußen nicht.«

»Na ja, na ja, was Sie so einfach nennen. Ich kenne das.«

Am Vorabend des Himmelfahrtstages war es warm, und die Luft regte sich nicht. »Wenn es so bleibt,« sagte Adelheid, »dann lasse ich den Tisch unter der großen Linde im Garten decken. Ich glaube, Papa hat in seinem ganzen Leben noch nicht im Freien Mittag gegessen. Was er für Augen machen wird.« – – – – –

Sprekelsen schlief schauderhaft in dieser Nacht.

Im Mondenschein promenierten alle Haus- und Speicherkatzen des alten Wandrahms über Höfe und Dächer, sangen, mauzten, schrien in höchster Erregung, warben um Liebe, gerieten mit Rivalen in blutige Kratz- und Beißkämpfe und vollführten einen infernalischen Lärm.

Auch Emil hatte alle gute Erziehung und alle angeborene Würde über Bord geworfen, stieg einem jungen, weißen Ding nach, das kaum ein Jahr zählte, und gellte die Gefühle seines Herzens in die Nacht hinaus.

»Infame Bestien«, schalt Sprekelsen in seinem Bett. »Als wenn sie alle zusammen verrückt geworden sind. Na, die Mäuse haben gute Zeit dabei.«

Er warf sich auf die andere Seite, hörte ein Fenster öffnen und lachte in sich hinein. Aha, seine Schwester wurde auch wild.

»Ksch, ksch!« Sie scheuchte Emil, der eben unter ihrem Fenster sang.

»Emil, willst du! Stock kommt.« Emil machte einen Sprung, stand mit hohem Buckel mitten im Mondenschein und schrie steinerweichend weiter. »Ksch, ksch!« Madame Hellwig schlug mit einem Stock gegen die Mauer. Emils Angebetete erschrak gewaltig und floh zum Nachbarhof. Für einige Minuten hörte man nur gedämpftes Mauzen, und Sprekelsen fiel in Schlaf.

Plötzlich flog er wieder in die Höhe. Gerade unter seinem Fenster erhob sich das Konzert zum Fortissimo. »Au, au, rrr, grr, krr, pft, pft. Mau au au.« Und ein Geschrei, als wenn kleine Kinder umgebracht würden. Mit einem Satz war er aus dem Bett. Da sollte der Satan dazwischenfahren! Morgen mußte Piepenreimers her mit seinen Hüls, und wenn es Emil selber den Garaus machte.

Er nahm den schweren Krug vom Waschtisch, englisches Steingut von Davenport, stammte noch von seiner Aussteuer, ein kostbares Stück, öffnete das Fenster und kippte. Krach, knackte der Henkel, und der schwere Krug sauste nieder auf die Steine. Es gab einen Knall wie einen Kanonenschuß, im Nebenzimmer hörte er seine Schwester aufschreien, drüben im Nachbarhaus flogen Fenster auf, und Stimmen riefen, was da los sei.

Sprekelsen schmetterte das eigene Fenster zu und schalt drinnen wie ein Rohrspatz. »So muß das kommen. So muß das kommen. Infame Biester. Der Kater kommt fort. Heut noch und diesen Tag. Ich will bei Nacht meine Ruhe haben.«

Er sah nach der Uhr. Na ja, wenn't kümmt, kümmt mit Hupen! – Das war noch nie vorgekommen. Die Uhr stand.

Er sah aus dem Fenster. Das Morgenrot stieg schon über die Stadt empor. Leuchtend rote Wolken trieben droben vorüber, es mußte drunten am östlichen Horizont alles in Sonnenflammen stehen. Aber die Sonne geht früh auf im Mai, er konnte sich noch ein bißchen wieder strecken.

Halb im Schlaf hörte er die Uhr von Nikolai schlagen. Zwei!

Zwei? Na, die war auch wohl in Unordnung geraten, seit wann ging die Sonne um zwei Uhr auf. Aber was ging es ihn an! Mochte der Turmwächter sich darum kümmern. Ein letztes unwilliges Knurren, dann versank er in Schlaf.

Als er am Morgen um acht leidlich ausgeschlafen zum Kaffee kam, machte Madame Hellwig ihr Zahnwehgesicht.

»Na, was ist denn dir? Hast die Nacht auch nicht schlafen können? Aha, da liegt er ja auf der Fensterbank, als wenn er es gar nicht gewesen wäre. Komm mal her, Emil, alter Sünder! Piepenreimers soll dich mitnehmen, wenn du dich auf deinen Hochzeiten noch mal so laut benimmst.«

Emil reckte sich, machte einen gewaltigen Buckel und streckte sich wieder faul in die Sonne. Ihm war sehr wohl, nur ein bißchen träge.

»Laß doch den Kater«, sagte Madame Hellwig. »Den wirst du nicht ändern. Weißt du nicht, daß in der Deichstraße Feuer ist?«

»So? Feuer in der Deichstraße? Na, irgendwo brennt es immer mal.« Er griff nach den Hamburger Nachrichten, die neben seinem Teller lagen.

»Es sollen schon sieben Häuser brennen.«

»Sieben Häuser, so.«

Seine Augen versenkten sich in die Schiffsnachrichten.

»Und von der Deichstraße zum Wandrahm ist es nicht so weit.«

»Du bist heute wohl mit dem linken Fuß zuerst aus dem Bett gestiegen? Was geht uns die Deichstraße an.«

»Ich sag' dir doch, es brennt. Otje Soltau kam vorhin herangelaufen und sagte, es wären schon sieben Häuser.«

»Otje Soltau schwindelt mehr, als er verantworten kann. Ist ein ganz leichtfertiger Patron. Streich ihm sechs, dann wirst du wohl richtig hinkommen. Bei der Hamburger Feuerwehr!«

»Aber es hat so lange nicht geregnet. Und die alten Kasten, wenn die Feuer fangen – – –«

»Adler von Stettin nach Grimsby, Kapitän Möller, Ladung Holz. Freya von Rostock nach Amsterdam –« Er warf das Blatt auf den Tisch.

»Die Freya, auch solch neumodsches Dampfboot. Wie lange das wohl noch gut geht. – Und unser lieber Schwiegersohn hat seine Hände in den Versicherungsgeschäften und nimmt auch diese Dampfboote auf. Es geht noch mal mit ihm rum, es geht noch mal mit ihm rum.«

»Kein Mensch weiß, wie es ausgekommen ist«, zog Madame Hellwig an ihrem Faden weiter. »Soltau sagte, da würde erzählt, es hätte 'ne Wasserflasche an einem Fenster gestanden, und die hätte gestern in der Sonne wie ein Brennspiegel gewirkt, und es hätte geschwelt bis zum Abend, und da wäre es losgegangen.«

Sprekelsen lachte laut los, das geschah ihm selten.

»Soltau soll eine Prämie haben für seine Geschichten. Na, mach kein Gesicht, ich werd' nachher mal hingehen und sehen, was da los ist.«

Von Nikolai herüber schlug die Uhr neun. Unwillkürlich zählte er die Schläge. Was denn? Die schlug ja wieder richtig. Und heute Nacht – seine Gedanken stutzten. Sollte das gar kein Morgenrot gewesen sein, was die Wolken färbte? Ohne ein weiteres Wort warf er die Zeitung hin, lief so schnell aus dem Zimmer, daß Madame Hellwig ihm ganz bestürzt nachsah, und nun aus der Hintertür, über den Hof, hinauf auf den Speicher. Der streckte seinen hohen Giebel über alle Nachbarhäuser empor, und aus der Bodenluke, wo die Rolle mit dem Seilgewinde für die Waren hing, sah man nach Westen. Westlich lag die Deichstraße. So schnell war Sprekelsen die alten ausgetretenen Stiegen noch nie emporgekommen. Schnaufend stand er auf dem obersten Boden, besann sich eine halbe Minute und ging durch die Packen und Säcke hin zur Luke. Des Festtags wegen war sie geschlossen. Er stieß beide Flügel auf, faßte sich an den Seitenpfosten und sah aus. Schwere dunkle Wolken lagen dort hinten in der Gegend, wo nach Otje Soltaus Angabe das Feuer wüten sollte. Der Wind, der sich an diesem Morgen aufgemacht, faßte in die schwarzen Massen und trieb sie vor sich her. Einmal schien es Sprekelsen, als sehe er rote Lohe hervorbrechen, dann – von fernher ein Dröhnen, als brächen Mauern zusammen – schlug es jäh auf zum Himmel, stand sekundenlang wie ein wogendes Flammenschlagen über der Straße und sank wieder zusammen. Funkenschwärme jagten mit den ziehenden Schwaden.

Jetzt ein Einsetzen der Glocken auf Nikolai. Riefen sie schon die Kirchgänger? Nein, es war die Stimme der Feuerglocke, die Weh schrie über Hamburg.

»Amadeus! Herr mein Gott, Amadeus. Du fällst da gewiß noch runter.« Madame Hellwig stand am Küchenfenster, das, dem Speicher gegenüber, unten im Hause ebenfalls auf den Hof sah. »Komm da weg. I gitt, mir wird schon schwindlig, wenn ich dich da seh.«

»Es brennt ganz gehörig«, schrie Sprekelsen von oben zurück. »Wenn's auch keine sieben sind, aber drei können es gut sein.«

»Kann man es sehen? Wart, ich komm hinauf.«

»Das fehlte noch grade. Du fällst kopfüber aus der Luke.« Er warf einen letzten Blick hinüber, schloß die Luke und kletterte treppab. Auf halber Höhe begegnete er der Schwester. »Laß das Raufsteigen nur. Da ist nichts zu sehen als Qualm. Ich geh mal rüber.«

»Aber denk dran, daß wir zu Heineckens sollen. Um elf kommt der Wagen.«

»Weiß ich, weiß ich. Ich bin doch kein Baby.«

Mit Stock und Hut ging er aus dem Hause.

Als er, natürlich erst fünf Minuten vor elf, wiederkam, sah er doch etwas erregt aus. »Es sind tatsächlich schon mehr als sieben. In der Steintwiete brennt es auch schon. Sie haben Militär zur Hilfe. Man kommt nicht mehr über den Hopfenmarkt heran, es ist alles gesperrt. Na, da werden sie wohl bis heute abend zu tun haben, bis das gelöscht ist. – Was? – Der Wagen kommt schon? – Ich bin gleich so weit.«

Sie fuhren hinaus nach Hamm, und als sie in die stillen Straßen kamen, wo alles voll war von Bäumen und Büschen, behagliche Kühe auf üppigen Weiden lagen, alle Gärten vor den Landhäusern in Blumen prangten, und Kinderscharen in Sonntagskleidern vor den Pforten standen, kam Sprekelsen das, was er eben gesehen, wie ein dunkler Traum vor. Qualm und Flammen, stiebendes Funkentreiben, knatternde und prasselnde Dachziegel, schreiende Menschen, Drängen, Hasten, Lärmen in überfüllten Gassen – – –

»Ja,« sagte er zu dem Schwiegersohn, der wie ein ganz junger Papa den Kinderwagen durch die Gartensteige schob, »ihr sitzt hier in Frieden. Drinnen in der Stadt brennen schon zehn Häuser. In der Deichstraße. Ein mächtiges Feuer.«

»Streichen wir die Null von der Zehn, Schwiegerpapa.«

»Ist nicht. Ist nicht. Hab' ich heute früh auch zu Anna gesagt: Streich was ab, streich was ab. Aber ich war selber da. Nicht mehr ranzukommen. Wenn sie nicht bald Herr drüber werden, kann es die ganze Ecke da wegfressen. Da waren welche, die meinten, es könnte sogar auf die Nikolaikirche übergreifen.«

»Na na. Die feste Kirche. Wo will es da anfassen? – Sitz still, Brigittchen. Sie steht immer auf im Wagen.« Er hob das Töchterchen auf den Arm und präsentierte es Madame Hellwig. »Ist sie nicht schon gewachsen seit vorgestern? Den ersten Tag war sie ganz fremd in der neuen Umgebung, aber gestern mochte sie den Garten schon leiden. Sie will am liebsten alle Blumen haben. – Da, geh zur Tante, du Zappelfritz. – Ich dachte, ihr würdet Paul mitbringen. Ich hatte ihm gesagt, er möchte zur rechten Zeit bei euch sein, daß er mitfahren könnte.«

»Was ist denn das?« fragte Sprekelsen. »Unter der Linde habt ihr decken lassen? Sehen euch da die Nachbarn nicht zu?«

»Es ist ja alles dicht zugewachsen. Adelheid hat solche Freude am Garten. Sie hat das angeordnet. Da kommt sie aus dem Hause. Und da kommt Paul ja auch. Guten Morgen, mein Junge, hast du zu Fuß laufen müssen? Du hättest doch mit Onkel Sprekelsen fahren können.«

»Ich hatte mich verspätet. Ich war zum Feuer. In der Deichstraße brennen schon zwölf Häuser!«

»Was? Jetzt schon zwölf?« Tante Anna mußte Brigittchen an Elise geben, die für solchen Fall wartend im Hintergrund stand. »Sind es wirklich schon zwölf, Paul? Sind sie dicht herangekommen? Mein Bruder sagt, es wäre alles um den Hopfenmarkt herum abgesperrt.«

»Ja, ich sah Herrn Sprekelsen stehen.« Er machte seinem Prinzipal noch eine besonders tiefe Verneigung. »Aber Sie gingen gerade, als ich kam. Es sind schon Boten unterwegs, daß die Spritzen aus Elmshorn und Altona und Harburg zur Hilfe kommen sollen. Im Speicher von Meier und Forst sind die Spritfässer von der Hitze geborsten, der ganze Spiritus ist ausgelaufen, das flammte auf – fürchterlich.«

Jetzt standen sie alle zusammen und vergaßen den festlichen Tisch und ihren Feiertag und hatten heiße Gesichter und unruhige Augen. Bis Heinecken sagte: »Da kommt Johann und trägt die Suppe auf. Wir wollen uns setzen. Bitte, Tante Anna, Sie kommen in den Korbstuhl, der ist extra für Sie bestimmt. Schwiegervater, darf ich bitten, hier neben Adelheid. Paul, du kommst an meine andere Seite. Wie wirst du denn allein in dem großen Hause fertig?«

Denn Paul war nicht mit nach Hamm gezogen. Er mußte morgens zeitig im Geschäft sein, und da er keine Neigung hatte, reiten zu lernen, so wäre mit dem Hineingehen in die Stadt viel Zeit verschwendet worden. Heinecken selber ritt auf Satan zum Geschäft und stellte das Tier in einem Fuhrgeschäft ein. Es lag ein geräumiger Stall hinter dem Hammer Hause, und Adelheid hatte außer dem zierlichen Kabriolet einen geschlossenen Landauer zu ihrer Verfügung. Aber sie würde wenig Gebrauch davon machen; wer hier in solchem grünen Nest saß, der sehnte sich nicht hinein in die Stadt.

Paul erklärte, daß Mamsell Wittrock, die Haushälterin, ausgezeichnet für ihn sorge. Mit einem kleinen Versuch, einen Scherz zu machen, fügte er hinzu: »Sie kocht für mich wie für ein ganzes Bataillon. Ich müßte an Magenerweiterung sterben, wenn ich nur den vierten Teil von dem äße, was sie mir auftischt.«

»Du mußt lernen, die Gaben der Küche zu würdigen«, sagte der Vater. »Das gehört zu einem richtigen Hamburger. Die haben immer gewußt, wozu der liebe Gott das Mittagessen geschaffen hat. Und wenn du einmal als gereifter Mann auf Gesellschaft bist und führst die Dame des Hauses, mußt du auf alle schönen Dinge, die sie dir vorsetzt, das rechte Lob finden.«

»Wenn ich ein reifer Mann bin, gehe ich nicht auf Gesellschaften.«

»Warten wir es ab. Schwiegerpapa, zum Lachs gehört ein guter Rheinwein. Darf ich um Ihr Glas bitten? Johann, das Glas von Herrn Sprekelsen.«

Sie tranken Rheinwein zum Lachs, der damals in Hamburg auf jeden Sonntagstisch gehörte, und sie tranken einen guten Bordeaux zu den Küken, die so zart waren, daß sie förmlich auf der Zunge zergingen. Sie aßen hinterher Butter und Chesterkäse, und dann eine Kirschspeise mit Vanillensauce, und Tante Anna sprach wenig, um sich nichts von den guten Gaben entgehen zu lassen.

Nach dem Essen, die Uhr zeigte auf zwei, zog sich Madame Hellwig ein wenig in Adelheids Stube zurück, einen kleinen Raum mit hellen Möbeln. Birkenholz war dazu verwandt, und schwarze Säulchen am Sekretär und an der Kommode zeigten Kapitäle von Goldbronze. Sofa und Stühle waren mit geblümter Kretonne bezogen. Das Ganze hatte etwas sehr Heiteres und Helles. Madame Hellwig setzte sich in die Sofaecke und besah sich ein bißchen von innen. Die Herren, Sprekelsen und sein Schwiegersohn, wanderten in den Gartenwegen auf und ab und beredeten öffentliche Angelegenheiten. Der Senat und die Bürgerschaft waren einmal wieder verschiedener Ansicht.

Adelheid hatte Paul mit sich in die Speisekammer genommen und fütterte den langen Jungen mit Schinkenbröten und einem Glas süßen Wein, denn sie wußte, Fisch und Küken waren ihm ein Greuel gewesen. In dem Zimmer über sich hörten sie Brigittchen krähen. Sie sollte schlafen und wollte nicht. Elise mahnte und schalt, das Kind jauchzte nur um so heller.

Johann kam in die Küche; er trug das letzte Geschirr vom Gartentisch herein. »Frau Heinecken, eben war da der Mann an der Pforte, der uns morgens hier die Milch bringt. Er will mit seinem Wagen in die Stadt und retten helfen. Es soll da doll zugehen. Die Steintwiete soll ganz in Feuer sein, und sie sagen, wenn man hier auf den Hammer Kirchturm steigt, kann man schon die Flammen sehen.«

»Aber das ist doch gar nicht möglich, Johann.«

»Ja, ich weiß ja nicht, Frau Heinecken.«

»Paul, kommst du mit? Ich geh hinüber zur Kirche.«

Sie liefen, wie sie waren, über den grünen Platz vor der kleinen Landkirche und an die Tür, die zum Turm führte. Die stand offen. Man hörte Stimmen von oben, es waren schon andere Zuschauer dort.

»Das muß der Nikolaiturm sein«, sagte eine männliche Stimme. »Sehen Sie, Pieper,« das war der Küster, »die Flammen, die sich so grün färben und so hoch über den anderen aufsteigen, die kommen sicher von dem Kupferbelag.«

»Mein Gott, Herr Pastor, das wär' ja rein gräßlich. Denn brennt das auch sobald nich aus.«

Adelheid klomm die letzten Stufen hinauf und trat unter den Turmhelm. »Sie meinen, der Nikolaiturm ist schon in Feuer?«

»Sehen Sie selber.« Der Prediger trat zurück, sie sah hinüber nach der Stadt. Rauchschwaden hingen fern in der Luft, und deutlich sichtbar stiegen lodernde Flammen aus ihnen auf. Blutrot standen sie über Giebeln und Dächern, grünlichblau zeichneten sich andere von ihnen ab.

»Hören Sie?« fragte der Prediger Paul, der still hinter der Stiefmutter stand. »Sie läuten. Aber es klingt wunderlich.« Ja, mit dem Winde kamen Glockentöne zu ihnen, schwer und tief – die ziehende Glut setzte die Klöppel in Bewegung, Nikolai begann sich selber den Totengruß zu läuten.

Wieder Stimmen von unten her. Heinecken und Sprekelsen, die von Johann erfahren hatten, wohin Adelheid gelaufen, kletterten ihr nach.

Sprekelsen wurde weiß, als er den fernen, brennenden Turm sah. »Hamburg!« sagte er nur vor sich hin. Er war kein Mann von vielen Gefühlsworten, aber es griff ihm an das Herz, als er über der geliebten Stadt die große Not sah.

Hamburg! Wer liebt seine Vaterstadt mehr, als der Hamburger sie liebt! Die ihm alles verkörpert, was stolz und stark und groß ist. Die alte, ehrenfeste Stadt, durch Jahrhunderte umkriegt, zerstört, immer wieder erbaut, immer wieder deutschen Ruhm durch die Länder und über das Meer tragend, immer – auch in Not und Bedrängnis – so unerschütterlich deutsch und treu.

Sprekelsen liebte sie. Weil er nicht davon sprach, saß diese Liebe um so zäher in seinem innersten Wesen. Seit Jahrhunderten waren seine Vorfahren hier Bürger gewesen, hatten teilgehabt an allem Werden und Wachsen, waren mit der Stadt verwachsen und eins geworden. Was wußte sein Schwiegersohn von solcher Zusammengehörigkeit? Der war erst in der zweiten Generation Hamburger, der konnte gar nicht so mitfühlen. – Er tat Heinecken Unrecht. Dessen Liebe war anderer Art, aber sie war darum nicht schlechter. Sie stammte nicht aus ferner Vergangenheit, aber sie sah hinaus in die Zukunft. Die Stadt, in der er sein Haus baute, in der seine Kinder und Enkel den Bau immer höher türmen sollten, die Stadt, für deren Wohl und Wehe er arbeitete und vorwärtsdrang! – Paul stand still an der Turmwand und sagte kein Wort. Er zitterte, denn Erregungen gingen ihm auf die Nerven, und weil sein Vater nicht duldete, daß er dies zeigte, flog er um so mehr. Er drückte die Knie durch und biß die Zähne zusammen. Ihm war ganz schlecht vor Aufregung.

Adelheids junge Stimme klang hell in das Schweigen hinein.

»Wir haben hier draußen Wagen und Pferde. Ob die nicht drinnen in der Stadt nötiger sind?«

»Du hast recht, wie immer, mein Herz. Johann soll anspannen lassen. Schwiegervater, wie ist es?«

»Ich fahre mit Ihnen.«

Eine Viertelstunde später fuhren sie. Johann auf dem Bock, die beiden Herren im Fond. Madame Hellwig wollte in Hamm bleiben, bis sie wiederkamen. Der Wind stand nicht zum Wandrahm hinüber, zur Zeit war für Sprekelsens Haus keine Gefahr. Eher konnte Heineckens Kontor in der Großen Reichenstraße in die Feuerzone geraten.

»Ausgeschlossen, ausgeschlossen!« sagte Sprekelsen immer wieder, und wußte ganz genau, daß die Sache jetzt, da schon die Kirche auf dem Hopfenmarkt in Flammen stand, nichts weniger als ausgeschlossen war. Er wollte es aber nicht wahr haben, nicht vor den anderen, und nicht vor sich selber. Hamburg konnte nicht in solche Gefahr geraten. Hamburgs Löschvorrichtungen waren vorbildlich. Seine Bürger halfen alle wie ein Mann, wenn es not tat. Das Militär setzte sein Leben ein, wenn es darauf ankam.

Trotzdem saß er still und ziemlich blaß neben dem Schwiegersohn, der sich in seiner lebhaften Weise über alle Wenns und Abers erging. Es wurde Abend, ehe Heinecken wiederkam. Ohne Sprekelsen. Der hatte es vorgezogen, gleich in der Stadt zu bleiben. Ernst sah er aus. Seine Nachrichten waren schlecht.

Das Feuer wuchs und wuchs. Es war keine Möglichkeit, seine Gier einzudämmen. Das Bürgermilitär tat, was in seiner Macht stand, die Häuser zu räumen, die Straßen vor Gaffern zu sperren, die unsauberen Elemente fernzuhalten. Aber es wurde erzählt, in einem Schnapskeller der Bohnenstraße hätten sich betrunkene Kerls festgesetzt, als schon das Haus in den oberen Stockwerken lichterloh brannte, und der Einsturz sei so schnell erfolgt, daß keiner wieder aus dem Keller herausgekommen wäre.

»Einige sagen, es wären drei gewesen, andere reden von acht oder zehn. Man hat noch ihr gräßliches Geschrei aus den Trümmern heraus gehört, aber helfen konnte da keiner.«

»Still«, sagte Adelheid und war schneeweiß. »Das ist gräßlich.«

Sie riß sich zusammen. »Und die Kirche?«

»Alles eine Feuermasse. Wie der Turm zusammenstürzte – es war trotz seiner Grausigkeit das schönste und erhabenste Schauspiel, das meine Augen je sahen. Eine Säule von Qualm und Glut flog in die Höhe, wohl viermal so hoch wie der Turm selber, stand über den Straßen, verdunkelte den Himmel, daß kein Sonnenstrahl durchdrang, und dann fiel es aus ihr nieder wie ein Feuermeer, brennende Scheite und Schindeln, ein Funkenregen – in einem Nu flammten alle Dächer in der Nähe auf. Wie Spielzeugschachteln brannten sie weg, und wir Menschen standen mit ohnmächtigen Händen daneben.«

»Du bist sicher nicht untätig gewesen.«

»Ich stellte mich einem Offizier der Bürgerwehr zur Verfügung. Wir haben die Bewohner fortgeführt, ihr Eigentum geborgen, viele hatten ihre Sachen in das Kirchenschiff gerettet, das ist nun alles mitverbrannt. Jetzt schleppen sie es bis zum Johanneum, da liegt schon der ganze Hof voll.« Er atmete tief auf. »Adelheid, wenn der Himmel kein Wunder tut und uns einen starken Regen schickt – so ausgetrocknet wie die alten Kasten alle sind von der langen Dürre –, das frißt die halbe Stadt weg.«

»Nein, nein, nein.«

»Sie pumpten Wasser aus den Fleeten, und da sind große Massen von Öl und Sprit aus den brennenden Speichern in die Fleete gelaufen, die flogen mit dem Wasser in die Flammen. Statt zu löschen, feuerte das noch an.«

»Wie komme ich nur zur Stadt und durch den Trubel?« jammerte Madame Hellwig. »Ich dachte, Amadeus würde wiederkommen.«

»Du bleibst hier, Tante. Helfen kannst du da nicht, und Ruhe findest du auch nicht. Der Vater bleibt sicher nicht im Hause. Dann sitzt du und ängstigst dich allein. Morgen früh bringen wir dich hin, wenn du willst.«

Wieder und wieder stiegen sie im sinkenden Dunkel des Abends auf den Boden und sahen westwärts, und sahen glutroten Schein, der unheimlich durch finstere Rauchmassen brach, und einmal, sie hatten sich endlich zur Ruhe begeben, kam es wie ein ferner, dumpfer Schlag bis in ihre Stille.

»Sie beginnen zu sprengen«, sagte Heinecken und faßte im Dunkel nach Adelheids Hand. »Sie redeten schon davon. Das Feuer näherte sich dem Rathaus. Es hatte schon die Häuser an der Neueburg gefaßt. Wenn es über die Trostbrücke fliegt –«

»Sie werden doch das Rathaus retten!«

Es kam keine Antwort. Heinecken wußte, daß Hamburger Entschlossenheit auch vor dem alten Wahrzeichen der Stadt nicht haltmachen würde, wenn es um das Ganze ging.

Adelheid zitterte und flog. Die Zähne biß sie zusammen, die Hände krampfte sie ineinander – ihre Sinne aber lauschten hinaus in die Nacht. Es blieb still. Und die Müdigkeit wurde Herr über das junge Geschöpf.

In der ersten Frühe, die Stare zwitscherten eben draußen zwischen den Beeten, wurde sie wieder wach. Heinecken stand fast fertig angekleidet im Zimmer. Es war ziemlich hell, die Uhr zeigte auf vier.

»Hast du keine Ruhe mehr?« fragte sie. Und in demselben Augenblick – zweimal hintereinander – wieder der ferne, dröhnende Schlag.

»Karl Anton – es ist noch nicht vorbei.«

»Nein, nein, liebes Kind, sie sprengen wieder. Ich halte es nicht mehr aus, ich muß in die Stadt. Jede Hand ist nötig. Behalte die Tante bei dir. Die bringt sich vor Aufregung um, wenn sie allein auf dem Wandrahm sitzen soll, und dein Vater ist sicher im ärgsten Trubel. – Ich fahre jetzt gleich. Nein, bleib du doch liegen, das hat doch keinen Zweck.«

»Ich will sorgen, daß du Kaffee bekommst.«

»Ach wozu. Das hält nur auf.«

»Wer weiß, wann du wiederkommst. Und du darfst doch nicht zusammenklappen.«

Da litt er es, daß sie ihn umsorgte und ihm Brot in die Tasche schob, und neben dem Kabriolet stand, als er aufsprang, und Johann hinten auf den schmalen Sitz stieg. Der sollte das Fuhrwerk zurückbringen. Aber es war ein Fuchs vor dem leichten Wagen, denn Satan in die menschenüberfüllten Straßen zwischen die schreiende, erregte Menge zu bringen, schien nicht geraten.

Für Adelheid wurde es ein langer Tag. Johann kam wieder und sagte, der Herr hätte ihn schon am Glockengießerwall heimgeschickt, er wolle gehen, denn die Straßen seien gestopft voll Menschen. Und wenn Abgebrannte kämen, die hätte er geschickt, und Frau Heinecken möchte sie doch aufnehmen.

Das war ja selbstverständlich.

Einmal kam Elise und meldete, draußen sei Piepenreimers und habe eine Frau bei sich mit drei Kindern.

»Ja, Madame Heinecken, ich soll die Leute da bringen. Ich traf den Herrn dicht an der Trostbrücke. Er käm' heute gar nicht ans Haus, und Madame Heinecken sollt' sich nicht ängstigen, wenn er auch die Nacht ausbliebe, denn schliefe er im Stadthaus.«

»Wie sieht es aus in der Stadt, Piepenreimers?«

»Slecht, Madame Heinecken. Wie das da zugeht – Sodom und Gomorrha. Wenn das man nich nach 'n Jungfernstieg 'rübergeht. Das Rathaus haben sie in der Nacht sprengen wollen, und wie sie da grad' bei sind, faßt das Feuer all an. Alles runter. Und die alte Börse und die Häuser an der Neueburg – alles runter.«

»Nach dem Jungfernstieg 'rübergeht« – wiederholte sie mechanisch. »Das meint er doch nicht im Ernst, Piepenreimers?«

»Sie haben da all für alle Fälle Böte auf die Alster gebracht. Madame Heinecken, ich denk', der Herr und der junge Herr werden schon sorgen, daß die besten Sachen rauskommen aus 'n Haus. Ich will nu mal nach Wandsbek raus, da sollen noch Wagen zu kriegen sein.«

Er ging, und sie brachte die Abgebrannten unter, und bekam neuen Zuzug noch vor Mittag, und hatte alle Hände voll Arbeit, und dazwischen lief sie immer einmal auf den Boden und zweimal im Laufe des Tags zum Kirchturm, und sah die schwarze Wolke über der Stadt wachsen und dachte: »Wenn es gar nicht zum Stillstand kommt! Wenn es durchbricht zum Jungfernstieg!«

Karl Anton kam nicht nach Hause, und Johann, den sie in die Stadt schickte, kam wieder und sagte, er hätte nur bis in die Ferdinandstraße kommen können, an der Bergstraße und am Alstertor sei gesperrt. Sie ließen nur die durch, die sich als Bewohner der Straßen ausweisen könnten. Er sollte einen Ausweis von Herrn Heinecken bringen, und wie sollte er den finden? Und dem jungen Herrn ginge es gut. Das hätte ihm Rutsch-Anna erzählt. Die war auch abgebrannt. Piepenreimers hätte sie mit ihren Packen und Plünnen auf einem Handwagen gehabt, um sie in das Johanniskloster zu bringen. Der junge Herr wär' an ihr vorbeigegangen und hätt' man blaß ausgesehen, aber das taten sie ja alle.

Wieder ging eine Nacht hin, wieder tönte in die Stille von Stunde zu Stunde das dumpfe Dröhnen der Sprengschüsse. Jedesmal flog Adelheid zusammen. Wo sprengten sie nun? Wo nun?

Und der Wind warf die Feuermassen über die Lücken, und das ausgedörrte Holz der alten Fachwerkbauten, in den Straßen, die zum Teil seit Jahrhunderten standen, prasselte auf wie Stroh. Riesige lohende Fackeln standen die schmalen Giebelhäuser und flammten gegen den schweigenden Nachthimmel. Die Sterne verblichen vor dem Feuerwerk der Erde, schwarze Rauchmassen zogen mit dem Wind, brennendes Papier flog weit hinaus in die Vorstädte, Funkenschwärme gingen in langen, goldroten Zügen über die Stadt, und wie ein riesiges Fanal stand in der ersten Morgenfrühe der Petriturm gegen den sonnaufglühenden Himmel.

Es war zehn Uhr, als Adelheid die Gartenpforte klingen hörte und Paul durch den Vorgarten kommen sah. Er ging hastig, dabei unsicher, als trügen die Füße ihn nicht mehr recht. Sie lief ihm entgegen und sah erschrocken in sein verstörtes Gesicht. »Paul, wie siehst du aus! Ist was – mit Vater –?«

»Er ist in der Börse, Heide.« Seine Stimme war heiser.

»Ja, und –?«

»Die Börse steht mitten im Feuer. Adolfstraße, Burstah, alle Straßen drum rum sind ein Feuer –«

»Und –«

»Sie wollen die Börse retten. Das Flugfeuer löschen, wo es losgeht. Zehn oder zwölf Herren, sagen sie, sollen drin sein. Sie haben sich eingeschlossen. Wenn sie die Börse nicht retten –« ein trockenes Schluchzen – »dann kommt keiner wieder.«

Es war totenstill. Der junge Mensch stand hilf- und ratlos, das schmale Gesicht ganz grau und verzerrt. Adelheid, die Hände ineinander geschlungen, rang mit ihrer fliegenden Angst. Kein Wort hätte sie sagen können, die Stimme wäre gebrochen.

Da setzte vom Dachgiebel her ein Star mit seinem hellen Jubellied ein. Wie seligste Lebensfreude fielen die süßen Töne in ihre Todesangst. Der jungen Frau flog das Herz hoch, ihre Augen wurden warm. »Der Vater kommt wieder. Karl Anton Heinecken setzt sein Leben nicht umsonst ein. Wir wollen nicht kleiner sein als er, Paul! Wir wollen hoffen und helfen wie er. – Komm herein, du mußt essen und trinken. Du bist ja direkt am Umfallen. Inzwischen soll Johann anspannen. Ich bleibe nicht länger hier draußen, ich bin schon halb wahnsinnig von dem ewigen Sehnen und Denken.«

»Was sehen denn für Leute aus allen Fenstern?«

»Abgebrannte. Siebenundzwanzig hab' ich schon im Haus. Im Stall ist Stroh geschüttet für die alten Männer und die Jungens. Komm, laß Tante Anna für sie sorgen, wir fahren.«

Johann holte den Landauer aus der Remise und spannte die Braunen vor.

»Wir müssen zum Jungfernstieg«, sagte Paul, als er sich ein bißchen besonnen. »Sie sagen, es kann sein, daß sie noch heute mittag unser Haus sprengen müssen.«

»Unser Haus?« Was griff da wie eine würgende Hand an ihr Herz? – »Unser altes Haus?«

»Ja, wenn sie doch sogar das Rathaus – da werden sie vor Bürgerhäusern nicht haltmachen.«

Nein, nein. Das war ja selbstverständlich. »Wir müssen holen, was wir in den Wagen packen können.

Da sah sie vor der Pforte einen kleinen Wagen, den zog Piepenreimers, und die Rutsch-Anna sah aus Kissen und Decken und allerlei Kram hilflos zum Hause hinüber. Man sah, sie kamen als Hilfeflehende. Adelheid winkte sie in den Garten.

»Ja, Madame,« sagte Piepenreimers, »ich weiß mit die alte Kretur nicht mehr hin. Ich wohn' doch bei meiner Swester in'n Gräengießergang hinter der Gertrudenkirche, und Rutsch-Anna wohnt nebenan. Da hab' ich ihr gestern rausgeholt und nach'n Johanniskloster gebracht. Das brennt nu auch all. Wo soll sie hin? Is en Jammer, nich? Da hab' ich gedacht, schlepp ihr man gleich orndlich en Ende ab. Da sünd wir nu.«

Das Haus war voll Menschen bis unter das Dach, aber in dem Kämmerchen neben der Heineckenschen Schlafstube stand – vom Stadthaus als unentbehrlich mitgenommen – die blinkende Kupferwanne. Die hatte noch keinen Bewohner. Rutsch-Anna nahm sie befriedigt in Besitz, ließ ihre Kissen und Decken hineinpacken und erklärte, sie würde »da herrlich in schlafen. Und sie wär fuchba müde, denn Madame – da in der Stadt – gräsig ist es. Und wenn man denkt, nu brennt einem gleich das Dach übern Kopf, wo kann ein Mensch dabei Ruhe finden? Was ich hier nich in'n Wagen hab', das is allens verbrannt. Ich hab' nur noch mein büschen Zeug auf 'n Leib, und in'n Leib hab' ich seit zwei Tagen rein gar nichts.«

Adelheid brannte der Boden unter den Füßen. Sie überließ es Elise, für die Alte zu sorgen, und fuhr mit Paul zur Stadt. Piepenreimers, der gar nicht tot zu kriegen war, stieg zu Johann auf den Bock.

Dann fuhren sie durch den hellen Maitag, durch junggrüne Felder und zwischen hohen Haselhecken der großen Not entgegen.

* * *

Wie sie an die Bürgerweide kamen, lagen dort die Leute mit ihren geretteten Habseligkeiten unter freiem Himmel, hatten Feuer entzündet und kochten sich ein bißchen Warmes, Zichorienkaffee und Biersuppe. Es sah aus wie das Treiben einer ungeheuren Zigeunerschar. – Am Lübecker Tor kam es ihnen in großen Scharen entgegen, Vertriebene, denen die Flammen das Dach über dem Kopf nahmen, Retter, die mit tausend Fahrgelegenheiten Sachen fortschafften. Neugierige aus den Vororten, die müde heimkehrten. Und immer häufiger wurde ihnen zugerufen: »Wenn sie 'ran wollen an das Feuer – da kommt keiner durch.«

Sie antworteten nicht darauf. Adelheid saß und sprach auf dem ganzen Weg kaum ein Wort. Immer sah sie mitten in wogenden Flammen den weißen Bau der neuen Börse, und drinnen in den glühendheißen Räumen den heißgeliebten Mann. Einmal, am Glockengießerwall, rief sie einen Soldaten der Bürgerwehr an: »Steht die Börse noch?« Er wußte es nicht.

Nach vielem Anhalten und wieder Anfahren waren sie bis zur Bergstraße gekommen, da verwehrte man ihnen die Durchfahrt zum Jungfernstieg. Wie sie noch mit den Leuten verhandelten, die den Kordon zogen, hörte sie die Stimme ihres Vaters: »Adelheid! Willst du in euer Haus? Höchste Zeit, Kind.«

»Vater! Ach, Gott sei Dank, Vater. Weißt du, ob die Börse noch steht?«

Er wußte es auch nicht. »Warum denn?«

»Karl Anton soll dort sein.«

»Was? Dein Mann? Sieht ihm ganz ähnlich.«

Aus der Menge rief jemand: »Vor 'ner Viertelstunde stand sie noch. Das Dach rauchte, Flammen sah man nicht. Ich war auf Jakobi.«

»Gott sei gelobt.«

»Wir müssen durch, Vater. Piepenreimers sagt, da sind Schuten auf der Alster, die Möbel zu bergen. Ich muß wenigstens die Familienbilder und das alte Silber und die Papiere aus dem Haus holen. Kannst du uns nicht helfen? Bist du hier angestellt?«

Sprekelsen sah bös aus. Seine peinliche Eigenheit war gänzlich verschwunden. Rußflecken im Gesicht, der Kragen und die hohe Binde aufgeweicht und zerknittert, im rechten Oberärmel ein großes Loch, als hätte ihn da eine Schrankecke gefaßt, die grauen Haare in Strähnen um den Kopf, so stand er und half eine Spritze ausbessern, deren Schlauch das Wasser stromweise auf das Pflaster rinnen ließ. Der Tochter wurden die Augen feucht, als sie den alten Mann schuften sah. Wie ihm die Augen verschwollen waren! Wie seine Hände zitterten!

»Wann hast du zuletzt gegessen, Vater?«

»Gegessen? Ich weiß nicht. Es kommt nicht drauf an. Man ißt, wenn man etwas bekommt.«

Sie reichte einen Korb mit Brotschnitten aus dem Wagen, den Tante Anna vorsorglich mitgegeben. Von allen Seiten streckten sich Hände aus. Dazu tranken sie das Wasser, das in Tonnenwagen aus den Fleeten herangefahren wurde. Dick und grau war es, aber der brennende Durst! –

Zwei Minuten später öffnete sich ihnen der Kordon, sie fuhren den Jungfernstieg entlang und sahen über die kleine Alster herüber die brennenden Straßen, und hatten die dicken Rauchmassen über sich, und spürten Hitzwogen im ziehenden Wind, schlugen nach den Funken, die sich gleich tanzenden Goldkäfern in den Wagen jagten – atmeten schwerer mit jedem Augenblick, und einmal faßte Adelheid in jähem Schmerz Pauls Hand. »Unsere Heimat! Unsere schöne Heimat! –« Dann hielten die schnaubenden Pferde vor dem hohen, stolzen Giebelhaus.

Noch stand es groß, massig und unberührt da. Noch sah sein Sonnenauge oben im höchsten Dachgiebel leuchtend über den Fluß, die vielen Fenster blinkten, die Haustür war weit geöffnet. Mamsell Westphal war mit einem Mädchen dabei, Leinenzeug auf dem Flur in Körbe zu packen. Zwei Männer, denen sie goldene Berge versprochen, trugen es in eine große Schute, die jenseits der Straße auf der Alster schaukelte.

Adelheid stürzte sich mit in die Arbeit.

»Du holst die Bilder heraus, Paul. Nimm einen von den Leuten mit. Nicht die Kopien, nur die Originale. Vor allem die Familienbilder. Eil dich, in zwei Stunden müssen wir fort. Sie sagen ja, dann darf hier kein Mensch mehr in den Häusern sein.«

»Bleiben Sie bei der Wäsche, Mamsell. Und die guten Sachen vom Herrn. Und das Silber. Hier sind die Schlüssel. Ich hol' alle Bücher und Papiere, daß wir die nicht verlieren.«

Sie gehorchten ohne ein Widerwort. Wie das junge Ding wußte, was es wollte. Wie es den Kopf oben behielt. Keiner hatte gesehen, als Adelheid in die Knie sank beim Betreten des nach hinten gelegenen Eßzimmers. Da sah ihr das Feuer schon in die Fenster hinein. Sie hörte sein Knacken und Knallen, sah einen Speichergiebel hinten auf den unfernen Höfen sich neigen und wie einen sterbenden Kämpfer zusammenbrechen. Hochauf lohte die Glut, als er fiel. Ihr versagte die Luft. Das währte zwei Minuten, dann stand sie wieder auf den Füßen, und – einen alten Riesenschlüssel vom Brett am Büfett langend, ging sie hinaus, alle Treppen hinauf, vom ersten Boden auf den zweiten, und nun auf den letzten schmalen Raum direkt unter dem Dachfirst. Da war eine Luke im Dach, die konnte mit einer Stange aufgestoßen werden, eine Leiter lehnte darunter, ein Schornsteinfeger stieg hier heraus, wenn er die Kamine fegte. Die Luke stieß sie auf, klomm die Sprossen hinauf, schob den Kopf aus der Öffnung – – –

Herrgott! –

Qualm, Qualm, rote Lohe, glühende Luft. So weit der Blick reichte, überall Flammen! Sie suchte den Burstah, den Rathausmarkt, den Rödingsmarkt, die Kirchen, die Wahrzeichen der Stadt, und sah nichts als eingestürzte Dächer, zerrissene Mauern, Schuttmassen, Feuerberge, dazwischen weiße Dampfsäulen – ach ja, da rang der kleine Mensch mit unermüdlicher Ausdauer gegen das Element – sie sah endlich etwas, das mußte Nikolai sein, und dort drüben – die große, dunkle, rote Steinmasse, aus der es aufloderte wie ein einziger Feuerherd – das war Petri. Aber ihre Augen suchten ein anderes, und wenn der Wind die Rauchmassen aufwogen ließ, wenn hier und dort für Sekunden der Blick frei wurde, immer hatten ihre Augen nur das eine Ziel.

Da war es! Da sah sie die Börse. Sie tauchte auf wie ein weißer Würfel mitten im Feuer. Ringsum war alles eine geschlossene Masse auf- und abwogender Glut, aber sie sah sie, sah sie eben wieder ganz deutlich. Es gab da eine Lücke, einen schmalen Raum, da waren Häuser zusammengebrochen, durch die Lücke konnte sie das große Haus sehen. Und mit heißem Herzen betete sie um das geliebte Leben, dort unter dem rauchumschleierten Dach. »Heide –« das war Pauls Stimme. Sie kam vom Hof herauf und klang ganz schwach und fern durch all den Lärm der brausenden Flammen.

Er ängstigte sich. Keiner wußte, wo sie geblieben war.

Sie stieg nieder.

Eine Stunde und eine halbe schafften und rannten sie. Ein kleines Boot mit den Papieren des Hauses, den Familienbildern, mit Wäsche und Kleidung war, von einem Schauermann gesteuert, auf dem Weg hinüber zur Außenalster. Die große Jolle, die Piepenreimers sieghaft gegen hundert Reflektanten verteidigte, war hoch gefüllt mit Möbeln und Körben, vor allem mit der kostbaren Gemäldesammlung des Hauses. Eben überlegte Adelheid mit Paul, ob es nicht möglich sein sollte, den Schreibtisch des Vaters, ein wertvolles Stück mit eingelegter Arbeit, auseinanderzunehmen und so in die Jolle zu transportieren, da sah ein Feuerwehrmann in die Tür. »Hier müssen alle raus. Man en büschen schnell.«

»Jetzt schon?«

»Keine Sekunde zu verlieren, Madamchen. Sie legen draußen schon die Zündschnüre.«

Keine Zeit zu Wehmut, zum Abschiednehmen, hinaus aus dem Haus, das eine so geliebte, glückliche Heimat gewesen war.

Draußen standen andere. »Schnell, schnell. Da hinunter nach 'n neuen Jungfernstieg.« Und sie mußten laufen, denn alle riefen und trieben, und nun standen sie zwischen einer dichten Menschenmasse, die hinüberstarrte nach den schönen, alten Häusern, schweigend, gedrückt von dem Unheimlichen, was da kommen sollte.

Alle Türen im Hause standen offen, wie sie sie beim Hinaustragen der Sachen aufgerissen und, um Zeit zu sparen, nicht wieder geschlossen waren. Da sah man durch die Fenster der Hinterzimmer die Glut, als wäre schon der Hof und die Stallungen in Feuer. Oben aber immer noch das goldene Glücksauge. Nun fiel der Feuerschein auch dort heraus. Was war das? Waren schon zündende Funken durch die Dachziegel gefallen? Glühten die Böden?

In diesem Augenblick ein Zittern im Boden, ein Grollen und dann, jäh aufbrüllend, ein schwerer Schlag.

Da riß droben das Dach, aus den goldenen Augen, aus den Fenstern, aus der breiten Haustür flogen Sparren und Steine, hochauf schoß eine Säule von Staub, Asche, Feuer, die breite Vorderfront neigte sich in ihrer ganzen Massigkeit. – –

Ein einziger Aufschrei ging durch die Menge, da war dort, wo eben noch Karl Antons viel bewundertes Herrenhaus gestanden, eine breite, klaffende Lücke in der Straße, und dahinter sah man die Feuermassen, die gierige Hände nach dem reichen Besitz ausreckten.

Ein zweiter Schlag, ein dritter – rechts und links sanken die Nachbarhäuser –, die Menschen standen mit grauen Gesichtern und zitterten.

Aber der Wind wuchs sich zum sausenden Sturm aus und warf die Glut in tollem Schwung hinweg über den Spalt, und hetzte die Flammen, und heulte sein Hohn- und Haßlied auf Menschenwerk, und als der Abend kam, stand am Jungfernstieg nicht ein einziges der reichen Herrenhäuser mehr.

Adelheid hatte nur auf das Haus gesehen. Als es gesunken, haftete ihr Blick noch immer auf dem leeren Fleck, sie dachte nicht, sie war wie erschlagen von dem erschütternden Zusammenbruch.

»Heide«, sagte Paul neben ihr. »O Gott, Heide.«

Seine Hand legte sich auf ihren Arm, er deutete zur Alster.

Da waren die brennenden Scheite und Ziegel und Sparren der Explosion auf die Jollen gestürzt, lichterloh flammten sie auf, man sah Menschen über Bord springen und an Land hasten, all ihr Rettungswerk war vergebens gewesen. Nur das, was in dem kleinen Boot schon ziemlich fern über das Wasser trieb, war von allem Reichtum, von aller Schönheit ihres Hauses übriggeblieben.

Adelheid sah in das Gesicht des Jungen. Sie sah, er war am Zusammenbrechen, nur mit letzter Kraftanstrengung hielt er sich noch auf den Füßen.

»Komm,« sagte sie, »wir wollen unseren Wagen suchen und heimfahren. Wir taten, was wir konnten. Daß es so ausging, stand in einer anderen Hand.«

Es war Nachmittag, als sie draußen in Hamm ankamen.

»Alles verloren?« jammerte Madame Hellwig. »Deine Aussteuer auch? Und die Gemäldesammlung? Und die wunderbaren Möbel? Die ganze glänzende Einrichtung? Und du sagst kein Wort, Adelheid? Zerreißt es dir denn nicht das Herz?«

»Liebe Tante, mein Mann ist noch immer in Gefahr. Wenn Gott mir meinen Mann und mein Kind erhält, dann will ich reich sein, auch wenn wir noch viel ärmer werden.«

Als es dunkelte, hörte sie draußen auf dem Kies einen Schritt, den kannte sie wie keinen andern.

Einen Ton stieß sie aus, der klang mehr wie Schluchzen als wie Jauchzen, dann war sie hinaus und lag in den Armen ihres Mannes.

Das Feuer war zusammengesunken um die Börse herum, es wütete noch weiter in anderen Bezirken, es fraß und fraß, aber das Herz der Handelsstadt, die Börse, war durch den Mut von zehn Hamburger Männern, die unablässig jede aufglimmende Stelle austraten, jedes Flugfeuer löschten, mitten in der höllischen Glut aushielten bis zum letzten Wassertropfen, gerettet worden.

Sie sagten beide nicht viel, sie waren zu müde, zu zermürbt von allem, was diese Tage gebracht hatten.

»Sie werden essen wollen«, sagte Tante Anna. »Sie müssen ja ganz ausgehungert sein.«

»Nichts essen. Nur trinken, irgend etwas Kühles. Mein Hals ist verdorrt. Und dann möcht' ich baden. Wasser, Wasser, Wasser, in mir und um mich.«

»Baden! Ach Gott, Liebster, du kannst nicht baden. Wie mir das leid tut.«

»? ? ?«

»Ja, in der Badewanne liegt die Rutsch-Anna und schläft. Ich kann die arme Kreatur doch nicht aus dem Schlaf holen. Sie hat zwei Nächte keine Ruhe gehabt.«

Da lachte Heinecken. Es klang heiser, denn die Kehle war ihm krank von Rauch und Hitze, aber der Ton kam trotzdem aus innerstem Herzen.

»Ausgerechnet die Rutsch-Anna. – Laß sie liegen, Adelheid. Ich steige im Keller in den Waschbottich.«

Sie gingen, nun beide lachend, zusammen in den Keller.

»Wo sie so viel verloren haben«, kopfschüttelte Madame Hellwig. »Und tun, als wenn das nichts ist. Lachen noch über die alte Person in der Badewanne! Manchmal verstehe ich Adelheid wirklich nicht.«

* * *

»Ich kann nicht wieder aufbauen«, sagte Heinecken einige Tage später. »Ich will offen mit dir reden, mein liebes Herz. Die Versicherung reicht nicht, vorausgesetzt, daß die Kassen zahlen können bei solcher Katastrophe. – Und ich bin im Augenblick ohnehin im Druck. Das kann jedem passieren, damit muß jeder Kaufmann rechnen. Ich habe zuviel in Geschäften festgelegt, was ich ohne große Verluste nicht herausziehen kann. Es ist mir recht leid, dir das zu sagen, aber wir müssen uns für die nächsten Jahre hier mit dem Landhaus begnügen.«

»Ach, Karl Anton, wie gern. Mach dir keine Sorgen um mich. Für Brigittchen kann es keinen schöneren Fleck geben, und ich brauche wirklich keinen Glanz. Wenn ich dich habe und das Kind!«

Er küßte sie herzlich. Vielleicht, so froh er über ihre Verständigkeit war, blieb doch etwas in ihm, das sagte: Wenn sie ganz dächte wie ich, würde es ihr sauer, den Glanz zu entbehren. Mir ist die Geschichte hier draußen zu eng. Aber es ist ja noch nicht aller Tage Abend.

* * *

Paul stand an seinem Pult im Sprekelsenschen Kontor und kopierte Briefe. Otje Soltau warf ihm von Zeit zu Zeit einen Blick zu.

Ob sich denn in dem Stockfisch gar kein Blut rührte? Heineckens Sohn, Heineckens, von dem sie alle sagten, er könnte den Teufel tanzen lassen, und immer so eben weg und wortkarg, es war schon nicht mehr schön.

Herr Ladwig setzte den Hut auf und griff zum Stock, er ging an den Hafen. Sprekelsen war an der Börse, der erste Buchhalter fehlte wegen einer Lungenentzündung, man konnte sich eine leichtere Viertelstunde gönnen.

»Sagen Sie mal, Heinecken, ist das wahr, daß Ihr Vater nicht wieder aufbaut?«

»Darüber kann ich Ihnen nichts sagen.«

»Die ganze Stadt weiß es.«

»So.«

»Muß doch niederträchtig für Sie sein. Das alte famose Haus, wirklich 'ne ganz feudale Bude war es. Und mit einem Schlag – huit! – so einfach umgeblasen.«

Paul schnitt an seiner Feder, antworten tat er nicht.

»Ich hätt' was drum gegeben, wenn ich es gesehen hätte.«

»Ich sah es.« Die Worte kamen wie unabsichtlich.

»Was? Sie waren da? Sahen, wie es gesprengt wurde? Und haben hier kein Wort davon erzählt? Eine ganz schnurrige Kruke sind Sie.«

In das schmale Gesicht des langen Jungen stieg eine scharfe Röte.

»Persönliche Beleidigungen verbitte ich mir, Soltau.«

Otje Soltau lachte hellauf. »Das ist keine Beleidigung, das ist eher eine Anerkennung Ihrer Stockfischnatur. So – da haben Sie die Feder aber verschnitten. – Und nu wohnen Sie draußen in Hamm? Müssen alle Tage reinlaufen? Oder fahren Sie?«

»Mal so, mal so.«

»Ich denke,« mischte sich der Kommis ein, »Sie ziehen zum ersten Juni zu Ladwig? Seine Tochter Minna hat es meiner kleinen Schwester erzählt.«

Soltau jauchzte auf. »Zu Ladwig! Ihrem Freund und Gönner! – Na, nehmen Sie mir das nicht übel, das muß ja höllisch ledern werden.«

Paul antwortete nicht mehr. Gegen seinen Genossen und Mitlehrling kam er nicht auf. In der Arbeit vielleicht, obgleich Otje durch Flottheit und schnelles Verständnis ersetzte, was ihm an Sorgsamkeit abging, aber mit dem Munde war er Paul gar zu überlegen.

Es wurde wieder still im Kontor, nur die Federn kratzten, und die Fliegen surrten gegen die Scheiben. Draußen rieselte Regen nieder, der Regen, der vor fünf Tagen einsetzte, als schon die Verzweiflung Hamburgs Männer packen wollte ob der eigenen Ohnmacht gegenüber den jagenden, brüllenden Feuermassen. In der Sonntagnacht hatte er begonnen, und wie er niedersank auf die glühenden Trümmer, auf die heißen Aschenberge, stiegen ungeheure weiße Dampfwolken empor, wurden wieder zu Tropfen, sanken abermals, wurden zu gießenden Bächen und wandelten alle heißen Dächer in triefende Hügel, alles ausgedörrte Holzwerk in nasse Schwammassen, die qualmerfüllten, heißen Straßen in kühle Bachbetten.

Da sanken die Flammen zusammen, zischten, wanden sich im Kampf mit dem feindlichen Bruder, zuckten immer einmal wieder auf, bald hier, bald da, wurden matter, schlaffer, gingen schlafen.

Und nun bauten die Hamburger schon wieder auf. Ihre Hacken und Äxte rissen die Trümmer auseinander, ihre Karren fuhren den Schutt hinweg, ihre Hände sichteten, ihre Augen übersahen, was zerstört war, und ihr kluger Sinn errechnete, was werden sollte.

Hamburg sollte größer und stärker aus der Asche auferstehen.

Sie bauten wieder auf.

Nur Heinecken baute sein Vaterhaus nicht zum zweiten Male. Er verkaufte den Platz, und was er dafür einnahm, steckte er in ein neues Unternehmen; er beteiligte sich an Kaffeeplantagen in Holländisch-Indien.

Warum die Ausländer da draußen den Rahm abschöpfen lassen? Hatte Hamburg keine eigenen Besitzungen in Übersee, so sollte doch der Hamburger sie haben. Er wollte wie die Godeffroys und die Jänisch Weltbürger werden. Hamburger mit dem Herzen, Weltbürger mit dem Kopf.

Davon sprach er einmal zu Paul. Er wollte in dem Sohn die eigenen Ideen anregen.

Paul sagte nur: »Und das ganze Geld hast du in solch unsicheres Unternehmen gesteckt? Mein Gott.«

Der Vater lachte ärgerlich auf. Sie sprachen für die nächste Zeit nicht wieder von Geschäften.

Und nun hatte der Sohn es durchgesetzt, daß er zu seinem Prokuristen zog.

Der hatte eine Etage am Pferdemarkt, vorn hinaus zwei Zimmer, hinten zwei Schlafkämmerchen und eine dunkle Küche. Das kleinere Vorzimmer bekam Paul.

Ladwig war Witwer, eine Morgenfrau besorgte die groben Arbeiten, setzte das Essen an und ging, wenn Minna, die vierzehnjährige Tochter, aus der Schule kam. Die sollte dem Vater die Hausfrau ersetzen, sobald sie konfirmiert sein würde.

Als Paul im Begriff war, seine Sachen aus den eleganten Koffern in Schrank und Kommode zu räumen, klopfte es, und Minna Ladwig stand auf der Schwelle. Außerordentlich sauber und wohlerzogen. Weder Schürze noch Kleid hatten ein Fältchen, und aus den dicken Blondzöpfen wagte sich kein vorwitziges Haar hervor. Schmal war das Kind, blaß, aber nicht klein, und bei aller Einfachheit hatte es etwas an sich, als sei es nicht die Tochter eines Angestellten, sondern ein junges Mädchen der Gesellschaft.

»Ich bin Minna Ladwig. Vater läßt bitten, wenn Sie etwas wollen, möchten Sie nur klingeln.«

Aber Paul klingelte nie. Er konnte sich nicht entschließen, das junge Geschöpf wie eine Dienerin in sein Zimmer zu rufen. Vater und Tochter wußten es ihm Dank.

Sie sahen sich selten, doch wenn Paul abends in seinem Zimmer saß, hörte er in der Nebenstube gedämpftes Sprechen, und einmal forderte Ladwig ihn auf, abends zu ihnen zu kommen und sich ein Lehrbuch zu holen, von dem sie gesprochen.

Da brannte auf dem Sofatisch eine messingne Regulatorlampe, und rechts und links vom Tisch saßen auf einfachen Rohrstühlen Vater und Tochter. Das Sofa blieb frei, man schonte es. Auch Paul bekam einen Rohrstuhl. Seitdem kam er öfter in das Zimmer, und dann wurde es Brauch, daß er mit seinen Wirten Abendbrot aß. Einfach, aber sehr sauber und nett war da der ganze Zuschnitt.

Gleich bei dem ersten Besuch fiel es Paul auf, daß die Möbel des Zimmers zwar alt waren, aber von bestem Material und bester Arbeit. Daß Porträts an den Wänden hingen, die Herren und Damen in verschollener Mode zeigten, und zwar in reicher Kleidung. Es mußten, der Ähnlichkeit nach, Familienbilder sein.

»Meine Eltern«, sagte Ladwig, als er Pauls Blick bemerkte; dann sprach er von etwas anderem.

Seine ganzen drei Lehrjahre und das erste Jahr als Kommis wohnte Paul in der stillen Wohnung am Pferdemarkt, und ohne daß er es wußte, wuchs ihm in den Jahren Minna mit ihrer Wohlanständigkeit, ihrer feinen geraden Haltung, den sittsamen Blondzöpfen und dem feingeschnittenen, blassen Gesicht in das Herz hinein.

Und daß für sie kein anderer junger Mann auf der Welt war als Paul Heinecken, das war selbstverständlich. Doch nie kam ihr der Gedanke an eine gemeinsame Zukunft. Es war schon so viel Glück, neben ihm zu leben und ganz still und unbemerkt für sein Wohl sorgen zu dürfen.

Als das vierte Jahr vorüber, eröffnete Karl Anton seinem Sohn, nun sei es Zeit für ihn, nach drüben zu gehen. Er wolle nicht gerade auf Amerika bestehen, aber England sei das mindeste.

Und dann mußte Paul die Koffer packen.

Acht Tage vorher sollte er zum letztenmal einen festlichen Abend bei Ladwig verleben. Zu seiner Überraschung brannten an diesem Abend zwei bronzene Wandleuchter neben der Lampe, jeder mit drei Kerzen. Es war fast wie Weihnachten. Der Tisch war festlich gedeckt, sogar ein paar Blumen standen in einer kleinen Vase von Rubinglas auf dem blendend weißen Tisch, und es roch von der Küche her nach Gebratenem.

Obgleich es noch September war, hatte der Herbst einen tüchtigen Nordwest mit Nebel und Regen geschickt. Es war draußen empfindlich kalt, und hier im alten Kachelofen bullerte ein Feuer. Auch eine unerhörte Verschwendung. Was aber allem die Krone aufsetzte: Ladwig holte hinter dem Ofen eine Flasche Bordeaux hervor und hielt sie schmunzelnd gegen das Lampenlicht. »Ich glaube, sie hat jetzt die richtige Temperatur.«

Dann kam Minna und trug Beefsteak auf, jedes schön mit einem Spiegelei bedeckt und mit kleinen Senfgurken und Mixed Pickles garniert. Es hatte Paul daheim am reichen elterlichen Tisch bei allen Finessen der jeweiligen Jahreszeit noch nie so gut geschmeckt, wie hier am einfachen Tisch seines Wirtes.

Nach ihrer Art wurden sie ganz vergnügt, Ladwig machte kleine harmlose Späße, deren Trockenheit auch durch den guten Rotwein nicht gebessert wurde, Paul hielt eine Rede, mit vielen Verlegenheitspausen, auf seinen Hausherrn, der ihm zugleich durch diese vier Jahre ein Lehrmeister und noch mehr, das beste Beispiel des fleißigen Kaufmanns gewesen sei, stockte am Schluß, sah Minna an, wollte ihren Namen einflechten, entgleiste gänzlich, und leerte hastig sein Glas: »Auf Ihr Wohl, Herr Ladwig.«

Minna, die trotz ihrer gesenkten Augen den Blick und seine Bedeutung bemerkt hatte, bekam ordentlich ein bißchen Farbe, und als sie mit Paul anstieß, sagte er mit einer Verneigung: »Wie hübsch Sie heute abend sind, Fräulein Minna.«

Das erste Kompliment, das er ihr sagte. Und wie er sie dabei ansah. Sie hatte nie gedacht, daß der lange Paul Heinecken so herzliche Augen machen könnte.

Als das Mahl vorüber war, und Minna ihre Teller und Schüsseln in die Küche getragen hatte, wo sie sie gleich wieder säuberte, bot Ladwig seinem Gast eine Zigarre an. Das geschah in all den Jahren auch zum erstenmal. Und dann setzten sie sich in das Sofa, jeder behaglich in eine Ecke, und fühlten sich außerordentlich gemütlich.

»Sehen Sie mal, lieber Heinecken,« sagte der Prokurist, »heute feiern wir nicht nur ein kleines Abschiedsfest von Ihnen, heute habe ich auch einen ganz besonderen Tag in meinem Leben.

Ich bin heute – sozusagen – zum erstenmal seit meiner Jugend, zum erstenmal seit vierzig Jahren ein freier Mann.«

Paul sah ihn etwas verwundert an.

»Sie haben am ersten Abend, als Sie hier bei uns saßen, meine alten Familienbilder angesehen, als dächten Sie: Wie kommen die hierher? Ich hab' es gemerkt, lassen Sie nur, das schadet nichts, aber damals mochte ich noch nicht reden, Sie waren uns auch noch zu fremd. Heute sind Sie uns wirklich ein junger Freund geworden, heute will ich Ihnen erzählen, was nur noch außer Ihnen dann zwei Menschen wissen, meine Minna und Herr Sprekelsen.

Ich bin kein Hamburger. Ich stamme aus Bremen. Mein Vater war einer von den ganz großen Kaufleuten da. Meine Mutter hatte er sich aus einem adligen holsteinischen Hause geholt. Davon hat mein Kind noch die Haltung und den Gang. So etwas schlägt wieder durch.

Und als Junge hat es nichts gegeben, was ich nicht haben konnte. Mein eigenes Reitpferd, ein Ruderboot, einen Erzieher, der mich auf Schritt und Tritt begleiten mußte, die feinsten Kittel – na, wie das so ist. Dann kam es von heute auf morgen. In den napoleonischen Kriegen wurden meinem Vater drei Schiffe mit voller Ladung von den Franzosen weggenommen, als sie durch den Kanal kamen. Zugleich krachte eine englische Bank, in der er sein Vermögen in jenen Kriegszeiten sicherer geglaubt hatte als bei uns, dann kamen noch ein paar kleinere Sachen dazu, da war alles fort und Schulden über Schulden.

Mein Vater akkordierte mit den Gläubigern. Sie wußten alle, daß er keine Schuld hatte, vielleicht nur etwas waghalsig gewesen war, man kam ihm entgegen, er zahlte sechzig Prozent aus, das andere wurde gestrichen. Und er fing wieder an. Aber wir lebten wie kleine Leute, denn die vierzig unbezahlten Prozent drückten ihn schwer. Durch ihn sollte kein Mensch in Verlust sein. Was er erarbeitete, das ging in die Hände der Gläubiger, zuerst waren es nur ein paar hundert Mark im Jahr, dann wurden tausend daraus, zweitausend, wir lebten auf die sparsamste Weise.

Meine Mutter starb schon im zweiten Jahr. Sie war lange leidend gewesen, dieser Stoß hatte sie geworfen.

Als das Unglück über uns kam, war ich ein dreizehnjähriger Junge.

Fünf Jahre nachher, wir waren gerade wieder ein bißchen im Aufsteigen, starb mein Vater am Typhus. Wir wurden diese Krankheit in jenen Jahren, wo wir die Franzosen und ihre Hilfsvölker und all das Elend im Lande hatten, gar nicht los in den Städten.

Als mein Vater fühlte, daß es mit ihm eine schlimme Wendung nahm, sprach er offen mit mir. So und so viel stand noch aus, fast alles, was er nicht hatte zahlen können. Niemand würde Zahlung von mir verlangen, die Gläubiger hatten sich für befriedigt erklärt. Aber – wenn man ein Ehrenmann ist – ja, dann zahlt man doch bis auf den letzten Schilling. Und so blieben mir, wenn er aus der Welt ging, also diese Schulden. Keine leichte Erbschaft, aber ich hab' es ihm in die Hand gelobt, ich würde dafür einstehen. Und er starb leichter, als er sah, daß seine Sache in guten Händen blieb.

Das Jahr darauf zogen wir gegen Napoleon. Ich bin dabei gewesen. Ich bin mit in Frankreich gewesen. Ich hab' auch einmal gefühlt, wie es ist, wenn man für das Vaterland einsteht. Aber nachher – ach, wie klein ist da alles wieder geworden. Und wir selber – man kann nicht immer in Begeisterung und großen Worten leben, Heinecken. Man muß wieder zurück in die tägliche Pflicht. Zuerst, nach solchem Jahr, kommt einem das alles eng und verächtlich vor, aber dann sieht man ein, daß diese kleine tägliche Arbeit das eigentliche ist, das, was unaufhörlich schafft und fördert. Wie Schiller so schön von ihr sagt:

Die zu dem Bau der Ewigkeiten
Zwar Sandkorn nur um Sandkorn reicht,
Doch von der großen Schuld der Zeiten
Minuten, Tage, Jahre streicht.«

Der alte Herr redete sich ganz warm. Es war seit langen Jahren das erstemal, daß er einem andern Menschen so seine Seele aufschloß. Der ungewohnte Wein trug dazu bei, ihn die strenge Reserve, die sonst sein ganzes Wesen umgab, vergessen zu lassen.

»Und ich hatte ja auch eine große Pflicht, die nur durch Arbeit gutzumachen war. Erst ging es sehr langsam, bis ich überhaupt eine Stelle hatte, bei der ich etwas ersparen konnte. Und wie wenig war das! Zum eigenen Geschäft fehlte alles Kapital. Mir waren von der einstigen Pracht nur diese Sachen geblieben, die Sie hier in der Wohnung sehen. Möbel aus der Aussteuer meiner Mutter und die alten Familienbilder. Alles andere war längst verkauft. Sieben Jahre schlug ich mich in Bremen durch. Dann, als ich für meinen Prinzipal hier nach Hamburg reiste, machte es sich, daß ich zu Herrn Sprekelsen in Beziehung trat. Der war damals ja selber noch jung, und ich kam hierher. Es war mir lieb, hier in Hamburg kannte mich niemand, niemand wußte, woher ich stammte, und was mir anhing.

Da kam es nach drei Jahren, daß Herr Sprekelsen mich mal offen fragte, warum ich denn so entsetzlich knauserig lebte? Und warum ich gar nicht ans Heiraten dächte? Damals – ja, wenn man jung ist, redet es sich leichter –, da hab' ich ihm denn alles erzählt.

Wissen Sie, Heinecken, Herr Sprekelsen gilt für ein bißchen sehr genau im Geschäft, für ein bißchen kleinlich, aber ich hab' ihn anders kennengelernt. Er hat mir damals die Last zur Hälfte von den Schultern genommen. Ladwig, sagte er, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ich will Sie mir und dem Geschäft erhalten. Ich zahle alles für Sie, und wir ziehen das in kleineren Posten jedes Jahr von Ihrem Gehalt ab.

Ich dachte, ich hörte nicht richtig, aber es war wirklich so. Ich wurde meine Schulden nicht los, aber ich sah glatte Bahn vor mir. Starb ich, eh alles beglichen war, ja, dann war Sprekelsen der Leidtragende. Das hat mich angespornt, all meine Kraft für sein Geschäft einzusetzen. Ich kann mit gutem Gewissen heute sagen: Wir haben uns bei diesem Handel beide gut gestanden. Und so hab' ich heiraten können, hab' bescheiden, aber sicher leben können, und gestern war der letzte Schilling abgezogen vom Gehalt, gestern bin ich ein schuldenloser, freier Mann geworden.«

Paul sah in das gefurchte Gesicht, auf das dünne graue Haar seines Wirtes, auf die Hände, die seit dreißig Jahren immer am gleichen Pult die Feder geführt hatten, um die Schulden eines lange Verfallenen zu tilgen. Etwas schüttelte ihn innerlich.

Schwer mußte das gewesen sein, aber doch – es war doch gar nicht anders möglich gewesen.

»Sehen Sie,« sagte Ladwig und lächelte vor sich hin, »nun kann ich noch ein paar Jahre ein wenig für mein Kind zurücklegen, vielleicht einmal ihr eine Aussteuer schaffen, vielleicht einen Notgroschen für die Zukunft, und dann – auch wenn das nicht viel sein sollte – ich lasse ihr das beste, was wir Eltern unseren Kindern hinterlassen können: einen guten Namen. Durch die Ladwigs ist niemand zu Schaden gekommen. Wir haben für alles eingestanden.«

Er trank in kleinen Schlückchen ein wenig Wein. Er mußte sich wieder fassen, es hatte ihn doch erregt. Es war doch eine Abrechnung seines ganzen Lebens.

Paul saß und sagte kein Wort. Ladwig erwartete auch keins.

Nach einer kleinen Pause begann er wieder: »Und nun, wo Sie hinausgehen in das Leben, lieber Heinecken, nun möchte ich Ihnen das Wort mitgeben, das wir Kaufleute uns alle über unser Leben schreiben sollten: Über alles die Ehre. – Sehen Sie, die Ehre des Kaufmanns, das ist sein guter, unbefleckter, geschäftlicher Name. Und der soll nicht nur nach außen hin leuchten, nein, vor sich selber soll der Kaufmann, wenn er in stillen Stunden seine Bilanz zieht, sagen können: Es kann alles, was ich getan und gehandelt habe, vor jedem kaufmännischen Ehrengericht bestehen, es kann auch vor dem Richter in meiner eigenen Brust bestehen.

Gehen Sie sicher und solide Schritt für Schritt, lieber Heinecken. Lassen Sie sich nicht zu blendenden Unternehmungen verführen. – Ich will sie nicht alle so ganz verurteilen. Es gibt Menschen, denen das gelingt, weil sie einen schärferen Blick, gleichsam einen Sinn haben, der die Zukunft vorausfühlt, gut, mögen die handeln, wie sie es vor sich verantworten können. Aber Sie, lieber Heinecken, und ich und Herr Sprekelsen, wir und noch tausend andere, wir gehören nicht dazu. Wir müssen beim Bauen jeden Stein mit dem Winkelmaß messen, ehe wir ihn setzen. Dafür steht, was wir bauen, unser Leben und unser Geschäft, dann auf sicheren Fundamenten.

Und auf diese festen Fundamente, auf die guten, ehrlichen Grundlagen Ihrer Zukunft, da wollen wir nun das letzte Glas leeren.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Paul, als die Gläser zusammenklangen. »Ich danke Ihnen wirklich von Herzen, Herr Ladwig.«

* * *

Acht Tage später stand er vor Minna und sagte ihr Lebewohl. Drei Jahre in England. Eine lange Zeit. »Aber ich werde mir erlauben, Ihrem Herrn Vater immer einmal Nachricht zu geben. Er hat mir gestattet, mich an ihn zu wenden, wann immer ich einen Rat brauche. Und nun« – da wurden ihm die Worte knapp und die Hände ungeschickt – »ich habe eine Kleinigkeit – die möchte ich dich bitten, liebe Minna, als ein Andenken« – er fummelte in der Westentasche – »und es bleibt unter uns, bis ich wieder da bin – bitte –« Ein kleines, weißes Päckchen lag in ihrer Hand. »Auf Wiedersehen, liebe Minna, liebe Minna.« Schon lief er aus der Tür.

Als Minna Ladwig in ihrem Stübchen das Papier löste, lag ein goldenes Herzchen darin. – –

* * *

Heineckens wohnten auch nach fünf Jahren noch immer in Hamm. Adelheid fühlte sich so wohl da draußen, sie mochte an kein anderes Heim denken, und ihr Mann saß so tief in seinen Unternehmungen, daß ein neues Stadthaus immer wieder beiseite geschoben wurde.

Heinecken sah jugendlicher aus denn je. Als er Paul an Bord des englischen Dampfers brachte, der ihn nach London führte, fragten Herren an Bord: War Ihr Bruder auch drüben? und lachten ihn aus, als er sagte, das sei eben sein Vater gewesen, und der wäre bereits in die fünfzig hinein.

Nur einen kleinen Rechenfehler hatte sein Leben. Die sechs Buben, auf die er sicher gerechnet, wollten sich nicht einstellen. Brigittchen blieb das einzige Kind der zweiten Frau, und Paul der einzige Erbe der Firma. Doch schon tröstete sich der unverwüstliche Optimist: Brigittchen bringt mir einmal einen Schwiegersohn, der Paul zur Seite steht. Nur darum sich keine grauen Haare wachsen lassen!

Für ein Jahr wurde Adelheids Leben stiller als sonst, da war ihr Mann – ein unerhörtes Unternehmen für einen Herrn in seinen Jahren – nach Indien gefahren. Otje Soltau, der jetzt Otto hieß, und ein sehr gewandter Herr war, tadellos in Benehmen und Aufmachung, war als sein Sekretär und Begleiter mit ihm hinübergegangen. Die Hamburger Geschäfte besorgte der junge Schröder, der Sohn des alten langjährigen Kompagnons. Sprekelsen, als er zuerst von dem Plan hörte, schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Solch ein Unfug! Ein Mann, der Frau und Kind hatte! Der in keiner Weise zu solchem Schritt gezwungen war. Der nun hinausging, mit eigenen Augen zu sehen, wie er sein Riesengeschäft noch vergrößern könnte!

Verrückt! Komplett verrückt!

Und Adelheid sagte noch: »Laß ihn, Vater, es wird ihm gut tun. Hamburg ist ihm zu eng.«

Zum Lachen war es, wenn man sich nicht krank ärgern wollte. Von ihm nahmen sie ja keinen Rat an, aber sie würden sehen, wie das ausging.

Allein das ungesunde Klima! Und die Malaien, denen der Teufel trauen mochte da auf Java, und wo er überall hinwollte.

Und – das konnte man Adelheid natürlich nicht sagen – diese Weiber da drüben mit ihrem verliebten Blut! Karl Anton hatte einmal sehr zu leben gewußt. Und seine fünfzig Jahre drückten ihn nicht.

Es ging alles gut ab, nein, nicht nur gut, glänzend.

Neue Verbindungen brachte diese Reise. Große Aufträge brachte sie, und Adelheid brachte sie einen Mann wieder, so verliebt, wie kaum in den ersten Jahren ihrer Ehe. »Denn mein geliebtes Herz, erst da draußen habe ich es vollkommen einsehen gelernt, was für einen Schatz ich in dir besitze. Die deutsche Frau steht über allen Frauen der ganzen Welt, und von allen deutschen Frauen bist du –«

Da legte sie ihm lachend die Hand auf den Mund und riet ihm, nicht den Neid der Götter herabzurufen.

Drei Wochen nach seiner Heimkehr gaben sie ein Gartenfest, von dem sprach die ganze Stadt. Dreihundert Personen. Im Garten, der zu einem riesigen Park geworden war, denn sie hatten benachbarte Weideplätze voll alter, herrlicher Bäume in den letzten Jahren hinzugekauft, waren Zelte aus rotweißem Leinen gestellt, in denen getafelt wurde. Jedes Zelt war mit einer anderen Blume geschmückt. In einem aus reinweißem Stoff, in dem die Jugend saß, hing alles voll heller Rosen, und die jungen Mädchen bekamen bei ihrer Ankunft Rosenkränze, die sie sich in die Locken drückten. Die jungen Leute trugen halberblühte Rosen gleicher Farbe im Knopfloch.

In der Küche glühte Frau Fürst mit ihrem Stab und die sieben Dienstmädchen von Heineckens, Sprekelsens und Averdiecks nebst einem Schwarm von Aufwärterinnen, alle in blauweißen Kleidern mit weißen Stickereischürzen und weißen Häubchen, standen unter Johanns Kommando. Lohndiener waren damals auf Privatgesellschaften noch eine Seltenheit. Heinecken besonders wollte sie nicht.

»Morgens laufen sie bei den Beerdigungen und abends beim Tanz. Ich mag an meinem Tisch keine Kerle, die nach Leichen riechen.«

Brigittchen flirrte wie ein reizender Falter im weißen Mullkleidchen, Monatsrosen in den schwarzen Haaren, um den Tisch der jüngsten Jugend, von allen gehätschelt, von allen umschmeichelt, lustig wie ein Kobold und reizend wie eine Elfe.

Nach dem Essen zerstreute sich die große Gesellschaft im Park und – aus dem Park hinauswandernd – zwischen die hohen grünen Redder, die ganz Hamm durchzogen, alle Wege einfaßten, Heckentore freilassend, durch die man auf üppige Kuhweiden sah mit prachtvollem, rotbuntem Holsteiner Vieh. Und Landhäuser lagen dazwischen mit uralten Baummassen in den Gärten, und kleine Hölzungen, und einfache, strohgedeckte Bauernhäuser, und überall blühten in den Gärten Stockrosen und Bauernrosen und Reseda und Klatschmohn und Akelei und Fingerhut, als hätte der Herrgott seine bunteste Palette über Hamm ausgewischt. Dazwischen wanderten die dreihundert geputzten Menschen, Sonntagsbehagen auf den Gesichtern, Sonntagslachen im Herzen. Der ganze stille, grüne Weltwinkel war voll von ihrer jubelnden, singenden Sommerfreude.

Dann dämmerte es, zwischen den Bäumen lagen die schweren Abendschatten. Johann ging von Baum zu Baum und entzündete Laternen, bis der ganze große Garten von Leuchtkäfern zu flimmern schien, denn alle Laternchen waren von ölgetränktem, goldgelbem Papier.

Zuletzt, als Höhepunkt des Tages, brannte Meister Munk, der Pyrotechniker, er hielt streng auf seine Bezeichnung, ein Feuerwerk ab, wie es sich bisher kein Privatmann geleistet hatte.

Ahs und Ohs und tausend entzückte Ausrufe schwirrten durch die Luft. Tante Anna, näselnd wie nur im höchsten Affekt, umfaßte Adelheid und rief: »Du bist wirklich ein gottgesegnetes Menschenkind, liebste Nichte. Der Himmel und dein Mann – sie überschütten dich beide.«

Eine Stunde später lag alles unter friedlichem Mondschein, die Gäste waren zu Wagen und zu Fuß auf dem Heimweg. Adelheid stand am Bett ihres Töchterchens, das mit heißen Backen im Schlaf redete, und die Augen aufschlagend, als hätte der Blick der Mutter es geweckt, plötzlich beide Ärmchen hob: »Süße Mama, süße Mama.« Sie riß das warme Körperchen in jähem Impuls an sich: »Du mein Herzgeliebtestes. Ja, es ist zu viel. Wie ich glücklich bin, wie ich glücklich bin.«

* * *

Jeden Morgen ritt Karl Anton auf Satan zur Stadt. Da er seit dem Brand des Stadthauses keinen eigenen Stall mehr in der Stadt besaß, wurde das Tier bei einem Fuhrwerksbesitzer untergestellt. Es hatte sich schwer gewöhnt, zwischen fremden Pferden zu stehen. Eine Weile hatte Heinecken gemeint, er werde ganz auf diese Morgenfreude verzichten müssen. Nach und nach ging es besser, doch hatte Satans Nervosität mit seinen Jahren nicht ab-, sondern zugenommen, so daß er nur noch als Reitpferd von seinem Besitzer benutzt wurde. Vor den leichten Wagen ließ Heinecken einen Fuchs spannen, seit Satan einmal durchgegangen war, als er Frau und Kind mit auf dem Kabriolett hatte.

An einem Montag kam er aus dem Hause, den grauen Zylinder auf dem Kopf, eine kleine Rosenknospe, die Brigittchen ihm gebracht, im Knopfloch, heiter und frisch wie ein junger Gott, dem kein Mensch seine dreiundfünfzig Jahre ansah. Adelheid stand am Fenster der großen Vorstube, Johann führte Satan eben aus dem Stall zur Verandatreppe, wo Karl Anton aufsteigen wollte.

Brigittchen, die sich hinter dem Hause mit Elise beschäftigt hatte, eine Klucke und ihre Küken zu füttern, hörte das Schnauben des Pferdes und stürzte davon, dem Vater Adieu zu sagen.

»Du bleibst hier«, rief Elise. »Willst du sofort hierbleiben!« Und sie rannte hinter dem Kinde her, das gar nicht daran dachte, ihren Worten zu folgen.

Adelheid sah das Kind, wie es um die Hausecke rannte, herum um das hohe Gebüsch von Rhododendron, und rief ebenso wie Elise: »Brigittchen, nicht hinter das Pferd! Satan scheut.«

Da war es schon geschehen. Das Pferd hörte etwas hinter sich heranfliegen, fuhr mit dem Kopf herum, sah einen Schein dicht an seinen Hinterfüßen und keilte aus.

Sie waren im nächsten Augenblick alle neben ihr, fliegend vor Schrecken, rufend, flehend und dann in schwerstem Schweigen verstummend.

Der Vater hob den leichten Kinderkörper empor, trug ihn in die Stube, legte ihn auf das Sofa, zog Adelheid zwei Schritte zurück und legte ihr die Hand über die Augen. »Nicht hinsehen.«

Sie sah ihn gar nicht an. Mit einem kurzen Drängen hatte sie sich gelöst, kniete neben dem Lager und starrte wortlos und tränenlos in das schrecklich veränderte Gesicht. Quer über die Stirn lief eine furchtbare Wunde, Blut rann in die gebrochenen Augen, in die dicken schwarzen Locken. Das weiße Kleid, die hellen Kinderarme, alles war voll Blut.

Man mußte es stillen, man mußte – da sagten ihr die gebrochenen Augen, daß kein Mensch auf der Welt dies Blut stillen konnte, und lautlos brach sie neben ihrem toten Kind zusammen.

Zwei Stunden später waren alle da, die dem Hause die Nächsten waren, weinten, trösteten, wollten ihr Liebe zeigen, so unendliche Liebe und Teilnahme, und bekamen von Elise immer die gleiche Antwort: »Frau Heinecken läßt niemand zu sich. Sie sitzt neben Brigittchen. Wir haben« – ein Aufweinen – »das Kind in sein Bettchen gelegt. Der Herr hat ihm ein Tuch um den Kopf gebunden – es ist zu schrecklich. Ach, wenn die Frau doch nur weinen wollte! Herr Heinecken hat geweint, es ist furchtbar, wenn der Herr weint, ich hab' mir das nie denken können. Aber Frau Heinecken ist grad, als wenn sie auch tot ist.«

Einmal fuhr Adelheid hoch. Mitten in die Stille des Totenzimmers fiel dröhnend ein Schuß.

Ihr Mann!

Sie stand an der Tür, riß sie auf: »Johann, Johann!« Der kam gerannt.

Ihre Augen fragten in Todesangst. Der treue Mensch verstand. »Der Herr hat den Satan erschossen.«

Da fielen ihr die Hände wieder herab, sie trat zurück in die Stube und saß neben ihrem Liebling, Stunde um Stunde. Zum erstenmal versagten alle Bitten, alle Liebesworte des Mannes, der sie fortnehmen wollte von der Leiche. Zum erstenmal vergaß sie ihre Liebe zu ihm.

Das reiche Haus stand im tiefen Schatten.

Wenn Karl Anton morgens zur Stadt gefahren war, lagen die schönen Zimmer wie ausgestorben.

Adelheid ging in ihrem schwarzen Trauerkleid lautlos und schwer durch die Stuben, sagte nur das Notwendigste, mochte niemand sehen, mit niemand sprechen. Und statt Trost bei ihrem Mann zu suchen, wies sie ihn von sich, weil seine starke, lebendige Natur es nicht ertrug, fortwährend an das Leid zu denken.

»Ich dachte, du hättest das Kind geliebt«, sagte sie einmal hart. »Aber du liebst nur dich.«

Er sah sie erschrocken an. War das seine geliebte Adelheid? Sein Sonnenschein? Sein kleiner tapferer Lebenskamerad? Sie mußte aus allen Fugen gerissen sein, um solche Worte sagen zu können.

Nach kurzem Überlegen ging er zu Elise Averdieck. Immer war ihm ihre große Frömmigkeit ein bißchen übertrieben vorgekommen, jetzt dachte er, das stille Mädchen möchte doch vielleicht den besten Trost wissen für seine Frau.

Elise ging sofort zur Kusine, ließ sich nicht abschrecken, als Johann sagte, die Frau Heinecken sei nicht zu sprechen, fand Adelheid im Garten, wo sie an dem kleinen Blumenbeet hockte, das Brigittchens besonderes Eigentum gewesen war, und stellte sie.

»Du willst mich nicht sehen, Heide. Und wenn ich meinetwegen käme, wäre ich wieder gegangen, aber ich komme deinetwegen. Du machst uns zu große Sorge. Soll das immer so weitergehen?«

»Ach, Elise, du willst wieder trösten. Für mein Leid gibt es keinen Trost.«

»Bei Menschen nicht, aber bei dem, der über allen Menschen ist. Der dich liebt und dir helfen will.«

»Das sind Reden. Wenn er mich liebt, hätte er mir das nicht antun können.«

»Adelheid, es müssen andere noch viel mehr Not tragen.«

»Größer kann kein Kummer sein. Und wenn andere leiden, was hilft mir das?«

»Dein Kind ist in einem besseren Leben.«

»Mein Kind wünschte sich kein besseres Leben als in der Liebe seiner Eltern. Jetzt liegt es in der dunklen Erde, mein lieber, kleiner Sonnenvogel. Hört nichts mehr von allem, was es liebte, sieht nichts mehr von Sonne und Blumen, kann seine Arme nicht mehr um mich schlingen.«

»Es hat bessere Schützer als die Eltern. Gottes Engel gehen ihm zur Seite.«

»Es wird sich nach den Eltern sehnen, es wird niemand wollen als Vater und Mutter. Wenn es wirklich in einem Jenseits ist.«

»Wenn – Heide, du kannst doch nicht zweifeln!«

Ein bitteres Lachen zog über das junge Gesicht. »Man kann viel, wenn man so hart angefaßt wird, Elise.«

Als die Freundin ging, war nichts gebessert.

Einige Wochen später kam Sprekelsen.

»Hör mal, mein Kind, ich als Vater muß ernstlich mit dir reden. All dein Leid in Ehren, aber versündigen darfst du dich nicht. Und du versündigst dich an deinem Mann.«

»Ach, mein Mann!«

»Na, du hast ihn doch haben wollen. Und ich muß es ihm lassen, gut für dich gesorgt hat er immer. Da soll ihm keiner Unrecht tun. Er ist in den letzten drei Monaten mehr gealtert als in zehn Jahren.«

»Er konnte am Tage nach der Beerdigung ins Geschäft gehen, an die Börse, mit all den Leuten reden, Briefe schreiben –«

»Mein Gott, dafür ist er doch Kaufmann; das war eben notwendig.«

»Ja, notwendig! Aber er tat es gern. Und jetzt ist er froh, wenn er morgens fortfährt. Ihm ist sein Haus zur Last.«

Sprekelsen faßte sein Kind um die Schulter. Solche Zärtlichkeiten waren selten bei ihm. »Ich will dir mal was sagen. Ein Mann wie dein Mann – mein Fall ist er ja nun mal nicht, aber man muß doch gerecht sein –, der kann es nicht aushalten, wenn ihm nicht die Sonne scheint. Und sind Wolken da, zündet er sich eine Illumination an. Jetzt fängt er an mit dem Illuminieren. Er sitzt morgens bei Köln, er macht an der Börse die tollsten Geschäfte, er redet in den politischen Versammlungen, die da alle Tage wegen der schleswig-holsteinischen Frage in Gang sind. Er ist auf dem besten Wege, sich zu zersplittern, den Faden aus der Hand zu verlieren. Jetzt hat er ja Hoffnung, Senator zu werden, aber wenn er so drauflos wirtschaftet, macht er die Leute stutzig.«

»So, Senator. Davon hat er mir nichts gesagt.«

»Traurig, wenn er nicht mehr mit dir über seine Sachen redet. Ja, man sagt, er hat die meisten Aussichten, er und Tiedemann. Aber wer weiß, auf wen sie sich einigen! In vier Wochen ist die Wahl. Reiß dich hoch, laß deinen Mann in diesen Tagen nicht allein. Das könnt' dir einmal leid tun.« Und im stillen dachte er wieder an die Damen vom Theater und sonstige leichte Liebesgöttinnen, die immer bereit waren, dem reichen, interessanten Mann ihre Huld zu schenken.

»Denk doch einmal daran, mein Kind, wie du sagtest, als er sich um dich bewarb, und es wollte mir nicht in den Kopf: Ich wäre so glücklich, Vater, ich wäre so sehr glücklich. Ist das nun alles nicht mehr wahr?«

Vor ihrem Sinn tauchte das Wohnzimmer auf im väterlichen Hause, wie es an jenem Morgen gewesen, ihr eigenes Bild tauchte auf, ganz jung, mädchenhell und froh, etwas schlug herüber aus jener fernen Zeit, ein Sehnen, ein Glücklichsein, ihr wurde heiß um das Herz und dabei so todtraurig. Plötzlich begann sie verzweifelt zu weinen.

Sprekelsen waren Tränen schrecklich, aber er wußte, hier taten sie gut. Also trat er an das Fenster, sah in den Garten hinaus, trommelte einen Marsch, und nach einer Weile spürte er Adelheid hinter sich.

»Willst du dir nun Mühe geben, mein Kind?«

»Ja, Vater. Ich will.«

* * *

»Wollen wir verreisen?« fragte ihr Mann sie, als er ihre Mühe sah, sich wieder in ihn und den Tag hinein zu finden. »Es ist ja schon Oktober, aber am Rhein soll es noch sonnig und schön sein.«

»Ach nein, nicht unter Menschen. Und dann mußt du doch auch erst abwarten, wie es mit dem Senator wird.«

»Wünschst du es auch, Adelheid?«

»Ja, für dich. Von Herzen. Ich weiß, es wäre dir wie eine Krönung deines Lebens.«

Sie wählten aber den andern, Herrn Oskar Tiedemann, weil seine Familie schon seit dreihundert Jahren in der Stadt ansässig war und viele Beamte und Gelehrte, auch ein Bürgermeister und zwei Senatoren aus ihr hervorgegangen waren. Karl Anton Heinecken war dem eingesessenen Hamburger immer noch ein bißchen ein Fremder.

Es war ein harter Schlag für ihn. Sein Stolz wurde davon so schwer getroffen wie sein Herz von dem Tod seines Kindes. Aber er gewann seine Frau wieder. Sie stellte sich neben ihn und half ihm darüber fort.

»Ja, nun wollen wir fort. Und diesmal soll es weit gehen. Der November paßt nicht mehr für Deutschland. Wir wollen nach Italien, Karl Anton. Wenn du willst – für den ganzen Winter.«

Da riß er sie heftig in seine Arme, denn sie erfüllte mit ihren Worten einen seiner großen Lebenswünsche.

»Ja, nach Italien. Und da kannst du leben, wie du willst. Kannst dich an Kunst freuen oder an der Natur. Brauchst nicht unter Menschen. Tust alles, was dir gerade gefällt. Ich will dich all die Schönheit der besseren Zonen kennen lehren. Du bist doch mein Bestes, du bist doch die Einzige, die mich versteht und weiß, was mir nötig ist.«

Sie reisten im eigenen Wagen. Die Pferde wurden auf den Poststationen gewechselt.

Johann reiste mit, saß neben dem Kutscher auf dem Bock und sorgte für die Bequemlichkeit seiner Herrschaft. So ging alles leicht und glatt. Um Weihnachten waren sie in Neapel und blieben dort bis kurz vor Ostern, dann wandten sie sich wieder nordwärts und waren zum Fest in der Heiligen Stadt.

Als sie Ende Mai nach Hamburg zurückkehrten, waren acht Monate seit dem Tode des Kindes vergangen. Es schien Adelheid, als müßten Jahre zwischen der seligen Zeit liegen, wo die jubelnde Kinderstimme durch das Haus hallte, und dem Heut. Und dann war doch wieder alles so, als sei eben erst der tanzende Schritt über die Treppe gehuscht, und sie brauchte ihm nur nachzugehen, um oben im Spielzimmer die kleine Puppenmama zwischen ihren Schätzen zu finden. Sie sprach sehr liebenswürdig und eingehend mit allen Bekannten und Verwandten von der Reise, von den neuen Eindrücken, von den fremdartigen Menschen – den Namen Brigittchen nannte sie nie dazwischen. Und Karl Anton hatte gebeten, in einer Art, die leiser Befehl war, daß auch niemand der Besucher dies Thema berühren möge.

So ging das Leben wieder den alten Gang, die täglichen Lebenswogen rannen über die Lücke hinweg, die aufgeklafft war, ebneten sich und ließen nichts spüren von heimlicher Not.

Adelheid lebte für den Mann, als hätte sie nie außer ihm etwas besessen, und nur in einem Stück hielt sie Widerpart, sie bestand ganz bestimmt darauf, in Hamm wohnen zu bleiben. »Laß mich hier, wo ich so unbeschreiblich glücklich war. Laß mir doch die Erinnerung. Ich will dir nichts vorweinen und vorklagen, aber reiß mich nicht aus diesem Boden, wenigstens jetzt noch nicht. Ich kann jetzt nicht in einem prächtigen Neubau einwurzeln.«

Und die Jahre gingen.

* * *

Sprekelsen war aus Karlsbad zurückgekommen.

Seine Leber war nicht in Ordnung und seine Magenverhältnisse recht betrüblich. So erzählte Tante Anna.

Er wäre auch sehr ärgerlich auf die Ärzte, die gesagt hätten, das käme vom zu guten Leben. Wo er doch immer mäßig gewesen sei, und der guten Kost niemals im Übermaß zugesprochen habe. Aber der Badearzt hätte solch kleines Lächeln gehabt bei diesen Versicherungen und sich zu bemerken erlaubt: Hamburger Kost sei eben schon im Durchschnitt mehr als zum Beispiel sächsische Kost in ihren Auswüchsen.

Und Adelheid meinte, ob das nun ein Kompliment für Hamburg sei oder ein Vorwurf?

Tante Anna war mit dem Bruder gereist und hatte seine gereizte Stimmung – »Leberleidende, Kind, sind immer bissig« – mit Würde ertragen.

Es würde ja nun bald alles wieder gut sein. Zunächst seien die Schmerzen natürlich viel ärger, aber die anderen Patienten hätten alle versichert, so wäre es gerade das Richtige, und die Nachkur, die erst die Besserung brächte, käme nach. Bei manchen erst als Weihnachtsgeschenk.

Darauf müsse man hoffen.

Die Nachkur kam nicht. Die Schmerzen wurden heftiger und heftiger, die Ärzte schüttelten den Kopf – einer, ein ganz junger Chirurg, redete von Schneiden, aber Sprekelsen war viel zu unmodern, um auf solche Dummheiten einzugehen. Und so bekam er statt der erhofften Besserung zu Weihnachten vom Schicksal den Sarg.

Viele Kränze, viele Palmen, viele Menschen, Händedrücke, Tränen – ein sehr pompöses Leichenbegängnis –, dann machte man sich daran, den Nachlaß zu ordnen. Dazu kam Ernst Sprekelsen, der Sohn, der seit fünfzehn Jahren in London gelebt hatte, herüber. Zur Beerdigung war er zu spät gekommen. Er war an die Vierzig, aber noch Junggeselle.

Nach längeren Besprechungen, an denen jedesmal Herr Ladwig teilnahm, beschloß er, in Hamburg zu bleiben, kaufte sich ein Landhaus draußen neben Heineckens, schaffte sich einen leichten Wagen an, lebte sich in Hamburg ein und überließ alles Geschäftliche soviel wie möglich dem alten Prokuristen.

Im nächsten Jahre heiratete er eine Hamburgerin, die nicht allzu tief angelegt war und ihm half, dem Leben angenehme Seiten abzugewinnen.

Es wurde lebhaft in dem stillen Winkel in Hamm, denn außer Ernst Sprekelsen siedelte sich Otto Soltau dort an. Auch er war aus Indien wieder da, das Klima war ihm nicht bekommen. Auch er hatte geheiratet, aber keine blonde Hamburgerin, sondern eine glutäugige Dame von Uebersee, in deren Adern – wie es hieß – fürstliches Blut floß. Wenigstens war ihre Mutter eine Prinzessin gewesen, ehe sie den holländischen Mynheer heiratete. Und die Tochter hatte einen Reitelefanten besessen, und wenn sie ausging, trug ein brauner Diener den grünseidenen Schirm, der ihr Haupt vor der Sonne schützte.

Acht Jahre waren seit dem großen Brand vergangen. Die Revolution hatte das deutsche Land geschüttelt, Schleswig-Holstein hatte sich gegen das dänische Joch gewehrt und war unterlegen – Preußen hatte versucht, sich eine kleine Flotte anzuschaffen, und war von England gezwungen worden, seine paar Schiffchen dem großen Bruder auszuliefern. »Weil Dänemark scheel zu deutschen See-Ambitionen sah« – denn England – o Gott, England gönnte doch jedem Volk alles Gute!

Paul war schon vier Jahre in England. Es gefiel ihm nicht gerade schlecht da, aber warm war er nicht geworden. Na, das wäre in New York und Kalkutta das gleiche gewesen. Jetzt dachte er an die Heimkehr.

An einem schönen Maitag kam Karl Anton von der Börse.

Seine Stimmung war flau, denn die Stimmung dort war es auch gewesen. Er brauchte aber gerade ein bißchen Unternehmungsgeist unter seinen Mitbürgern, denn er dachte wieder stark an die Erwerbung überseeischer Besitzungen. Jemand zog grüßend neben ihm den Hut.

Ach so, der alte Ladwig. Der war ihm lange nicht über den Weg gelaufen. Zu anderer Zeit hätte er ihn angeredet, jetzt fehlte die Stimmung.

Aber Ladwig sprach selber. »Darf ich mich Ihnen wohl ein Endchen anschließen, Herr Heinecken?«

»Sehr angenehm, lieber Ladwig. Aber selbstverständlich.«

»Ich sah sie lange nicht, Herr Heinecken, aber ich dachte in letzter Zeit oft an Sie.«

»Schmeichelhaft für mich. Wie geht das Geschäft?«

»Danke. Ihr Herr Schwager lebt sich ein. Wir kommen auch gut miteinander aus. Ich bin ihm dankbar, daß er Vertrauen in mich setzt.«

»Wo Sie über dreißig Jahre in der Firma sind!«

»Es war nicht wegen des Geschäfts, Herr Heinecken, daß ich Sie gern einmal gesprochen hätte. Es war – hm, mm, eigentlich eine persönliche Angelegenheit.«

Sie gingen gerade über den Neuen Wall, und dicht vor ihnen war eine kleine, feine Frühstücksstube, die um diese Zeit leer zu sein pflegte.

»Kommen Sie«, sagte Heinecken. »Erlauben Sie mir, Sie zu einer Tasse Bouillon einzuladen.«

Als sie sich an einem Tischchen vor dem Fenster gegenüber saßen, dauerte es eine Weile, bis der alte Herr den Faden am rechten Ende fassen konnte.

»Sie erwarten Ihren Sohn zurück, Herr Heinecken?«

»In zwei Monaten. Was soll er noch länger draußen?«

»Ja, ja. Er ist ein anständiger, zuverlässiger Mensch.«

»Das ist er. Sie haben ihn ja vier Jahre im Kontor und in Ihrem Hause gehabt. Ich hoffe, er gab Ihnen nie Anlaß zur Klage.«

»Nie. Oh, aber nie. O nein.« Und man fühlte trotz der lebhaften Beteuerung etwas Unausgesprochenes.

»War es Pauls wegen, daß Sie mich zu sprechen wünschten, Herr Ladwig?«

»Wenn ich es ehrlich sagen soll – ja.«

Ein Schweigen. Heinecken kannte den alten Prokuristen und seine zögernde Art. Er wartete. Es würde schon nichts Welterschütterndes sein, was da zutage kam.

»Es ist wegen meiner Tochter«, sagte der alte Herr endlich. Er sagte es so leise, daß seine Worte verhallt wären, hätte nicht Totenstille im kleinen Lokal geherrscht.

»Ihrer Tochter wegen?« Heinecken hatte nur einen ganz dunklen Schimmer, daß Ladwig eine Tochter besaß. »Und was ist denn damit –« Er stockte. Hatte der dumme Junge damals – Na, dem wollte er aber kommen! – Das konnte ihm passen! –

»Ich habe lange bei mir überlegt, ob ich schweigen sollte. Aber ich konnte es doch nicht. Selbst wenn ich meinem Kinde da ein Glück zerstören sollte – Nein, nein, ich kann es nicht. Es wäre unanständig, sich so hinten herum etwas erschleichen zu wollen – Sie vielleicht vor eine plötzliche Entscheidung zu stellen –«

»Liebt Paul Ihre Tochter?« fragte Karl Anton brüsk.

»Es hat den Anschein, daß sie ihm nicht gleichgültig ist.«

»Und sie?«

»Meine Minna redet nicht über solche Dinge. Das ist nicht Sitte bei uns. Doch nach meinen Beobachtungen –«

Und wieder ein Schweigen. Heinecken war voll weißglühendem Zorn. Sich zu verplempern! Sein Sohn! – Wenn er schon nicht geschaffen war, sich selber eine große Stellung zu geben – er brauchte doch nicht zu verderben, was man ihm aufbaute. Er hatte verschiedene glänzende Partien, die ganz sicher waren, für seinen Einzigen.

»Sie war ja noch ein Kind, als Ihr Sohn in mein Haus kam«, sagte der alte Herr bedächtig. »Und sie waren immer nett zueinander, aber man konnte nichts darin finden. Ich hätte ihn sonst keinen Tag behalten. – Dann ist er abgereist und hat mir alle Vierteljahr einmal Nachricht gegeben über sein Ergehen, auch um diesen oder jenen Rat gefragt, für meine Tochter stand immer ein freundlicher Gruß in den Briefen. Erst jetzt im letzten Jahr hat er ihr direkt geschrieben. Ich hatte einmal eine böse Grippe und konnte ihm in einer Angelegenheit nicht antworten, da schrieb mein Kind für mich. Dann sind mehr Briefe gekommen – ich habe es nicht gewußt. Und sie hat noch nie im Leben das kleinste Geheimnis vor mir gehabt.

Ein Zufall brachte es an das Licht. Sechs Briefe liegen vor.

Ich habe sie gelesen, sie sind ganz einfach und ohne verliebte Redensarten geschrieben.«

Das hätt' ich ihm auch nicht raten wollen, dachte der erzürnte Vater.

»Dennoch klang etwas darin – es ist schwer zu sagen. Und dann sah ich meinem Kinde in die Augen. Darüber möchte ich ja nun nicht sprechen. Wie ich sie aber fragte: Hat er dir denn einmal irgendein herzlicheres Wort gesagt? – ja – also sie trägt seit seiner Abreise ein goldenes Herzchen heimlich am Halse. Und er hat wohl etwas gesagt, als er es ihr gab, gewiß nichts Bindendes, gewiß nicht –«

Und in der kleinen Weinstube hörte man nur das Summen der Fliegen, die gegen die Fenster surrten.

»Und nun kommt er also in zwei Monaten«, sagte Heinecken endlich. Und es klang wie: Na mein Junge, da freu' dich nur!

»Wie ich das von Ihrem Herrn Schwager hörte, sagte ich mir: Das darf nicht sein, wenn Herr Heinecken nicht Bescheid weiß.« Seine alten Augen bekamen Schärfe, und sein Rücken straffte sich. »Ich bin arm, gewiß, das bin ich. Aber ich bin aus so gutem Hause wie Sie, Herr Heinecken. Und eh' ich mir sagen lasse, mein Kind und ich, wir haben eine gute Gelegenheit ausgenützt –«

»Aber Herr Ladwig, um Gottes willen, wer würde das sagen?«

»Denken würden Sie es gewiß, Herr Heinecken! Von mir soll man so etwas auch nicht denken. Mein ganzes Leben hab' ich dran gegeben, unseren guten Namen blank zu halten, er soll mir nicht jetzt noch Flecken bekommen. – Ich hab' es zu Minna gesagt: Das geht nicht. Hier in das Haus kommt er nicht wieder, oder sein Vater weiß um diese Sache. Denn, Herr Heinecken, zu einem Vergnügen für einen reichen jungen Herrn ist mir mein Kind zu gut, und außerdem – das traue ich Ihrem Sohn auch nicht zu.«

»Ich auch nicht«, sagte Karl Anton, denn auch in diesen Dingen war sein Sohn nicht sein Sohn.

Ladwig stand auf. »Weiter wäre es nichts. Ich danke Ihnen, Herr Heinecken, daß Sie mir Gelegenheit gaben zu dieser Aussprache.«

»Es ist an mir, Ihnen zu danken, lieber Herr Ladwig. Bitte, überlassen Sie die nächste Zukunft mir. Ich muß dies überdenken. Wenn man nur einen Sohn hat –«

Sie trennten sich in aller Höflichkeit, aber der eine trug Zorn im Kopf und der andere Bitterkeit im Herzen mit sich fort.

* * *

»Hast du dem Jungen das zugetraut, Adelheid? Hand aufs Herz, hast du das? Solch ein Bengel!«

»Ein Bengel ist er wohl gerade nicht mehr, lieber Mann. Er ist siebenundzwanzig Jahre. Da warst du schon zwei Jahre verheiratet.«

»Ich hatte auch mehr Mumm in den Knochen.«

»Ja, vielleicht. Aber ich glaube, wenn Paul auch sehr zurückhaltend ist, was er will und mag, das weiß er im Grunde doch sehr genau.«

»Meinst du, er will wirklich diese kleine, schlaue Person heiraten, die ihn da so in aller Stille eingefangen hat?«

»Das halte ich für sehr möglich. Das goldene Herz – bei Paul – das spricht Bände. Und daß er in vier Jahren den Briefwechsel aufrechterhalten hat, wo er so leicht alles einschlafen lassen konnte!«

»Solch ein raffiniertes Frauenzimmer.«

Adelheid lachte. »Ach du! Raffinement und Minna Ladwig! Ich glaube, sie kennt nicht einmal das Wort, geschweige die Sache. Nein, die ist harmlos und ehrlich, und wenn sie an Paul denkt, geschieht es sicher mit dem Gefühl: Die Sterne, die begehrt man nicht, man freut sich ihrer Pracht.«

Da lachten sie beide.

»So genau kennst du sie?«

»Sie ist sieben Jahre jünger als ich. Aber Vater wollte früher, wenn wir Sonntags ausfuhren, immer das Kind mitnehmen. Er tat es, um Ladwig, auf den er große Stücke hielt, eine Freude zu machen. So etwas Bescheidenes! Und die Dankbarkeit in den Vergißmeinnichtaugen, wenn wir wieder heimkamen. Ich glaube, es sind die einzigen Freuden ihrer Kindheit gewesen. Nein, Karl Anton, da darfst du niemand anklagen, als den kleinen Liebesgott, der sich einen Spaß mit zwei schüchternen Seelen gemacht hat.«

»Hm! Das erschwert und vereinfacht die Sache zu gleicher Zeit.«

»Wieso?«

»Ja, das Mädchen wird wohl einsehen, daß es nicht Frau Heinecken werden kann, und sich abfinden. Aber es ist peinlich, solch harmloses Seelchen zu kränken. Mit einer Koketten wird man leichter fertig.«

»Und warum kann sie nicht Frau Heinecken werden?«

»Adelheid!!!«

»So heiß ich. Also sag' mal, warum nicht?«

»Die Tochter von dem Prokuristen deines Vaters – meine Schwiegertochter!«

»Ladwig ist der anständigste und vornehmste alte Mann, den es gibt. Für den kann man die Hand in das Feuer legen.«

»Wo Paul die größten Partien machen kann! – Den nimmt der Bürgermeister selber zum Schwiegersohn.«

»Glaubst du, daß ihm, ich meine Paul, mit solcher Ehre gedient ist?«

»Ich weiß gar nicht, was dir in den Sinn kommt!«

»Als du um mich anhieltest, mein lieber Mann, da war der Vater gar nicht dafür zu haben. Und ich hatte keinen Fürsprecher als mich selber. Aber ich war nicht leicht zu verjagen, wenn ich etwas haben wollte, ich brauchte niemand, der für mich redete. Paul ist anderer Art. Für den will ich eintreten bei seinem Vater, daß er glücklich werden darf nach seiner Natur.«

»Wenn das sein Glück ist! Irgend solch' Schattenblümchen.«

»Ja, für dich wäre Minna Ladwig nichts. Sie würde vergehen vor Ehrfurcht, und das bekäme dir sehr schlecht. Aber Paul – ich kann mir denken, daß die zwei gut zusammenleben werden. Kein himmelstürmendes Glück, ein bißchen langweilig für andere, aber sie werden sehr zufrieden dabei sein.«

»Brrr, lauwarmer Tee, was?«

»Das Glück hat verschiedene Gesichter, lieber Mann.«

Heinecken hob das Gesicht seiner Frau leicht empor. »Dann freu' ich mich, daß es mir ein anderes geschenkt hat.«

»Und du überlegst dir die Sache einmal in Ruhe.«

»Das weiß ich nicht.«

»Doch, das tust du.«

»Adelheid, weißt du, daß du mit deinen Worten viel einreißt, was ich in der Stille erbaut hatte?«

»Ich reiße es ein? Nein, mein Lieber, es stürzt von selber, denn du hast auf falschem Grund gebaut.«

»Daß die Frauen doch immer recht behalten müssen.«

Sie sprachen drei Tage nicht davon.

Dann legte Karl Anton eines Abends einen Brief vor seine Frau hin. »Da, lies!«

Das Schreiben war an Herrn Ladwig gerichtet und enthielt nach kurzer Einleitung die Worte: »Ich möchte Sie bitten, bezugnehmend auf unser Gespräch, nichts zu unternehmen, was irgendwie eine der beteiligten Personen beeinflussen könnte. Wie auch ich es vermeiden werde, schriftlich oder mündlich meinem Sohn in seine eigensten Angelegenheiten hineinzureden. Warten wir ab, wie er zurückkommt, und ob das, was vor vier Jahren kaum Wurzel geschlagen hatte, sich zu einem starken Baum entwickeln will. Sollte wirklich das Glück von zwei Menschen in dieser Neigung beschlossen sein, so meine ich, wir haben kein Recht, hindernd dazwischenzutreten.«

Adelheid griff mit den Armen über sich, faßte ihren Mann um den Hals und küßte ihn. »Du bist doch der Beste.«

»Ein Pantoffelheld bin ich. Du pfeifst, und ich tanze.«

»Jetzt freue ich mich auf Pauls Heimkehr.«

»Versprichst du dir viel Anregung von deiner künftigen Schwiegertochter, du alte Schwiegermama?«

»Junges Glück ist immer schön. Und vielleicht – in deinen Enkeln wirst du das finden, was du dir wünschst, Karl Anton.«

* * *

Paul war entschieden männlicher geworden.

Er hatte sich Koteletten stehen lassen, sagte » o yes«, » o no«, legte mehr Wert auf seine Kleidung und hatte überhaupt den jungen Weltmann angezogen, soweit das bei ihm möglich war.

Energisch war er nicht geworden, aber wenn ihm etwas nicht paßte, das Rasierwasser nicht heiß genug, das Beefsteak zu stark durchgebraten war und solche Kleinigkeiten mehr, dann nahm er es nicht wie einst stillschweigend hin, sondern er knurrte und quengelte, und das war für ihn viel.

Äußerlich war er noch gerade so überschlank, aber die feinen Züge hatten den aristokratischen Schnitt des Vaters ausgeprägter als früher, und wenn er mit übereinandergeschlagenen Armen an der Wand lehnte und schweigend auf die redselige Verwandtschaft sah, machte er zweifelsohne eine gute Figur.

Sein Vater hatte ihn vom Schiff geholt und es angenehm empfunden, daß von den Ladwigs niemand zum Empfang zugegen gewesen.

Nun war er gespannt, wie sich diese Sache entwickeln würde.

Den ersten Tag, das Schiff war erst nachmittags gekommen, gehörte der Sohn natürlich in das Haus.

Am zweiten nahm er ihn gleich morgens mit in das Geschäft, mittags mit an die Börse, und nachmittags schickte er ihn zu den Nachbarn, zu seinem Schwager Sprekelsen und Herrn Soltau, und Paul mußte doch lachen, als Otje ihm entgegenkam, seinen ältesten, sieben Monate alten Buben auf dem Arm.

»Was all' aus einem Menschen werden kann«, begrüßte ihn der einstige Lehrgenosse. »Sind Sie auch mal wieder ans Land gekommen, Heinecken? Ja, mich hat es schlimm gefaßt. Ehemann und Familienvater! Man sollt' es nicht glauben, aber der Jung' hier spricht für sich. – Kommen Sie herein, meine Frau wird sich freuen. – Junge, sitz' still, sonst werf' ich dich ins Fleet! – Der ist grad' solch' ein Strick, wie ich mal war, Heinecken, und wie Sie mit Ihrer Ehrpusseligkeit es nie vertragen konnten. – Nichts für ungut, ich will Sie auch nicht mehr ärgern. – Mann, was waren das doch vergnügte Zeiten, als wir bei dem alten Ladwig kuschen mußten! Das alte Haus lebt auch noch. Ich seh ihn manchmal laufen in der Stadt. So was von weißer Binde gibt es in ganz Hamburg nicht wieder. – Hallo, Mercedes! – Sie, Lina, sagen Sie mal meiner Frau, daß Besuch da ist. Und nehmen Sie mal den jungen Herrn mit. Seine Unterwäsche scheint mir auch nicht mehr ganz einwandfrei. – Hier herein, Heinecken! – Mann, das soll vergnügte Nachbarschaft werden! Setzen Sie sich. Setzen Sie sich.«

Paul brauchte nichts zu sagen. Soltau schwatzte so fidel wie je. Er war nun neunundzwanzig, zwei Jahre älter als sein Besuch, aber er wirkte wie ein großer Junge, mit seiner zierlichen Figur, den vergnügten Augen und den mageren, unregelmäßigen Zügen. »Meine Frau gilt für eine Schönheit«, tuschelte er Paul noch zu, da trat auch schon Frau Mercedes ein.

Paul war doch überrascht, obgleich auch die Eltern ihn vorbereitet hatten. Etwas von einer orientalischen Fürstin, etwas von den schlanken Töchtern des Morgenlandes, die unter Palmen an malerischen Brunnen lehnen. Etwas sehr Romantisches war um diese Frau, die sich doch gerade so kleidete wie jede Hamburgerin der guten Gesellschaft. Es war nicht allein die dunklere Hautfarbe, es waren nicht nur die Augen, die so schwarz waren, daß Pupille und Iris sich nicht unterscheiden ließen, es war ein Undefinierbares in diesem feinen und doch kühnen Gesichtsschnitt und in den Bewegungen und in der Haltung, etwas, daß er sich unwillkürlich zum Handkuß über die schmale Hand neigte, an der wundervolle Brillanten blitzten, und sich – als das geschehen – selber verwunderte, denn er küßte niemals die Hand. Dann gab er sich Mühe, seine beste Seite zu zeigen, sprach ordentlich in langen Sätzen, erzählte vom englischen Handel, vom Londoner Hafen, von einem Landsitz des Baronet Seymour, wo er einmal acht Tage zu Gast gewesen, und als er ging, war er sehr mit sich selbst zufrieden.

England hatte ihn doch selbständig gemacht. England, die Fremde, das hatte doch sein müssen, damit er lernte, Selbstvertrauen zu gewinnen. Der Vater hatte in diesem Fall recht gehabt.

Er ahnte nicht, daß Soltau hinter ihm lachte und zu seiner Frau sagte: »Der gute alte Kerl! Er wollte blenden! Wie er sich anstrengen mußte! Und der Handkuß. Ich dachte, er kippte, als er sich vornüberneigte.«

»Du bist ein Spötter«, sagte die schöne Frau. »Ich werde ihn vor dir warnen.«

Beim Abendbrot an diesem Tage sagte Karl Anton so wie zufällig: »Übrigens wäre es wohl ganz angebracht, du sagtest dem alten Ladwig auch einmal guten Tag. Er hat dich doch vier Jahre brav betreut. Für morgen gebe ich dich frei, übermorgen ist Sonntag, wenn du Montag im Kontor antrittst, ist es früh genug.«

»Ich denke, ich gehe morgen mittag, wenn er zum Essen kommt, einmal zu ihm hin«, sagte Paul. Irgendeine Erregung war ihm nicht anzumerken.

Adelheid stand hinter der Gardine, als er am andern Tag sich auf den Weg machte. Jetzt, wo er nicht ahnte, daß er beobachtet wurde, ging er ordentlich unternehmend, schwenkte das Spazierstöckchen, hatte ein paar Rosen in der Hand, sah ganz aus wie ein junger Mann, der zu allen Glücksunternehmungen bereit ist.

Aber als er zum Essen wiederkam, allerdings ohne die Rosen, hatte man nicht den Eindruck, als sei eine Verlobung zustandegekommen.

So ging es acht Tage, und Heinecken dachte: Der alte Ladwig hat sich in trügerischen Hoffnungen gewiegt, aber Adelheid schüttelte den Kopf, als er ihr das aussprach.

»Glaub' mir, Paul kann einfach nicht das rechte Wort finden. Ich weiß, daß er dreimal dort gewesen ist. Jedesmal geht er glücklich fort, jedesmal kommt er unsicher und gedrückt wieder. Das kleine Mädchen versteht es nicht, ihm die Erklärung herauszulocken, und er findet den Anschluß nicht.«

Als vierzehn Tage um waren, nahm der Vater sich einen Abend den Sohn beiseite. Sie gingen im Park spazieren und sahen das Abendrot zwischen den alten Waldbäumen verglimmen.

»Was meinst du, Paul, der Park ist eigentlich für Heide und mich zu groß, da gehört junges Leben hinein. Ich hab' daran gedacht, dir hier an der Südecke ein nettes Haus bauen zu lassen. Baumeister Mencke hat bildschöne Entwürfe. Wir bleiben im alten Landhaus, Heide will nicht heraus, aber du wirst doch wohl bald heiraten« – er machte [eine] kleine Kunstpause, Paul antwortete nicht – »und da muß das Haus vorher fertig sein. Du wirst achtundzwanzig. Gerade das rechte Alter. Was meinst du zu Senator Schröders Elisabeth?«

»Ich zu – – O Gott nein, die paßt gar nicht zu mir!«

»Oder Alice Schrottmann? Sie hat die Lebhaftigkeit, die dir abgeht.«

»Sie redet jeden Herrn in einer Stunde dreimal tot und lebendig.«

»Ich will dir nicht Zwang antun. Aber du mußt dich einmal ernstlich unter den Töchtern des Landes umsehen. Ich habe Mencke schon gesagt, vor dem Winter müßte das Haus unter Dach sein. In den nächsten Tagen besehen wir die Entwürfe.«

Ob er nun bald mit der Braut kommt? dachte Heinecken. Aber wieder gingen drei Tage hin, und von Minna Ladwig war nicht die Rede.

»Er liebt sie nicht mehr«, sagte Karl Anton zu Adelheid.

»Er wird rot und sieht aus dem Fenster, wenn man ihren Namen nennt«, antwortete sie. »Aber vielleicht ist er ihrer Gegenneigung nicht sicher.«

»Also das wollen wir bald haben«, erklärte der alte Herr, der noch immer für den Bruder des Sohnes gelten konnte.

Er ließ am andern Mittag anspannen, warf sich in Gala, nahm einen Strauß der schönsten Rosen aus dem Garten mit sich und fuhr um ein Uhr, der feierlichen Besuchsstunde, zum Pferdemarkt. Ladwig saß im Kontor am Wandrahm, Paul im väterlichen Geschäft in der Großen Reichenstraße, und niemand ahnte etwas von diesem Unternehmen.

Minna wunderte sich, wer denn so kurz und scharf an der klapprigen Glocke riß. Als sie öffnete und den Gast erkannte, zitterten ihre Knie.

»Einen schönen Gruß von meiner Frau«, sagte Karl Anton und überreichte die Rosen. »Und eine kleine Bestellung hätte ich noch dazu zu machen.«

Sie führte ihn in die große Vorderstube, und er stellte angenehm berührt fest, daß es nicht im geringsten kleinbürgerlich aussah.

»Nämlich, liebes Kind, meine Frau, die Sie ja früher gut gekannt haben, möchte Sie und Ihren Vater gerne heute abend in kleinem Kreise als liebe Gäste bei uns sehen. Mein Sohn hat durch mehrere Jahre so viel Gutes hier bei Ihnen empfangen, es drängt uns, Ihnen zu zeigen, wie dankbar wir dafür sind.«

Minna hob verschüchtert die Augen. Vergißmeinnicht in Milch. Und die schmalen Wangen! Und die schmalen Schultern! Und die schmalen Hüften! Mein Gott, daß solche Schattenblümchen auch existieren können! Nur das Haar. Donnerwetter! Das ist ja eine Last! Sie müßte mal in Adelheids Hände, die könnte etwas draus machen.

»Sie haben meinen Jungen schon gesehen seit seiner Rückkehr, nicht wahr?«

»Dreimal«, sagte sie ehrlich. »Er kommt gern zu meinem Vater.«

»Ich denke, er kommt noch lieber zur hübschen Tochter! Oh, Sie brauchen nicht zu erröten, obgleich es Sie reizend kleidet, ich habe da ein Glöckchen läuten hören. Nein, ich will nicht indiskret sein. Aber ich darf meiner Frau sagen, daß wir Sie heute abend als liebe Gäste bei uns sehen werden, nicht wahr?«

Und während sie noch nach den passenden Worten suchte, sprang er schon wie ein Jüngling die Treppen hinunter.

Paul kam an diesem Abend erst etwas nach acht heim. Sein Vater hatte ihm noch allerlei Korrespondenz zu erledigen gegeben, und war selber eine Stunde eher fortgegangen.

Als Herr Ladwig, dem diese Einladung unbehaglich war, mit Minna eintraf, fanden sie nur Karl Anton und Frau. Sie wurden durch den Park geführt, die Rosenpracht zu bewundern. Die beiden Herrn gingen voran, Adelheid folgte mit dem Mädchen, und sie war so unbefangen, sprach von alten Zeiten, fragte nach Dingen aus der Kinderzeit, Minna taute auf und gewann Sicherheit.

Dann kehrten sie in das Haus zurück, saßen im Gartenzimmer, aßen gezuckerte Erdbeeren und warteten auf den Sohn des Hauses.

Mit einemmal war Minna allein.

Heinecken hatte ihren Vater in sein Zimmer gezogen, ihm ein Seestück zu zeigen, das er aus einem Nachlaß erworben, Adelheid gab vor, selber einmal nach dem Abendbrot sehen zu müssen, es scheine da etwas nicht zu stimmen, und Minna saß vor einem Album mit italienischen Stichen, sich die Zeit zu vertreiben, bis die Herren wieder hereinkamen.

In ihrer Bescheidenheit fand sie nichts daran, daß sie alleingelassen wurde. Sie blätterte in den Ansichten, genoß aber mehr als diese Bilder die blühenden Blumen auf dem Tisch, die hellen Spitzenschleier vor dem Fenster, den gebohnerten Fußboden, die leichten schönen Möbel. So war sein Zuhause! Und sie hatte denken können – bisweilen, nur ganz flüchtig. – Was für eine Närrin war sie gewesen!

Ob das Heineckens Absicht war? Ob er ihr die Kluft zeigen wollte?: »Du Törin, siehst du ein, wie dumm du warst?« – –

Draußen hatte Adelheid den ahnungslosen Paul kommen sehen. Sie lief ihm entgegen.

»Ach Paul, gut, daß du kommst. Wir haben Besuch zum Abendbrot. Mach' dich ein bißchen nett.«

»Wer ist denn da?« Es klang sehr gleichgültig.

»Ein Vater mit seiner Tochter, Geschäftsfreund von Papa. Und er möchte gern,« sie sah ihn schelmisch an, »daß dir die junge Dame gefiele. Die wünschen wir uns als Schwiegertochter.«

Paul machte ein Zahnwehgesicht. »Seit vierzehn Tagen sagt Papa mir bei jeder Gelegenheit: Sieh dir die junge Dame mal an und die und die, was meinst du dazu?«

»Ja, er sehnt sich nach Enkeln. Aber ich glaube selber, diese würde dir auch gefallen.« Und als er mißvergnügt stehenblieb, als liefe er am liebsten davon, setzte sie hinzu: »Tu mir einen Gefallen – ich muß schnell noch mal in die Küche, Line hat eine schlimme Hand, – im Gartenzimmer auf dem Eckbort liegt mein Kochbuch, bring' es mir mal.«

Fort war sie. Paul ging in das Gartenzimmer.

»Können wir essen?« fragte Heinecken, als sie zwei Minuten später zu ihm und Ladwig trat.

»Noch eine kleine Viertelstunde. Herr Ladwig wird die Verzögerung entschuldigen. Es kam etwas dazwischen.«

Sie lächelte Karl Anton an, und der verstand: »Alles in Ordnung.«

Nach einer Viertelstunde pochte sie am Gartenzimmer. Drinnen ein hastiges Geräusch, als führen zwei Menschen auseinander.

»Die Väter warten«, rief sie vor der Tür.

Es wurde dann ein ganz vergnügter Abend, aber Karl Anton und Adelheid mußten die Kosten der Unterhaltung tragen, und als sie zu Bett gingen, sagte er: »Hilf Himmel, bin ich müde. Das ist ja schlimmer als Holzhacken. Ob die zwei ihren ganzen Brautstand so schweigend verbringen wollen? Immer nur mal: Liebe Minna! – Ja, lieber Paul! – Zum Auswachsen.«

»Sie sahen sich doch so glücklich an, Karl Anton.«

»Paul hätte einen kleinen Satan haben müssen, der ihn ordentlich aufgemuntert hätte.«

»Er wäre nicht aufgemuntert, er wäre verstört und verdrossen geworden.«

»Adelheid, wie komm' ich zu dem Jungen?«

»Ach, ich weiß einen gewissen Jemand, der auch in den ersten Tagen und Wochen seiner Verlobung so außerordentlich wohlgesetzt und verständig war –«

»Ich hab' es nachher nachgeholt.«

»Vielleicht holt Paul auch noch alles nach.«

»Glaub' ich im Leben nicht.«

* * *

Makler Peemöller hatte seinen guten Tag.

Den hatte er immer, wenn er eine Neuigkeit wußte, ehe ein anderer sie kannte.

Er lief an der Börse von einer Säule zur andern. »Wissen Sie schon? Haben Sie Heinecken noch nicht gratuliert? Seit sechs Monaten hat er dem Enkel entgegengestrahlt, und nun ist der Jung' 'ne Deern.«

Schmunzeln auf den Gesichtern.

Sie kannten alle die heimliche Tragödie des großen Mannes, der sich aus seinem Blut den Nachfolger für sein Haus ersehnte, und der immer vergebens hoffte.

Es waren fast zwei Jahre vergangen seit Pauls Verlobung.

Karl Anton hatte graues Haar an den Schläfen, und der kurze Backenbart, den er mehrere Jahre getragen, war dem Rasiermesser zum Opfer gefallen, als er ebenfalls diese häßliche Farbe annahm. Er wollte nicht alt werden. Man ist so alt wie man sich fühlt, und was das anbelangt, da nahm er, der fast Sechzigjährige, es noch mit manchem Jüngling von zwanzig auf.

Noch hatte er die leuchtenden Augen, die schnellen Bewegungen, die schlankstraffe Gestalt. Und seine Stimme schmetterte immer noch sieghaft durch das Haus, wenn er nach seiner Frau rief oder Gäste bei sich sah.

Enttäuschungen beugten ihn nicht. Sie riefen nur seinen Widerspruchsgeist hervor: Nun grade. Nun erst recht.

Sonst hätte er in den letzten Jahren allerlei Verdruß buchen können.

Mit den Südsee-Inseln war es nichts geworden.

Es ließ sich alles so gut an. Er erzählte schon Adelheid, wie sie in ihren alten Tagen, wenn sie frostig und klapperig würden, in jenes immer sonnige Land ziehen wollten. Einen Bungalow sollte sie haben mit Veranden an allen vier Seiten und eine Schar brauner Dienstboten, und einen Park voll Palmen – »was hier in unserem Gewächshaus mühsam aufgepäppelt wird, wächst da wie Unkraut« – und eine schlohweiße Jacht, mit der sie das blaue Sonnenmeer durchfurchen wollten, und fremde Gäste aus allen Erdteilen, und alles Liebste, was sich zwei Menschen wünschen können. »Und ich werde da gar nicht mehr an die ewigen Geschäfte denken, die laß Soltau und Paul hier in Hamburg besorgen, ich leb' dann nur noch für dich. Bin ganz dein Sklave – warum lachst du? – und jeder deiner Wünsche ist mir ein Befehl.«

Er baute sein Inselhaus schon auf dem Papier, besserte immer daran herum, fragte alle Überseer um Rat, war wieder ganz erfüllt von diesem neuen Plan, da kamen ihm Engländer zuvor, kauften für ein Spottgeld von den Eingeborenen für ihre Gesellschaft eine Inselgruppe, auf die Karl Anton schon die Hand gelegt hatte, hißten die englische Flagge, die Geltung hatte in allen Weltteilen, während in Deutschland der Norddeutsche Bund noch mühsam um Anerkennung rang, und Karl Anton war wieder einmal um eine Bitterkeit reicher geworden in seinem Leben.

Es wurmte ihn mächtig. Und – wie es immer bei ihm war – weniger wegen des eigenen Mißerfolgs, als wegen der Gelegenheit zum Emporsteigen, das er in seinem Unternehmen für Hamburg gesehen.

Neue Hoffnungen ließen ihn die Enttäuschung von sich stoßen.

Paul und Minna hofften auf das erste Kind.

Also endlich der ersehnte Erbe für die Firma! Der Junge, der über seinen schwerblütigen Vater hinweg fortführen würde, was der Großvater begonnen.

Adelheid war es unheimlich, wenn sie sah, wie fest ihr Mann sich schon wieder in neuen Zukunftshoffnungen verstrickte. Mehr als einmal schwebte es ihr auf der Zunge: Und wenn es ein Mädchen ist, Liebster? Aber sie sprach es nicht aus. Sie wünschte ihm ja so von Herzen dies Glück.

Im September tauften sie bei Otto Soltau den zweiten Buben, vier Wochen später schenkte Minna ihrem Mann ein Töchterchen.

Die junge Frau kam sich selber so schuldig vor, als sie dem Schwiegervater zum erstenmal wieder gegenübertrat. Immer noch konnte sie die ehrerbietige Scheu vor ihm nicht loswerden. So sehr sie ihn bewunderte und verehrte, es war ihr am liebsten, wenn er möglichst weit fort war.

Sie hätte sich nicht zu sorgen brauchen. Karl Anton dachte viel zu ritterlich und gerecht, um sie seine Enttäuschung spüren zu lassen. Er hing ihr eine Kette um den Hals mit einem Kreuz, in dessen Mitte ein Brillant strahlte, und sagte herzlich: »Nun gehörst du noch fester zu uns als bisher, liebe Minna. Möchtet ihr recht viele Freude an eurer kleinen Anna erleben.«

Er hatte Gelegenheit, seine Beherrschung zu erproben, denn auf Anna folgte Minna, und auf Minna Dora, und immer noch ließ der Erbe des Namens auf sich warten, während Soltau den dritten Buben hatte, und mit seinem Kleeblatt einen Höllenspektakel in den weiten Gärten vollführte, wenn er Sonntags vom Geschäft frei war.

Anna, Minna und Dora wurden von den Soltausjungen angesteckt, wenigstens behauptete Paul das, »denn von selber könnten sie unmöglich so wild sein«, und die sechs steckten stets zusammen. Der älteste Soltau, Hans, zählte sieben und die kleine Dora zwei Jahre, da waren sie in der ganzen Gegend bekannt, und wenn sich eins verlief, gab es immer gute Leute, die es an das Haus brachten. Man kannte die »Bande da aus der Heineckenecke«. Daß sie so gar nicht nach den Eltern schlugen, versöhnte Karl Anton mit den Enkelinnen. Er machte sich selbst zu ihrem Spielkameraden und Anführer bei Dummheiten.

Einen Teich hatten sie im Garten, zehn Meter breit und zwanzig lang, auf dem wurde ein Floß angebracht, und Großvater stakte Mädchen und Buben auf dem Riesengewässer umher. Feuer wurden im Park entzündet, an denen man Kartoffeln in der Asche briet, Bogen und Pfeile wurden verfertigt, so gut für die Heineckenmädchen wie für die Soltaububen, und sie zogen als kriegerische Horde über alle Wiesen und durch die Redder von ganz Hamm. Was Otto Soltau nicht einfiel, das gab Karl Anton Heinecken an, sein Sohn konnte nur den Kopf über ihn schütteln.

Das war ja überhaupt nur zu oft sein Anteil am Leben des Vaters, dies Kopfschütteln. Er war Teilhaber im Geschäft, Soltau war Prokurist, aber sah es nicht überall so aus, als hätte der eine bestimmende Stimme in allen Beratungen, und er – Paul – nur das stumme Beiseitestehen? Es ging wieder einmal gut mit dem Geschäft, aber da waren doch große Bedenken, ob die Wandsbeker Farbholzmühle nicht geschlossen werden müßte, wenn die neumodischen Anilinfarben den Markt beherrschten. Mochte der Vater das auf die leichte Achsel nehmen, »pah, die guten alten Farben werden doch wieder siegen, mein Junge«, ihm machte diese Sache schwere Sorgen. Er hatte es wenigstens erreicht, daß sie mit englischen Häusern in Verbindung getreten waren, denn England mit seinem festgegründeten Riesenvermögen hatte ihm gewaltig imponiert. Doch auch dabei war er mit dem Vater nicht einig.

»Trau du den Beefs«, sagte Karl Anton. »Vorzüglich, ganz vorzüglich, wenn es um das eigene Geschäft geht, aber unsichere Kantonisten, sobald anderer Leute Geld auf dem Spiel steht. Doch ich will nicht immer gegen dich sein.«

So ging das gemahlene Farbholz nicht mehr allein in die Farbfabriken am Rhein, sondern auch nach London und Manchester.

Ernst Sprekelsen, der immer noch den alten Ladwig schalten und walten ließ, wie es dem am richtigsten schien, bekam eines Tages Anwandlungen von Geschäftseifer und kaufmännischem Fleiß. Wie der alte Herr sich darüber verwunderte, natürlich in aller Höflichkeit und Zurückhaltung, schmunzelte er. »Ja ja, es geschehen noch Zeichen und Wunder. Sieben Jahr bin ich nun verheiratet, den Fünfzig näher als den Vierzig, und nun will sich der Name Sprekelsen doch noch vererben. Und wenn man nicht nur für sich und seine Frau zu sorgen hat – ach ja, lieber Ladwig, man bekommt doch ein Gefühl der Verantwortung als künftiger Papa.«

Und sie tauften, es war im Mai vierundfünfzig, den kleinen Fritz Sprekelsen, und im September, endlich im September des gleichen Jahres, war Karl Anton am Ziel seiner Wünsche.

Paul stürzte morgens um sieben ganz außer sich vor Erregung – Elise dachte, als sie ihm öffnete, es hätte ein Unglück gegeben – in das väterliche Haus: »Ein Junge, es ist ein Junge. Er hat ganz schwarzes Haar. Wo ist mein Vater?«

Ein Prinz konnte nicht freudiger begrüßt werden.

Auf dem Rasen vor dem Hause trug die hohe Flaggenstange drei Tage lang die Flagge mit dem Hamburger Wappen, die sechs Kinder, die den Park mit ihrem Hallo füllten, durften nur hundert Meter entfernt von Minnas Zimmer spielen. Elise mußte in das Nachbarhaus übersiedeln, damit die glückliche Mutter eine absolut zuverlässige Person um sich hätte. Jeden Morgen standen die schönsten Rosen im Zimmer der Wöchnerin, »vom alten Herrn Heinecken selber abgegeben mit einem Gruß für die Schwiegertochter«, ja, jetzt sah man doch, es war etwas ganz anderes, einem Erben der Firma das Leben zu schenken als drei Töchtern.

»Paul Anton soll er heißen«, sagte Paul. »Ich würde ja lieber deinen Namen voranstellen, lieber Vater, aber es spricht sich besser so.«

»Ist schon recht, mein Junge. Na, mich soll verlangen, wem er ähnlicher werden wird, dir oder mir. Ob sich ein Paul daraus entwickelt oder ein Karl Anton.« Im Stillen dachte er: Ich werd' ihn schon ziehen.

Der kleine Bube, um den es ging, lag rund und behaglich in seiner Wiege hinter grünseidenen Vorhängen, steckte den rosigen Daumen in den Mund, sah mit großen, dunkelblauen Augen – noch ganz in seinem Traumleben befangen – dahin, wo Sonnenstäubchen im Spalt der Gardine tanzten, und ahnte nicht, was Leben und Menschen einmal von ihm wollten.

Seine drei Schwestern hatten alle blonde Haare, dicke, glatte Zöpfe wurden es mit der Zeit bei allen dreien, er allein trug den schwarzen lockigen Kopf von Vater und Großvater, als er heranwuchs, und versprach – wenigstens im Äußern – ein echter Heinecken zu werden.

Aber während die Schwestern mit ihren hellen Stimmen das ganze Haus zum Widerhallen brachten, sich zehnmal des Tags in den Haaren lagen und sich ebensooft wieder versöhnten, behielt der kleine Paul Anton seine behagliche Ruhe bei. Er war nie verdrossen, aber auch nie erregt und wild. Er machte mit, als er laufen gelernt hatte und sprechen konnte, aber er war doch immer nur der Nachtrab der Größeren, und am liebsten spielte er still für sich auf dem Sandhaufen in der Ecke ganz hinten im Park, wo Vaters Garten mit Großvaters zusammenstieß und von hinten der Soltausche und der Sprekelsensche sich an das Gitter schoben. Pforten verbanden die Grundstücke, sie standen den ganzen Tag offen, häufig auch nachts, die Kinder konnten zueinander laufen, wie es ihnen gefiel. Da kam immer einmal jemand aus einem der vier Häuser vorüber, und wenn es ein Erwachsener war, strich er wohl dem Jungen über den Kopf und sagte: »Na, du backst dir wohl schöne Kuchen?«, und wenn es eine der Geschwister war oder einer von den Soltaububen, wurde er angerufen: »I gitt, Paule, wird dir denn das nicht über? Immer im Sand zu klaren!« Und er nahm das eine so ruhig hin wie das andere. Am meisten aber kam Fritze Sprekelsen, der ja nur ein paar Monate älter war. Der setzte sich eine Weile zu ihm, nahm seine Sandformen, nahm seine kleine Schaufel, zeigte ihm, daß er alles viel besser könne, und begann zu kommandieren. Und weil er wirklich ein aufgeweckter Junge war und etwas anzugeben wußte, folgte Paul Anton willig seinen Anordnungen und ließ sich von ihm leiten.

Der Großvater, als er das einmal ein Stündchen beobachtet hatte, ging zu seiner Adelheid und sagte: »Er ist doch viel mehr Paul als Anton. Es hat nicht gut getan, daß sie den Namen vorangestellt haben. Ich werde den Jungen ein bißchen aufrütteln.«

Das Aufrütteln begann damit, daß er den Dreijährigen auf sein Pferd setzte. Ein ganzes Jahr lang hatte er nicht geritten, seit seine eigene Kugel Satan niedergestreckt. Dann konnte er das nicht länger entbehren. Zuerst war es Adelheid, als träfe sie jeder Hufschlag auf das Herz, wenn sie den schnellen Trab des Tieres hörte. Doch der Mensch gewöhnt sich an so vieles, mit der Zeit lernte sie auch diesen Ton ertragen. Nur an das Fenster trat sie nie, wenn ihr Mann morgens zur Stadt ritt.

Es war kein Satan, der jetzt den Herrn trug, es war ein schöner Goldfuchs, elegant, sicher, ohne Launen und Nerven. Auf diesen Fuchs setzte der Großvater eines Sonntags den Jungen, hielt ihn da oben fest, ging neben dem langsam schreitenden Pferd her und fragte: »Das ist fein, was?«

»Ja«, sagte der Junge bedächtig. »Das ist fein.«

Aber als er nach fünf Minuten noch immer da oben saß, und Loki zum sechstenmal um den Rasen gehen sollte, wurde ihm dies Vergnügen leid. »Runter, Großpapa.«

»Ach was, runter! Bengel, jetzt steig ich hinauf, und wir reiten aus der Pforte und machen einen ordentlichen Trab. Bist du ein Heinecken oder bist du keiner?«

Paul Anton ertrug auch den Trab, ohne Lärm zu schlagen, doch als sie wieder vor der großelterlichen Veranda landeten, und er gefragt wurde: »Wollen wir jeden Tag reiten?«, sagte er gemessen: »Ich mag lieber Sandkuchen backen.«

»Potzdonnerwetter,« schalt der lebhafte Großvater, »Sandkuchen backen, wenn man auf solchem Pferd traben kann.« Verdrießlich ließ er den Enkel laufen.

Paul und Minna waren froh, daß der Junge nicht eben solch ein Quirl war wie die Töchter. Die machten ihnen den Kopf heiß genug.

Die Mutter hielt den Kleinen viel neben sich, wenn sie an der Nähmaschine saß, denn sie nähte alle Sachen für die Kinder selber. Irgendwie mußte sie doch helfen, das viele Geld zusammenzuhalten, das ihr in den Schoß gefallen war, und immer einmal trug sie kleine Summen auf die Sparkasse. Es war gewiß so unnötig, aber es saß ihr nun mal im Blut, das Sorgen und Sparen. Durch sie sollte das große Haus, in dem man sie so freundlich aufgenommen, nicht zu Schaden kommen.

›Heineckens junior‹ lebten in einer durchaus glücklichen, für andere ziemlich langweiligen, sie selber aber durchaus befriedigenden Ehe. Gesellschaften machten sie nur mit, weil Karl Anton es verlangte. Ihr Hauptverkehr waren die Nachbarn, Sprekelsens und Heineckens.

»Ja, ja,« sagte Soltau zu seinem alten Kameraden, »Sie haben nun zu den drei Mädels auch den Jungen, aber unsere drei Buben bleiben ohne Schwester. Ich hab' sie mir zu jedem Weihnachten gewünscht, aber das Schicksal hört nicht.«

Das Schicksal hörte endlich doch. An dem Tage, als der kleine Paul Anton vier Jahre alt wurde, traf bei Soltau ein Töchterchen ein.

Soltau holte sich den kleinen Paul Anton aus dem Garten, stellte ihn an die Wiege und fragte: »Was liegt da in den Kissen?«

Der Junge hob sich auf die Zehen, sah lange hinein in das dämmerige Bettchen und sagte endlich: »Eine Puppe.«

»Na ja. Aber eine lebendige Puppe. Mit der du spielen sollst, wenn sie drei Jahre älter ist.«

Lebendige Puppe? Ein schwerer Begriff. Der Junge streckte die Hand aus, faßte winzige Fingerchen, zog an ihnen, erst leise, dann stärker – »äh, äh!« machte die Puppe.

Paul Anton flog zusammen, starrte noch einmal in die Wiege, machte kehrt und rannte aus dem Zimmer.

»Wen hast du da, Otto?« fragte Frau Mercedes aus dem Nebenzimmer.

»Den kleinen Heinecken. Er studierte eben den Unterschied zwischen einem Menschen und einer Puppe.«

Lachend ging er hinein zu seiner Frau.

Paulchen aber saß auf seinem Sandhaufen und war in schweres Nachdenken versunken. Zuletzt ging er in das Zimmer der Schwestern, zerrte die Puppen an Armen und Beinen, und als sie, wie immer, stumm blieben, sah er sich nach einem Menschen um, der ihm den Fall erklären könnte. Das mußte die Großmama sein. Die geduldige, die immer Zeit für ihn hatte. Die wohl über ihn lachte, aber so lachte, daß man sich nicht schämte.

»Na, Anti,« fragte sie, als er eintrat, »wie siehst du denn aus? Du hast so verwunderte Augen.«

»Bei Onkel Soltau ist 'ne lebendige Puppe. Die schreit, wenn man sie an den Armen reißt. Dora und Anna ihre Puppen schreien nie. Ich hab' sie eben so doll gerissen und gehauen.«

»Das sind ja auch keine lebendigen Puppen, Herzensjunge.« Und als sie seine fragenden Augen an sich hängen sah: »Und das kleine, süße Ding bei Onkel Soltau ist auch gar keine Puppe. Das sagte der Onkel nur im Scherz. Das ist ein Mensch wie du und ich. Nur daß er noch ganz klein ist, nicht sprechen und nicht laufen kann –«

»Was soll ich denn damit?« fragte das Kind.

»Wart' nur, bis das kleine Mädelchen ein paar Jahre älter ist. Dann spielt ihr zusammen im Garten, und du fährst es in deinem Blockwagen –«

»Und wenn es noch älter ist, wird es deine Frau«, sagte Karl Anton, der dazugekommen war. »Als Tochter ihrer Eltern wird sie Temperament haben, und das wird dir sehr gut bekommen, mein Junge.«

»Red' ihm doch nicht solchen Unsinn vor.«

»Unsinn? Warum Unsinn? Mein Enkel soll mal anders wählen als mein Sohn.«

»Kannst du etwas gegen Minna sagen?«

»Gegen ihre Bravheit nichts, gegen ihre Langweiligkeit viel.«

»Du bist ja nicht mit ihr verheiratet.«

»Gott sei gelobt. – So, nun komm mal mit, ich will dir etwas zeigen in meinem Zimmer. Kunsthändler Röthel hat mir da eine italienische Landschaft geschickt, von Oswald Achenbach, bißchen teuer, aber – fein, sag' ich dir, ganz fein. Lauf nach Haus, Paul Anton, die Großmama hat jetzt was zu tun.« Und als sie vor dem Bilde standen, legte er den Arm um sie. »Das soll in deinem Zimmer hängen, mein Herz. Daß du immer den blauen Südhimmel und seine Sonne und das ganze Leuchten des Golfs von Neapel hast, wenn draußen Schnee liegt, und Hamburger Nebel um das Haus steht. Daß ich dir doch ein bißchen Sonne schaffen kann.«

»Lieber«, sagte sie und lehnte sich an ihn. »Wann wirst du einmal müde werden, mich zu verwöhnen.«

»Nie, solange ich meine gesunden fünf Sinne behalte.«

Das Bild kam in Adelheids Zimmer, und ihm gegenüber, so daß sie es immer ansah, wenn sie vom Nähtisch aufblickte, hing ein Bild von Brigittchen, ein Bild, wenige Monate vor dem jähen Tod des Kindes gemalt, mit einem Kranz wilder Rosen im Haar und einem Zweig wilder Rosen in der Hand, oh, selber ein blühendes, wildes Röslein, voll Sommerlicht und Sonne. Oft, wenn sie dann von einem der Bilder zum andern sah, wurde ihr das Herz weit. Ja, der geliebte Mann tat, was er ihr an den Augen absehen konnte, nur ihr Leid mit ihr teilen, das tat er nicht. Das Kind war für ihn eine helle, reizende Erinnerung, er hätte von Herzen gewünscht, den kleinen Sonnenvogel zu behalten, aber da es nun einmal gegangen war, sollte man sich das Leben nicht mit nutzlosem Sehnen verderben.

Karl Anton Heinecken wäre nicht so lange jung und frisch geblieben, wenn er es nicht verstanden hätte, alles von sich zu schieben, was dunkel und bitter und unbequem war.

* * *

Es waren böse Zeiten in der Welt. Der Krimkrieg, der seit Jahren England, Rußland und Frankreich beschäftigte, beeinflußte auch das deutsche Geschäftsleben.

»Wir hätten uns nicht mit englischen Häusern einlassen sollen«, sagte Karl Anton. »Es hilft nichts, wir müssen mahnen. Solche Summen bleibt kein anständiger Geschäftsmann vier Monate lang schuldig.«

»Quick Brothers sind so sicher fundiert, das hat keine Not«, antwortete Paul. »Ein ganz altes, solides Haus. Man hatte in der City alle Hochachtung vor ihnen. Sie können vielleicht durch den Krieg in vorübergehende Schwierigkeiten geraten, aber das ist dir ja auch schon passiert.«

Bisweilen erlaubte er sich solche kleinen Spitzen, die seinen Vater erheiterten. Für ernst nahm der ihn ja doch nicht, obgleich der Sohn einen unermüdlichen Fleiß entwickelte und sich mehr um einen Groschen sorgte, als der Vater um tausend Taler.

Heinecken mahnte. Vorsichtig, in aller Höflichkeit, wie es einem so geschätzten Geschäftsfreund gegenüber angebracht war, aber immerhin, er mahnte. Denn ihm selber war es einmal wieder knapp. Wenn die Kaffee-Ernte da auf den fernen Inseln ihn nicht immer wieder hochgeholt hätte, wären die letzten zwei Jahre unbequem gewesen. Aber – Gott sei Dank – das Unternehmen florierte glänzend. Davon allein hätten die drei Familien, Heinecken Senior und Junior und Otto Soltau sorglos leben können.

Die englische Antwort ließ auf sich warten.

Soltau, der seine Augen und Ohren überall hatte, kam eines Tages mit der Nachricht, die er an der Börse empfangen, Quick Brothers sollten in Indien schwere Verluste erlitten haben. Der Fall von Delhi, wo die indischen Rebellen wie die Wahnsinnigen gewütet, hätte verschiedenen ihrer Angestellten das Leben gekostet, das Haus aber hätte enorme Geldsummen verloren. Heinecken sprach nicht zu Hause über diese Nachrichten. Er ließ alles Bedrückende hinter sich, sobald er in Hamm die Gartenpforte öffnete und Adelheid ihm entgegenkam; dennoch spürte sie, die jeden kleinsten Schatten seines Wesens empfand, daß da wieder etwas war, was drohte. Sie spürte es und schwieg, sie hatte es sich abgewöhnt, zu fragen. Von selber mußte er sein Sorgenbündel öffnen. Dann stand sie bereit, ihr Teil aufzunehmen und mit Heiterkeit zu tragen.

Ende Oktober tauften sie die kleine Elfriede Soltau.

Um seine drei Buben hatte Otto Soltau nicht solch Wesen gemacht, wie um das Töchterchen. Es gab eine Taufe, wie sie der Heineckenwinkel noch nicht erlebt, und Karl Anton hielt das Kind dem Geistlichen entgegen, als das heilige Wasser sein Köpfchen netzte.

Er hielt auch bei Tisch eine seiner glänzenden Reden, in denen er hervorhob, wie sein junger Prokurist ihm in Indien zur Seite gestanden, wie er in den Hamburger Jahren immer mehr mit der Firma und dem Hause des Chefs verwachsen sei, wie er hoffe, dieses feste Band werde unzerreißbar bestehen bleiben – er sprach noch allerlei, was wunderschön gedacht und gesagt war, aber ein Letztes fehlte, worauf der Taufvater und Frau Mercedes horchten. Es fiel keine, auch nicht die kleinste Andeutung, daß der Prokurist einmal mehr werden könne als Prokurist, daß die Firma einmal Heinecken und Soltau heißen würde.

Die Uhr ging auf Mitternacht, als sich die Gäste empfahlen. Da standen sich Karl Anton und Otto Soltau noch im Zimmer des Hausherrn gegenüber, und Soltau hielt seinem Chef das Zündholz zur Heimwegzigarre entgegen. Aber Heinecken nahm es nicht, sah sich vielmehr um nach der offenen Flurtür, hinter der man weibliche Stimmen vernahm, die sich allerlei Liebenswürdiges zum Abschied sagten, und dann, sie schließend, trat er dicht an Soltau heran.

»Sie haben heute etwas erwartet, lieber Soltau – bitte, lehnen Sie nicht ab, Sie konnten es nach manchem Wort, das wir in letzter Zeit gewechselt, erwarten. Wenigstens eine kleine Andeutung, daß wir uns noch mehr werden würden, als wir uns schon sind – glauben Sie mir, ich wußte, warum ich nichts sagte.«

Soltau wurde förmlich. »Ich bin überzeugt, daß Sie sich Ihre Worte genau überlegt hatten, Herr Heinecken.«

»Nicht so, nicht so. Ein Augenblick.« Er faßte in die Brusttasche und zog einen Brief hervor. »Sie gingen heute als Taufvater eine Stunde eher aus dem Geschäft fort, ehe die englische Post gekommen war. Da –« er reichte ihm den Brief, »da haben Sie die Aufklärung.«

Soltau las.

»Ja, ja, lieber Soltau, mein vorsichtiger Herr Sohn hat uns in eine böse Sache hineingerissen. Zahlungen eingestellt. – Und wir sitzen da mit dreimalhunderttausend Talern fest. Passen Sie auf, ich bekomme von England keinen Schilling wieder.«

»Und Sie haben den ganzen Abend mit keinem Wort –«

»Sollte ich Ihnen das schöne Fest stören? – Sie begreifen, in diesem Augenblick kann ich kein anderes Schicksal an unser Haus binden. Und Sie dürfen das Vermögen Ihrer Frau nicht in eine wankende Firma stecken.« Er gab dem andern die Hand. »Ich habe schon schlimmere Krisen durchgeholt, lieber Freund, ich werde den Kopf hoch halten. Und Ihre Arbeitskraft ist mir sicher.«

»Jeden Tag, so lange ich sie behalte, Herr Heinecken.«

»Also dann – lassen Sie sich um diese Nachricht keine grauen Haare wachsen, ich tue es auch nicht. – Ja, liebe Adelheid –« die sah in die Tür, »dein Mann hat sich hier noch festgeredet. Alte Leute werden schwatzhaft.« Er gab ihr den Arm, wie sie durch die stillen herbstlichen Gärten nach Hause gingen, aber er sprach kein Wort, während es sonst seine Art war, nach einer kleinen Festlichkeit angeregt mit ihr zu plaudern. Und sie fühlte deutlicher noch wie die Tage vorher: Da war etwas; da waren Sorgen, die er ihr vorenthielt. Soltaus Gesicht hatte auch nicht schnell genug den Ausdruck wechseln können, als sie in die Tür blickte.

Bis sie in ihrem eigenen Hause waren, schwieg sie. Da, am Fuß der Treppe, als Heinecken die Lampe, die ihrer Heimkehr entgegengeleuchtet hatte, löschen wollte, legte sie die Hand auf seine Schulter.

»Ich will nichts wissen, bis du von selber kommst, Liebster. Aber wenn es um Geld geht – wir haben nie davon gesprochen, doch ich weiß, du hast hunderttausend Taler sichergestellt für mich. Wenn die dir auch nur einen einzigen Tag deine Sorgen abnehmen können –«

Er verschloß ihren Mund mit einem Kuß. »Ohne Geschäftssorgen gibt es keinen Geschäftsmann, mein Herz. Licht und Schatten gehören zusammen. Du machst mir das Leben so hell, daß ich es dankbar anerkennen muß, wenn im Kontor manchmal Wolken aufziehen. Sonst könnte ich mich vor dem Neid der Götter fürchten müssen.«

Und wieder wußte sie nicht, schwieg er über seine Angelegenheiten aus Liebe zu ihr, oder weil er selber in den häuslichen vier Wänden nichts Unangenehmes denken wollte.

* * *

An der Börse war es bekanntgeworden, daß Heinecken große Verluste gehabt hatte. Er selber schien sich das nicht anfechten zu lassen. Die Kaffeeplantagen da auf Java mochten wohl allen Schaden gutmachen. Jedenfalls sah man das Ehepaar, die »alten Heineckens«, in diesem Winter überall, wo etwas los war. Der alte Herr frisch und heiter wie ein Jüngling, kein Mensch glaubte ihm seine vierundsechzig, Adelheid, nun auch schon den Vierzig nahe, immer noch eine reizende Frau, und beide so tadellos vornehm in Erscheinung und Kleidung, wie es nur ganz reiche, ganz sorglos lebende Menschen sein können. So verstummten alle dunklen Gerüchte bald wieder. Denn was wollte es sagen, daß sich Heinecken junior mehr und mehr vom großen Verkehr zurückzog und sich auch im engeren Kreis immer unzugänglicher zeigte? Man kannte ja seine Art und zuckte die Achseln dazu.

Das Jahr neunundfünfzig brachte England die Überwindung des indischen Aufstands, ohne daß damit für Heinecken etwas gewonnen war. Der einmal erlittene Verlust wurde nicht wieder gutgemacht. Paul konnte es nicht überwinden, daß er – ausgerechnet er – der immer Vorsichtige, der immer Zurückhaltende und zehnmal Prüfende, es gewesen war, dem die Firma diesen Schlag verdankte. Er wurde auch dem Vater gegenüber förmlich scheu, und Adelheids Herzlichkeit vermochte nicht, ihn über das fortzubringen, was er seine »geschäftliche Blindheit« nannte. Als alles wieder in leidlich normalen Gleisen lief, hatte sie davon erfahren, was dem Hause widerfahren, und hatte auch mit Minna darüber gesprochen.

Es wurde jetzt Sitte, daß die ganze Familie erfuhr, was früher Karl Anton als seine eigensten Angelegenheiten ansah. Paul sprach zu seiner Frau über Gewinn und Verlust, Minna sprach mit ihrem Vater darüber, der alte Ladwig wurde von Ernst Sprekelsen ausgefragt – wenn auch einer und der andere diskret sein wollte, es sickerte doch immer so viel durch, daß schließlich jeder wußte: Heute steht es so, und morgen wird es wahrscheinlich so stehen.

Nur Soltau machte es wie sein Chef, ließ Geschäft Geschäft sein, sobald er an das Haus kam, und toste und tobte mit seiner Schar durch die Gärten, während seine schöne, sanfte Frau ihm von der Veranda aus lächelnd zusah.

Paul Anton und Fritz Sprekelsen wurden von den großen Buben, die sie nicht als voll ansahen, denn zwischen zehn und fünf Jahren ist noch ein zu großer Unterschied, nur selten bei den Spielen geduldet, und Paulchen ließ sich das gefallen, während Fritz, sehr viel leidenschaftlicher angelegt, einen Mordskrach schlug. Heinecken senior fand sie so einmal hinten zwischen den Stachelbeeren, wo Paulchen still vor sich hinstarrte, während Fritz schalt wie ein Rohrspatz.

»Immer sind sie so! Immer sind sie so widerlich, Hans und Bernhard und Erich und deine großen Schwestern. Immer soll man nicht mitspielen. Ich bin grad so gut en Indianer wie sie. Ich hab' auch en Bogen –«

»Ich auch«, sagte Paulchen.

»Und Pfeile hab' ich auch, und en großen grauen Bären hab' ich gestern abend auch totgeschossen hinten am Waschhaus, da wollt' er grad die Bienenstöcke auslecken.«

»Da sind ja gar keine Bienenstöcke.«

»So? Was wollt er da denn? Er brummte gräßlich, man konnt' es bis zum Rathausmarkt hören, und da nahm ich meinen Bogen und schoß ihn, bautz, mit'n Pfeil vor den Kopf. Da fiel er um und war mausetot.«

»Liegt er da noch?« fragte sein Gefährte.

Fritz überlegte kurz. »Da kam en großer Adler, der hat ihn weggetragen in sein Nest, da haben ihn die Jungen aufgefressen.«

Paul Anton regte sich nicht über diese wunderbare Geschichte auf. Fritz erlebte täglich dreimal solche Sachen. Man nahm sie hin, da man sie nicht nachprüfen konnte.

»Du bist ja ein gewaltiger Jäger«, sagte Großvater Heinecken und sah zwischen die Sträucher. »Das Aufschneiden wenigstens verstehst du schon gründlich. Ihr verderbt euch da wohl den Magen an dem unreifen Zeug?«

Sein Enkel sah ihn vertrauensvoll an. »Ruderst du uns nu auf dem Teich?«

»In meinen Hellgrauen?« Er sah bedenklich auf die neuen Beinkleider. »Wollt ihr denn auch ganz stille sitzen, daß es nicht spritzt?«

Sie gelobten alles, was er wollte, und zu dreien gingen sie an das Riesengewässer des Teiches. Karl Anton setzte die beiden Buben auf die kleine Bank des Flosses, trat selbst in die Mitte und schob das Fahrzeug mit der langen Lenkstange über die Flut.

Es waren Goldfische im Teich, ganz rotgoldene und gefleckte, und solche, die wie weißes Silber schimmerten und nur rote Flossen und Kiemen hatten. Im Herbst wurde die ganze Gesellschaft vom Gärtner herausgefischt und verbrachte die kalten Monate im Wasserbassin des Gewächshauses. Die beiden Knaben sahen mit Entzücken, wie die Tiere vor dem Floß davonschossen, dann, wenn es stillag, dicht heranglitten, regungslos in der dunklen Flut lagen, zum Greifen nahe, um bei einer schnellen Handbewegung ihrer Beobachter wieder wie der Blitz davonzuflitzen.

»Sitzt still«, sagte Heinecken. »Fritze, wenn du zappeln willst, darfst du nicht wieder mitfahren.«

»O der, o der. Den kann ich greifen, den kann ich –«

»Du infamer Bengel! Ob du stillsitzt –«

Da schoß es rosenrot vorüber am Floß. Fritz sprang hoch von der Bank, warf sich zur Seite, griff nach dem Fischlein, und im gleichen Augenblick kenterte das Floß. Heinecken schrie zornig auf, Fritz schrie noch viel ärger, nur Paul blieb der Ton in der Kehle stecken. Gründunkel tat es sich vor ihm auf, der Boden wich, er flog hinein in bodenlose Tiefen, eisige Flut schlug um ihn zusammen – daran konnte er sich später noch erinnern – dann nichts mehr.

Als Heinecken, der in dem seichten Wasser gründen konnte, erst den einen und dann den andern der Knaben auffischte und sie zugleich an das Ufer trug, schrie Fritz, als wenn er am Spieße steckte, nicht einen Augenblick das Bewußtsein verlierend. Paulchen aber hing, offenen Auges, doch ohne die geringste Bewegung, im Arm des Großvaters.

»Lauf«, sagte Heinecken, setzte Fritz auf den Rasen und gab ihm einen aufmunternden Schlag auf den Rücken. »Laß dich umkleiden, und sag' deiner Mutter, sie soll dir die Hosen strammziehen, daß du so was nicht wieder machst.« Während sein Neffe sich nicht lange aufhielt, sondern brüllend und triefend davonrannte, trug er seinen Enkel – nicht zu Minna – sondern in das eigene Haus zu Adelheid.

»Schrei doch, Junge!«, sagte er und schüttelte ihn, während er in steigender Angst in die weitaufgerissenen Augen sah. »Schrei doch tüchtig los, Großvater schilt nicht!« Doch Paulchen schrie nicht, rührte sich nicht, knirschte nur einmal mit den Zähnen, als fasse ihn tödliches Grauen, und dann – als er gerade in Großmutter Heides Zimmer auf dem Sofa niedergelegt wurde, fuhren ihm die Arme in die Höhe, der Kopf bäumte sich nach hinten, der ganze Körper zuckte im Krampf.

Das ganze Haus kam in Aufruhr. Johann stürzte zum Arzt, Adelheid lief nach trockenen Sachen und heißem Tee, Elise rannte, die Mutter zu holen, und dann standen sie alle hilflos neben dem keuchenden, schlagenden, zuckenden Kinde, trockneten sein nasses Haar, rieben die kalten, unruhigen Füße, suchten die umherfahrenden Hände zu halten, zu beruhigen, und atmeten erst leichter, als der Arzt kam. Paulchen war ein wenig ruhiger geworden, als Doktor Winter erschien, aber der fragte doch sofort: »Was ist ihm denn passiert? Hat er sich furchtbar erschrocken? In das Wasser gefallen? Davon sollte doch ein normaler Junge –« er brach ab; Paulchen verdrehte eben wieder die Augen, daß man fast nur das Weiße sah.

Minna schlug die Hände vor das Gesicht – sie hatte nie einen Menschen in Krämpfen gesehen. Adelheid führte sie in das Nebenzimmer. »Ängstige dich doch nicht so, Minna. Es ist nur der Schreck. Weiter nichts.«

Minna weinte. »Unser Junge! Unser einziger, lieber Junge! O Gott, wenn Paul nach Hause kommt, und er stirbt uns.«

»Davon stirbt er nicht. Er ist doch gesund und kräftig. Das sind nur die Nerven.« Und froh, dies Wort gefunden zu haben, wiederholte sie: »Nur die Nerven sind es, du sollst es sehen.«

Heinecken kam zu ihnen. »Er ist schon wieder bei Besinnung. Er will nach Hause und in sein Bett. Ich trag' ihn dir hinüber, Minna.« Mutter und Arzt neben sich, ging er, den Enkel im Arm, mit seinen langen Schritten durch den sommerlichen Garten zum Hause des Sohnes.

Der kleine Junge schlief ein, kaum daß sie ihn in sein weiches Kinderbettchen gepackt hatten. Arzt und Großvater gingen, nur die Mutter blieb bei ihm sitzen. Aber als er so friedlich schlief, hielt sie die Untätigkeit nicht aus. Sie nahm das nasse Zeug vor, und als sie auf dem hellgrauen Anzug – er war aus einer alten Hose ihres Mannes gemacht und noch sehr gut, wirklich sehr gut – dicken, grünen Wasserschlamm fand, ging sie damit in die Nebenstube, begann zu säubern und schüttelte verzagt den Kopf, als der abscheuliche Moder häßliche gelbgrüne Flecken zurückließ. Vielleicht – wenn sie gleich mit warmem Wasser – Paulchen schlief ja so fest – – Sie ging hinunter in die Küche.

Da rührte sich das Kind. Seine Augen, traumbefangen, öffneten sich und sahen geradeaus in den Raum. Hinter den hohen Linden vor dem Fenster sank die Sonne nieder. Ihr Licht füllte die Baumkronen und sandte einen grünlichen Schein durch Fenster und Vorhang. Paulchen starrte hinein in dies Licht. Ein Erinnern kam –

Was war doch so grün gewesen? So viel dunkler aber, schwarzgrün, und darin etwas Goldenes –

Ach ja – ein Fischchen.

Da sah er wieder das Floß, fühlte den Boden weichen, griff in Todesangst um sich – es schwankte alles – er wollte schreien – konnte nicht –

Ach nein, er lag doch in seinem eigenen Stübchen im Bett. Die weiche Decke war um ihn her, nicht das eisige Wasser.

Aber wie das gewesen war! Das Fortstürzen in die Tiefe. Die Kälte, und wie alles mit einemmal dunkel wurde vor den Augen. – Er schrie im Erinnern hellauf.

Niemand hörte ihn. Der Junge besann sich wieder, zog die Füße dicht an den Leib, drückte sich unter die Decke wie ein Vogel in seinem Nest und spähte im Zimmer umher. Hier war doch kein Wasser. Da an der Wand stand sein Speicher. Davor hielt der Rollwagen mit den beiden Braunen. In der einen Kiste waren noch Rosinen von Weihnachten her. Die wollte Fritz immer haben, wenn sie spielten, aber er gab sie ihm nicht. Alles gab er auch nicht her, obgleich Fritz »Geizkragen« schimpfte, wenn er ihm nicht all seine Sachen ließ.

Fritz! –

Ja – Fritz war doch auch in das Wasser gefallen! Wo war der geblieben? War er gar nicht wieder herausgekommen? Lag er unten bei den Goldfischen? Die Mädchen hatten sich einmal etwas in der Küche erzählt von einem Mann, den sie aus der Bille gezogen. Drei Wochen hatte er drin gelegen, und »die Fische hatten ihm die Beine halb weggefressen«.

Wurde Fritz nun auch von den Goldfischen gefressen?

Schütteln flog dem Kind durch die Glieder. Mitten in seinem warmen Bettchen wurde ihm eiskalt. »Mama! Mama!«

Oh, was war das? Er konnte ja gar nicht ordentlich schreien. Dreimal mußte er ansetzen. »M–m–m–mama.« Und so matt war die Stimme.

Schritte kamen die Treppe herauf. Die Mutter! Gott sei Dank, die Mutter! Sie kam gleich an sein Bett, als sie die offenen Augen sah.

»Ist dir besser, Paulchen?«

Er sah sie angstvoll an. »Fr-fr-fr-fressen die Fische nu Fr-fr-fr-fritzchen?«

Minna beugte sich tiefer zu ihm. Phantasierte er? Und wie wunderlich er sprach! Sie wußte noch gar nicht, daß Fritz mit auf dem Floß gewesen, sie wußte noch gar nicht recht, wie alles zugegangen, nur daß Paul in den Teich gefallen war, und der Großvater ihn herausgeholt hatte.

»Fritz Sprekelsen spielt draußen auf dem Rasen.«

»N-n-n-nein. – Liegt im W-w-w-wasser.«

Sie strich über sein Haar. »Aber wenn ich es dir doch sage. Horch, hörst du ihn nicht? Da ruft er ja nach dir.«

Fritzens helle Trompetenstimme kam klingend in die stille Stube. »Paule, Paule, bist noch nicht wieder trocken? Komm doch raus.«

Paul setzte sich hoch im Bett und lauschte. So rief das jubelnde Leben. Die zitternde Angst, die noch alle seine Nerven erfüllte, fiel von ihm ab.

»Fr-fr-fritz! Fr-fritz!«

»Leg' dich wieder hin«, sagte die Mutter. »Morgen darf er zu dir kommen. Du bist krank gewesen vorhin von dem Schreck. Du mußt ein paar Tage stilliegen. Dein guter grauer Kittel ist auch ganz verdorben.«

Heinecken, der – nachdem er endlich die nassen Sachen losgeworden – sich mit einem Glas Glühwein von dem unvermuteten kalten Bad kurierte, hörte ebenso wie sein Enkel Fritzens Fanfarenton. »Hörst du deinen lieben Neffen, Adelheid? Den ficht nichts an. Der bekommt keine Krämpfe und geht nicht ins Bett. Ein verflixter Junge. Sollst mal sehen, der steckt Paul Anton noch mal gründlich in die Tasche.«

»Ach, Liebster, das wollen wir abwarten. Paul Anton ist kein schnelles Kind, aber er geht seinen kleinen Weg bisher sicher und gründlich. Er besieht sich jeden Wurm und jede Knospe, bis er sie genau kennt, und wenn er etwas will, dann hat er seine eigene stille Energie.

»Du siehst mal wieder mehr als andere, meine Heide.«

»Ich hab' ihn neulich beobachtet, als er auf seinem Sandhaufen einen Turm aus Steinbrocken baute. Immer wieder fiel ihm sein Werk zusammen, immer wieder begann er. Und jedesmal untersuchte er genau den Grund und die Steine, und klopfte den Boden glatt, und endlich hatte er die schwersten glücklich herausgefunden, und hatte die zuerst gepackt, und hatte das Fundament halb in den Sand gegraben, und sein Turm stand. – Ich glaube, siebenmal hat er sich gemüht, bis er das Ziel erreichte. Fritz wäre nach dem drittenmal davongelaufen. Siehst du, das hat er von dir! Und wenn dir das Leben hundertmal Steine in den Weg wirft, du hast Mut zum hundertunderstenmal. Nur mehr Lärm machst du dabei.«

»Das klingt nicht gerade wie ein Lob.«

»Ich möchte deinen Lärm nicht entbehren, er hält uns beide jung.«

Paul Anton durfte am dritten Tag wieder aufstehen. Die Krämpfe hatten sich nicht wiederholt. Daß der Junge Nacht für Nacht schweißgebadet aus schweren Angstträumen erwachte, immer in dunklem Wasser versank, nach Luft rang, Todesfurcht ausstand, das wußte niemand, denn er sagte es nicht. Er war ein kleiner, verschlossener Kerl, und eine Angst in ihm war größer als jede andere: Die Angst vor dem Ausgelachtwerden. Die großen Schwestern neckten zu gern.

Sie lachten auch jetzt wieder über sein wunderliches Anstoßen beim Sprechen, bis die Mutter es ihnen energisch verbot. Es war so komisch damit. Sprach er ganz langsam Wort für Wort, so ging es leidlich. Aber riß ihn der Eifer des Spiels hin, wollte er mit Fritz um die Wette rufen und schwatzen, da wurde die Zunge bleischwer, die Worte wurden zu dicken Ungeheuern, die nicht aus dem Munde heraus wollten, er stammelte und stotterte, und Fritz lachte.

Sie sprachen mit dem Arzt. Der riet zur Geduld. Eine kleine nervöse Störung. Die würde sich wieder verlieren.

Sie verlor sich nicht. Wochen gingen hin – Monate. Man konsultierte die ersten Hamburger Ärzte. Man nahm einen Lehrer der Taubstummenanstalt an, der sich auf die Tonbildung verstand und den Knaben Lautübungen machen ließ. – Paul Anton tat alles genau, wie der freundliche Herr es ihm vormachte, schien heute weit vorangekommen zu sein – und stotterte morgen schlimmer denn je!

Zuletzt mußte man ihn gehen lassen und hoffen, daß die Zeit das Übel bessern würde.

* * *

Heinecken hatte die Wandsbeker Farbholzmühle verkauft. Seit dem Unglück mit den englischen Geschäftsfreunden hatte Paul eine fast krankhafte Abneigung gegen diesen Teil des Geschäfts. Er wollte nichts mehr damit zu tun haben, und der Vater hatte gerade gedacht, ihn in diesem Unternehmen möglichst selbständig zu machen, während er die überseeischen Geschäfte in der eigenen Hand behielt.

Es war dem unruhigen Geist in diesen Jahren wieder um bares Geld zu tun. In Bahnbauten hatte er großes Kapital stecken, jetzt beteiligte er sich auch an Dampferlinien.

Madame Hellwig war sehr ägriert, als sie davon vernahm. So etwas überläßt man doch den Engländern, lieber Heinecken. Seit wann müssen wir Hamburger derartig unsichere Unternehmungen unterstützen?«

»Seit wir uns erinnern, daß einmal Hamburg vor London ging. Warum sollen die Vettern drüben am Kanal alles in ihre Tasche stecken? Dampfschiffe sind nicht unsicherer als Eisenbahnen, und an die haben Sie sich doch gewöhnt, verehrte Tante.«

Sie schwieg, denn sie ärgerte sich, daß er sie tantete, obgleich sie doch nicht älter war als er. Aber freilich, sie wurde alt. Seit der Bruder tot war, und sie allein in der Wohnung am alten Wandrahm hauste, mit einer Gesellschafterin, die mehr Staffage war als Gesellschaft, seitdem kümmerte sie langsam ein. Alle alten Bekannten brachen ab, nur Ladwig mit seinen Siebenzig hielt sich noch stramm wie immer. Aber auch er sprach vom »Zur-Ruhe-Setzen«.

Aber wer sollte ihn vertreten? Ernst Sprekelsens Geschäftseifer, der so überraschend einsetzte, als er Vater wurde, hatte längst nachgelassen, und so gab es nur eins – es mußte ein Kompagnon eintreten.

»Es geht nicht mehr, Herr Heinecken«, sagte der alte Herr zu Karl Anton. »Ich trage die Verantwortung nicht mehr. Aber Ihr Herr Schwager läßt ja nicht mit sich reden. Und es ist doch auch wichtig für Ihre Frau, daß die Firma nicht von der Konkurrenz überholt wird. Das Vermögen von Ihrer Frau, das Erbteil von Herrn Sprekelsen, steht doch noch im Geschäft.«

»Das wäre das wenigste, lieber Ladwig. Soviel ich weiß, sind die Zinsen immer richtig bezahlt. Aber sagen Sie, wen denken Sie sich denn etwa als Kompagnon meines Schwagers?«

»Ja, Herr Heinecken, wenn Sie mich fragen – Wenn Herr Soltau sich entschließen würde –«

»Ladwig! Aber bester Ladwig! Soltau? Den bekommen Sie nicht. Den brauch ich selber viel zu nötig. Sehen Sie, wie soll mein Sohn mal fertig werden, wenn ich nicht mehr bin? Der braucht Soltau neben sich.«

»Wenn Sie einmal nicht mehr sind, Herr Heinecken? Das kann man sich nicht vorstellen.«

»Ich bin über sechzig. Der Taufschein läßt sich nicht Lügen strafen. Schließlich kann ich die Jahre abzählen, die ich noch schaffen kann. Und nachher – bis mein Enkel so weit ist, daß er neben seinen Vater treten kann – 'ne weit aussehende Sache, Ladwig. Und tritt er mal neben ihn? Jetzt geht er seit einem halben Jahr in die Schule. Braver Junge, sagen die Lehrer, gibt sich alle Mühe, sitzt immer still und artig und paßt auf. Aber – aber – na –«

»Er entwickelt sich nicht so schnell wie andere Kinder, Herr Heinecken. Doch stille Wasser sind tief.«

Heinecken stand still und seufzte. Es war ein echter, tief aus der Brust herauskommender Seufzer. »Wenn ich doch die Bengels damals nicht auf das Floß genommen hätte. Ich wollte ihnen eine Freude machen. Ich hab' die Kinder ja so oft auf der Pfütze herumgekrebst. Und da muß mir das passieren! Paul sagte nichts, und Minna sagt erst recht nichts, aber was sie denken, wenn der Junge mit den andern spielt und ebenso schwatzen und lachen will, und dann beginnt das Stottern – und wenn sie mich dann so ansehen –«

»Meine Tochter hat nichts wie Liebe und Verehrung für Sie, Herr Heinecken. Das Unglück da auf dem Teich – ja, das hätte uns allen geschehen können. Minna wäre die letzte, Ihnen auch nur mit einem Gedanken einen Vorwurf zu machen.«

»Dann mach' ich ihn mir allein. Und darum ist es nicht leichter. Sie wissen, wie sehr ich immer nach männlichen Nachkommen ausgesehen hab' – aber man soll sich nichts zu heftig wünschen. Es ist schon dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen.«

»Der Junge wird werden, Herr Heinecken!«

»Hoffen wir es. Jedenfalls läuft bis dahin noch viel Wasser den Berg hinunter. Soltau kann ich meinem lieben Schwager nicht überlassen.«

»Es war von mir nur eine kleine Anfrage über Ihre Meinung. Ich wußte keinen anderen Rat.«

Die Unterredung verlief resultatlos. Sie klang aber in Karl Anton nach, und immer stärker trat der alte Plan vor ihn hin, den Prokuristen als Teilhaber für immer an die eigene Firma zu binden. Er hätte es gleich getan, wenn nicht der Umstand gewesen wäre, daß im Augenblick so viel schwebte, was auf Klärung wartete. Die Bahnprojekte, die Beteiligung an der zu gründenden Werft, Bau eines großen Lagerhauses für den Kaffeehandel – es sollte nicht den Anschein haben, als müsse er neues Geld in das Geschäft nehmen. Soltau sollte wissen, wenn er ihm kam, daß es seiner Person wegen geschah, und sein Vermögen nur die selbstverständliche Zugabe zur Teilhaberschaft bedeutete.

Aber zunächst mußte eine halbe Million flüssig gemacht werden, besser eine ganze, und es war da auch ein sehr einfacher und sicherer Weg. Die Nachrichten aus Java besagten, daß in diesem Jahr eine Kaffeernte zu erwarten sei, wie sie nur alle zwanzig Jahre einmal eintrat. Dafür waren die Nachrichten aus Brasilien schlecht, ebenso wurde eine wenig gute Ernte in Westindien erwartet.

Makler Peemöller, der immer gleich flinke und geschäftstüchtige, schwänzelte nicht ohne Grund in den Juniwochen so viel um den alten Heinecken herum. Er hätte seine Hand zu gern schon jetzt auf die ganze javanische Herrlichkeit gelegt, und es gelang ihm zu seinem eigenen Erstaunen glatter und schneller, als er erwartet.

Heinecken verkaufte die ganze Ernte, sozusagen auf dem Halm, oder richtiger, auf dem Busch, für einen verhältnismäßig niedrigen Preis, um mit dem sofort zu zahlenden Kapital seine neuen Unternehmungen zu decken. Und als Peemöller gern noch mehr gehabt hätte, ließ er durch seinen überseeischen Vertreter die Ernten dreier großer Plantagen, der seinen benachbart, aufkaufen und verpflichtete sich zur Lieferung von fünftausend Sack, eintreffend im Hamburger Hafen spätestens Mitte Oktober. Eine hohe Konventionalstrafe ließ ihn lachen. Nach den Nachrichten, die er von verschiedenen Seiten bekam, mußte das, was er zu erwarten hatte, weit die verpflichtete Lieferung übersteigen.

Paul war außer sich, als er von diesem Geschäft erfuhr, war besonders darüber empört, daß sein Vater ihn mit keinem Wort befragt hatte, wenn solch Befragen auch nur zum Schein geschah. Einfach übergangen war er, als sei er nicht Sohn und Teilhaber, sondern ein Kommis, den es nichts anging, was der Chef verfügte! Er kam an dem Tage, als die Sache abgeschlossen war und er zum erstenmal etwas davon erfuhr, gereizt und erregt nach Hause, und Minna hatte es schwer mit ihm. Murrend und scheltend lief er in der Wohnung umher, wollte kein Mittagbrot essen, fuhr die Kinder an, die ihm ahnungslos und vergnügt in den Weg liefen, schrie das Stubenmädchen an, ob es glaube, ihm wachse das Geld in der hohlen Hand, weil sie einen alten Teller zerschlug, und erst als die Kinder zur Ruhe gegangen waren und seine geduldig wartende Frau mit einem Nähzeug am Eßtisch saß, wie es jeden Abend Brauch war bei ihnen, kramte er aus, was geschehen.

»Ich kann mir denken, daß es dich kränkt«, sagte Minna freundlich. »Es liegt eine Nichtachtung darin, sagst du. Ja, so gewissermaßen. Aber du mußt bedenken, dein Vater ist immer Selbstbestimmer gewesen; nun, wo er alt wird, ändert er sich nicht mehr.«

»Ich will dir was sagen, Minna –« Paul schob sich im Zimmer herum, immer gegen die Wände redend, statt seine Frau anzusehen, »es ist das volle Absicht bei ihm gewesen. Er wollte mir einen Stich versetzen, weil ich damals die dumme Sache mit England eingefädelt hatte. Das verzeiht er mir nicht. Wir haben damals verloren –« Es kam eine lange Aufzählung aller Posten bis zur Gesamtsumme.

Minna ließ das über sich ergehen, obgleich sie jedes Wort selbst hätte hersagen können. Paul hatte ihr die gleiche Geschichte hundertmal erzählt.

»Und nun will er mich als dummen Jungen behandeln. Mich! Ich bin mittlerweile auch über die Vierzig hinaus. Ich weiß auch, was ich will. Ich hab' meine Geschäftskenntnisse so gut wie er. Ich hätte nie und nimmer zugegeben, daß er diesen Tollhausstreich gemacht hätte.«

»Meinst du denn, daß es verkehrt ist?«

»Verkehrt? Verrückt ist es. Wenn er nun nicht liefern kann?«

»Aber er sprach doch neulich abends davon, wie glänzend die Nachrichten aus Java sind.«

»Trau' du solchen Nachrichten von Übersee. Unser lieber Neumann –« das war der Vertreter auf Java – »malt immer alles rosenrot und himmelblau. Wenn wir nun nicht liefern können, frage ich dich? Weißt du, was dann kommt? Der Bankrott kommt. Das kann ich dir sagen.«

Die blonde Frau flog ordentlich zusammen. »Das Wort solltest du nicht in den Mund nehmen, Paul.«

Paul lief jetzt förmlich. Seine langen Gliedmaßen stießen jeden Augenblick gegen einen Stuhl oder ein anderes Möbelstück. Er schob ärgerlich beiseite, was ihm da in den Weg kam, und rannte um so sicherer bei der nächsten Wendung wieder dagegen. »Wir wären nicht die ersten, die mit dem grünen Zylinder zur Börse gehen müßten. Möchtest du deinen Mann so sehen?«

»Ich werde dich nicht so sehen! Dich nicht und deinen Vater nicht.« Sie lauschte auf, es kam jemand durch den Garten und die Verandatreppe empor. Otto Soltau kam mit seiner Mercedes noch ein bißchen die Nachbarschaft besuchen. Man setzte sich auf die Veranda in die milde Abendluft, Minna ließ Bier bringen für die Herren und Himbeersaft für Frau Soltau. Darüber hinaus verstiegen sich ihre Bewirtungen bei solcher Gelegenheit nicht, und die Herren fragten, ob sie eine Zigarre rauchen dürften, »der Mücken wegen«.

Paul holte Rauchzeug herbei, Soltau bediente sich, wußte es aber so einzurichten, daß die angebotene Zigarre in seiner Rocktasche verschwand, während er eigenes Kraut anzündete. Seine Frau sah ihn mit einem kleinen mahnenden Blick an, der ihn nur belustigte. Der gute Paul! Es war tatsächlich unmöglich, seine Zigarren zu rauchen. Nicht für einen Schilling Raucherverstand hatte er, und mit den Dreilingen, die er dabei sparte, wollte er wohl die dreihunderttausend verlorenen englischen Taler ersetzen. Es kam keine rechte Unterhaltung auf, bis Soltau geradezu fragte:

»Was sagt denn Ihre Frau dazu?«

Er war sich keinen Augenblick im Zweifel, daß Paul entgegen aller Hamburger Sitte die ganzen geschäftlichen Ärgernisse sofort an den häuslichen Tisch getragen hatte.

»Was soll sie sagen? Ich frage Sie, Soltau, wenn wir nun nicht liefern können? Wenn da nun was passiert, daß sie die Kaffee-Ernte nicht reinkriegen?«

»Was soll denn passieren? Um diese Zeit hat Java keine Stürme und Wolkenbrüche. Und daß die braunen Kerle die Arbeit verweigern, kommt da auch nicht vor.«

»Und wenn die Schiffe untergehen?«

»Na, sie werden schon nicht. Außerdem versichern wir doch hoch genug.«

»Mir ist eklig dabei, Soltau. Ich sag' es Ihnen ganz offen, ich habe ein abscheuliches Gefühl, seit mein Vater heute mittag mit dem Geschäft zu Platz kam. Das ist nicht solide. Das hat keinen festen Boden unter den Füßen.«

»Was? Ihre Javaplantage ist kein fester Boden? Mann, tun Sie mir nicht leid! Ich wollte, ich hätte solchen Besitz. Ich will Ihnen was sagen, in einem halben Jahr denken Sie das gerade Gegenteil von heute. Dann sind Sie die reichsten Leute in Hamburg, und die nächste Ernte lassen Sie sich auf eigenen Schiffen kommen.«

Seine Frau sah ihn still und nachdenklich an. Sie allein kannte ihn so genau, daß ihr auch nicht die leiseste Schwingung in seinen Worten entging. Er redete nur, den anderen umzustimmen, ohne doch so recht mit Überzeugung bei der Sache zu sein. Sie wußte nicht einmal, um was es sich handelte, denn Soltau sprach selten über geschäftliche Dinge mit ihr, aber sie zog ihre Schlüsse, und die kamen der Wahrheit sehr nahe. Irgendeine große Sache war da in der Schwebe. Der alte Herr hatte einen seiner genialen Einfälle gegen den Willen des Sohnes Tat werden lassen, und ihr Mann war nicht mit vollem Herzen dabei. Während er doch sonst allem begeistert zustimmte, was Karl Anton unternahm.

Sie hatte recht. Und doch hätte Soltau keinen Grund angeben können, warum ihm dies Geschäft so wenig behagte. Alles sah sich so sicher an. Alles hatte er mit dem Prinzipal bis ins kleinste erwogen, und doch – vorgestern, als Peemöller gekommen und in das Privatkontor geführt war, hatte ihn eine solche Unruhe überfallen, daß er am liebsten nachgegangen wäre und gebeten hätte: »Herr Heinecken, dies eine Mal geben Sie Ihren Plan auf.« Wie er sich aber das Gesicht vorstellte, mit dem er ihn ansehen würde, wie er in Gedanken schon die Stimme hörte: »Sind Sie plötzlich krank geworden, lieber Soltau?«, da blieb er still an seinem Pult sitzen und bewies sich selber, daß alles gut ausgehen müßte, ja müßte, denn es war eine todsichere Sache.

Während er jetzt auf Paul einsprach, wollte er im Grunde sich selbst überzeugen, und so nach und nach suggerierte er sich tatsächlich die fröhliche Sicherheit, die er Paul vortäuschte.

»Na,« sagte Paul endlich, »wenn wir den Kaffee glücklich hafenbinnen haben, dann will ich Ihnen ein Abendbrot geben, Soltau, davon sollen Sie noch drei Jahre reden.«

»Hummer, Lachs und frischen Bärenschinken.«

»Bärenschinken in Burgunder, wenn Sie wollen, und Champagner dazu.«

»Hand drauf? Mercedes, schlag durch. Frau Heinecken, Sie sind Zeuge. Also Ende Oktober finden wir uns hier zum solennen Abendessen ein. Alles, was gut und teuer ist. Da wollen wir aber mal auf Ihre Kosten schlemmen, Heinecken.«

»Es soll mir auf nichts ankommen. Sie dürfen selber den Küchenzettel machen und bestimmen, ob Frau Fürst zum Kochen kommen soll oder ob das Essen aus den ›Vier Jahreszeiten‹ gebracht wird.«

»Hören Sie auf, Mann! Ich kenne Sie gar nicht so. Und seien Sie unbesorgt, das Essen wird gegessen, dafür sag' ich Ihnen gut. Wollen mal drauf anstoßen.«

* * *

Glut stand über Java. Glut stand über dem ganzen Südmeer und seinen herrlichen Inseln. Die langhinziehenden Wogen des Indischen Ozeans flammten wie blaues Feuer unter den Lichtströmen der Sommersonne.

Wie Möwen, die auf die Flut niedergetaucht waren, schimmerten fernher die Segel der Ozeanfahrer, die noch selten von den schwarzen Rauchfahnen der Dampfer abgelöst wurden. Noch war die Zeit, wo die Segelschiffe die See beherrschten und in königlicher Majestät, alle Segel gespannt an solchen Tagen, durch ihr weites Reich glitten.

Bis in den Mai hinein hatte in diesem Jahr die Regenzeit gewährt, fast drei Wochen länger, als ihr zustand. Schwül waren die Nächte gewesen, stickend vor Wärme und Feuchtigkeit die Tage, alle Bäche waren über die Ufer getreten, in allen Häusern hatte sich der Boden mit Schimmel bezogen, und an den Wänden rann trübes, modriges Wasser nieder. Die Sümpfe wurden zu Seen, Straßen und Wege waren ungangbar, die Europäer, die mit Sehnsucht an frische Winterwinde und stiebendes Flockengewirr dachten, litten an Malaria und Dysenterie, Ruhr trat auf, und in den dichtbevölkerten Städten der Küste zeigte sich die Pest.

Dann flogen eines Tages die Wolken vor dem Südostwinde hinweg, und die Sonne brannte in die Welt nieder, als müßten alle niedergestürzten Wassermassen an einem Tage wieder zum Himmel zurückkehren.

Sie funkelte über Batavia und ließ die Palmenhaine um die Villen der Europäer und der reichen indischen Kaufleute leuchten wie Smaragde. Sie trocknete die breiten Straßen, die sich landein zogen, hinweg von der Stadt mit ihrem Hafen, ihren Schiffen, Speichern, Brücken, hinein in das reiche, üppige Land. Sie warf einen Glutmantel über die Hänge des Gebirges und auf die weiten Ebenen an seinem Fuße, wo das Alang-Alanggras wie ein graugrünes Meer im Winde auf und nieder wogte. Wie Inseln lagen Hölzungen in den Savannen, Palmen und immergrüne Drazänen, verschlungen mit Ranken voll farbenprangender Blüten, oder bebautes Land, Reis, Zuckerrohr, Tabak in weiten Feldern.

Die braunen Landeskinder, nur den Schurz um die Hüften, arbeiteten in diesen Feldern, weiße Leute waren selten, einzig als Aufseher sah man sie hier und da in ihrer weißen Tropenkleidung, breite Strohhüte auf dem Kopf zum Schutz gegen den Sonnenstich. Der Europäer blieb meist in den Städten oder deren Umgebung, nur die Besitzer oder Verwalter großer Plantagen zogen tiefer hinein in das Land. Und doch wurde das Klima immer schöner, je weiter man, vom Meere kommend, in die Berge drang. Mit jedem zurückgelegten Kilometer verlor die Luft an Schwüle, immer frischer und belebender machte sich der Südostpassat bemerklich, je mehr es aufwärts ging an den Hängen, und wo die Kaffeeplantagen ihren Reichtum bargen, wehte fast das ganze Jahr ein reiner Luftzug. Denn der Kaffee gedeiht nicht in der schwülen, feuchten Ebene nahe dem Meer, er will reinere Luft und trockenere Wärme.

Alois Neumann, der Vertreter Karl Anton Heineckens, hatte seinen Bungalow an solchem Berghang, wo man nordwärts hinübersah nach Batavia und bei ganz klarem, dunstfreiem Wetter wie einen blauen Schein draußen den Ozean leuchten sah.

Fruchtbares Land war es, das einmal Heinecken mit seinem Prokuristen hier angekauft hatte. Reicher Boden lag in diesen Bergen, denn alles war alte, lange verwitterte Lava, und die Wärme kam den Kaffeebäumen nicht nur von droben aus Himmelsfernen, sie stieg auch aus dem Boden empor, der immer noch in seinen Tiefen Feuer barg und kochende Quellen.

Gewaltige Berghäupter reckten sich auf, übereinandergetürmt, als wollten sie den Himmel stürmen. Rauch war über manchen von ihnen, wehende Fahnen zogen Tag und Nacht ihre Streifen gegen das himmlische Blau, und immer einmal in schweren Arbeitsstunden und in süßen Träumereien hörte man ein Grollen fernher, das nicht aus Himmelswolken stammte. Immer einmal ging ein Zittern und Schüttern durch den Boden, es knisterte in den leichten Wänden der Häuser, es bäumte sich der Boden, als bewege sich eine ungeheure Schlange – die Menschen liefen aus den Häusern – da war schon wieder alles vorbei, und sie gingen zurück unter ihr Dach und hatten es nicht mehr acht, als wenn im deutschen Land am heißen Augusttag ein schnelles Gewitter über die Stadt hingeht.

Herr Alois Neumann kam von seinem Wohnhaus hergeritten, in dem er als Junggeselle mit brauner Bedienung ein Herrenleben führte und das wegen seines guten Weinkellers berühmt war bei allen vergnügten Junggesellen zehn Meilen in der Runde.

Sie hatten am Abend vorher gefeiert. Einer der Herren, ein Österreicher, hatte seinen Namenstag; wäre das nicht gewesen, hätte sich ein anderer Grund gefunden. Ihrer fünf waren sie gewesen, und die Sonne war schon dicht vor dem Aufstieg, als die Pferde der Gäste zum Aufbruch scharrten. Herr Neumann hatte sich nicht lange mit Schlafen aufgehalten. Dazu war mittags Zeit, wenn die Sonne Mensch und Tier in den Schatten der Häuser trieb. Er ließ sich vom indischen Boy ein paar Eimer Wasser über Kopf und Leib gießen, stieg in den blendend weißen Leinenanzug und setzte sich zum Kaffee.

Eigenes Gewächs.

Er schmeckte ihm nach der aufgeregten, fidelen Nacht selten gut. Und während er trank, überrechnete er die kommende Ernte. Schon waren die Malaien dabei, die Bohnen zu sammeln, und auf den luftigen Darren trockneten bereits Hunderte von Zentnern in der Sonne. Das weiche, süßliche Fleisch schrumpelte und riß, und in wenigen Tagen konnten die Schwingmaschinen ihre Tätigkeit beginnen, um die Bohne von allen anhaftenden Rückständen zu befreien.

Die erste Ernte, die vor drei Wochen beendet war, hatte gute Resultate ergeben, die Lagerhäuser waren gefüllt bis auf eins, und schon bauten ein Dutzend brauner Handwerker an zwei neuen Schuppen, um diese zweite Ernte unter Dach zu bringen. Sie versprach das doppelte Resultat wie ihre Vorgängerin.

Herr Neumann war durch einen Brief seines Chefs von dem großen Geschäft unterrichtet, mit dem Heinecken sich einen neuen Pfeiler für die Zukunft seines Hauses bauen wollte. Er war selber Kaufmann genug, um mit allen Gedanken dieses Geschäft mitzuerleben. Wie er rechnete, kam er immer zum gleichen Resultat. Diese Ernten der eigenen Plantagen zusammengenommen mit der von ihm aufgekauften Ernte der Nachbarn mußte das zu liefernde Quantum zum mindesten decken, wahrscheinlich übersteigen. Die dritte, letzte Ernte aber, mochte sie auch die geringste sein, war reiner Gewinn. Und von solchem etwaigen Gewinn floß ihm selber ein bedeutender Prozentsatz zu. Er trug sich längst mit dem Gedanken, eigenes Land zu erwerben und auf eigene Hand Kaffeebau zu beginnen. Drei Jahre noch lief sein Kontrakt mit Heinecken, nach drei Jahren konnten seine Kaffeebäumchen zur ersten Ernte reif sein.

Als er so weit war, schnalzte er vergnügt mit der Zunge, trank den letzten Schluck Kaffee, rief nach seinem Pferd, und während er einen Augenblick auf den Gaul wartete, zündete er sich eine Zigarre an.

Unter seinen Füßen ein leises Zittern, ein Schwanken, drinnen im Zimmer klirrten Lampen und Gläser –: ein kleines, unvermeidliches Erdbeben. Schon war der leichte Stoß vorüber.

Neumann sah hinüber zu den Berghäuptern, die sich südwestlich und südöstlich von der Plantage in den Himmel hoben. Westlich der Gede mit seinen drei Gipfeln, von denen der mittlere wieder einmal seit vier Wochen rauchte, als wenn, wie der Hamburger sagt, »en kleinen Mann backt«. Die schwarze Wolke hing schwer und bauchig über dem Gipfel, es schien dort in der Höhe kein Wind zu gehen. Nur langsam dehnte sich der aufsteigende Rauch, und ganz langsam zog er nordwärts.

Kam der Stoß von da? Oder war der Papandajang im Spiel? Der tückische, nie ruhende alte Feuerberg, der nach Osten zu aufstieg? Dreimal hatte Alois Neumann während der fünf Jahre, die er in Java verbracht, erlebt, wie der Riese an seinen Fesseln rüttelte und schüttelte, wie die Feuerwogen aus seinem Innern brachen, und der dicke Aschenregen niederging in das unheimliche Todestal an seinem Fuß, in dem nichts gedieh und Schwefeldünste alles Tier- und Pflanzenleben erstickten, und der Boden unter der Asche unaufhörlich zitterte und schwankte.

Aber nie war die Asche, auch nicht bei günstigstem Winde, bis zur Plantage geflogen. Nur einmal hatten sich, zwei Tage nach solchem Ausbruch, auf den Pflanzen Niederschläge gezeigt, die davon herrühren mochten. Gußregen hatte aus der Luft allerfeinste Staubteile mit herabgerissen und abgesetzt. Schaden konnte das nicht anrichten, im Gegenteil, die Malaien behaupteten, dieser Aschenstaub sei für das Land eine besonders feine Düngung.

Auch über dem Papandajang, dessen höchster Gipfel nicht zu sehen war, er lag hinter Vorbergen verborgen, mußte Rauch stehen, denn die Wolken, die in jener Gegend lagerten, waren keine Himmelstöchter. Neumann kannte sie schon an ihrem Aussehen und der schwerfälligen Lässigkeit, mit der sie abtrieben.

Er stieg auf das Pferd. Das war unruhig, hatte aufgeregte Augen, warf mit dem Kopf, schnaubte kurz und hastig.

»Was hat der Ajax?« fragte er den Boy in holländischer Sprache.

Der braune, junge Bengel zuckte die Achseln. Er verstand nicht viel von der Seele des Tieres.

Ajax schnupperte seinem Herrn an der Schulter, der klopfte ihn auf den schlanken Hals und stieg auf. Aber Ajax blieb erregt, scheute vor dem Hund, der ständiger Begleiter auf allen Ritten war, warf den Kopf bald rechts, bald links, und sein Herr dachte: Es muß irgendein Viehzeug im Stall gewesen sein, das er verabscheut, Eidechsen oder Schlangen. Flüchtig dachte er auch an einen schwarzen Panther – im vergangenen Jahre hatte er selber solche Bestie im Kaffeegarten geschossen – doch ein so großes Raubtier hätte sich nicht unbemerkt in die Nähe des Hauses trauen können. Die Hunde hätten es gemeldet, die Malaien seine Fährten im Sand gefunden.

Und dann vergaß er die Unruhe des Tieres, wie er durch die Plantage ritt, über seinem Haupt eine Wölbung von Palmkronen, denn mitten durch die Kaffeefelder zogen sich breite Alleen, den jungen Bäumchen Schatten und Schutz zu geben. Die wundervoll gezeichneten Wedel wiegten droben auf und nieder, die schlanken Stämme waren lauter gotische Pfeiler zu einem Dom, wie ihn kein menschlicher Baumeister schöner bauen konnte.

Da – das Tier stieg erregt –, wieder das Zittern im Boden, und wie von Riesenfaust gefaßt, neigten sich die ganzen Bäume zur Seite, richteten sich wieder, neigten sich zum zweiten-, zum drittenmal. Neumann war vom Pferde gesprungen und faßte es am Kopf, während er sich mühen mußte, die Füße am Boden zu halten, und nun – fernher und immer lauter aufschwellend, wie es herankam – ein dumpfes, wütendes Grollen.

Die ganze lange Allee gleicht einer ungeheuren Schlange, auf- und abschwellend in langen Wellenbewegungen.

Also doch der Papandajang, dachte der Europäer, denn sein Ohr hatte es längst gelernt, die Töne im Boden nach ihrer Herkunft zu beurteilen. Von Osten her kamen sie, nach Westen zu verlief Bewegung und Geräusch.

»Na, na, was ist denn? Ist ja alles wieder gut.« Er streichelte das Pferd, dessen Augen vor Erregung aus dem Kopf zu springen schienen. »So, so, guter Ajax, schönes Pferd. Was hast du denn?« Die letzten Worte galten dem Hund, einem schlanken Setter mit langen, schwarzseidenen Haaren. »Warum liegt denn der Treu da und winselt?«

Der Hund hob den Kopf nicht, nur die Augen heftete er auf den Herrn, und dann stieß er einen langgezogenen Heulton aus.

Es kommt, scheint's, heute noch mehr, dachte Neumann, leitete das Pferd eine Strecke am Zügel, bis es ein wenig verschnaufte und pfiff energisch nach dem Hunde. Eine Viertelstunde später war er mitten zwischen den Arbeitern.

Der Aufseher, ein gemütlicher Holländer, kam zu ihm heran. Neumann stieg ab, überließ das Pferd einem jungen Burschen, der es in den Schatten führte und ihm zu trinken gab, und ging selber mit dem Aufseher zwischen den Reihen der fruchtbeladenen Bäumchen hin. Kaum drei Meter hoch waren die größten, denn man duldete keinen höheren Wuchs, die Ernte zu erleichtern. Die Früchtchen wurden von den Sammlern, Männern, Weibern und halbwüchsigen Burschen, in Säcke gesammelt. Neumann zählte vergnügt die lange Reihe gefüllter Säcke, die schon auf Wagen geladen wurden, um in der Darre das überflüssige Fruchtfleisch zu verlieren.

»Das gibt ein gutes Jahr, de Jong.«

»Kostet aber auch Schweiß, Herr. Heute ist eine Glut, wie ich sie wahrhaftig noch nicht erlebte. Kein Wind, der Passat scheint eingeschlafen über Nacht.«

»Er wird schon wieder aufwachen.«

»Die Leute meinen, es kommt von drüben.« Seine Hand wies zum fernen Berg, um dessen Flanke sich immer dichter die schwarze Wolke preßte.

»Können wir hier doch kaum merken, Mann.«

»Na na, das weiß man nicht so. Vor dreizehn Jahren hab' ich es erlebt, wie das Untier zu rumoren begann, daß die halbe Insel zitterte. Da hatten wir auch ähnliche Hitze die Tage vorher und eine elektrische Spannung in der Luft, die hier in den Bergen selten ist. Und heute nacht hat das Wetterleuchten nicht einen Augenblick aufgehört, und das Grummeln – ob das immer Donner von oben war oder von unten? Manchmal wußte man es nicht.«

»Ich hab' nicht viel davon gemerkt«, gab Neumann zu. »Ich hatte Gäste, und wir waren sehr vergnügt. Da achtet man nicht auf ein bißchen Gewitter.«

»Ich hab' nicht schlafen können vor Hitze«, sagte der Aufseher. »Und die Leute sehen heute so oft hinüber zum Berg, sie haben das auch im Gefühl, von da kommt es mal wieder.«

»Es sind zwei Jahre her, seit er zuletzt stärker lärmte«, meinte Neumann nachdenklich. »Immerhin mag es sein, daß er mal wieder die Zeit für gekommen hält, sich energischer zu betätigen. Jedenfalls hat es aber doch für uns nichts zu sagen.«

»So leicht nicht. Wissen kann man aber nie –«

Im gleichen Augenblick schrie das Pferd, das an eine Palme gebunden war, auf wie ein menschliches Wesen, machte einen entsetzten Seitensprung, riß so wild am Zügel, daß der sprang, und in rasenden Sätzen jagte das Tier fort, wie gehetzt von etwas Grauenvollem. Noch standen die beiden Männer und sahen ihm nach, da schleuderte sie ein Stoß zur Erde, der von unten aus dem Boden heraufbrach, als stieß eine Riesenfaust gegen die Erddecke, sie zu zerbrechen, und wo noch eben das Pferd gestanden, barst der Boden, Staubwellen gingen hoch, ein klaffender Riß zog sich, fast hundert Ellen lang und bis zu zwei Ellen breit, mitten durch die Plantage. Die Malaien, die niedergeworfen waren wie die beiden Weißen, sprangen heulend auf und rannten wild davon, irgendwohin, ohne zu überlegen, daß die Not, die sie jagte, überall mit ihrer tückischen Faust hinstieß, wohin sie auch die Schritte lenkten.

Mit Erde überschüttet, fliegend im ersten Schrecken, kamen Neumann und de Jong empor. Dicht vor ihren Füßen zog sich der Spalt hin, seine Tiefe im wirbelnden Staub und dickaufquellenden Dünsten verbergend. Sie schoben sich zurück, Schritt für Schritt, denn unter ihnen rüttelte und schüttelte der Boden, und jede Sekunde glaubten sie, hart unter den Sohlen ein neues Reißen der Erde zu spüren. Hundert Fuß entfernt machten sie halt, kauerten auf dem Boden, denn das Stehen war unmöglich, und starrten ostwärts, hinüber zu dem Berg, in dessen Innern die Feuerriesen tobten. Die ganze Gegend, in der sich sein Haupt zwischen Wolken barg, war verdunkelt. War es Rauch? Waren es Wetterwolken? War es wirbelnder Erdenstaub, emporgeschleudert von den unaufhörlichen Stößen? In den schwarzen Massen flammte es auf. Rote Glut zerriß die Finsternis, brüllender Donner begleitete ihr Aufflammen. Und dann jagten sich die Blitze, Feuersäulen schossen auf, standen wie ungeheure Opferflammen halbe Minuten gegen den Himmel, wurden erstickt von dicken Rauchwolken und legten sich – schwellend und fressend – wie ein Mantel um seine Flanken. Die Wälder an den Berghängen standen in Feuer.

Hart an Neumanns Ohr schrie der Holländer: »Heute wird es schlimm, Herr. Wir täten gut, zu versuchen, daß wir das Haus erreichen. Obgleich –« Ja, sie waren da so wenig sicher wie hier.

Aber es war ein Ziel, und es war gut, ein Ziel zu haben. Für Augenblicke hatten die heftigen Stöße nachgelassen, nur unaufhörliches Zittern der Erde zeigte, daß an ein Aufhören des Ausbruchs noch nicht zu denken sei.

Sie strebten vorwärts. Sie kämpften sich durch die Staubmassen, die atemraubend aufflogen, sie mußten nach zehn Schritten immer wieder stehen und die Augen auswischen, die tränten und schmerzten, und dabei wurde ihr Atem kurz und die Brust keuchte, denn die Glut um sie her stieg von Minute zu Minute, als bräche Feuer aus der Erde, und sein glühender Atem versenge alles Leben, ehe die offene Flamme die wehrlosen Opfer in ihre letzte tödliche Umarmung riß.

»Was ist das?« fragte Neumann und hielt abermals den Schritt an.

Es war nicht nur Erdstaub, der ihm in Mund und Augen drang, es war ein Fressendes, Schwefliges – –

»Asche, Herr.«

»Asche?«

Sie hielten wieder an. Dunkler wurde es um sie her. Die Sonne stand wie eine rote Scheibe hinter grauen Wänden, und in der Luft war ein stickender Dunst.

»De Jong, wenn das Asche ist – das kann der Plantage teuer zu stehen kommen.«

»Ja, Herr.«

»Da kann uns die Ernte draufgehen.«

»Das Leben auch, Herr.«

Wieder mühten sie sich vorwärts.

»De Jong, weiß der Himmel, ich find mich nicht mehr zurecht.«

»Wir müssen mehr rechts hinüber, mein' ich.«

Sie waren mitten zwischen den langen Reihen der Kaffeebäumchen. Alle vier bis fünf Ellen ein Baum, so zog es sich viertelstundenlang am Abhang hin. Jetzt eine dichte, dunklere Masse, ein Gehölz. Eine einzelne Palme stand riesenhoch wie ein Wächter zehn Schritt vor den ersten Büschen, als sehe sie hinein in das Land. In ihren Stamm waren Eisen geschlagen. Sie hatte einmal als Jägersitz gedient, zu der Zeit, als Otto Soltau hier regierte. Daran erkannten sie Baum und Platz. Es war ein schlimmes Erkennen. Sie waren weitab vom Wohnhaus und den Schuppen, wo sie wenigstens vor dem Aschenregen Zuflucht gehabt hätten. Zu weit nach rechts waren sie gegangen, und wie sie nun versuchten, den richtigen Weg einzuschlagen, kamen sie an einen frischen Erdriß, der nicht zu überspringen war, und sich – wie sie an seinem Rande standen – unter fortwährendem Zittern und Knirschen immerfort erweiterte. Die dicken Erdbrocken, die vom Rande abstürzten, schienen in bodenlose Tiefen zu fallen, denn man hörte ihr Aufschlagen nicht. Zurück!

Umwege gemacht, immer neue Erdstürze vor sich, immer stärker anwachsendes Schütteln und Beben unter den Füßen, und dann wieder ein Stoß, als berste die Erde in ihren Grundfesten, ein Donnern und Dröhnen, ein Brüllen, daß den Männern die Herzen stockten. Fern an jenem Feuerberg rissen die Seiten, wurden in die Luft geblasen, Wälder, Felsen, ungeheure Schuttmassen hinaufreißend bis zu den Wolken, und heraus aus der Tiefe fuhren die Feuerriesen, schleuderten Flammen gegen den Himmel, schleuderten sie über die Erde, bliesen giftige Gase, seit Jahrzehnten in ihren höllischen Öfen gekocht, in das weite Land, hetzten den Glutodem hinterher, und in einem Augenblick rasten Flammen durch Wälder und Savannen, hüllten alles Leben, alles Wachsen und Werden in Feuertod, und sangen mit Prasseln und Zischen ein Triumphlied über alles, was Menschenwerk und Menschenschöpfung hieß.

Alois Neumann, als ihn der Glutodem traf, wollte aufschreien in wahnsinnigem Schmerz. Die zerfressene Lunge und die brennende Kehle gaben nur noch einen letzten röchelnden Ton her. Neben sich sah er den Leib des Aufsehers sich bäumen, als würde er emporgeschleudert, seine eigenen Glieder riß ein grausiger Krampf zusammen – dann war es vorbei.

Über sie rieselte ununterbrochen der dunkle Staub- und Aschenregen. Rieselte drei Tage und Nächte. Dann setzte Regen ein, stürzende Wetterregen, wie ihn diese Breiten um diese Jahreszeit nicht kannten, und der Regen schlemmte Asche und Staub die Hänge nieder, häufte sie in den Mulden und Senkungen zu vielen Fuß hohen Lagern an, jagte sie an andern Stellen in die Bäche, deren Lauf verstopfend und die aufgeregten Wasser mitten hineinjagend in Gärten und Pflanzungen.

Wochen vergingen, ehe Menschen an den Ort der Verwüstung kamen. Niemand, der in jenen Stunden in der Plantage gewesen, war dem Tode entgangen. Wohnhaus und Schuppen hatten die Flammen gefressen, die Vorräte waren mit ihnen aufgelodert, die Ernte auf den Feldern war verdorben, alle Bäumchen versengt, alle Arbeit von Jahrzehnten vernichtet.

Der Papandajang, berühmt oder richtiger berüchtigt durch seine furchtbaren Ausbrüche, hatte sich selbst übertroffen, und bis Batavia hinab, bis zum fernen Singapore hinüber hatte man seine rüttelnde Wucht gespürt. Das Meer hatte getobt an der Küste, Schiffe waren mitten im Hafen gegen die Küste geschleudert worden und gesunken, bis weit hinaus in den Indischen Ozean zog der feine Staub, den die Explosion in Höhen emporgetragen, aus denen er langsam, ganz langsam zurücksank zum Ort seiner Herkunft. Viele Monate lang, wenn abends die Sonne untergegangen war, stand ein flammendes Rot bis zum Zenith, ein Abendrot, das jene Länder, in denen Tag und Nacht in schnellem Wechsel folgen, sonst nicht kennen.

Und viele Wochen später zeigte sich dies Rot fern im Norden, warf an harten Wintertagen einen Feuerschein über deutsche Schneefelder, ließ die Mondsichel gleich einem feinen Silberkahn in der Purpurflut treiben, und gab den Gelehrten Kopfzerbrechen auf über seine Herkunft. Erst Jahrzehnte später, bei dem Ausbruch des Krakatau, stellten die Astronomen fest, daß jene Himmelszeichen irdischen Ursprungs waren, daß allerfeinster Staub in unermeßlichen Höhen, von der untergegangenen Sonne beleuchtet, diesen Farbenzauber schuf.

* * *

Es gab damals noch keine Kabel zwischen überseeischen Ländern, die Telegraphie steckte in ihren allerersten Anfängen. Der Kanal von Suez war noch nicht gegraben, Schiffe aus Holländisch-Indien fuhren viele Wochen, ehe sie europäische Häfen erreichten. So wiegte sich Karl Anton noch in kühnen Hoffnungen, als längst alles vernichtet war, was er als sicheren Gewinn in seine Zukunftsrechnung einstellte.

Im August kamen noch Briefe von Neumann, die glänzende Aussichten eröffneten. Dann blieben sie aus, und eines Tages ging an der Börse ein Gerücht um von einem fürchterlichen Erdbeben auf Java. Die ersten Nachrichten kamen über Amsterdam. Näheres war nicht zu erfahren, auch nicht, in welchem Teil der Insel es stattgefunden, und Heinecken regte sich nicht auf. Solche Berichte aus fernsten Ländern waren immer zu neun Zehntel übertrieben. Es erdbebte da immer, einmal leichter, einmal schlimmer, darüber machte sich niemand Gedanken.

Aber er wartete doch ungeduldiger auf neue Nachrichten von seinem Vertreter. Peemöller fragte jeden dritten Tag: »Na, sind die Kaffeesäcke schon auf hoher See?«, und er konnte ihm keine sichere Antwort geben.

Dann wuchs die Sorge mit jeder Überseepost, Nachrichten kamen durch, langsam trat die Wahrheit heraus aus all den dunklen, verworrenen Berichten.

Es war der Papandajang gewesen, von dem die Katastrophe ausging. Es war die Gegend, in der Heineckens Plantagen lagen, die von dem Ausbruch schwer getroffen waren. Man war in Batavia lange ohne irgendeine Nachricht von dort. Und endlich der Brief eines Geschäftsfreundes aus Batavia, der die ganze Größe des Unglücks enthielt. Der hatte, als erster, sich aufgemacht und die zerstörten Plantagen besucht. Es war schweres Reisen gewesen, denn die Straßen waren zum großen Teil zerstört, die Gegend so verändert, daß man sich nicht auf die Karten verlassen konnte – immer noch schütterte es im Boden und mahnte zur Vorsicht – und als endlich das Ziel erreicht war, stand man vor dem Trümmerfelde.

In den Stunden, als sein Haus zusammenbrach, wuchs Karl Anton über sich selbst hinaus.

Schweigend ging er, nach Empfang des Schreibens, in sein Privatkontor, schloß die Tür und blieb eine Stunde allein.

Paul und Soltau, die gesehen, daß er einen Brief aus Java erhalten, blieben in schwerer Sorge zurück.

»Ich hab' gewarnt«, sagte Paul und sah ganz weiß und verstört aus. »Ich hab' gleich ein unheimliches Gefühl bei der Sache gehabt. Aber es kam ja alles zu spät. Er hat mich ja nicht gehört. Sie sollen sehen, Soltau, das war ein böser Brief.«

»Abwarten, Mann! Vielleicht ein Aufstand der Eingeborenen, der die Ernte verzögert. So was haben wir schon öfter gehabt.«

»Glaub' ich nicht. Das hängt mit dem Erdbeben zusammen, von dem sie seit vierzehn Tagen reden.«

»Ein Erdbeben kann doch nicht die ganze Plantage ruinieren.«

Paul schwieg bedrückt. Er und Soltau saßen sich seit Jahren gegenüber am großen Schreibtisch, und einer sah, so oft er von der Arbeit aufblickte, in das Gesicht des andern.

Soltau sah jetzt öfter auf als sonst. Immer blasser wurde sein Gegenüber, je länger die Abwesenheit des Vaters währte. Die Feder in seiner Hand zitterte, die Buchstaben auf dem Papier verloren an Festigkeit.

»Haltung, Mann!« murmelte der Prokurist. »Was auch kommt, Zähne zusammenbeißen! Seien Sie doch der Sohn Ihres Vaters.«

»Sie haben leicht reden. Um Ihre Firma geht es nicht.«

»Sie wissen, wie ich mit Ihrem Hause verwachsen bin.«

Paul antwortete nicht mehr. Im stillen dachte er: Doch noch ein verdammter Unterschied. Du hast dein Vermögen und das große Geld deiner Frau in Sicherheit, lieber Freund! Wer weiß, was uns morgen noch gehört!

Und immer noch kam der Vater nicht.

Plötzlich ein gräßlicher Gedanke: Der konnte doch nicht –

Ein Aufhorchen, ein Fliegen bis in das innerste Herz. Alles drinnen still im Kontor. Paul stand langsam auf. Er wollte hinübergehen an die Tür, irgendeine belanglose Frage tun –

»Lassen Sie ihn allein«, sagte Soltau. »Sie kennen ihn doch. Der muß allein durchwürgen, was ihn anfaßt.«

Der Sohn ließ sich zurückfallen auf seinen Stuhl. Zu schreiben versuchte er nicht wieder. Es wäre sinnloses Zeug geworden.

In dieser Stunde, wo er den Zusammenbruch des Hauses ahnte, wo er warten mußte von Sekunde zu Sekunde, fühlte, wie ihm die Kehle langsam zugeschnürt wurde, die Angst wuchs und wuchs, und endlich nur der Wunsch übrigblieb: Wenn nur der Schlag endlich fällt – in dieser Stunde zerbrach etwas in Paul Heineckens Wesen, was nicht wieder heilte.

Stark war er nie gewesen, immer hatte er seinen Vater neben sich gebraucht, immer war Soltau ihm wie ein Stab gewesen im wechselnden Glück und Unglück des Hauses, aber von diesem Tage an wurde er dem Leben gegenüber nie wieder jene innere Angst los: Und was kommt nun?

Soltau saß und schrieb. Er erledigte die englische Post, die noch vor Abend fort sollte, als sei es ein Tag wie alle Tage. Von dem alten Herrn hatte er gelernt, sich zu jeder Zeit in der Gewalt zu behalten. Und wenn das Schlimmste zum Schlimmen kam, wenn alles zusammenstürzte, so lange er an seinem Pult saß und Arbeit vor sich hatte, so lange wurde diese Arbeit korrekt und sorgfältig erledigt.

Ein Kommis kam aus dem Nebenkontor mit einer Frage, sah Pauls verstörtes Gesicht, ließ die Augen zum Prokuristen gehen und wanderte beruhigt wieder hinaus. Nein, wenn da etwas Geschäftliches vorgelegen, wäre der nicht so unbewegt gewesen.

Dann – endlich – kam Karl Anton wieder aus seinem Zimmer.

Achtundsechzig Jahre hatte er hinter sich. Er trug den Kopf immer noch so hoch wie ein Junger, er ließ ihn auch jetzt nicht zwischen die Schultern sinken. Als er eben im kleinen Spiegel nebenan gesehen, daß seine Züge sehr blaß waren, hatte er aus dem Wandschrank die Portweinflasche hervorgeholt, die für Geschäftsfreunde bereitstand, und hatte in langsamen Schlückchen ein Glas getrunken. Er fühlte, daß ihm das Blut ins Gesicht zurückkehrte, und nun erst ging er.

Paul dachte: Gott sei Dank, er sieht ja ganz ruhig aus. Soltau las in den Augen seines Herrn den tiefen Ernst der Stunde. Unwillkürlich stand er auf. Als zieme es sich nicht, das, was da kam, in behaglichem Sitzen entgegenzunehmen.

»Ja,« sagte Karl Anton, sah ihn an, ihn und nicht den Sohn, »Sie ahnen wohl, was da eingetreten ist. Nachrichten aus Java. Wir können nicht liefern.«

Soltau schwieg.

»Nicht liefern?« fragte Paul. »Meinst du nicht zur rechten Zeit oder nicht alles?«

»Wir können nichts liefern. Keinen Sack. Die Plantage ist vernichtet. Die Besitzungen der Nachbarn ebenso wie die unsere. Gegen das Schicksal kann kein Mensch sich wehren.«

Und Soltau schwieg noch immer. Seine Hand hob sich, als wollte sie nach der Hand des alten Herrn fassen, auf halbem Weg sank sie zurück. Nein, den hätte man beleidigt mit einem solchen Zeichen des Mitleids.

Paul kam hoch. Langsam, mit weitaufgerissenen Augen. »Keinen Sack! Keinen – keinen –« Das Wort versagte ihm, er röchelte, fiel zurück, saß keuchend im Stuhl.

Man hörte aus dem Nebenkontor einen Schritt, der sich der Tür näherte. »Fassung – Fassung, Paul.« Und als sich schon die Tür öffnete und der Buchhalter Post brachte, zugleich einen Bescheid erfragend, ging er an den Seitentisch, füllte ein Glas mit Wasser und brachte es dem Sohn. »Du solltest lieber nach Hause fahren, wenn dir heute so wenig gut ist.« Der Buchhalter warf einen Blick auf den jungen Herrn und ging wieder. »Sie werden es morgen oder übermorgen an der ganzen Börse wissen, daß wir fertig sind, aber ich will selber der erste sein, der es bekanntgibt. Es soll nicht durch die Leute ausgeschwatzt werden.«

Damit setzte er sich an den Schreibtisch, griff nach Papier und Feder und fragte: »Ist die englische Post erledigt, Soltau? Können Sie jetzt ganz für mich da sein? Wir müssen rechnen. Alles, was sich abstoßen läßt, muß zu Geld gemacht werden. Allen Kredit, der uns bleibt, müssen wir ausnutzen, allen Kaffee, der zu fassen ist, müssen wir in den nächsten Tagen aufkaufen und liefern. Er wird wahnsinnig teuer werden, schlechte Ernten überall, und nun auch der westindische zum großen Teil fort –« Seine Hand ging über das Papier. Summen tauchten auf, wurden addiert, gestrichen –

»Die wahnsinnige Konventionalstrafe«, murmelte Paul. »Dreimal so viel, wie du bekommen hast.«

»Wir müssen nur für das Strafe zahlen, was wir nicht liefern. Also liefern wir.«

»Was der Kaffee heute kostet! Das Doppelte kannst du hineinstecken, was du bekommen hast. Und froh sein, wenn das reicht.« Er saß da, seine Hände schlaff auf der Tischplatte, aschgrau, aber doch viel zu sehr Kaufmann, um im Geist nicht jede Zahl mitzuberechnen, die halblaut zwischen Soltau und dem Vater hin und her ging.

»Herr Heinecken,« sagte Soltau, »Sie wissen, ich bin nicht ohne Vermögen. Wenn ich Ihnen –«

»Bitte.« Eine ruhige Handbewegung. »Davon kann keine Rede sein. Wollen Sie das Vermögen, was Ihrer Familie gehört, an ein sinkendes Schiff wenden?«

»Wenn es jemand anders wäre – Aber so felsenfestes Vertrauen, wie ich zu Ihrem genialen Geschäftsgeist habe –«

»Sie sehen, wohin er mich geführt hat. Paul, du weißt Bescheid mit den Aktien der Hamburg-Lübecker Bahn. Wie stehen Sie?« Ein aufreißender Blick. »Nimm dich zusammen.«

Die jungen Leute im Kontor gingen zum Essen, der Buchhalter und der erste Kommis fragten, ob auch sie gehen könnten – Heinecken winkte nur mit der Hand – und wieder saßen die drei Männer und zählten und überlegten, und als es zwei schlug, stand Heinecken auf.

»Ich muß zur Börse. Sehen, was sich da an Kaffee fassen läßt, ehe die Meute unser Unglück erfährt und den Preis verdoppelt. Soltau, Sie gehen zu Lübbe und Mels und sehen zu, was sich da machen läßt. Du, Paul –« Da sah er, daß er dem Sohn nicht mehr zumuten durfte. »Leg' dich nebenan in mein Zimmer auf das Sofa. Du bist ja vollkommen zu Ende. Auf Wiedersehen.« Er griff zum Stock, zum Zylinder, stäubte ein Fädchen vom Rockärmel, ging hinaus.

Die beiden andern sahen ihm nach. »Daß er so ruhig bleiben kann«, sagte Paul.

»So möcht' ich auch dastehen können, wenn mich ein Unglück trifft«, antwortete Soltau. »Ziehen Sie den Hut vor ihrem Vater, Heinecken. Von der Art gibt es auf zehntausend noch nicht zwei.«

* * *

Drei Tage später wußte es die ganze Stadt. »Heinecken ist rum.«

Es war eine Aufregung, wie sie kaum vorgekommen war.

Kein anderes Gespräch an der Börse. Wo sich zwei eingesessene Hamburger trafen, fragte einer den andern: Wissen Sie schon –

Ja, und wie der Mann das trägt.

Peemöller sagt, er will doch liefern.

Ist ja ausgeschlossen!

Er löst alle seine andern Geschäfte auf, macht alles zu Geld, sein schönes Landhaus in Hamm soll zum Verkauf stehen.

»Hut ab vor dem Mann.«

»Ja, durch ihn soll keiner zu Schaden kommen.«

Und zwischen den aufgeregten Freunden ging der alte Herr hin mit ruhigem, gehaltenem Wesen, stand jedem Rede und Antwort, war an jedem Morgen im Kontor, an jedem Mittag an der Börse, kämpfte um sein Geschäft, um den guten Namen seiner Firma, sagte wieder und immer wieder zu Adelheid, zu Paul, zu Soltau: »Es wird reichen. Wir werden nicht fallieren. Arm werden wir sein, ja – Nun, Armut ist keine Schande. Aber alle werden befriedigt werden.«

Und Adelheid stand neben ihm mit ihrer stillen Güte, die ihm nie so wohl getan wie in diesen harten Wochen. Reichtum – es war eine Annehmlichkeit, ihn zu besitzen, es war kein Unglück, ihn zu entbehren. »Wenn du mir nur bleibst, mein lieber Mann. Wenn es dich nur nicht umwirft. Und das tut es nicht. Du stehst über dem Schicksal.«

Bis er eines Tages heimkehrte und sein Schritt schwerer war als sonst, und sein Kopf sich tiefer gesenkt hatte als vorher. »Es ist nicht zu zwingen. Kein Käufer findet sich für das Haus. Hamm ist zur Zeit nicht in der Mode. Und ich brauche gleich alles, was sich nur fassen läßt. Woher soll ich es nehmen?«

»Du hast doch die hunderttausend Taler, die du einmal für mich sicherstelltest – sind die auch schon fort?«

»Ich gab deinem Vater mein Wort, daß die unberührt für dich bleiben sollen, was auch kommt.«

»Ich stehe jetzt an Vaters Stelle und gebe dir dein Wort zurück. Hier geht es um unseren guten Namen. Und dann – ich habe noch mein Erbteil von Vater –«

»Nein, nein. – Wenn mir etwas zustößt – Und du hast nichts mehr – Und außerdem – ich glaube nicht, daß Ernst es auszahlen kann.«

»Ich will mit Ladwig reden, der weiß um alles.«

So kam es, daß Soltau sich einen neuen Wirkungskreis suchen mußte. Die Firma Heinecken mußte liquidieren. Was Karl Anton beginnen würde, darüber sprach er nicht. Aber Soltau streckten sich viele Hände entgegen, und ihm war es das natürlichste, sich mit dem Hause zu verbinden, daß seinem alten Chef am nächsten stand. So konnte Adelheids Erbe in die Masse geworfen werden, und als es auf Weihnachten ging, wußte sie, ihr Opfer war nicht umsonst. Heinecken schnitt mit Ehren ab. Arm waren sie geworden, aber niemand hatte durch Karl Anton Heinecken einen Verlust erlitten. Der gute Name stand rein und fleckenlos da. Doch ehe es so weit kam, hatten sie schwere Sorge um Paul durchmachen müssen. Er war eines Morgens beim Aufstehen in Ohnmacht gefallen, Fieber war eingetreten, der Arzt hatte eine schleichende Rippenfellentzündung festgestellt, und die schwere Nervendepression, herstammend aus der Stunde, wo der Vater die große Not zuerst allein durchkämpfte, tat das übrige. Wochenlang lag der Kranke mit getrübtem Bewußtsein, zeitweilig so erregt phantasierend, daß sie ihn kaum im Bett halten konnten.

Minna sah aus wie ein Schatten. Ihr immer zartes, blasses Gesicht verlor jeden Schein von Farbe. Aber Paul wollte, sobald er bei Besinnung war, keinen anderen Pfleger um sich dulden.

Erst als es auf den Frühling ging, konnte er wieder langsam durch Haus und Park schreiten, und so recht gesund wurde er nie wieder. Jede Sorge, jede Erregung rief heftige Kopfschmerzen hervor. Geselligkeit konnte er jahrelang nicht ertragen, seine Kinder durften nie mehr in seiner Gegenwart toben und schreien.

Heinecken sah ein – dieser Sohn war für das Leben, so wie er das Leben wollte – nicht zu brauchen. Aber auf einem sicheren Posten, einen vorgeschriebenen, geraden Weg gehend, würde er der zuverlässigste, fleißigste Beamte sein. Er bemühte sich für ihn um eine Stellung als Prokurist an der großen neuen Lebensversicherung Germania. Dort stieg Paul im Lauf der Jahre bis zum zweiten Direktor, und bewies durch seine Tätigkeit, daß der Vater ihn endlich an die richtige Stelle geschoben hatte.

* * *

Madame Hellwig kam in höchster Erregung nach Hamm hinausgefahren.

»Beste, liebste Adelheid, das ist doch ganz gewiß nicht wahr! Sie erzählten es gestern bei Averdiecks. Aber sie glaubten es selber nicht. Ihr wollt doch nicht wirklich nach Java.«

»Doch, Tante Anna, es stimmt. Aber es sollte eigentlich noch nicht darüber gesprochen werden.«

»Aber warum? Um alles in der Welt, warum?«

»Wir müssen doch leben. Die Plantage drüben ist so ziemlich das einzige, was uns geblieben ist. Und das Haus hier. Aber das will im Augenblick niemand kaufen. Es ist den eleganten Leuten zu altmodisch. Und den andern zu kostspielig.«

»Und du willst mit? Du willst da mit hingehen?«

»Soll ich mich jetzt noch von meinem Manne trennen? Wo er den siebenzig nahe ist? Ein holländischer Geschäftsfreund, dessen Plantage neben der unsern lag, gibt das Geld, Karl Anton wird dafür jene Plantage mit übernehmen.«

»Adelheid! Wenn dein seliger Vater das wüßte! Jetzt kann ich begreifen, daß er dich ihm nicht geben wollte. Du kannst da einfach nicht leben.«

»Es leben auch andere weiße Damen dort, und sie leben nicht schlecht. Dienerschaft in Menge. Außerdem bekomme ich einen eigenen Reitelefanten –«

»I gitt, sei stille. Es wäre mein Tod, wenn ich auf solch Untier steigen sollte. Nein, daß ich dies noch erleben muß.« Sie war so entsetzt, daß Adelheid wußte, nun waren ihre Gedanken für viele Tage beschäftigt, sich all die Fährlichkeiten im künftigen Leben der Nichte auszumalen, und im Grunde war ihr das sehr interessant.

Ja, nun hatte ihr Leben noch einmal eine ganz unerwartete Wendung genommen. Aber war das nicht gleichgültig? Wenn sie nur zusammenging mit dem, dem ihr Leben gehörte. Ob dort unter dem glühenden Südhimmel oder im Hamburger Nebel und Schnee – kein Ort konnte ihr Schicksal bestimmen. Das gehörte dem einen Mann, den auch dieser Schlag nicht geworfen hatte. Sie war ihm nur dankbar, daß er ihr Mitgehen so ganz fraglos als selbstverständlich angenommen hatte. Ja, sie war ihm endlich der Kamerad geworden, der sie sein wollte, als er noch nichts in ihr sah wie das hübsche kleine Mädchen.

Am Abend vor ihrer Abreise gingen Karl Anton und seine Frau still zusammen durch die großen Gärten, die ihren Besitz umgaben. Sie hatten gebeten, man möge sie an diesem letzten Abend mit den Erinnerungen an gute und schwere Tage allein lassen. So war am Mittag noch einmal bei Paul ein gemeinsames Mittagessen gewesen, dann hatte man sich Lebewohl gesagt, denn auch die Fahrt zum Hafen wollten sie allein machen.

Wie sie nun an die Stelle kamen, wo die vier Pforten dicht nebeneinander die Gärten verbanden, hörten sie Kinderstimmen.

Paul Anton zog die kleine Elfie Soltau im Blockwagen durch die Gartenwege. Wie eine Elfe war es wirklich, das zierliche Ding mit den Samtaugen der Mutter und den blonden Haaren des Vaters. Fein und zerbrechlich sah es aus, aber es sah nur so aus, denn die Glieder waren von unglaublicher Gelenkigkeit, und Soltau machte sich oft den Spaß, mit seiner Tochter zu jonglieren, sie über Schultern und Rücken zu schwingen, am ausgestreckten Arm auf und ab schweben zu lassen, und mit ihr durch den Garten zu gehen, während sie auf seinen Schultern stand.

»Sieh,« sagte Karl Anton und nickte dem Enkel zu, »ziehst du deine kleine Frau ein bißchen spazieren?«

Paul Anton wischte sich mit dem Ärmel die Stirn. Obgleich der Abend kühl war, perlten ihm dicke Schweißtropfen aus den Haaren. »Sie will immerzu f-f-fahren. Immerzu s-s-soll ich so doll l-l-laufen.« Das Sprechen wurde ihm sauer, weil er sich ganz außer Atem gehetzt hatte.

»Ja, ja, mein Junge, sie wird dir noch manches Rätsel aufgeben. Wenn du dir nur nicht an ihren Nüssen die Zähne ausbeißt.«

Die Kleine blinzelte ihn von unten an und lachte. Er hatte immer Schokolade in der Tasche. Heute zum erstenmal schien er die vergessen zu haben. Nachdenklich sah er auf das reizende Persönchen und fragte: »Was meinst du, Adelheid, erleben wir es noch, wenn die zwei Hochzeit machen?«

»Wenn«, sagte sie lachend. »Kannst du denn das Planen und Hoffen nie aussetzen, Liebster?«

* * *

Seit vier Jahren lebte Karl Anton mit seiner Frau auf Java. Die Briefe, die in Hamburg eintrafen, waren in jeder Hinsicht befriedigend. Nach schweren Monaten hatte man wieder ein Haus in der Plantage, hatte Arbeiter und Dienerschaft, hatte einen aufblühenden Garten und weitgestreckte Felder voll junger Bäumchen.

»Denn zuerst«, erzählte Madame Hellwig allen Bekannten, »haben sie ja direkt in einem Zelt gewohnt, direkt in einem Zelt. Ein Schlafzelt und ein Küchenzelt und ein Vorratszelt, oder kochten sie im Freien? Ich weiß nicht mehr. Wenn es nun gegossen hätte in der Nacht –«

»Die Regenzeit war ja vorüber, als sie ankamen, Madame Hellwig«, sagte dann der alte Ladwig, der ihre Berichte schon auswendig wußte.

»Ja, ja, ja. Sollte das so sicher sein? Und wenn nun Schlangen in solch Zelt kriechen, oder nachts kommt ein Tiger?«

»Sie haben ja Hunde, die würden ihn melden.«

»Es wäre mein Tod, sollte ich so leben.«

»Es wird Ihnen ja auch niemand zumuten.«

Kamen Briefe, so gingen sie durch die vier Häuser, und alle nahmen teil an dem Leben ihrer Überseer. Adelheid schrieb heiter und zufrieden. Ja, das Klima bekam ihnen beiden gut. In der Höhe, wo sie lebten, fast tausend Meter hoch, war die Hitze zu ertragen, die Luft rein, die Winde erfrischend.

Ja, Karl Anton war, wie immer, voll Leben und Anregung. Niemand da drüben glaubte ihm seine Jahre. Er ritt täglich selber durch die neuen Pflanzungen und freute sich, wie die gediehen.

Ja, im dritten Jahr hatten sie die erste Ernte wieder gehabt. Eine kleine Ernte, aber der erste Wechsel auf die Zukunft. Und nun im vierten stand alles so üppig, war alles in dem aschegedüngten Boden so kräftig gediehen, daß sie voller Hoffnungen und Pläne waren. Noch einige Jahre so weiter, dann konnte die Plantage verkauft werden, und sie kamen nach Hamburg heim und setzten sich als Rentner zur Ruhe, freuten sich an Pauls Kindern und pflegten ihren Garten.

Was denn die Rosen machten? Ob Paul die, wie er versprochen, pflege und vermehre?

Zwei Jahre noch, vielleicht drei – dann kämen sie gewiß, und wie schön würde dann das Zusammenleben werden. Alle guten alten Zeiten sollten zurückkehren.

Es klang nichts als Hoffnung aus den Briefen. Von irgendeiner Sorge keine Spur.

Obgleich sie Sorge hatte.

Bisweilen in der Nacht wurde sie wach, weil ihr Mann so schwer atmete im Schlaf. Wie leises Stöhnen war es. Faßte sie nach seiner Hand und legte ihre Finger um den Puls, so ging der unregelmäßig, hastete, ruckte, setzte dann aus, und war zeitweilig kaum zu spüren. Wachte Karl Anton auf von dieser Berührung, so lachte er über die Sorge seiner Frau. Ein bißchen Herzklopfen. Na ja, wer hatte nicht einmal Herzklopfen! Der holländische Arzt, der da bei ihnen gewesen war, zur Jagd auf einen Panther, der hatte geraten, das Rauchen zu lassen und das viele Kaffeetrinken. Als wenn ihm der Kaffee schaden könnte, den er selbst auf eigenem Grund und Boden baute! Und die Zigarre. »Wer lange raucht, lebt lange.« Jeder Hamburger raucht seine gute Importe. Und im nächsten Jahre begänne er selber mit Tabaksbau. Da unten an den Hängen, da, wo die Sonne so glühend gegen die Wände brenne, und die weite Ebene am Fuß des Berges seit Weltbeginn noch keine Ernte getragen, dort solle damit begonnen werden. Pläne und Unternehmungen! Wann würde er aufhören damit? Und wenn sie nach Hamburg zurückkehrten, um ein beschauliches Dasein auf ihrem Altenteil zu führen, wie lange würde er solch Leben aushalten?

November war es. Drüben in Deutschland fegten Sturm und Regen um die Giebel. Die Schiffe im Hafen hoben und schoben sich, stießen gegen das Bollwerk, knarrten mit den Masten, zerrten an den Duc d'Alben. Die Menschen trabten hastig, wenn sie keinen Regenschirm hatten, und hatten sie einen, so stemmten sie ihn gegen den Wind, mühsam um die Straßenecken kämpfend, wo der Sturm ihnen das Wetterdach mit boshaftem Druck kopfüber kehrte.

Aber bei den jungen Heineckens, sie hießen noch immer so, war großer Betrieb. Anna sollte den ersten Ball mitmachen. Bei Senator Bosenberg. Im Eßzimmer stand sie, bewundert von Mutter, Schwestern und Mädchen. In rosa Tarlatan mit einem Kranz von Monatsrosen, Monatsrosen am Ausschnitt und am Gürtel. Teuer war die Garnitur, aber an ihren Kindern sparte Minna nicht.

Man hörte Stimmen und Schritte im Flur. Anna wurde rot wie eine Päonie. Soltaus kamen. Vater und Mutter, um die junge Balldame zu besichtigen, Hans und Bernhard, die zwei Ältesten, um mitzufahren. Draußen vor der Pforte klappte Jennerjahn schon ungeduldig mit der Peitsche. Es war heute nicht behaglich auf dem Droschkenbock.

»Fein, fein«, rief Vater Soltau, ehe er noch irgend etwas erblicken konnte. »Glänzend geradezu. Na, laß dich mal besehen, Kind. Wirst den jungen Herren die Herzen verbrennen. Bist du denn schon zur Polonäse engagiert?«

»Von wem denn?«

»Von mir«, rief Bernhard, der wohl wußte, auf wen die Jugendgefährtin rechnete, und doch wußte, der Bruder würde sie vergebens warten lassen. »Oder verschmähst du mich?«

»Im Gegenteil, ich bin froh, daß ich die erste Sorge los bin.«

Sie lächelte ihn an, dabei mit allen Fibern lauschend, ob denn der andere – der lange Hans – nicht ein Wort für sie finden sollte. Dora und Minna tauschten einen Blick, sie ahnten, was die Schwester hoffte, und sie haßten beide in diesem Augenblick den alten Kameraden. »Der soll sich nur nicht einbilden, daß unsere Anna nicht gut genug für ihn ist«, murrte Dora innerlich. »Viel zu schade ist sie für ihn, viel zu schade.«

»Jennerjahn will nicht mehr warten«, verkündete Paul Anton, der mit Elfie Soltau am Fenster stand und die Droschke beobachtete. »Kuck mal, Elfie, wie das gießt.«

Elfie beachtete ihn nicht. Sie sah nur auf die Balldame. Wenn sie selber einmal auf den ersten Ball ging, zog sie nicht Tarlatan an. Sie war ja erst acht Jahre alt, aber das wußte sie doch, ihr mußte der Vater einmal Seide zum ersten Tanzkleid kaufen, schneeweiße Seide. Und eine goldene Kette wollte sie um den Hals tragen, und im Haar dunkelrote Rosen. Wie die Fee im Weihnachtsmärchen wollte sie gekleidet sein. Und alle sollten sie bewundern, alle. Die erste wollte sie sein und die schönste.

Frau Mercedes war an ihren ältesten Sohn herangetreten, während Anna die Überschuhe anstreifte und den Mantel umlegte. »Du wirst Anna Heinecken zu Tisch führen«, sagte sie so leise, daß er die Worte förmlich von ihren Lippen lesen mußte. »Sie soll an ihrem ersten Ball nur frohe Stunden haben.«

Der schlanke, brünette Mensch, der die südliche Schönheit der Mutter mit dem Temperament des Vaters vereinte, beugte sich und küßte die mütterliche Hand. »Dein Wunsch ist mir Befehl, wie immer. Also, meine Herrschaften –« er sah Anna und Bernhard auffordernd an, »dann auf in den Kampf. In diesem Falle: Auf zum großen Lämmerhüpfen.«

Annas Augen funkelten zornig. »Lämmerhüpfen? Wie alt bist du denn, hm? Kaum vier Jahre älter als ich. Und tust blasiert wie ein Alter.« Sie ging hinaus, ohne ihm noch einen Blick zu gönnen.

Und er lachend hinterdrein. Im Zorn war sie ihm immer noch lieber, als wenn er ihre Zuneigung spürte, die er nicht erwidern konnte. Wenn man ein Mädchen so gut kennt – so vom ersten Atemzug an –, nein, Frauen müssen immer neu sein, immer überraschend – so wie – Na, daran dachte man besser nicht. In allernächster Zeit trug ihn der Dampfer nach Brasilien hinüber, das war in jeder Hinsicht die beste Lösung. Denn eine Heirat mit einer Ballettdame würden die Eltern nie zugeben. – Nie. – Ja, und wünschte er die selber? – Lieben – entzückend! Heiraten – brr!

Der Droschkenschlag klappte, der Wagen rasselte fort.

Minna und Dora sahen sich an, und Dora fragte: »Glaubst du, daß Anna nun sehr vergnügt ist? I gitt, wenn ich mal siebzehn bin – ich verlieb' mich ganz gewiß nicht.«

»Überhaupt unsere Hamburger Herren«, schlug Minna in dieselbe Kerbe. »Was die sich einbilden, das möchte ich mal sein. Im Leben heirate ich keinen Hamburger.« Ein nachdenklicher Seufzer. »Nächsten Winter gehe ich auch auf Bälle. Und in drei Jahren bist du auch so weit. Dann muß Anna wieder aufhören mit Tanzen. Drei Fräulein Heineckens – das wird zu viel.«

»Gott,« sagte der Backfisch, »in drei Jahren. Dann ist sie schon zwanzig. So schrecklich alt. Dann braucht sie doch auch nicht mehr zu tanzen.«

Minna Heinecken und Mercedes Soltau waren in das Zimmer der Hausfrau gegangen, wo der Ofen eine behagliche Wärme ausströmte. Die beiden Herren traten in Heineckens Zimmer, denn Soltau sagte, er habe noch etwas Geschäftliches zu besprechen.

»Wenn das wegen der Häuserplätze ist,« murmelte Paul, und sah wieder ganz woanders hin als zu seinem Gast, »das lassen Sie nur bleiben. Ich beteilige mich nicht bei dem Kauf. Ich habe auch gar kein Geld dazu.«

»Die lumpigen Zehntausend. Die haben Sie ja in Pferdebahnaktien. Leugnen hilft nichts, Sie haben Pferdebahn gekauft. Vor drei Monaten. Ja, mir bleibt nichts verborgen. Und was geben die für Dividende? Lumpig, Mann. Machen Sie, daß Sie das Papier los werden und kaufen Sie mit mir –«

»Ich kaufe kein Terrain. Das ist Spekulation. Ich spekuliere nicht.«

»Wenn Sie das Spekulieren nennen! Wo es todsicher ist, daß die Stadt in zehn Jahren die ganze Gegend durchbauen muß. Wo wollen die Hamburger hin? Nach Blankenese und Flottbek und Nienstedten können sie doch auch nicht ziehen. Das ist nur für Leute, die sich Equipage halten können. – In der Stadt brauchen sie jeden Monat hundert neue Kontore, ein Familienhaus nach dem andern muß dazu herhalten. Also raus mit den Hamburgern in die Vorstädte. – Der Bürgerschaft wird übermorgen ein Entwurf vorgelegt für ein neues Straßennetz hinaus nach Hamm und Wandsbek. Ablehnen kann sie das nicht.«

»Bis es gebaut wird – das kann viele Jahre dauern.«

»Bis es ganz ausgebaut ist – ja. – Bis es begonnen wird, das dauert keine zehn Monate mehr. Dann ist die Zeit verpaßt. Morgen muß ich mit den Maklern abschließen. Hirsch und Natanson drängen –«

»Ich kaufe nicht mit.«

»Potzdonnerwetter, Mann, Sie sollen aber mitkaufen. Nicht weil ich Ihre Zehntausend brauche, sondern weil Sie mal das große Geld brauchen werden, was da an der Straße liegt. Um Ihres alten Herrn willen, den ich verehre, um Ihrer Frau und Ihrer Kinder willen sollen Sie kaufen.«

Er stand auf und ging hin und her. Seine schlanke, zierliche Gestalt war immer voll Leben und Bewegung. Paul Heinecken saß, die langen Beine um die Beine seines Stuhls geschlungen und starrte verbissen auf die Wand. Es klopfte. Ladwig sah in die Tür.

»Ah, Sie auch da, Herr Soltau –«

»Sie kommen wie gerufen, Vater Ladwig. Der Mann hier schlägt seinem eigenen Glück in das Gesicht. Positiv in das Gesicht. Sagen Sie mal, Sie sind doch im Leben kein Spekulant gewesen, ist das nun eine gute Sache oder ist sie es nicht. Ich will Terrain in Sankt Georg ankaufen, dicht an der Bürgerweide, wo jetzt noch kein Haus steht. Als Weidegrund ist der Boden nichts wert, also ist er nicht begehrt. Als Baugrund wird und muß er in zehn Jahren ein Riesenvermögen einbringen. Ihr Schwiegersohn soll sich beteiligen. Aber er ist zäh wie eine alte Kuh.«

Ladwig, schon achtzig geworden, aber noch immer so akkurat und eigen wie je, mit der sorgsam gebundenen schneeweißen Binde, dem kaffeebraunen Rock, den breiten schimmernden Manschetten, ließ sich umständlich neben seinen Schwiegersohn nieder und sah Soltau an. Seine Augen waren klar und hell. Er hatte seine Sinne und Gedanken noch gut beisammen, wenn auch die Gicht die Finger krümmte und die Füße steif machte. »Erklären Sie mir das einmal ausführlicher, lieber Soltau.«

Da steckten die beiden die Köpfe zusammen und überlegten und rechneten und sahen von Zeit zu Zeit auf Paul, der verkniffen danebensaß, von dem großen Gewinn gelockt wurde und sich doch nicht entschließen konnte, an ein so weit aussehendes Geschäft heranzugehen.

Paul Anton und Elfie waren die Treppe hinaufgegangen in Pauls Zimmer. Eine Hängelampe brannte über dem Tisch in der Mitte der Stube. Aufgeschlagene Bücher lagen da, ein Tintenfaß stand bereit, man sah, Paulchen war beim Arbeiten gewesen, ehe er hinuntergelaufen, seine große Schwester zu bewundern.

»Gib mir mal deine Druckmaschine«, sagte Elfie.

Er sah wenig glücklich aus bei dieser Aufforderung. »Du bringst mir immer die g–g–ganzen B–buchstaben in Unordnung, Elfie.«

»Sei nicht immer so gräßlich langweilig. Gib sie mal schnell her.«

Paul holte aus dem Spielschrank, in dem seine Sachen sorgsam aufgehoben wurden, eine kleine Presse, einen Kasten mit Lettern, Papier, unbeschriebene Visitenkarten, und stellte alles auf einen Nebentisch.

»Wenn du mich jetzt in Ruhe arbeiten läßt, Elfie, druck ich dir nachher eine Visitenkarte.«

»Tust du es auch wirklich?«

»Ich tu doch immer, was ich dir verspreche.«

Das war nicht abzustreiten. Elfie fingerte zwischen den Lettern herum und las halblaut die einzelnen Buchstaben. Paul, immer mit einem Auge bei ihr, begann mit der Rechenaufgabe.

»Eine große Röhre, die in der Minute hundert Liter Wasser einlaufen läßt, füllt einen Teich in zehn Stunden. Wieviel Liter faßt der Teich? – Muß ich erst rechnen, was in einer Stunde reingeht und dann – Elfie, wenn du sie alle durcheinander kramst, dann dann – w–w–was bist du für ein Unart.« Er sprang auf und nahm die Presse fort, an der sie eine Schraube herauszudrehen suchte. »Das darfst du nicht.«

Es polterte auf der Treppe. »Fritz kommt«, sagte die Kleine. Da steckte Fritz Sprekelsen auch schon den Kopf in die Tür.

»Päule, bist mit dem Rechnen fertig? Da, das zweite Exempel geht nicht auf.«

»Ich fang' eben an. – Wenn eine Röhre – –« Er vertiefte sich in die Aufgabe. Fritz gesellte sich zu Elfie Soltau und half ihr, die Presse zu untersuchen.

»Das sind in einer Stunde sechstausend Liter,« sagte Paul nach einer ganzen Weile, »und in zehn Stunden sechzigtausend Liter.«

»Ja, Mensch, das weiß ich allein. Hast du die ganze Zeit dadran gerechnet? Nee, was nachher kommt.«

Er schraubte an der Presse und klemmte Lettern ein. Paul vertiefte sich wieder in das Buch. »Wenn also eine Röhre, die hundert Liter in der Minute liefert, den Teich in zehn Stunden füllt, wie lange brauchen dann zwei Röhren, von denen eine dreißig Liter in der Minute gibt und die andere vierzehn.« Er schnaubte ein bißchen in sein Taschentuch, überlegte lange und kam endlich zum Resultat: »Da zähl ich dreißig und vierzehn zusammen und teile sechzigtausend damit.«

»Das hab' ich all lange gewußt. Aber das geht nicht auf.«

Paul rechnete, daß ihm die hellen Schweißtropfen auf der Stirn standen.

»Es geht doch auf.«

»Es geht nicht auf. Meier hat uns eins von seinen selbst gemachten Exempeln gegeben. Die Biester gehen nie auf.«

»Wenn ich es aber raushab'?«

»Hast es falsch. Kannst dich drauf verlassen.«

»Laß mich nur die Probe machen. Wenn die stimmt –«

»Du machst Probe? O Gott, was bist du für ein braver Hammel. Keine zehn Pferde kriegten mich dazu. Zeig' mal her, Elfie, was hast du da?«

»Ne Visitenkarte. Da steht drauf gedruckt: Paula Heinecken.«

»Was? Paula?« Er nahm ihr das Blatt aus der Hand, Paul sprang hinzu.

»Elfie k–kann mal w–wieder nicht lesen. Da hab' ich g–gedruckt Paul A. Heinecken, daß es anders ist als bei Papa.«

Aber Fritz lachte schallend. »Paul A. – Paula. – Fein hast du das raus gelesen, Elfie. Paula soll er heißen. Paula, kleine artige Paula. Wo hast du denn dein Zopfbändchen, Paula?«

Elfie lachte mit, daß es klang. Wie ein Rasender fuhr Paul auf und stürzte sich auf den Kameraden. Kam einmal die Wut über ihn, dann kannte er sich selbst nicht mehr. Aber Fritz wußte Bescheid. In dem Augenblick, wo er sah, wie Pauls Züge sich verzerrten, wo der aufsprang, daß der Stuhl polternd zu Boden fiel, da streckte er auch schon die Arme vor und fing den ersten Stoß ab. Gleich darauf hatten sie sich gepackt, und nach kurzem Ringen lagen sie am Boden, zerrten, stießen, krallten sich in Arme und Schultern, und es war ein gewaltiger Kampf.

Fritz war in diesen Dingen durch tägliche Übung auf dem Schulhof weitaus der Überlegene. Paul aber, wenn es ihn packte, nahm keine Rücksicht und spürte gar nicht, wenn er selber einen groben Schlag und Stoß bekam. Durch das stille Haus dröhnte der Lärm, wenn sie an Türen und Tische flogen. Minna und Dora kamen herein und schalten.

»Paul, Paul. Bist du denn ganz von Gott verlassen? Wenn ihr nicht sofort auseinandergeht, rufe ich Mama.«

»Fritz, du beißt ja. Das gilt nicht, laß Paul los. Elfie, wie kannst du dabei noch lachen.«

Die hatte sich auf Pauls Bett in die Ecke geflüchtet, als der Lärm begann, saß mitten drin und amüsierte sich königlich.

Von Zeit zu Zeit rief sie spottend: »Paula, Paula! Laß dir nichts gefallen, Paula!«

Dora, die sehr energisch war, ging auf das Bett zu und packte die kleine Hetzerin an den Schultern, sie schüttelnd. »Das hast du wieder angestiftet, du Racker. Und freust dich noch drüber. Ein kleiner Satan bist du.«

»Au! Laß mich los! Paul, Dora ist eklig gegen mich.«

Paul hörte den Klageruf mitten im Kampf, gab Fritz einen Stoß, daß der seitwärts flog, sprang auf und rannte Elfie zur Hilfe. »Dora, laß sie in –« Er konnte nichts mehr herausbekommen. Die Stimme blieb in der Kehle stecken, während er die Schwester anfaßte und von Elfie fortzerrte.

»Junge, du bist ja ganz aus der Tüt. Ich tu ihr doch nichts. Siehst du, nun lacht sie schon wieder über dich. Was hat sie angegeben?« Denn Dora wußte ganz genau, wer Unkraut in den Freundschaftsweizen der beiden Buben säte.

Elfie machte fromme Augen. »Und ich hab' nichts getan. Ich hab' bloß gesagt, er hat sich so komische Karten gedruckt. Paula steht da drauf. Und wie Fritz das auch so las, da wurd' er gleich wütend, und nu schimpfst du mit mir. Große Deerns sind was Widerliches.«

»Sei du nur ruhig. Wenn ich mal deiner Mutter sag', wie ungezogen du immer bist, kannst du dir gratulieren.«

»Papa steht mir bei.« Elfie Soltau ließ sich so leicht nicht in Angst jagen.

Fritz kam ihr zu Hilfe. »Sie hat die Wahrheit gesagt. Paul wurd' gleich um gar nichts wütend. Na, Elfie, denn komm' man, denn wollen wir man nach Hause gehen. Ich bring' dich durch den Garten.« Er wußte, daß sie im Dunkeln ein Hase war.

Sie liefen fort, ohne Paul noch ein Wort zu gönnen. Der setzte sich wieder an die Arbeit. »Wenn eine Röhre –« Ach so, er wollte ja die Probe machen. »Braver Hammel« hatte Fritz zu ihm gesagt. Ja der. Dem fiel alles in den Schoß. Zweimal las er die lateinischen Vokabeln über, dann saßen sie. Weltgeschichte und Geographie und Gedicht lernte er überhaupt nicht. Die deutschen Aufsätze schmierte er nur so herunter, nicht einmal Kladde schrieb er, und wenn es in der Schule haperte – Fritz wand sich überall heraus. Er, Paul, blieb hoffnungslos stecken, wenn er schummeln wollte. Dazu fehlte ihm so ziemlich alles. Seine langsame Sprache war wie ein Hemmstrick, unsicher machte sie ihn, schwerfällig, langsam.

So oft er versuchte, es Fritz nachzutun, er saß fest in den ersten Anfängen. Nicht nur in der Schule, im täglichen Leben noch mehr. Wie der turnen konnte. Er wußte gar nicht, was Angst war. Kopfstehen tat er, als er fünf Jahre alt war. Das nächste war das Auf-den-Händen-gehen. Das trieb er mit wahrer Virtuosität. Dann kamen Reck und Barren daran und die Kletterstange und die Ringe zum schwingen. Vater Sprekelsen ließ seinem Jungen jedes Gerät im Garten bauen, das der begehrte. Heinecken duldete überhaupt kein Turngerät auf seinem Grund und Boden, und das Floß war längst aus dem Teich geholt, zersägt und als Brennholz benutzt worden.

»Einmal ist der Junge zu Schaden gekommen. Ich will sorgen, daß so etwas nicht wieder geschieht.«

So konnte Paul nur bei Sprekelsens klettern und turnen, heimlicherweise, und ganz wurde er bis zum vierzehnten Jahre nie den unheimlichen Schwindel los, der ihn dabei befiel und eine Folge jener fernliegenden Nervenerregung war. Immer, wenn er geturnt hatte, stotterte er nachher mehr. Seine Mutter merkte es jedesmal daran und sagte mahnend: »Du bist wieder am Reck gewesen. Du sollst das doch nicht.« Sie war keine Söhnemutter. Sie umhegte und umsorgte ihren Einzigen, anfeuern, ihm Mut machen, seine Seele hochreißen, das tat sie nicht.

War es ein Wunder, daß er schwerblütig blieb?

* * *

Es war an dem gleichen Tage fern auf Java. Heineckens hatten Besuch. Ein junger Holländer mit seiner allerliebsten Frau war für einige Tage gekommen, Gegend und Geschäft kennenzulernen. Schon sein Vater hatte die Absicht, in der Nähe Land zu erwerben, und wollte zugleich die Gelegenheit zur Jagd auf Wildschweine und Hirscheber benutzen.

Den ganzen Tag waren die Herren, begleitet von malaiischen Treibern und Schützen, unterwegs gewesen trotz mehrfacher heftiger Regengüsse. Abends saß man sehr heiter, zwar ermüdet, aber doch angenehm angeregt, auf der Veranda, deren offene Wand durch Gazenetze gegen die großen Fledermäuse geschützt war, und ließ sich eine Bowle aus deutschem Rheinwein und Sekt munden.

Adelheid sah ein und das andere Mal leise mahnend auf ihren Mann, der sein Glas mit Behagen leerte, und dazu eine schwere Zigarre rauchte. »Die Mücken zu vertreiben.«

Karl Anton nickte ihr dann heiter zu. »Wenn du wüßtest, wie behaglich mir ist, liebe Adelheid. Das hat mir gefehlt in den letzten Monaten, so eine rechte Bewegung. Morgen gehen wir zum Gede hinüber, lieber Vermeeren. Der ist vollkommen zahm, murrt nur selten mal ein bißchen, und die Wildschweine haben sich da in dem Sumpf an seinem Fuß wieder tüchtig eingesielt. Wir wollen sie hochjagen. Auf einen guten Tag.« Er hielt dem Holländer sein Glas hin.«

Bald darauf gingen die Gäste zur Ruhe, Adelheid wanderte noch durch die Stuben und beaufsichtigte die Dienerschaft, die Geschirr und Silber forträumte. Sie barg selber die feinen Kelche im Schrank, dabei ihrem Mann bisweilen ein Wort zurufend.

Der war behaglich in seinem Stuhl sitzen geblieben, einem Schaukelstuhl aus Rohr, in dem er sich gern wiegte, wenn er rauchte.

Als sie nach einer kleinen halben Stunde wieder hinauskam und sagte: »So, nun ist es auch für uns Schlafenszeit«, lehnte er mit dem Kopf nach hinten, die Zigarre war aus den Fingern auf die Matte gefallen und sengte dort weiter. Heineckens Züge waren wie schlafend, und doch wußte sie auf den ersten Blick: »Von diesem Schlaf wacht er nie wieder auf.«

Ein Herzschlag hatte ihn schmerzlos und schnell hinweggeführt.

Adelheid schrie nicht, weinte nicht. Still kniete sie neben dem Stuhl nieder, lehnte ihren Kopf gegen sein Knie, wie sie es in guten Tagen so oft getan, wenn sie auf einem Hockerchen neben ihm saß, legte ihre Wange gegen seine Hand, die noch lebenswarm war, und dachte: »Nun ist mein Leben auch zu Ende. Welche Frau hat so mit ihrem Manne gelebt vom ersten bis zum letzten Tag? Was soll ich noch ohne ihn?«

Alles war erschlagen in ihr.

Und doch gab ihr das Leben noch Jahrzehnte. Und sie mußte sie nutzen.

* * *

Unter einem alten Drachenbaum, hundert Schritt vom Hause, wo man weit hineinsieht in das Land und die blühende Plantage, gruben sie ihm das Grab. Ein schlichter, schwerer Block, nur mit Namen und Daten, bezeichnet den Platz. Rosen, die er immer sehr geliebt, wachsen um den Stein, die Malaien sagen: »Da ist ein großer weißer Mann begraben. Er war ein Herr.« Sie neigen die Stirn ehrfürchtig, wenn sie vorübergehen.

* * *

Adelheid blieb in dem einsamen Hause wohnen. Wohin sollte sie sonst? Hier hatte er bis zuletzt geschaffen und gearbeitet. Hier war sie ihm in all seinem Tun so nah gewesen, hatte jeden Gedanken, jede Hoffnung mit ihm geteilt. Hier konnte sie in seinem Sinne weiterwirken.

Sie hatte gute Leute. Holländische Aufseher und einen deutschen Verwalter. Die Einsamkeit? – Sie hatte ihre Erinnerungen. So reiche Erinnerungen wie wenige Frauen.

Als ihr nach einem Jahr die Stille zu groß wurde, gründete sie im Verein mit einer Missionsfamilie Schulen für die Eingeborenen, ließ eine Kapelle bauen, gewährte fieberkranken Europäern, die in den heißen, ungesunden Hafenstädten wohnten, Erholung auf ihrem Landsitz. Es kamen viele, alle waren begeistert von der feinen, liebenswürdigen Frau, so recht nahe trat ihr keiner. Zwei Kinder hatte sie Jahr und Tag bei sich. Denen war die Mutter gestorben an Cholera, und der Vater war fast immer auf Geschäftsreisen. Als er aber wieder heiratete und die Kinder nach Batavia zurückholte, war es unheimlich still im Hause.

In der Zeit sandte Deutschland einen Ruf.

* * *

Paul Anton war fünfzehn Jahre und saß in Untertertia. In Quarta war er zum Entsetzen seiner Mutter sitzengeblieben, jetzt arbeitete er täglich bei Herrn Kandidat Himmelmann, der ihn sanft und freundlich nahm, und ihm nur einmal die Ohren lang zog, wenn die unregelmäßigen französischen Verben nicht in seinen Kopf wollten.

Der Junge tat, was von ihm verlangt wurde, aber über den Durchschnitt kam er nicht hinaus. Einen guten Aufsatz konnte er schreiben, da hatte er sogar eigene Gedanken, was man seinen Kameraden nicht nachsagen konnte, aber fremde Sprachen waren seine Tortur. Und wenn er Französisch sprechen sollte, versagte die Zunge, die schon im Deutschen so gern stolperte.

Einzige Söhne werden meist vergöttert. Ihm wurde keine Vergötterung. Der Vater vergab dem Sohn die verwandte Natur nicht. Er hatte einen Sprößling erwartet, der sieghaft den Namen der Firma wieder zu altem Glanze hob, er wollte einen Sohn, der die Augen auf sich zog, der sollte alles besitzen in Geist und Wesen, was ihm selber abging. Daß Paul Anton so wenig zu blenden wußte, enttäuschte ihn. Seine Frau mußte manches ungerechte Wort über ihren Jungen hören.

Fritz verstand sich anders durchzusetzen. Und wenn ihm der eigene Vater einmal die Hosen stramm zog. – Ach Gott, Fritz hatte solche fidele Manier, nachher zu sagen: »Schläge dauern nicht lange, und Ausschelte tut nicht weh.« Fritz imponierte sogar Vater Paul.

Oder die Soltaus. Hans spielte drüben in Montevideo eine Rolle unter den jungen Deutschen, und Bernhard war schon ein ganz schneidiger Bengel. Erich aber, der Jüngste, ein sonnenfroher Achtzehnjähriger, war im Krieg gegen Frankreich gefallen, und nun umgab ihn die Erinnerung mit ewiger Jugend und immer hellerer Sonne.

Man schrieb das Jahr dreiundsiebzig, und die Gründerjahre, die mit jähem Krach geendet, waren eben über Hamburg hingegangen. Aber trotz dieses Krachs blühte Hamburg auf, und im Ausland stieg die Achtung vor dem Reich, das sich im blutigen Krieg die eigene Einheit gewonnen hatte.

Paul Anton saß in seinem Zimmer und schrieb an einem Aufsatz über das ewig alte Thema, über das kein Lehrer hinwegkommt: »Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern.« Er schrieb langsam und peinlich genau.

Fritz Sprekelsen saß auf der Fensterbank. Seine Schularbeiten nahmen ihn wenig in Anspruch. Er begann zu schwatzen. »Du Paula,« Paul hatte sich längst an den Namen gewöhnen müssen, »will Anna eigentlich Herrn Hafermus heiraten?«

»Habermann heißt er.«

»Aber aussehen tut er wie Hafermus. Weich und graublond und schleimig.«

»Ich weiß nicht.«

»Du weißt nie was. Wo sie doch in einen andern verliebt ist.«

»Qua–Qua–Quatsch«, stotterte Paul zornig. »Meine Schwestern verlieben sich nicht.«

»Das sind ja komische Schwestern.«

»So 'ne dummen Reden.«

»Dumme Reden? Wenn ich sag': Anna, Hans läßt grüßen, oder: Anna, schreibt Hans dir manchmal – gleich wird sie rot wie 'ne Rose. Und wenn eine so rot wird –«

»Das geht dich gar nichts an.«

»Und er denkt gar nicht an sie. Mein Vater hat zu meiner Mutter gesagt: Das war Zeit, daß Soltau seinen Ältesten 'rüberschickte. Der techtelmechtelte mit 'ner kleinen Ballettratte. Hast schon mal ein Ballett gesehen?«

»Ja, im Weihnachtsmärchen.«

»Pöh! Weihnachtsmärchen! – Ich bin neulich mal mit Fiete Dreier, dem Sohn von unserm Hausknecht, in einem richtigen Ballett gewesen. Da hättst mit sein sollen. Die schmissen die Beine, daß die Röcke flogen. Und oben 'rum hatten sie auch nicht viel.«

Paul hatte noch kein Verständnis für diese Details. »Hatten deine Eltern das erlaubt?«

»Die waren bei Bokelmanns zu Tisch. Fiete und ich saßen auf der Galerie, da kennt einen keiner. Willst mal mit?«

»Ich?«

Fritz lachte, daß es durch den Garten schallte.

Unten auf dem Rasen spielten Anna, Minna und Dora Krocket. Sie hatten sich bei den Haaren, wie es beim Krocket üblich ist.

»Du hast wieder gemogelt, Dora. I gitt, widerlich ist das mit dir. Immer schiebst du mit dem Fuß an der Kugel, daß sie durch den Ring kommen kann.«

»Ich hab' nicht gemogelt. Das sagst du bloß, weil du nicht gewinnst, Minna.«

In ihren Zorn hinein schmetterte Fritz's Gelächter.

Anna sah zum Fenster auf. »Du störst da wohl wieder Paul bei den Arbeiten?«

Fritz sah sie freundlich an. »Ich hab' ihm nur was erzählt. Ich wart' bloß auf Elfie, die kommt gleich von der Handarbeitsstunde. Weißt du, was sie mir gesagt hat, Anna? Ihr Bruder Hans will nicht wieder nach Deutschland kommen. Weil er die Mimi Günter vom Stadttheater nicht heiraten soll. Die beim Ballett, die immer vorantanzt.«

»Was weißt du von Mimi Günter! Du solltest lieber an deine Schularbeiten denken.« Aber sie konnte nicht hindern, daß sie rot wurde bis hinter die Ohren.

Friß sah sich nach Paul um. »Willst mal sehen, wie rot sie geworden ist? Bannig ist sie in ihn verliebt.«

»Dann ist das n–n–niederträchtig von dir, ihr so w–was vorzureden.«

Elfie kam, tauspringend, um den Rasen. »Komm runter«, rief sie, als sie Fritz am Fenster sah. »Schaukel mich mal. Ich hab' nachgesehen, deine Schaukel ist angemacht.«

Fritz besann sich nicht lange. Es ging ein Obstspalier an der Hauswand hoch bis zum Fenster. Er schwang sich hinaus und turnte auf den schmalen Leisten abwärts. Es knackte – ein Stab brach, aber mit schnellem Sprung kam er auf den Boden, während die drei Schwestern alle im Schreck aufschrien und Paul oben an das Fenster stürzte. Nur Elfie schrie nicht. Die lachte.

»Da wärst du bald zu Apfelmus gefallen, Fritz.«

»Denk nicht dran. Ich war ja schon beinah unten.«

»Aber das Holz ist entzwei«, schalt Anna, die ihm die eben erhaltene Nachricht nicht vergab. »Komm nur in den nächsten Tagen nicht her. Unser Vater wird schön schelten.«

Fritz und Elfie liefen ab, und hinter den fernen, hohen Lebensbäumen sah man bald darauf das weiße Kleid des Kindes auftauchend durch die Luft fliegen und wieder versinken. Sie standen zu zweien auf dem Schaukelbrett, und Fritz trieb es höher und immer höher, von dem Mädchen angefeuert. Sie wußten beide nicht, was Gefahr war, oder – wenn sie es wußten – so erhöhte das nur den Reiz des Spiels.

Paul aber, der seinen Aufsatz in der Kladde beendet hatte, überlegte eine Weile, ob er ihnen folgen sollte. Er sagte sich, daß für ihn bei diesem Vergnügen doch nur die Rolle des Zuschauers bleiben würde, und da er die zur Genüge kannte, verzichtete er, nahm sich Schreibmappe und Briefpapier, und begann einen Brief an die ferne Großmutter. Und dieser Brief war der Ruf, der Adelheid wachrief aus ihrer Lethargie, in die sie seit drei Jahren versunken war. Das Leben kam und wollte etwas von ihr. Es forderte, forderte im Namen dessen, der so lange Jahre sein ganzer Inhalt gewesen. Mußte sie nicht folgen?

Paul schrieb:

 

Liebe Großmama!

In vier Wochen ist Dein Geburtstag. Ich will Dir dazu gratulieren, und ich hoffe, der Brief kommt noch zur rechten Zeit bei Dir an.

Uns geht es gut. Papa und Mama wollen in diesem Jahr nach Wildungen, da will Mama Brunnen trinken. Irgendwo soll der gut für sein.

Meine Schwestern sind alle gesund. Sie spielen unten Krocket und zanken sich dabei. Das tun ja wohl alle Leute, wenn sie Krocket spielen. Elfie und Fritz auch immer, und wenn ich nicht mitmogel, lachen sie mich aus. Liebe Großmama, ich hab' hier in meinem Zimmer an der Wand zwischen den Fenstern die Bilder von Dir und Großpapa die Ihr mir geschenkt habt, als Ihr vor acht Jahren nach Java reistet. Ich sehe sie immer an, und ich denke dann, ich möchte wohl solch ein Mann werden wie Großpapa. Onkel Soltau erzählt oft von ihm. Neulich sagte er, dein Großpapa, dein Großpapa, das war ein ganz famoser Mann. Der konnte mehr, als die ganze Börse mit all ihren Maklern und Agenten zusammengenommen. Ein Welthaus wollte er bauen. Hätt' er nur noch zehn Jahre gelebt – er hätte es gebaut. Wenn ihm sein Bau zehnmal vom Sturm umgeworfen wurde, er fing zum elftenmal wieder an. – Daran muß ich immerzu denken. Aber reden kann ich nicht gut davon. Nämlich ich sagte nachher so bei mir: Nu will ich das Welthaus bauen – und da hat Fritz so schrecklich gelacht, und hat mich immer nachgemacht, wie ich es sagte: Ich w–will das W–welthaus bauen. Weil ich doch so leicht stotter. Aber es ist nicht mehr so schlimm wie früher. Nur wenn ich mich aufreg'. Aber ich geb' mir Mühe, daß ich ruhig bleib'.

Liebe Großmama, glaubst Du auch, daß ich das nicht kann? Daß ich dazu zu dumm bin? Sie sagen es immer alle, ich bin dumm, die Lehrer und die Schwestern und Fritz, aber ich kann ganz gut nachdenken, nur reden kann ich nicht so fix wie die andern. Darum mögen sie mich auch nicht gern leiden. –

Wir haben einen Lehrer, bei dem haben wir Aufsatz und Weltgeschichte, Herr Schumann heißt er, der sagt immer: Aller Wille muß ein festes Ziel haben. Bei den Menschen und bei den Städten und bei den Völkern. Darum ist Hamburg so groß geworden, weil es sein Ziel nie aus den Augen verloren hat, eine Burg des Handels im deutschen Land zu werden. Und so sollten wir Hamburger Jungens auch alle denken und fühlen. – Das kann ich gut begreifen.

Wenn ich das nun ganz fest will, weißt Du, daß ich das Welthaus bau', das Großpapa nicht mehr bauen kann, glaubst Du wohl, ich kann es doch erreichen? – Ich möchte ja gern Geschichte und Literatur studieren, ich mag so schrecklich gern lesen, und hier bei den Eltern kommt manchmal ein Freund von Papa, Herr Doktor Bubedey, der spricht über Bücher und so was, das hör' ich so gerne, so möcht' ich auch werden. Aber lieber noch will ich so werden wie Großpapa. Und ich kann ja doch nicht so Vorträge halten, weil ich mit der Zunge anstoß. Ich bin nun fünfzehn Jahre, und Ostern übers Jahr kann ich meinen Einjährigen haben, wenn ich nicht sitzen bleib'. Aber ich will mir viele Mühe geben, daß ich 'rüber komm'. Dann muß ich dienen, und dann muß ich drei Jahre lernen, und dann bin ich erst Kommis, und dann muß ich ins Ausland, aber nachher – da kann ich doch anfangen. Liebe Großmama, ich hab' immerzu vom selben geschrieben, verzeih. Papa sagt, das ist schrecklich bei mir, wenn ich was hab', da kann ich nicht von loskommen. – Ich weiß aber nicht, wen ich sonst fragen soll. Und ich weiß noch, wie Du noch hier in Deutschland warst, da bin ich oft zu Dir gelaufen, wenn ich Schelte bekam, und Du hast mich getröstet. Und Du hast doch Großpapa auch am besten gekannt.

Nun will ich schließen, wir sollen gleich Abendbrot essen.

Mit vielen Grüßen

Dein treuer Enkel
Paul A. Heinecken.«

 

Adelheid las den Brief, wie sie alle Briefe aus Deutschland las, zuerst leichthin, denn sie war wie durch einen Vorhang von allem getrennt, was einmal »zu Hause« gewesen war. Dann blieb ein Eindruck in ihr zurück, der sie zwang, ihn zum zweitenmal vorzunehmen. Es waren wohl die nebensächlich hingeschriebenen Worte: Darum mögen sie mich auch nicht gern leiden. – Tragik im Leben eines Kindes. Und so ohne Bitterkeit ausgesprochen wie etwas Selbstverständliches. Ja, sie sah ihn in Gedanken vor sich, den Jungen, schwer, langsam, ernsthaft, und doch mit so viel Sehnsucht nach Lachen und Vergnügtsein. »Darum mögen sie mich auch nicht gern leiden.« Du guter Kerl, hier in Java sitzt eine alte Frau, die mag dich leiden. So wie du bist, gerade so. Mit all deiner Gutheit und deinem ernsten Willen. Du willst ein Welthaus bauen? Was Karl Anton nicht konnte, das willst du unternehmen? – Sie lächelte, als sie die kindlichen Worte zum zweitenmal las. Trotzdem, da war ein Klang in ihnen, ein Streben, das ging über die Jahre des Jungen hinaus. – Es packte sie an. Sollte doch in dem Enkel das auferstehen, was der Großvater sich in ihm gewünscht und erhofft hatte? Steckte in der herben Hülle eine Kraft, die zielbewußt und unermüdlich Berge versetzen konnte?

Aber wer würde da drüben den Jungen verstehen? Sie dachte an Minna, die treusorgende, die jeden Pfennig umdrehte, musterhaft ehrenhaft und brav war, aber über einen kleinen Kreis der Gedanken nicht herauskam. An Paul, der sicher nicht der Rechte war, diesen Sohn zu erkennen, an die jungen Schwestern, die bald alle ihre eigenen Wege gehen würden – Minna hatte ja im letzten Brief schon angedeutet, daß sich ein ernsthafter Bewerber für Anna gefunden habe – nein, da war niemand, der das in Paul Anton pflegen würde, was noch ein schwaches Pflänzchen war.

Eine Stimme in ihr sagte: Also mußt du es tun.

Aber nein! Aber um Gottes willen – das doch nicht!

Sie blieb hier, wo das Grab war, wo die letzten schönen Erinnerungen, wo niemand etwas von ihr wollte, was sie nicht aus freien Stücken gab. – Was half es? Der Brief ließ sie nicht los.

Ein Vermächtnis des Toten war dieser Junge. Der Erbe nicht nur des Namens, auch der Erbe seiner Hoffnungen und Wünsche.

Immer wieder rüttelte es an ihr. Aus dem Grabe heraus sprach Karl Anton: Bist du nun die Frau, die ich in dir glaubte, oder bist du es nicht? Hab' ich je den Stab aus der Hand gelegt, solange ich noch weiterwandern konnte? Fast siebzig war ich, als mein Haus zusammenbrach – ich bin nicht mit zerbrochen. Wie alt bist du denn jetzt? Vierundfünfzig, und willst hier vielleicht noch zwanzig oder dreißig Jahre träge verdämmern, während drüben die Arbeit auf dich wartet, Arbeit in meinem Geist. Mein Grab? Ich bin in Deutschland so lebendig bei dir, wie ich es hier bin. Was gilt der Platz, wo das sterbliche Kleid liegt? Geh' hinüber. Ich verlange es von dir. Wenn du mich je geliebt und verstanden hast. –

Da war der Entschluß fertig.

Es war nicht schwer, die Plantage zu verkaufen. Mehr als einmal war ihr schon ein guter Preis geboten worden, sie hatte ihn ausgeschlagen, weil sie nicht an Verkauf dachte. Jetzt mußte es also sein.

Im August bekam Paul Heinecken einen Brief von Adelheid, in dem sie ihre Rückkehr anzeigte. Zum September schon. »Damit ich mich noch vor dem Winter wieder an das nordische Klima gewöhnen kann.« Und sie hatte einen seltsamen Wunsch hinzugefügt: »Es soll mich niemand vom Schiff holen wie euer Junge, er ist ja alt genug, daß er das kann.«

Was sollte das nun wieder? Adelheid hatte auch immer so ausgefallene Ideen. Paul Anton – der war doch nie allein am Hafen gewesen – der verstand doch gar nicht –

Aber der Junge, der auf seinen Brief ohne Antwort geblieben war, straffte sich ordentlich, als er von der Anordnung der Großmutter hörte.

»Ich kann da sehr g–gut allein fertig werden. Ich kann g–ganz g–gut Großmama holen.«

»Ich werde dich hinbringen und warten, bis der Dampfer in der Nähe ist«, beschloß der Vater.

Doch als der Tag kam und die Stunde, wo ein Telegramm eintraf, der »Neptun« sei schon bei Schulau, und in zwei Stunden würden die Passagiere mit dem kleinen Roland an die Stadt kommen – da tat Paul Anton, was ihm sein Vater nie zugetraut hätte. Er machte sich heimlich davon an den Hafen, und wartete dort drei Stunden – denn der Roland hatte, wie immer, Verspätung – an den Elbbrücken auf die Großmutter.

Er war sich ganz sicher, daß er sie sofort erkennen würde, er hatte sie noch in Erinnerung mit den dunklen Haaren und den frohen Augen und den frischen Farben, und ihr Bild hing ja auch in seinem Zimmer. So stand er und spähte und fand sie nicht, bis neben ihm eine Stimme sagte: »Bist du nun ein Heinecken, oder bist du es nicht?«

Eine Frau mit schneeweißem Haar, braungebrannt wie eine Indianerin, schmal in den Zügen, die Augen so ernsthaft – doch nun begannen diese Augen zu lächeln bei dem prüfenden Blick des Jungen.

»Großmama,« schrie Paul Anton, »Großmama«, hing an ihrem Halse und vergaß für einen Augenblick alle Schwerblütigkeit.

Als sie sich in der Droschke gegenübersaßen, denn Adelheid wollte ihm in das Gesicht sehen können, war er schon wieder zurückgekrochen in sein Schneckenhaus.

* * *

Ja, es war das alte Haus, als sei sie nicht Jahre, sondern nur Tage fortgewesen. Es war der Park mit seinen Bäumen und seinen Rosen, es war alles wie damals. Nur der eine, mit dem sie hier gepflanzt und gebaut – der –

Nicht daran denken. Jetzt nicht. Solange andere da waren, die ihr in das Gesicht sahen, die sie willkommen hießen, ihre Hand drückten –

Ja, da stand Paul, wenig verändert, und Minna, immer gleich gut und schmal und freundlich, da stand der alte Ladwig in seiner hohen, weißen Binde, seine vierundachtzig mit Würde tragend – und wer war denn das, diese ganz kleine, verschrumpfte Gestalt, die mit Tränen der Rührung sie umfaßte: »Meine geliebte, teure Adelheid.« An der näselnden Stimme erkannte sie Madame Hellwig. »Tante Anna!«

»So sehen wir uns wieder. So traurig ist deine Heimkehr.«

»Bitte – nicht, Tante. Wir wollen nicht in der ersten Stunde davon sprechen. Geht es dir gut?«

So war sie wieder im alten Haus und faßte ihr Leben an.

Alle kamen. Alle waren herzlich und einige, vor allem die Soltaus, waren ehrlich warm und froh, sie dort zu haben.

Abends saß sie manches Mal in den oberen Stuben bei den beiden alten Leuten, die ihre Mahlzeiten gemeinsam nahmen, und nach dem Abendbrot noch Besik spielten, oder eine Partie Whist mit zwei Blinden. Wenn Adelheid ihnen die Freude machte, mitzuspielen, damit doch nur ein Blinder dabei war, machte sie ihnen schon ein großes Vergnügen.

Doch sie brauchte mehr. Einmal wieder herausgerissen aus den Träumen und der Untätigkeit, in die der warme Süden sie während der Trauerzeit versetzt hatte, griff sie mit fester Hand in das Leben. Es gab Arbeit für jeden, der sie wollte.

Hamburg hatte so viele gemeinnützige Anstalten, brauchte so viele Herzen und Hände, die sich nicht um Ehre und Gewinnes willen der Armen und Kranken annahmen, daß jeder Arbeit genug fand, der nur Arbeit haben wollte.

Mehr aber als diese Arbeit zum Allgemeinwohl beschäftigte sie doch das eine, das sie zurückgeholt hatte.

Sie beobachtete den Enkel, ohne daß der Knabe es merkte. Sie hatte ihn viel in ihren Zimmern, ließ ihn erzählen, erzählte selber, fragte aber nie nach dem, was sie doch beide in der Stille beschäftigte. War er wirklich der Enkel Karl Antons? Nicht nur dem Blut, sondern auch dem Geiste nach?

Von der genialen Lebensüberfülle des geliebten Mannes fand sie nichts in ihm. Bisweilen blitzte einmal ein Funke auf, doch er war immer zu klein, zu flüchtig, um besondere Hoffnungen zu erwecken. Nur eins war Großvater und Enkel gemeinsam – der eherne Wille, sich nicht unterkriegen zu lassen. Bei Karl Anton war dieser Wille Feuer und Kraft gewesen, bei Paul setzte er sich in zähe Verbissenheit um.

Einmal saß er bis tief in die Nacht rechnend bei ihr.

Der Kandidat Himmelmann hatte eine Angina, Paul durfte nicht hin, er konnte sich anstecken. Da arbeitete er bei Adelheid. Und es waren neue Aufgaben, Rabattrechnung, knifflige, abscheuliche Sachen. Sie wollten sich nicht lösen, der Ansatz mußte nicht richtig von ihm erfaßt worden sein. Sie konnte ihm da nicht helfen, zu ihrer Zeit hatte man diese Dinge nicht betrieben, in den Mädchenschulen schon gar nicht.

»Ich geb' dir eine Entschuldigung mit«, sagte sie endlich, todmüde vom Danebensitzen. »Die Uhr ist nach elf. Geh zu Bett, Junge.«

»Ich will es 'raus haben. Fritz sagt, das ist Kinderspiel. Und ich kriege es auch.«

Sie saßen bis halb eins, da hatte er die Sache begriffen und sein Exempel gelöst. – Seitdem war er in der Achtung der Großmutter eine gute Stufe hinaufgestiegen.

An dem Tage des nächsten Jahres, als er sechzehn wurde und als Sekundaner schon lange Hosen trug, kam er zu ihr, sich seinen Glückwunsch zu holen. Da fand er kein Geschenk, sondern die Großmutter sagte: »Heute will ich dir etwas Besseres geben, als eine Uhr oder eine Schlipsnadel. Heute will ich mit dir von deinem Großvater sprechen, wie man zu einem Erwachsenen spricht.«

Das war wie ein Ritterschlag.

Von da an traten sie sich immer näher, so weit es bei dem großen Altersunterschied und ihren grundverschiedenen Naturen möglich war.

* * *

Paul Heinecken hatte seine vier Kinder alle gut und sorgsam erzogen. Allerdings hatte sich die Erziehung von seiner Seite meist darauf beschränkt, zu sagen: »Zankt euch doch nicht immer. Paul, wackel' nicht mit dem Stuhl! Wenn ihr Lärm machen wollt, geht hinaus.«

Daß sie dabei ordentliche Menschen wurden, verstand sich von selber. Man wurde in einer anständigen Hamburger Familie ganz von selber ein ordentlicher Mensch. Und Töchter – Töchter natürlich erst recht.

Die gingen ihre zehn Jahre zur Schule, wischten nachher Staub, lernten ein bißchen Kochen und Reinmachen und Nähen, so viel wie eben jede Hausfrau davon verstehen muß, dann gingen sie auf Bälle und Gesellschaften, und wenn sie in die Zwanzig kamen, heirateten sie. Besonders, wenn sie Geld hatten.

Paul Heineckens Töchter hatten Geld.

Soltaus Energie hatte damals gesiegt, als Heinecken Terrain kaufen sollte. Seine Zehntausend in Pferdebahnaktien waren in dies Geschäft gesteckt worden, und von Jahr zu Jahr stiegen die gekauften Grundstücke im Wert. Das kleine Kapital verzehnfachte sich, wurde in neuen Unternehmungen gleicher Art angelegt, jedesmal mit einem ähnlichen Kampf zwischen ihm und dem alten Jugendgenossen, und nun war Heinecken ein Mann, der seine halbe Million besaß. Das war ein gutes, sicheres Vermögen. Zumal man annehmen konnte, die Terrains an der Wandsbeker Chaussee, in denen jetzt ein Teil des Geldes steckte, würden sich bald tüchtig heben.

Also sollte Anna nun doch endlich einmal den Herrn Habermann erhören, der sie seit zwei Jahren umwarb. – Sie wurde einundzwanzig, das war die rechte Zeit zur Heirat.

Ihm war der Herr Habermann ja nicht so sehr an das Herz gewachsen. Er dröhnte ihm zu viel, man hatte stets das Gefühl: Aus dem Lexikon brav präpariert. Doch Minna sagte, er sei ein solider und anständiger Mann, und Anständigkeit war schließlich die Hauptsache in der Ehe.

Mit einemmal wollte Anna nicht.

Bisher hatte sie gelacht, nun wurde sie ernstlich widerspenstig.

Was war da vorgegangen? Nicht viel, nur eine kleine Unterredung zwischen ihrer Schwester Minna und Bernhard Soltau.

Minna kannte die heimliche Neigung der Schwester. Sie fragte einmal darum den alten Kameraden so ganz harmlos: »Na, wann kommt Hans denn nun eigentlich aus Montevideo zurück? Seine drei Jahre sind doch um.«

»Ja, der – Der kommt so leicht nicht wieder nach Hamburg.«

»Warum denn nicht?«

»Er hat damals allerhand Dummheiten gemacht.«

»Ach ja,« sagte Minna leichthin, als sei sie ganz eingeweiht, »er hatte damals die Freundschaft mit der kleinen Ballettdame, nicht? Und dein Vater war ärgerlich darüber.«

»Ärgerlich ist gut. Wütend war er, als er dahinter kam. Was meinst du wohl, was die Freundschaft, wie du es nennst, gekostet hat? Hans hatte Schulden gemacht, die Papa zahlen konnte. Nette Schulden. – Sie sind sich damals eklig in die Haare geraten.«

»Ich weiß,« – sie wußte gar nichts – »aber das sind doch nun alte Geschichten. Darüber ist doch Gras gewachsen. Deshalb könnte er immer zurückkommen. Und die Mimi Günter hat ja inzwischen den alten Weinmann geheiratet. Die ist doch nicht mehr gefährlich.«

»Minna,« sagte Bernhard, »ich will dir was sagen, was ich sonst nicht erzähle, aber wir sind ja wie Geschwister. Er ist drüben schon wieder an einer Schürze hängengeblieben. Eine Kreolin. Witwe, sieben Jahre älter als er. Die will er heiraten. Mein Alter rast. Schreibt ihm Briefe, die er sich nicht hinter den Spiegel stecken wird. – Siehst du, der kommt sobald nicht wieder. Wenn er auch die Kreolin nicht nimmt – hier in Hamburg bei Vater läßt er sich nicht sehen.«

»Ein netter Jüngling«, meinte Minna, als ginge sie das sehr wenig an. »Wenn ich denke, wie wir immer zusammen gespielt haben. So was hab' ich ihm wirklich nicht zugetraut. Und deine Mutter? Was sagt die dazu?«

»Sie sagt nicht viel. Heimlich weint sie. Hans war doch immer ihr Liebling. Ich werde ihm in ihren Augen nie das Wasser reichen. Siehst du, das sieht bei uns alles so schön aus, seit Papa die großen Gelder mit den Grundstücken verdient, aber es ist auch nicht alles Gold, was glänzt. Hans ein Leichtfuß, Erich gefallen – na, Elfie mag ja mal ein strahlender Stern werden.«

»Einstweilen hat sie mehr Anlage zu einem netten kleinen Satan. Satan mit Taubenaugen. Sie spielt Fritz gegen Paul aus und Paul gegen Fritz. Und trotz ihrer zwölf Jahre hat sie schon einen Obersekundaner vom Johanneum, der ihr die Mappe nach Hause trägt und ihr das Pferdebahngeld bezahlt.«

»Unsinn. Sie bekommt doch Taschengeld genug.«

»Das läßt sie beim Konditor.«

Bernhard ärgerte sich. So was sollte man seiner Schwester nicht nachsagen. Mappe tragen – gut. Hatte er auch getan. Aber Pferdebahn bezahlen lassen, wenn man eine Soltau war? – »Woher weißt du denn das?«

»Ich stand neulich hinten, als sie mit dem Jüngling drinnen saß. Sie waren so drin vertieft, sich schöne Augen zu machen – weißt du, ich hab' mich amüsiert, wie der Nickel das schon verstand – und sie sprachen so eifrig, dicht an der Tür sitzend, daß ich alles mitgenoß.«

»Ich werde ihr mal den Marsch blasen. – Das dumme Ding.« Im Grunde vergötterte er die kleine Schwester. »Es ist das südländische Blut in uns, glaub' ich, daß wir so allerlei Neigungen haben –« Er brach ab.

»Na, du bist ja ein anerkannter Ballöwe, aber sonst hab' ich doch nichts Schlechtes von dir gehört.«

»Danke. Nein, ein Schürzenjäger bin ich nicht.« Was wußte sie davon, daß ihn das Glücksspiel lockte und ein Fieber in seinem Blut wachschürte, schlimmer als alle Verliebtheit. –

Minna fand abends beim Zubettgehen – Dora als Jüngste hatte ein Stübchen für sich – vorsichtige Worte, Anna von der gänzlichen Aussichtslosigkeit ihrer Liebe zu überzeugen. »Und sieh mal, Anna, du bist nun einundzwanzig, und seit sieben Jahren wirbt dein Herz um ihn wie Jakob um Rahel. Mein Gott ja, damals waren bessere Zeiten, solche Männer gibt es nicht mehr. Findest du nicht, daß du eigentlich genug für ihn getan hast? – Ich würde sagen: So leb' denn wohl, mein lieber Schwan, und würde den Herrn Habermann nehmen.«

»Eher geh' ich in die Alster.«

»Da ziehen sie dich wieder raus. Außerdem kannst du schwimmen.«

»Ich mag ihn nicht. Und wenn Mutter ihn mir noch so viel anlobt.«

»Hast du denn nicht einen andern, der es ernst meint?«

»Rudolf Beier?« sagte Anna überlegend. »Der wollte wohl ernstlich, aber ich war nicht nett gegen ihn. Der hat sich zurückgezogen. – Nein,« sie wurde hitzig, »überhaupt nehm' ich nicht den ersten besten, bloß weil Hans solch ein Filou ist. Ich bleibe ledig.«

»Das kannst du ja tun. Leicht wird es dir nicht werden. Mama hat sich nun einmal drauf versessen, daß wir heiraten sollen. Und du sollst anfangen. Alles nach der Ordnung. Aber, wenn du lieber ledig bleibst – so wie Madame Hellwig – ach nein, die ist ja mal verheiratet gewesen, es ist nur so ewig lange her. Möchtest du so werden, wie die? Immer nur so für dich leben und nichts denken, als deine werte Gesundheit, und ob der Kaffee auch recht heiß ist, und die Semmel recht kroß, und das Waschwasser richtig temperiert? Denn so werden die Menschen, die nichts anderes zu denken brauchen, als an sich selber.«

»Was du alles weißt. – Ich –« Sie überlegte. »Ich werde mir einen Lebenszweck schaffen.«

»Da bin ich begierig, wie du das machen willst.«

»Ich werde mein Examen als Lehrerin machen.« Als Minna ganz erstarrt schwieg, fuhr sie lebhaft fort. »Gedacht hab' ich schon lange dran, seit Doktor Bubedey Papa von dem Seminar erzählte, das sie bei der Klosterschule angliedern. Wir haben doch eigentlich nicht besonders viel gelernt in der Schule. Ich möchte ganz gern mehr wissen.«

»Lehrerin willst du werden? Dich mit den ungezogenen Gören 'rumärgern. Na, du hast Mut.«

Drei Tage später dachte Paul Heinecken, der Himmel solle einstürzen, denn seine Tochter Anna eröffnete ihm ganz sicher und ruhig, sie wolle das Seminar besuchen.

So was tut man doch nicht. Das sah ja aus, als stände er vor dem Konkurs. Sie mußte direkt krank sein. Dann doch lieber den Herrn Habermann.

Anna steckte sich hinter Adelheid. Die durchschaute die Zusammenhänge, die den Eltern unklar blieben, und sie fand auch das Mittel, ihren Stiefsohn gefügig zu machen.

»Es sollte so sein, daß die Töchter der ersten Hamburger Familien auch die ersten wären, diese neue Hamburger Einrichtung zu benutzen. Soviel ich hörte, wird da eine Musteranstalt geschaffen. Erste Lehrkräfte, glänzende Lehrmittel, schöne Räume. Wenn ich jung wäre, ich würde meinen Ehrgeiz darein setzen, zu denen zu gehören, die als erste durch das Examen gehen. Hamburg ehrt seine Töchter mit diesem Seminar, so sollen seine Töchter es wieder ehren durch glänzende Leistungen.«

»Hamburg!« Das war ein Zauberwort für Paul Heinecken. So trocken er war, drei Dinge gab es, die waren ihm an das Herz gewachsen. Seine Rosen, seine Bilder und seine Vaterstadt. »Wenn du es so ansiehst, Heide – das hat etwas für sich.«

»Aber die Leute werden sagen, Anna Heinecken wird ein Blaustrumpf«, seufzte seine Frau. »Wenn sie die drei Jahre da auf der Schule gesessen hat, dann ist sie vierundzwanzig. Und dann noch das Examen – kein Mensch heiratet sie mehr.«

Trotz dieser Klage der Mutter erreichte Anna ihren Willen. Ostern fünfundsiebzig trat sie in das Seminar ein.

Das war eine bittere Nuß für die Mutter, die sie viel lieber im Brautkleid als im Schulkittel gesehen hätte.

Es kam aber noch ärger.

Eines Tages ließ sich – es war Sonntag – ein Herr Martin Stolle melden. Er bitte um eine persönliche Unterredung mit Herrn Heinecken.

»Stolle? Stolle?« brummte Paul. »Hab' ich nie gehört. Wie sieht er aus, Line? Doch kein verkappter Bettler?«

»Nein, Herr Heinecken. Ein Herr. In weißer Binde und Zylinder.«

»Binde und Zylinder? – Na, laß ihn in mein Zimmer. Wenn es ein Besuch nur für mich ist.« Er wandte sich an die Töchter, die noch am Frühstückstisch saßen, denn Sonntags war das zweite Frühstück eine ausgedehnte Sache. »Kennt ihr einen Herrn Stolle?«

»Nein«, sagten Anna und Dora. Minna klopfte umständlich ein Ei auf und antwortete nicht.

»Guten Tag«, sagte Paul Heinecken und sah den Besuch nicht an. »Bitte, nehmen Sie Platz. Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Ich wollte Sie um die Hand Ihrer Tochter Minna bitten, Herr Heinecken.«

»Was? Was wollten Sie?«

»Sie um die Hand Ihrer Tochter Minna bitten.«

Paul wandte die Blicke dem Fremden zu. Ein schlanker, dunkler, ganz gut aussehender junger Mann. Einen Schmiß hatte er quer über die linke Backe. Anzug anständig, aber nicht vom ersten Schneider. Stiefel blank, aber keine Lackschuhe, was sich bei solcher Gelegenheit wenigstens gehört hätte.

»Ich kenne Sie ja gar nicht, junger Mann.« Und aus seiner Verblüfftheit in Ärger übergehend: »Wie kommen Sie dazu, einfach hier in mein Haus zu kommen –«

»Ihr Fräulein Tochter hat mir das Recht dazu gegeben.«

»Minna –« Da versagten ihm doch die Worte.

Herrn Stolle schien das nicht unangenehm. Er ließ sich nieder, stellte den Zylinder auf den Teppich neben sich und setzte auseinander, wer er sei, und woher er stamme.

Heinecken entsetzte sich.

Also Referendar war der junge Mann. Stammte aus Perleberg. Vater war Kantor der dortigen Kirche gewesen. – Ja, Schätze hatte er nicht, aber ein gutes Examen hatte er bestanden. Und in Wandsbek bei einer Schulfreundin hatten sie sich kennengelernt. In zwei Jahren konnte er den Assessor machen. Dann kam in absehbarer Zeit die Anstellung. Irgendwo im deutschen Vaterland würde sich schon ein Amtsrichterposten finden. Sie waren ja jung, sie konnten ja noch ein bißchen warten. Und wenn das Gehalt auch nicht glänzend war, er war nicht verwöhnt, er stellte keine Ansprüche –«

Da riß Paul Heinecken doch die Geduld. »Ja, Sie, Herr, Sie stellen keine Ansprüche! Gut gesagt. Und kommen hierher und verlangen so schlankweg meine Tochter! Meine Tochter! – Mir scheint, meine Tochter hat keine Ansprüche gestellt.« Er wurde ordentlich bissig. Dies ging doch über Kreide und Rotstein.

Herr Stolle lächelte malitiös, beherrschte sich und fragte, ob Herr Heinecken nicht wenigstens Erkundigungen über ihn einziehen wollte. Er arbeite zur Zeit auf dem Wandsbeker Gericht. Die Herren dort würden sehr gern bereit sein –

Aber Heinecken wollte nicht. Durchaus nicht. Seit wann war es Sitte, daß ein Hamburger aus altem Hause, wohlhabend, angesehen, seine Tochter solchem Habenichts gab, der noch dazu nicht Kaufmann war. Ja, ein Hamburger Jurist, einer, dessen Vatersnamen Klang hatte, einer, der vielleicht mal Senator wurde, oder doch wenigstens einer von den angesehenen Rechtsanwälten – aber so!

Herr Stolle mußte gehen mit sehr wenig Aussicht auf Minnas Hand. Es gab große Aufregung im Hause, Tränen, bockige Verbissenheit der Tochter, viele Reden der Mutter, allgemeine Mißstimmung und Unbehagen. Natürlich sprach Mutter Minna mit ihrem Vater darüber und mit Adelheid. Ladwig sprach mit Madame Hellwig, Madame Hellwig erzählte es Frau Soltau, so ging es aus einem Haus in das andere.

»Gut«, sagte Minna. »Einen Kaufmann nehm' ich nicht, einen Juristen soll ich nicht, ich werd' Diakonissin.«

»Das ist ja dummes Zeug«, brummte der Vater. »Außerdem bist du nicht mündig, und ich gebe meine Einwilligung nicht.«

»In drei Monaten werd' ich einundzwanzig. Die Zeit kommt schon. Dann tret' ich in Altona in das Diakonissenhaus.«

Es war ihr gar nicht besonders ernst mit ihrer Drohung, doch die wirkte. Damit wäre die Geschichte dieser Liebe ja unter die Leute gekommen. Und wie sie wohl entstellt wäre.

Paul entschloß sich, durch einen Bekannten Erkundigungen über den Herrn Stolle einziehen zu lassen. – Man konnte ihm nur Gutes nachsagen. Nicht der kleinste Hebel, um ihn bei Minna aus dem Sattel zu heben. Nur eben – er war kein Hamburger, und er hatte nichts.

Heinecken ließ sich den Herrn noch einmal kommen und suchte ihn zum Verzicht auf die Tochter zu bewegen. »Denn sehen Sie mal, Herr Stolle« – hätte er wenigstens einen klangvolleren Namen gehabt – »mitgeben tu' ich meiner Tochter nichts. Das ist nicht Sitte bei uns. Sie bekommt nur eine Aussteuer und später ihr Nadelgeld. Vierhundert Mark im Jahr. Das wäre alles. Wenn Sie gehofft haben –«

Herr Stolle sagte, er hätte gar nichts gehofft. Als Amtsrichter würde er auch in der Lage sein, selber die Kleidung seiner Frau zu bezahlen, wenn sie sich so kleiden würde wie die andern Kolleginnen in kleinen Städten. Und außerdem – seine Eltern wären tot. Ihre netten Möbel ständen noch bei Verwandten in Perleberg. Die genügten ihm.

Das war ja ein ganz gräßlicher Mensch. Minna lachte, als sie von dieser Unterredung erfuhr. Natürlich würde sie dafür sorgen, daß sie ihr Nadelgeld bekam, man brauchte ja noch nicht davon zu reden. Aber daß Martin Stolle so kaltblütig auf jeden Pfennig verzichtete und nur sie selber wollte, das gefiel ihr doch außerordentlich.

»Ihr dürft euch meinetwegen schreiben«, sagte Vater Paul endlich. »Und wenn ihr euch zufällig bei deiner Freundin in Wandsbek trefft, da will ich ein Auge zudrücken. Verlobt seid ihr nicht.«

»So?« fragte die Tochter. »Schreiben und Treffen, aber nicht verlobt sein? Du bist ja ein netter Vater, Papa. Ganz unmoralisch ist das ja.«

»Minna! Schäme dich, wie sprichst du mit mir?«

Sie ging zum Sturmangriff über, fiel ihm um den Hals und küßte ihn. Das war ihm äußerst peinlich, denn wie alle verlegenen Menschen hatte er für Zärtlichkeiten nichts übrig. Im Grunde, weil sie ihn wehrlos machten. Um nur seine Ruhe zu bekommen, sagte er zu allem Ja. Minna war verlobt. Aber heimlich, ganz heimlich. Und Herr Stolle durfte nur alle vierzehn Tage kommen, und dann mußten sie sich sehr vernünftig benehmen. Martin Stolle entpuppte sich als ein sehr gescheiter, unternehmender Herr. Anna und Dora fanden sich gut mit dem Schwager ab, und Paul begann zu überlegen, ob da nicht Mittel und Wege gefunden werden könnten, diese gräßliche Amtsrichteraussicht in Krotoschin oder Teterow oder Berwalde in angenehmere Hoffnungen zu verwandeln.

Stolle schien ordentlich darin zu schwelgen, seiner Minna auszumalen: »Wenn wir nun erst in Meldorf sitzen, oder in Neustadt. Und du machst mir morgens den Kaffee, und wenn ich im Gericht bin, nähst du deine eigenen Kleider. Du bist ja so geschickt. Du sollst mal sehen, wir legen noch was zurück vom Gehalt. Dein Vater wird sich wundern, wenn wir eines Tages Kapitalisten sind. – Und einen großen Garten haben wir, da arbeiten wir abends zusammen. Bauen unseren Kohl selber, wie die alten, großen Römer. Erdbeeren ziehen wir auch. Und Rosen. Die sollst du nicht entbehren. Ein herrliches Leben wird das.«

Minna sagte zu allem Ja. Im stillen dachte sie: Wollen es abwarten, mein Junge. Meine Kleider nähe ich mir ganz gewiß nicht selber.

Mutter Minna machte bei diesen Unterhaltungen ein Zahnwehgesicht, und Vater Paul scharrte mit den Füßen.

Paul Anton aber, der den Schwager bewunderte, bekam glänzende Augen. Doch ein Mensch, der ganz genau wußte, was er wollte, und sich nicht beirren ließ. Verlobte sich mit Minna Heinecken, bekam sie zur Braut und verlangte, daß man seine mäßigen Zukunftsaussichten als großes Los ansehen sollte. Alles mit immer gleicher Siegermiene.

Er war nun siebzehn geworden, und kurz vor Ostern fragte der Vater: »Also, um einmal über deine Zukunft zu sprechen, ich denke, du lernst bei Sprekelsen und Soltau.«

»Ich möchte bei Godeffroy lernen.«

»Was? Was möchtest du? Was ist das wieder für ein Unsinn.«

»Ich möchte in einem fremden Geschäft lernen, nicht bei den Verwandten.«

»Denkst du, ich kann nur so hingehen zu Godeffroy und sagen: Bitte, nehmen Sie doch meinen Sohn als Lehrling? Den kennen so viele, da sind die Stellen schon Jahre vorher besetzt.«

»Er w–war doch mit Großpapa befreundet, da w–wird er schon ja sagen.«

»Ich weiß nicht, was das mit euch Kindern ist. Immer wollt ihr anders, als man es für gut einsieht. Erst Anna, dann Minna, nun du. Das schlag' dir nur aus dem Kopf.«

Paul antwortete nicht. Er ging zu Adelheid, und die, als sie Herrn Godeffroy auf einem Diner traf, wußte ihn für den Stiefenkel zu interessieren. Sie sprach zu ihm über die heimlichen Wünsche und Hoffnungen des Jungen, und wie sie in ihm den Erben alles dessen erhoffe, was einmal in ihrem Manne Gestalt gewinnen wollte.

Paul Anton bekam die Lehrstelle.

Wie ein Sieger ging er umher.

Sogar Fritz hatte er geschlagen. Der war bei Meißner und Schmiedekampf, Chinawaren-Import. Gut und angesehen, aber ein Haus wie viele. Und er, Paul Anton, der oft Gehänselte und Belachte, saß am Pult in dem großen berühmten Haus, das seine Fäden über die ganze Welt laufen ließ.

Herrn Stolle wurde es zuwider, nur alle vierzehn Tage in das schwiegerelterliche Haus kommen zu dürfen. Er fand einen Grund zu häufigerem Zusammensein. Es sollte eine Gesellschaft gegeben werden, und Minna schlug der Mutter vor, man wolle doch dazu eine kleine Sache einstudieren und die am Abend aufführen, das gebe ein bißchen Abwechslung im Vergnügen. Sonst seien diese Abfütterungen doch recht ledern. »Und Großmama sagt, das sollten wir nur tun, sie freute sich schon darauf.«

Also, wenn Adelheid das für gut einsah, konnte man den Kindern das Vergnügen wohl gönnen.

»Was wollt ihr denn aufführen?«

»Als verlobt empfehlen sich, das ist nett. Da spielen wir drei Schwestern und Bernhard Heineckens und Martin.«

»Herr Stolle? Wenn das Vater nur recht ist.«

»Ich werd' es ihm schon mundgerecht machen. Theaterspielen kann man doch zusammen, dabei ist doch wirklich nichts. Und dann wollen die drei andern Körners Gouvernante aufführen.«

»Wieso? Wer will das?«

»Paul Anton und Fritz Sprekelsen und Elfie Soltau.«

»Die Gouvernante? Das sind doch drei Damenrollen.«

»Das denken sie sich gerade so himmlisch. Paul spielt die Gouvernante, Tante Anna gibt ihm von ihren Kleidern und Hauben, und Fritz und Elfie spielen die jungen Mädchen.«

»Elfie ist doch erst vierzehn.«

»Ach, Mama, die ist pfiffig für zwanzig, die wird das schon machen. Und die eine Freundin, die sich als Student verkleidet, die macht Elfie, sie will zu gern mal als Herr auftreten.«

»Minna, ich weiß nicht –«

»Wir haben es alle zusammen gestern abend bei Großmama besprochen. Sie sagen alle, es wird famos.«

»Ihr alle? Bei Großmama? War Herr Stolle denn auch da?«

»Ja, Martin war auch da. Großmama hat ihn eingeladen, sie zu besuchen. Und er nennt sie schon Großmama, und sie ist gar nicht so steif mit ihm wie ihr.«

Minna war ihren Töchtern in keiner Weise gewachsen. Natürlich übten sie sich die beiden Stücke ein.

Fritz und Elfie waren Feuer und Flamme. Paul Anton sagte nicht viel, aber er glänzte vor innerer Freude. Im Grunde machte er zu gern vergnügliche Dinge mit, wenn man ihn nur nicht hänselte wegen seiner Langsamkeit. Zwar die Leseprobe war ein verzweifelter Fall. Er fiel über die harmlosesten Worte. Er stotterte wie nie im Leben, im Bewußtsein, daß all die andern zuhörten, und wenn einer von denen so frisch und flott seinen Part herunterlas, beneidete er ihn glühend.

»Das schadet nichts, wenn du auch mal bei der Aufführung anstößt«, tröstete Adelheid ihn, als er ihr am nächsten Tag über den Weg lief und sein Leid klagte. »Alte Gouvernanten dürfen gern mal stottern. Das wirkt dann noch besonders amüsant. Die Zuhörer denken, das soll so sein.«

»Nein,« sagte er in seiner zähen Art, »das soll nicht so sein. Ich will es ebenso gut machen wie die andern. Das wollen wir doch mal sehen, ob ich das nicht kriege.«

Doch bei der ersten Probe dasselbe Lied.

Dann fiel es Adelheid eines Abends, als sie noch spät aufgesessen, auf, daß im Giebel von Pauls Hause noch Licht war, noch nach zwölf. Was hatten die Mädchen so spät noch mit Licht zu tun? Sie waren natürlich eingeschlafen und hatten es nicht gelöscht. Dabei konnte einmal Feuer entstehen.

Sie sagte es am andern Morgen zu Dora.

»Das sind nicht die Mädchen«, lachte die. »Das ist Paul. Wir haben ihn auf den Boden verbannt, unten war es nicht mehr mit ihm auszuhalten. Den ganzen Abend sitzt er und übt seine Rolle. Jedes Wort, jeden Satz, jeden Vers. Schwierige Worte zwanzigmal hintereinander. Wir hörten es durch die ganze Wohnung. Anna, die doch abends fürs Seminar arbeiten muß, sagte, sie würde verrückt dabei. Er hat sich das in den Kopf gesetzt, gerade so flott und gut zu spielen und zu sprechen wie Fritz. Na, mich soll wundern, wie das wird. Ist er nicht ein verrückter Bengel, Großmama?«

»Ein ganzer Kerl ist er«, sagte Adelheid ernst. »Und die jetzt über ihn lachen, die ziehen noch einmal den Hut vor ihm ab, mein Kind, ihr Schwestern zuerst. Der weiß, was er will, und weil er so fest will, so unbeirrbar, so wird er es auch erreichen.«

»Ein Welthaus will er bauen«, kicherte Dora. »Fritz hat es einmal verraten. Paul ein Welthaus!«

Fünfmal probten sie, erst jede Gesellschaft für sich, dann zweimal alle zusammen. Und wie die Augen groß wurden, als auf der Generalprobe Paul nicht ein einziges Mal stotterte. Seine Rolle saß wie eingehämmert im Kopf. Jede Silbe konnte er im Schlaf sagen. So brauchte er nur auf die Sprache zu achten. Wie er geübt hatte. Hier mußt du Atem holen. Hier mußt du die Stimme sinken lassen, daß die Zunge sich nicht an dem vertrackten W stößt. Hier schiebst du eine kleine Pause ein, heuchelst Entsetzen oder Erstaunen, dann geht es wieder flott vorwärts.

Damit ihn die unbehagliche Kleidung nicht störe, trug er sie schon tagelang abends in seinem Zimmer. Sie saß ihm endlich ganz bequem. Brausender Beifall wurde gerade ihm am Aufführungsabend, so gut auch Fritz und Elfie spielten.

»Hab' ich gestottert?« fragte er hinterher, sich zur Großmutter gesellend.

»Famos hast du deine Sache gemacht.« Sie strich ihm liebevoll über die Hand. »So gut hab' ich es nicht erwartet, mein Junge. Wenn du alles im Leben so anfaßt –«

»Ach dies, dies w–war doch nur Spielerei. W–wenn es erst mal Ernst wird –«

Sie mußten ihr Stück bald darauf noch einmal im Soltauschen Hause bei ähnlicher Gelegenheit wiederholen, dann wollte Elfie, die großen Geschmack an der Sache gefunden, ein neues beginnen.

Ihre Mutter schob einen Riegel vor.

Um diese Verweigerung weiterer Aufführungen setzte es harte Kämpfe.

»Du tust so nichts in der Schule«, sagte Mercedes. »Die Lehrerinnen klagen über deine Trägheit und Flüchtigkeit.«

»Ach, die alten Eulen klagen immer.«

»Respektlos bist du wie kein anderes Mädchen. Ich will solche Worte nicht wieder hören. Bis du konfirmiert bist, hört diese Theatergeschichte auf. Nachher will ich nicht immer dagegen sein.«

Selten sprach die Mutter so bestimmt. Tat sie es, so mußte Elfie ducken. Denn in solchem Fall hatte Frau Mercedes ihren Mann hinter sich. Aber maulen tat Fräulein Elfie acht Tage lang.

Paul, der es nicht ertragen konnte, sie übler Laune zu wissen, an ihm ließ sie die auch mit Vorliebe aus, suchte all sein sorgsam gehegtes Taschengeld zusammen und kaufte ihr heimlich ein ganz feines goldenes Halsband, venezianische Arbeit, mit niederfallenden Kettchen, an denen goldene Korallen hingen. Sie hatte das einmal bei einer Freundin gesehen und sich gewünscht.

»Paul,« schrie sie, als er es ihr im Garten zusteckte, »Paul! Paula! Paul A. Du bist doch der beste. Ich könnt' dir einen Kuß geben, Menschenskind.« Paul wurde ganz rot. »Dies Kettchen. Gerade so, wie ich es immer haben wollte. Wie kommst du dazu?«

»Weil du in der letzten Zeit so verstimmt bist. Daß du w–wieder lachst.«

»Du bist ein rührender Kerl. Wahrhaftig, das bist du. Fritz hätt' das nicht getan. Woher hast du so viel Geld gehabt?«

»Ich hatte mir was gespart. N–nu laß man. Wenn du dich nur fr–freust.«

»Ganz kolossal freu ich mich. Das trag ich immer heimlich unterm Kleid. Sonst fragen sie mich gleich, wo ich dies her hab'. Das geht niemand was an.«

»Meinetwegen kannst du es r–ruhig sagen.« Aber im stillen war es ihm doch ganz recht, ein Geheimnis mit ihr zu haben.

Sie hängte es um und schob es unter den Blusenkragen. Da verschwand der glänzende Schmuck. Ihre Hand aber blieb auf dem Hals liegen, als müßte sie das Kleinod hüten.

»Wenn ich die Hand da so hinleg, Paula, dann freu ich mich. Dann darfst du dich mit mir freuen.«

»Ja, Elfie.« Es saß ihm in der Kehle. Achtzehn Jahre war er. Sein junges Blut regte sich, und Elfie war ihm der Inbegriff aller Holdseligkeit. Aber ihr das sagen – Wenn er stecken blieb – wenn sie lachte –

»Komm,« sagte sie gnädig, »wir wollen schaukeln. Du sollst mich schwingen.«

Es war ein Sonntag vormittag. März. Die Luft frühlingsweich, erstes Sprossen auf den Beeten und in den Büschen.

Sie gingen durch die niedrige Pforte in Sprekelsens Garten, wo hinter der Lebensbaumwand noch die Schaukel stand. Sie wurde selten benutzt, wenn nicht Elfie mit einer Freundin sich an ihr zu schaffen machte. Das Gerüst war nicht mehr ganz auf der Höhe. Die Seitenbalken tief drinnen in der Erde morsch, und als Elfie sich auf das Schaukelbrett gesetzt, [knirschten] sie im Grund.

»Na, du, wenn das nur noch geht«, warnte Paul.

»Du Hase. Das ist so sicher.« Sie stieß sich mit der Fußspitze ab. Paul trat hinter sie und gab dem Brett einen Stoß.

Auf und nieder ging das Brett. »Höher,« rief Elfie, »höher. Fritz setzt einen ganz anderen Schwung dahinter.«

»Es kann brechen, wenn der Schwung zu arg w–wird.«

»Es bricht –« Das »nicht« blieb ihr in der Kehle stecken, denn im gleichen Augenblick gab es ein Krachen im Boden, der eine Balken neigte sich, die Schaukel schlug aus, Elfie schrie hellauf und sprang heraus. Da stand Paul, der sonst so Langsame, schon vor ihr, er hatte gesehen, wie der Balken sich senkte, sprang ab, sie flog gegen ihn, er stand noch nicht fest, da lag er gegen die Pforte und hielt mühsam das zierliche Ding so vor sich im Arm, daß der Fall und Stoß sie nicht traf.

Wie der Wind war sie wieder auf den Füßen. Langsamer kam Paul hoch. Als er stand, faßte er mit der Hand gegen den Rücken. Das war ja ein infamer Schmerz. Gerade gegen die Rippen hatte ihn der Eckpfosten getroffen.

»Was hast du? Du wirst ja ganz blaß! Paul, Paula, was ist denn los?«

»Gar nichts. Laß nur. Ich hatte es dir ja gleich gesagt.«

»Hast du dir was getan? O Gott, du hast dir doch nichts gebrochen?«

»Bewahre. Aber ich will lieber reingehen.« Ihm tat alles weh, es schmerzte, wenn er Luft holte.

Sie sah ihn ängstlich an. »Paul, aber sag' nichts, bitte.« Und als er sie fragend ansah. »Daß das hier bei der Schaukel passiert ist. Ich bekomm' was von Mama. Sie will nicht, daß ich immer schaukele. Sie nennt das unweiblich.«

»Ich s–ag' gewiß nichts, Elfie.« Er sah sie zärtlich an. »Liebe kleine Elfie.« Ach Gott, was tat er denn nicht für sie.

Sie ging neben ihm, bis sie in Sicht des Hauses kamen. Da hielt sie es doch für besser, in den eigenen Garten zu verschwinden. Wie sie durch die Pforten ging, dachte sie an das Schmuckstück, das für einen Augenblick im Schreck vergessen war. Vorsichtig holte sie es hervor, löste das Schloß, hielt die Kette in der Hand, hob sie, ließ sie in der Frühlingssonne flimmern, streichelte die rosa Perlen, und dachte: Wenn er mir jetzt schon für sein ganzes Taschengeld eine Kette schenkt, was schenkt er mir später? – Aber Fritz ist doch viel amüsanter.

* * *

Sie hatten den Arzt holen müssen, und der ließ Paul vierzehn Tage liegen. Eine Rippe war geknickt, zwei waren gestaucht, man konnte nicht wissen, was nachkam. Und Minna war sehr ängstlich, wenn ihren Kindern etwas fehlte.

Er hatte in den Tagen Zeit für sich, denn er lag viel allein. Aber das war nicht unangenehm. Eine spanische Grammatik lag auf der Bettdecke, englische Zeitungen brachte ihm der Vater auf seinen Wunsch mit, dazu hatte er seine stillen Gedanken.

Einmal war ihm da im Geschäft an seinem Pult blitzartig eine Idee aufgezuckt, die hatte ihn fortan begleitet.

Es kamen Briefe aus Australien, von Neu-Guinea, von Samoa, von überall, wo das große Haus seine Besitzungen und Beziehungen hatte. Und wieder und wieder in den Briefen die Klage: »Wenn wir nur Kost hätten, die unserer europäischen ähnlicher wäre. Aber hier verdirbt das Fleisch, das wir auf der Jagd erbeuten, schon ehe es in den Kochtopf kommt. Und das Gemüse fehlt uns und gute Milch, und so vieles, was hier nicht wächst, und was der eingeborene Koch nicht zubereiten kann.« Dann kamen Listen von Dingen, die gesandt werden sollten, und nachher wieder die Klagen: »Das ist verdorben angekommen und das, und das –«

Da schoß es durch ihn hin: Man müßte ein großes Geschäft gründen, das es sich zum Ziel setzt, all das, was der Europäer im Ausland an Lebensmitteln braucht, ihm in tadelloser Ware zur Verfügung zu stellen.

Im nächsten Augenblick fragte er sich: Ja, woher nehmen und nicht stehlen? Wer hat denn solche Lebensmittel, die in Hitze und Kälte, in Dürre und Feuchtigkeit gut bleiben? Wieviele Konserven gibt es, die sich dazu eignen?

Aber wie er allem, was ihn beschäftigte, von jeher auf den Grund gegangen war, so ging er auch diesem Gedanken nach. Und jetzt in der unfreiwilligen Muße spann er an diesem Faden, fand viele Knoten, viele brüchige Stellen, ließ aber nicht nach, und es wuchs in ihm auf: Ich schaffe dies Geschäft. Ich baue das Haus, das einmal seine Fäden über die ganze Erde spannen soll. Zehn Jahre, zwanzig Jahre – mein Gott, dann bin ich noch nicht vierzig –, viel Zeit zum arbeiten und schaffen.

Dabei, in fernliegenden Dingen befangen, spürte er nicht, daß im elterlichen Hause allerlei wuchs und sich wandelte.

Anna war nun bald mit dem zweiten Seminar zu Ende. Die Sache war ihr gründlich leid. Natürlich war es nicht so gewesen, daß das vornehme Hamburg seine Töchter in die neugegründete Anstalt sandte, sondern es gingen die hinein, die mangelhafter Besitz zum Erwerb zwang.

Sie fühlte sich nicht wohl dazwischen. Die einen waren ihr nicht fein genug, die anderen zu klug und fleißig. Und immer wieder mußte sie es hören: »Warum gehen Sie eigentlich auf das Seminar? Ach – nein – nur um zu lernen? Sind Sie aber bildungsbeflissen. Wenn ich es nicht nötig hätte, ich täte es nicht.«

Und nun stand das Examen vor der Tür. Nach dem dritten Jahr sollte man es ablegen. Dies gräßliche Examen, vor dem allen graute. Wo man nie wissen konnte, ob es nicht mit einer schrecklichen Blamage endete. Vorher mußte geochst werden, nicht gearbeitet, sondern tatsächlich geochst, bis der Kopf dampfte, bis man ganz elend und jämmerlich war und auch so aussah, um zehn Jahre gealtert, und zum Schluß – –

Nein, wenn sie dachte, sie würde nicht bestehen – nicht auszumalen. Manchmal träumte sie davon. Das war so schlimm, als wenn man im Unterzeug auf dem Glockengießerwall spazieren ging. Sie hatte immer gemeint, einen schlimmeren Traum gebe es nicht.

Minna hörte sie einmal keuchen und stöhnen und weckte sie auf. »Was hast du denn?«

»Minna – o Gott –, ich wußte nicht, wann Alexander der Große lebte, und der Schulrat rückte mir immer näher, und seine Augen funkelten immer unheimlicher – wie Feuerkugeln –«

»Dann laß doch das alte dumme Examen. Kein Mensch zwingt dich dazu. Nimm Herrn Habermann. Mama hat ihm immer noch Hoffnung gelassen, daß du doch einmal zu erweichen bist. Nur den kleinen Finger brauchst du auszustrecken, dann tritt er selig wieder an.«

»Wenn er nur nicht solchen kleinen, süßlichen Mund hätte.«

»Besser als ein Froschmaul. Sag ihm, er soll sich einen Vollbart stehen lassen. Seit der Kronprinz einen trägt, sind sie modern geworden.«

Anna seufzte, aber Minna hörte aus dem Seufzer, daß sie überlegte.

Sie sprach mit der Mutter.

Herr Habermann, der alle vierzehn Tage einmal, wenn Empfang im Hause war, sich sehen ließ, blieb vier Wochen fern, und als er wiederkam, kannte ihn kein Mensch. Er trug wirklich einen Vollbart, und noch dazu einen ganz dichten und krausen, der ihn auffallend vermännlichte.

Anna starrte ihn förmlich aus der Ferne an. Als er sich ihr zuwandte, tat sie freilich, als mache der neue Hauptschmuck nicht den geringsten Eindruck auf sie, aber Minna flüsterte ihm zu: »Man soll das Eisen schmieden, so lange es warm ist. Morgen um zwei Uhr hole ich meine Schwester von der Klosterschule ab.«

Ganz zufällig war Herr Habermann am nächsten Tag um zwei auch vor der Schule, und da er die jungen Damen so zufällig traf, fragte er, ob sie nicht einmal mit auf die Galerie der Börse kommen wollten, sie hätten doch immer davon gesagt, daß sie noch nie dort gewesen. Und wie er sie erst da oben hatte und in dem Brausen und Tönen des wogenden Lebens warm wurde, wie jeder Hamburger Kaufmann, meinte Anna, er spräche eigentlich netter, als sie bisher an ihm wahrgenommen. So ließ sie sich überreden, mit ihm und der Schwester zu Homann zu gehen und Schokolade zu trinken – natürlich Schnecken dazu –, was man doch nicht tat, außer wenn man verlobt war oder doch so gut wie. –

Und am Sonntag stand wieder ein Bewerber im Zylinder und weißer Binde vor Paul Heinecken und sagte: »Ihre Tochter gab mir das Recht –«

»Meine Tochter? Wieso?« fragte Paul. »Ich denke –« Den Schlußsatz verschluckte er. Er wollte sagen: »Ich denke, die kann Sie nicht ausstehen.«

Nun waren also zwei Bräute im Hause. Am Sonntag, dem zwölften April, wollte man der Familie die Tatsache mitteilen, denn Minna, die doch stark der Mutter zur Hilfe gekommen war, hatte es sich ausbedungen: »Wenn Annas Verlobung veröffentlicht wird, dann meine gleich mit. Es ist ja schon Unsinn, daß wir noch immer Verstecken spielen, wo Martin den Assessor hat, und der Amtsrichter –«

»Wenn der nur nicht zu lange noch auf sich warten läßt, Kind.«

»Es gäbe doch auch einen anderen Weg. Wir müssen ihn Papa mundgerecht machen. Martin wird nachher schon kein Unmensch sein. Ihm ist die Warterei auch über.«

Als Paul am Sonntag wieder hinunterkam in die Wohnstube, noch ein bißchen steif in den Bewegungen, aber sonst hergestellt, wurde er vor die zwei Schwäger gestellt. Nun, Herr Stolle war ja keine Überraschung mehr, aber Emil Habermann wirkte doch stark auf sein Entsetzen. Und dann – Herr Stolle gab die Amtsrichteridee endgültig auf. Vater Paul verhalf ihn zum Eintritt bei Börner und Wellenkamp, der großen Rechtsanwaltfirma am Neuen Wall. Mit der Aussicht auf Teilhaberschaft in zwei oder drei Jahren. Gehalt gleich so gut, daß sie im Herbst darauf heiraten konnten. September sollte Doppelhochzeit sein.

Großes Mittagessen war an dem Tage. Die Sprekelsens, die Soltaus, Adelheid, Madame Hellwig, der alte Ladwig, ein paar Verwandte von Habermann, sie waren zwanzig Personen. Frau Fürst hatte gekocht, tadellos wie immer, die Weine waren gut, da hatten die Töchter geraten und der Sparsamkeit des Vaters einen Stoß gegeben, alles in allem waren die Eltern am Abend, als die Gäste gegangen, doch zufrieden. Man war einen Schritt vorwärts. Zwei verlobt, bald verheiratet – Dora würde am Ende auch nicht ledig bleiben –, war nur noch Paul nach. Der Vater dachte stark daran, ihn später, wenn er seine Auslandsjahre hinter sich hatte, in die Lebensversicherung zu stecken. Das war gut, sicher, solide.

Paul, der Sohn, brachte Adelheid durch den Garten zu ihrem Hause. Die beiden alten Leutchen aus dem Oberstock waren gleich nach dem Essen gegangen.

»Du sahst ja nicht gerade aus, als wäre dir die Verlobung deiner Schwestern erfreulich«, sagte sie. »Was ist denn da wieder verkehrt?«

»Ich ärgere mich über Anna noch mehr als über Minna. Erst setzt sie Himmel und Hölle in Bewegung, um den Herrn Habermann nicht zu heiraten, und nu, wo ihr das Seminar nicht mehr paßt, wo sie keine Energie hat, das durchzubeißen, nu nimmt sie ihn. Und sieht noch ganz vergnügt dabei aus. Und Minna – Erst reden sie fortwährend davon, daß sie Papa nicht brauchen, daß sie selber durchkommen werden und von selbst schneidern und ihren Kohl bauen und so was, und kaum, daß sich eine bessere Aussicht zeigt, greifen sie mit allen vier Händen zu. Mit einemmal ist Papas Geld und Papas Hilfe gar nicht mehr zu verachten. Nicht eine Spur von Mumm haben sie in den Knochen. Etwas mehr hab' ich von meinen Schwestern erwartet.«

»Ach, Junge, du siehst das Leben noch viel zu ideal an. Die Zeit nivelliert mächtig. Was hoch ist, erniedrigt sie, was tief ist, füllt sie aus. Das wirst du auch noch erfahren.«

»Ich weiß, was ich will. Und was ich will, das lasse ich mir nicht ausreden. Das setze ich durch. Und ich weiß jetzt auch, wie ich es einmal anfange. Soll ich es dir sagen?«

Es fiel ihr auf, daß er nicht einmal anstieß beim Sprechen. Zwar sprach er langsam, doch diese Langsamkeit hatte nichts Ungeschicktes. Als müßte das, was er zu sagen hatte, so und nicht anders gesagt werden.

»Also – sage es mir. Wir können bei mir noch eine Tasse Tee trinken.«

Sie gingen hinein. Adelheid entzündete die kleine Gasflamme in ihrem Zimmer, auf die sie ein Kesselchen stellte, kramte feine chinesische Tassen hervor, reichte Paul Zigaretten, einen kleinen Luxus, den er sich selber nur selten gestattete, und dann begann er zu erklären. Er wurde warm beim Sprechen. Doch so oft die aufsteigende Lebendigkeit sich hindernd vor die Sprache legen wollte, hielt er einen Augenblick an, zwang sich zur Ruhe und begann in beherrschtem Ton von neuem.

Sie hörte ihm zu, verstand gut genug, was er wollte, war sich nicht klar, ob es praktisch gut durchführbar sei, war aber mehr wie von seinen Plänen gefesselt von seinem Wesen.

»Zwanzig Jahre«, dachte sie. »Und beherrscht wie einer von vierzig. Der wird. Den kennen sie nur alle nicht. Sie werden sich wundern, wenn er sich einmal durchgesetzt hat. Ob ich es noch erleben werde?«

* * *

Im September feierten sie Doppelhochzeit.

Es hatte ein großes Fest werden sollen, doch der alte Ladwig, der nie im Leben jemand im Wege gewesen war, machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Im Juli, mitten im warmen Sommer, bekam er eine Lungenentzündung, und die währte nur drei Tage. Der alte Herr starb so ruhig und würdig, wie er gelebt hatte. Sein Nachlaß war peinlich genau geordnet. Das kleine Vermögen testamentarisch der Tochter überwiesen, jedem der Enkelkinder bestimmt, was von Möbeln und Bildern sein Eigentum werden sollte, sogar über Grab und Beerdigung hatte er Verfügungen getroffen. Alles so einfach wie möglich. Aber ein Eichensarg, ein guter, hoher, solider Sarg; »denn diese dünnen Zigarrenkisten habe ich nie leiden können«.

Als sie ihn beerdigt hatten und von der Feier zurückkamen, rief das Mädchen Adelheid zu Madame Hellwig. Die wäre so wunderlich.

Adelheid fand die Tante in dem Lehnstuhl am Fenster, in dem sie viel saß, eine Handarbeit in den Fingern, an der in acht Tagen nicht acht Stiche getan wurden, mit den Blicken alles verfolgend, was auf der stillen Straße vorüberging.

So saß sie auch jetzt. »Nun, liebe Tante, wie geht es dir?«

»Ja, ja, das ist richtig«, sagte die alte Dame und sah sie an. »Das ist Emmeline.« Emmeline war ihre jung verstorbene Schwester. »Nun kommt es also an mich. Der Totengräber war auch schon da. Er sagte, wenn ich neben meinem Bruder begraben sein wollte, da wäre kein Platz mehr. Wozu haben wir denn die große Stelle gekauft?«

»Liebe Tante, was redest du von begraben. Du sollst noch lange bei uns bleiben.«

»Das sagen Sie so, Frau Soltau. Fragen Sie nur Adelheid, die weiß schon Bescheid. So um den zehnten herum, da kommt es. Vorhin stand der Sarg auf dem Flur.«

»Das war doch der Sarg von Vater Ladwig, Tante. Du hast ihm doch selber gestern Blumen hineingelegt, ehe der Sarg geschlossen wurde.«

»Ladwig? Ladwig? Wie soll ich dazu kommen? Der sitzt doch an seinem Pult auf dem Wandrahm.«

Sie hatte sich, ohne daß Adelheid es gespürt, über den Tod des alten Herrn zu sehr aufgeregt. Es war ein Memento mori gewesen, nicht zu überhören, und weil sie trotz ihrer Jahre am Leben hing, war es ihr doppelt schrecklich gewesen. In dem alten Kopf verwirrten sich die Gedanken. Der Zusammenbruch des Körpers folgte schnell, äußerte sich in Lähmungen, Schwindelzuständen, gänzlicher Apathie. Trotzdem kam der große Erlöser noch für Monate nicht.

Die Jugend hatte sich von der Doppelhochzeit viel versprochen, besonders von dem Polterabend. Was sie da alles angeben wollten. Bei solchem Fest konnte Frau Mercedes das Theaterverbot nicht aufrecht erhalten. Elfie schwelgte ordentlich in kühnen Plänen. Oh, die beiden Schwestern sollten etwas zu hören bekommen. Alle Dummheiten ihrer Kinder- und Mädchenjahre würde sie ihnen vorhalten.

»Als Zigeunertruppe kommen wir. Du, Paul, bist der Bär, du mußt mit mir tanzen. Und Bernhard Soltau ist der Bärenführer, und Fritz und Dora sind ein Zigeunerpaar. Und Fritz bläst den Dudelsack, und Dora klimpert auf der Gitarre, und wir singen ihnen alle ihre Schandtaten mit Musikbegleitung. Fein wird es.«

Paul war mit der Bärenrolle nicht so sehr einverstanden, gab sich aber hinein, als Elfie einmal mit ihm heimlich im Garten den Tanz probte, und er sie dabei in die Luft schwingen mußte. Für einen Bären eine verwunderliche Leistung, aber eine, die er gern übernahm.

Und nun war das alles nichts.

Polterabend überhaupt nicht.

Dora durfte den Brautkranz bringen und einige mäßige Verse stammeln, das war alles.

Die Hochzeit wurde auch auf die nächsten Verwandten und Freunde beschränkt. Man jubiliert nicht, wenn der Großvater vor zwei Monaten gestorben ist. Der gute alte Herr hätte sich noch im Grabe umgedreht, wäre es ihm bewußt geworden, wie er den Enkelinnen ihren vergnüglichen Hochzeitstrubel zerstörte. Immerhin waren auch die Nächsten noch sechsunddreißig Personen.

Trotz der Nähe der Kirche fuhr man hin, die Brautpaare mit den Brautjungfern und Führern im geschlossenen Zuge.

Dora, Elfie und zwei Freundinnen der Bräute waren Brautjungfern, und es war selbstverständlich, daß Paul Elfie führte.

Er holte sie im Wagen feierlich von ihrem Hause ab.

Sie sah ihn ganz betroffen an, als er mit einem Strauß kostbarer Marschall-Niel-Rosen in der Hand in das Zimmer kam.

Wahrhaftig, er war doch ein feiner Bengel. Sie hatte ihn noch nicht in Frack und Lack und Claque gesehen, denn sie ging ja noch nicht auf Gesellschaften, und sie sah ihn an wie einen Fremden. Ein bildhübscher Mensch. – Nicht so groß wie Vater und Großvater gewesen, aber doch gut gewachsen. Und der brünette Kopf mit dem regelmäßigen Profil, den dunkelblauen Augen, die Wimpern hatten, so lang, wie es für einen Mann eigentlich gar nicht möglich war, und dazu das vergnügte Lachen, das ihm immer so gut stand, sie strahlte ihn richtig an.

Da lachten seine Augen noch mehr.

»Paul, ich kenne dich ja gar nicht wieder. Ganz Kavalier.«

Er reichte ihr den Strauß. »Dein K–kavalier.« Da lachte sie auch, hell und laut. »Also bist du es doch. Müssen wir schon fahren?«

Er stand die ganze Zeit in der Kirche und dachte nur: »Sie steht neben dir. Zwei Schritte weiter vor, dann steht ihr so am Altar wie jetzt deine Schwestern. Wann kommt das?«

Als erstes Paar stiegen sie hinter den Jungvermählten in ihren Wagen, der fuhr langsam an, hielt dann wieder, man wartete, bis alle Brautjungfern eingestiegen waren.

Menschen hatten sich gesammelt und nahmen die Parade ab.

»Wie wohl Anna und Minna zumut ist,« kicherte Elfie, »so bestarrt zu werden.«

»Die w–werden sich ganz w–wohl fühlen dabei. Wär' es dir unangenehm, da so im Brautwagen zu sitzen?«

»Unangenehm? Das käme auf den an, der neben mir säße.«

Paul faßte nach ihrer Hand. »Elfie, wenn ich da neben dir säße? Laß das Lachen. Mir ist das ernst.«

Sie sah zu ihm auf. War das Paul Heinecken? Der alte Kamerad, den man neckte und zerrte und nicht so ganz ernst nahm, weil man sich der eigenen Herrschaft zu bewußt war. Was für ein fremder Ausdruck war in seinem Gesicht. Etwas Herrisches, Strenges, etwas, das ihr befahl, jetzt einmal allen Unfug beiseite zu lassen und frei heraus Farbe zu bekennen.

Wie er ihre Hand preßte. Es tat weh, und doch war es furchtbar interessant. War das ein Antrag? Ein richtiger Antrag, so wie es ist, wenn man sich verlobt? Und sie war noch gar nicht konfirmiert. Wurde nächsten Monat erst sechzehn. – Es flog alles so durch sie hin.

»Willst du mir nicht antworten?« fragte Paul, und er stotterte nicht ein bißchen in diesem Augenblick.

»Ja, Paul. Ja, Paul. Das kommt mir so über den Kopf. Das ist so komisch –«

»Komisches ist gar nicht dabei. Du weißt ganz genau, daß du mir immer am liebsten gewesen bist von allen Menschen. Aber du fragst nicht nach mir, das ist es.«

»Nein, nein. Ich hab' dich doch so gern.«

»Nur Fritz hast du lieber.«

»Fritz?« Nein, in diesem Moment, wo Paul so schrecklich interessant aussah, verblaßte Fritzens Bild ganz. Außerdem führte der eine andere Dame, die dunkel und pikant war, und von der er während der Trauung kein Auge gelassen hatte. Nein, Fritzens Aktien standen tief in dieser Stunde.

»Aber wir sind noch so jung, Paul.«

»Das schadet doch nichts. Darum kann man doch wissen, was man will. Ich verlange auch nichts von dir, als daß du mir sagst, ob du wohl auf mich warten willst, bis ich so weit bin, daß wir uns verloben können.«

Also richtig, es ging auf die Verlobung hinaus.

»Das kann doch noch ewig dauern.«

»Ewig! Ostern bin ich mit der Lehrzeit fertig. Dann diene ich mein Jahr bei der Artillerie in Schwerin. Dann geh' ich zwei Jahre nach England. Dann komm' ich und frag' deinen Vater –«

»Erst fragst du doch wohl mich.«

»Wenn das dann noch nötig ist.«

Die Wagen fuhren an, zwei Minuten später hielten sie am Hochzeitshaus.

Wie sie ausstiegen, sah Elfie ihrem Partner in die Augen. »Fast vier Jahre, Paul, na, wenn es nicht eher geht –«

Da war sie hinein in den Flur, mitten zwischen die anderen, fiel Minna um den Hals, küßte Anna, lachte mit Dora, er stand immer noch auf der Treppe und sah und hörte nichts als »Elfie! Elfie! Elfie!« Bis Fritz Sprekelsen ihn anstieß: »Mensch, willst du hier Wurzel schlagen?«

Waren sie nun verlobt? Er mit seinen neunzehn Jahren, sie mit ihren fünfzehn? So was tat man doch nicht in Hamburg. So was tat man schon gar nicht in seiner Familie. – Ach, das war ja ganz gleichgültig. Einmal war er über sich hinausgegangen, hatte zugegriffen, ohne lange zu überlegen. Sollte er warten, bis ein anderer die Hand nach seinem größten Schatz ausstreckte?

Es fand sich keine Gelegenheit wieder zu einem vertrauten Wort. Bei Tisch saßen die Nachbarn zu nahe, nachher wirbelte die junge Welt durcheinander, und er konnte seine Dame nicht allein sprechen. Und als er sie gegen elf, denn die Hochzeit schloß früh der Trauer wegen, durch den Garten begleiten wollte, stand da ihr Bruder Bernhard schon mit einem Schirm und sagte: »Es gießt. Komm' unter dies schirmende Dach, liebes Schwesterlein. Na, Paul, du willst doch nicht noch in den Regen hinaus?« Das war also auch nichts.

Und dann war wieder alles, wie es immer gewesen. Nur wenn sie sich sahen, faßte Elfie wohl einmal an den Hals, als rücke sie am Kragen, und Paul wußte, sie rührt an der Kette, oder Paul hob vier Finger, und das bedeutete in vier Jahren, sonst hatten sie keine Geheimnisse zusammen. Er fiel in seine Schüchternheit zurück, und das Mädchen fand es sehr interessant, so quasi verlobt zu sein, und doch keine unbequemen Rechte zu gewähren. Man hatte da einen Anbeter, auf den man sich verlassen konnte, aber die Freiheit bewahrte man sich trotzdem.

* * *

Elfies Konfirmation. Paul kam mit seinen Eltern und gratulierte und legte Gerocks Palmblätter mit Goldschnitt auf den Tisch. Seine Mutter hatte dies Geschenk für ihn ausgesucht. Heimlich aber schob er unter das Buch ein winziges Kästchen, und als Elfie es später ebenso heimlich öffnete, war eine Nadel darin. Den Kopf bildete ein Vogel, dessen Flügel aus kleinen Perlen zusammengesetzt waren. Die Augen waren Saphire. Geschmack hatte er wirklich.

Die Mutter überraschte sie, als sie so dastand und ihr Geschenk besah.

»Von wem ist denn die Nadel? Die hab' ich ja noch gar nicht gesehen.«

»Von Paul Heinecken.«

»Ich denke, von dem ist das Buch.«

»Das fand seine Mutter genug, aber er nicht.«

Mercedes Soltau sah ihre Tochter prüfend an. Die tat sehr unbefangen.

»Hat er dir sonst schon solche Geschenke gemacht?«

»Einmal eine Kette. Aber sehr kostbar ist die nicht. Ich hatte solch' eine gern leiden mögen.«

»Warum hast du das nie gesagt?«

»Ach, ich dachte, da würde gleich so viel draus gemacht, und es war so harmlos.«

»Ich weiß nicht, Kind, das sollte nicht sein. Junge Mädchen aus unseren Kreisen lassen sich nicht Schmuck von jungen Herren schenken, die ihnen nicht sehr nahe stehen.«

»Ja, Mama, da hast du gewiß recht. Aber Paul –«

»Nimm das nicht zu unbefangen, Elfie. Du kannst in eine peinliche Lage kommen. Du gibst ihm damit Rechte –«

»Gott bewahre, Mama, ich gebe ihm gar keine Rechte. Und denk' doch, wie jung er auch noch ist. Und ich werde heute konfirmiert.«

»Ja, ja. Aber sei vorsichtiger.«

Sie hatte ein warnendes Gefühl, die feine, dunkle Frau. In ihrer Heimat waren Mädchen von sechzehn keine halben Kinder mehr, und es war doch ihr Blut in der Tochter.

Einmal sah Fritz Sprekelsen die Nadel an Elfies Kleid. Sie saßen im Thaliatheater, wo alle drei Familien abonniert waren, zusammen im Parkett. Hinter ihnen seine Eltern.

»Woher hast du denn die Nadel?« frug er. »Die kenn' ich noch nicht an dir.«

»Ach, den kleinen Vogel? Nett, nicht? Ja, den hat Paul mir geschenkt.«

»Paul? Wie kommt er dazu?«

»Mein Himmel, zur Konfirmation natürlich. Was ist dabei.«

»Darauf hat er lange sparen müssen, denn sein Vater hat ihm ganz gewiß nicht so viel Geld für ein Geschenk gegeben.«

»So? Ist der so geizig? Ja, närig war er wohl immer, was?«

»Und du trägst also Schmuck, den Paul dir schenkt. Sieh mal an.«

»Ich verbitte mir so dumme Reden.«

Fritz lachte. »Sei unbesorgt, ich ärgere dich nun lange nicht mehr. In acht Tagen ist der erste April, da ziehen wir beide den bunten Rock an.«

»Ja, da geht ihr also nach Schwerin.«

»Ich nicht. Ich gehe zu den Wandsbeker Husaren.«

»Seit wann ist denn das bestimmt?«

Sein vergnügtes Jungengesicht lachte sie übermütig an. »In diesem Augenblick. Gute Gedanken kommen wie der Blitz.«

»Aber warum denn?«

»Ich denk' es mir nett, den guten Paulus ein bißchen aus dem Sattel zu heben.«

»Das sind ja dumme Reden, Fritz.«

»Nein, nein. Ich meine es wirklich so.« Und sich zu seinen Eltern herumwendend, sagte er wie selbstverständlich: »Also eben, erzähl' ich Elfie, daß ich doch nicht in Schwerin dienen will, sondern bei den Wandsbeker Husaren. Ich wollte es euch schon heute mittag sagen, da kam was dazwischen. Es gehen mir zu viele Hamburger nach Schwerin. Arnemann und Siemsen und Hopfeld und Wichmann, man will mal aus dem Klüngel heraus.«

»So, also nun Wandsbek«, brummte der Vater. »Meinetwegen, da hat man dich vielleicht ein bißchen mehr an der Strippe.«

Die Mutter, verliebt in ihren vergnügten Jungen, gutmütig und unbedeutend, fand es großartig, daß er so in der Nähe bleiben wollte, und stellte keine überraschten Fragen.

»So,« sagte Fritz und wandte sich wieder an seine Nachbarin, »glaubst du nun, daß es mir Ernst damit ist? Ich komme alle Sonntag nach Hamm in meiner besten Extrauniform, und ich bitte mir aus, daß du nett mit mir bist. Dies ist mein nachträgliches Konfirmationsgeschenk. Wiegt es nicht Pauls Nadel auf?«

»Daß du hier bleibst? Weißt du, an Bescheidenheit leidest du nicht. Mir ist die Nadel lieber als der ganze Fritz Sprekelsen.«

Fritz lachte dazu. Er kannte, so jung er war, schon viel von den Frauen, und Elfie, mit der er aufgewachsen war, die gab ihm gewiß keine Rätsel auf.

Plötzlich erschien es ihm sehr interessant, gerade mit Elfie zu flirten. Sozusagen unter den beiderseitigen elterlichen Augen, und doch so, daß niemand etwas davon merken sollte. Wenn er dabei Paul Heinecken aus dem Felde schlug, war doch noch ein Reiz mehr. Was fiel dem ein, allen Ernstes das niedlichste Mädel ihrer Bekanntschaft für sich zu beanspruchen.

So bekam denn Paul eines Tages in Schwerin einen Brief von einem Hamburger Freund, in dem es hieß: »Dein alter Freund Fritz Sprekelsen dient ja in Wandsbek. Den hat wohl die kleine Soltau hier in der Gegend festgehalten. Ich sah die beiden kürzlich im Wandsbeker Gehölz, sie wanderten da Arm in Arm und waren so vertieft ineinander, daß sie mich gar nicht bemerkten.«

Paul wurde es heiß und kalt.

Das war doch ganz gewiß nicht wahr! Das konnte gar nicht wahr sein! Elfie schrieb ihm doch, wenn auch nicht oft, und sie hatte ihm zum Abschied noch versprochen, daß sie die Kette immer – aber auch immer – tragen wollte.

Er setzte sich hin und fragte an, was er davon zu halten hätte.

Sie würde natürlich schreiben, es sei kein Wort an der ganzen Sache wahr. Und er würde ihr glauben. Nur ihr und niemand anders.

Aber Elfie antwortete: Ja, so sei es gewesen. Sie wäre da mit Fritz gegangen, und sie hätten von ihm – Paul – gesprochen. Den Herrn Alex Heinemann hätten sie auch ganz gut bemerkt, aber ihn nicht beachtet, denn sie schätzten solche Klatschmäuler nicht. Übrigens, wenn der Herr ihnen nachgegangen wäre, hätte er gesehen, daß sie nach Jüthern gingen, wo die Eltern beim Kaffee saßen. Sie wären nur ein Endchen in das Holz spaziert, um die Nachtigallen zu hören, die am Laubengang so wundervoll geschlagen hätten. Arm in Arm – ja, das könnte sein. Sie wäre doch mit ihm, Paul, auch oft genug Arm in Arm gegangen, ohne sich was dabei zu denken. – So, das hätte sie ihm alles geschrieben. – Nun käme aber noch etwas anderes: Wenn er sich noch einmal solchen Unsinn vorreden ließe, seien sie geschiedene Leute. Wer ihr Freund sein wolle, der müsse zu ihr halten durch dick und dünn, andere Freundschaft könnte sie nicht brauchen.

Paul bereute bitter, überhaupt diese Sache angerührt zu haben. Er schrieb einen de- und wehmütigen Brief, und als der acht Tage lang ohne Antwort blieb, einen zweiten, und dann schickte er ihr Heines Buch der Lieder, das sollte für ihn bitten, und endlich kam ein Brief. Aber nicht aus Hamburg, sondern aus Wolfenbüttel.

Elfie schrieb, sie wäre dort in einer großen Pension. Die Mutter hätte das durchgesetzt, sehr zu ihrem Verdruß. Dreißig Mädels, alle fidel, und sieben Lehrerinnen, alle greulich. Und das Buch hätte ihr die Vorsteherin gar nicht gegeben. Die untersuche nämlich alles, was ankomme. Und sie hätte gefragt, ob die Eltern um solche Bekanntschaft wüßten. Bekanntschaft mit einem Herrn, der derartige Lektüre sende. Das Buch der Lieder! Es sei unerhört, und wenn so was wieder vorkomme, werde sie es den Eltern melden. »Und darauf, weißt du, Paul, hab' ich dem Stubenmädchen einen Taler geschenkt, und die hat mir aus der Buchhandlung heimlich das Buch besorgen müssen, denn ich wollte doch wissen, was das für eine entsetzliche Sache sei. Und nun sind es so süße Lieder. Wirklich himmlisch sind sie. Wir lesen sie uns abends im Bett vor. Tagsüber pack ich das Buch in meine tiefste Kommodenecke. – Wegen dieses Buches, wenn es auch nicht dasselbe ist, das du mir geschickt hast, soll dir vergeben sein.«

Paul atmete auf.

Erstens klang das doch nach voller Versöhnung, und dann war sie fort aus Hamburg. Konnte er nicht in ihrer Nähe sein, so war Fritz es auch nicht – Gott sei Dank.

Freilich mußte er ein Wiedersehen entbehren, und das war hart, wenn er auf Urlaub kam. Aber wenn sein Dienstjahr zu Ende war, dann –

Doch [die] nächsten Ostern, als er heimkam, um nun über den Kanal zu gehen, hieß es, Elfie würde erst im Sommer zurückkehren. Sie sei noch für einige Monate bei einer Kusine ihres Vaters auf dem Lande.

Dora murmelte irgend was von: »Auch besser so. Hatte doch nur Dummheiten im Kopf. Die Mutter wußte, warum sie sie fortschickte«, – aber Paul hatte an einer Klatscherei genug gehabt, er fragte nicht weiter, und so verstummte sie auch wieder.

Ehe er von Hamburg abfuhr, schickte er ihr einen Ring, in dem war ein kleiner Brillant zwischen zwei Smaragden, und er schrieb ihr dabei, so rein sei seine Liebe und so leuchtend grün seine Hoffnung auf die Zukunft.

Es kam auch nach einiger Zeit ein Dankbrief, doch der war recht oberflächlich gehalten, und dann vergingen Monate, in denen er nichts von ihr hörte.

* * *

Ernst Sprekelsen war dick geworden und behäbig. Er liebte immer noch einen guten Tisch und einen guten Tropfen, aber sonst durfte das Leben recht ruhig verlaufen, denn jede Erregung schlug ihm auf das Herz. Sein Sohn Fritz sorgte dafür, daß die Erregungen nicht ausblieben. Es hat keine Art, wenn man mit siebenundvierzig Jahren zum erstenmal Vater wird. Nun war der Vater fast siebenzig und der Sohn ein Leichtfuß von zweiundzwanzig.

Jeden dritten Tag gerieten sie aneinander.

Frau Melitta Sprekelsen saß in ihrem Lehnstuhl in der Ofenecke und strickte an einem Wischtuch. Andere Handarbeiten waren ihr zu mühsam. Draußen graupelte es, und der nasse Schnee, mit Hagel vermischt, blieb an den Fensterscheiben haften, bis er durch die von innen wirkende Wärme gelöst, in dicken Tropfen niederrann.

»Reg' dich nicht so auf, Mann«, sagte die gemütliche Frau. »Du weißt, wie schlecht dir das bekommt. Wenn der Jung mal Dummheiten macht – du mein Himmel, du wirst auch nicht immer ein Tugendbold gewesen sein.«

»Solche Geschichten hab' ich nicht gemacht. So was nicht. Wie steh' ich nun da vor Soltau. Schimpflich. Ganz schimpflich. Muß der Mann mit seiner Rechnung auch an den kommen.«

»Er hat mal viel für die Frauen übrig. Man sagt, bei Hans Soltau soll es nicht anders sein.«

»Der hat aber immer seinen Strang dabei gezogen. Und nun ist er ja auch wohl drüben zur Raison gekommen. Weißt du, was der Mann verlangt hat, der Herr da aus der Weinstube? Dreihundertsiebenundsechzig Mark. Nur so auf einem Brett. Für zwei Soupers mit Künstlern und Künstlerinnen. Ist gestern zu Soltau auf das Kontor gekommen, als ich auf der Börse war, und hat auf der Stelle sein Geld verlangt.«

»Na ja. Ist viel Geld, aber du kannst es doch.«

»Melitta, ich kann das nicht. Wir sind auch oft in Schwierigkeiten. Wenn ich da allein stände, ich wüßte mir manches Mal keinen Rat. Die Konkurrenz ist zu groß. Aber Otto Soltau – der alte Ladwig wußte, wen er mir empfahl. Und nun, wo sein Bernhard mitarbeitet, da stehen wir unseren Mann.«

»Na also.«

»Eben hat mir Soltau aber gesagt, wenn Fritz so fortmacht, will er ihn nicht in das Geschäft haben. Dazu arbeiten sie beide, er und Bernhard, nicht, daß unser Sohn alles verschludert.«

»Das ist ja unerhört. Wo die Firma von deinem Großvater gegründet ist. Wo er froh sein soll, daß du ihn aufgenommen hast.«

»Wo ich froh sein kann, daß er bei mir eingetreten ist. Den hätten sie überall mit offenen Armen begrüßt. Sieh doch mal die Dinge, wie sie sind. Wenn Fritz einmal solche Geschichten machte, oder auch zwei und dreimal – aber das hört jetzt gar nicht auf. Schulden hier und Schulden da, und hat man ein Loch gestopft, ist das andere aufgerissen. – So, da kommt er nach Hause.« Er öffnete die Tür zum Flur und rief hinaus: »Line, wenn der junge Herr da ist, er soll doch gleich mal reinkommen.«

Fritz kam. Ein bißchen blaß und übernächtig, denn er hatte wieder gebummelt die letzte Nacht, und im Kontor war auch keine Gelegenheit, den versäumten Schlaf nachzuholen. Eben hatte er noch vor sich hingebrummt: »Ach, ich hab' sie ja nur auf die Schulter geküßt«, und dabei an die kleine Chansonette vom Karl-Schulz-Theater gedacht, die durchaus nicht bei solchen Gelegenheiten mit dem Fächer schlug, da kam der Befehl des Vaters, und unangenehm berührt trat er ein.

Als er die Mutter am Ofen sitzen sah, erleichterte sich die Sache bedeutend. Die war die wohlmeinende Neutralität.

Ernst Sprekelsen ließ nicht lange warten. »Seit wann soupierst du bei Bröker in der Ferdinandstraße? Ja, mach' nur nicht so große Augen. Ich weiß Bescheid. Das sind ja nette Schulden, die da wieder standen.«

»Das ist doch nicht schlimm gewesen. Du hast noch immer die Preise aus deiner Jugend in Erinnerung, Papa, darum kommt dir jetzt alles so ungeheuerlich vor.«

»Flausen! Auf solche Erörterungen laß ich mich gar nicht ein. Mir gehen diese Geschichten jetzt über Kreide und Rotstein. Und ausgerechnet zu Soltau kommt der Mann, daß der nun auch wieder davon gehört hat.«

»Der dumme Päsel. Ich werd' ihm den Magen reinmachen.«

»Such' du die Schuld lieber bei dir statt bei andern. Ich werde dir mal sagen, was du mir im letzten Jahr gekostet hast. Ich hab' alles zu Buch.«

Er trat an seinen Schreibtisch.

»Muß das sein, Papa? Hat es nicht wenigstens Zeit bis nach dem Essen?«

Sprekelsens Gesicht wurde blaurot, der Zorn würgte ihm in der Kehle.

»Ich bitte mir aus, daß du einmal ernstnimmst, was mir sehr ernst ist«, schrie er wütend. »Ich will jetzt reinen Tisch machen. Geht dieses Leben so fort, werfe ich dich aus dem Hause, das kann ich dir sagen. Einen verkommenen Sohn will ich nicht haben.«

Fritz wurde blaß.

Vom Ofen her kam die Stimme der Mutter. »Er wird sich zusammennehmen, Mann. Er wird daran denken, daß du keinen Ärger haben sollst.«

»Bitte, misch du dich nicht ein«, fuhr ihr Mann sie an. »Jetzt werde ich mit dem Monsieur abrechnen. Dreiunddreißigtausend Mark haben mir die letzten zwei Jahre für dich gekostet, mein Sohn. Ein Vermögen, um das mancher froh wäre. Was für Hoffnungen haben wir auf dich gesetzt, und wie übel lohnst du uns alle Liebe.«

»Ich hab doch nichts Schlechtes getan.«

»So? Kennst du dies Papier?« Fritz fuhr zusammen. Donnerwetter, der Wechsel! Gezeichnet mit dem Namen des Vaters. Er hatte gedacht, ihn einzulösen, sobald die kleine Börsenspekulation glückte, die er im geheimen unternommen. Der infame Jude! Konnte er nicht noch vier Wochen warten? »Ich seh' an deinem Gesicht, daß du es kennst,« – war da nicht immer noch eine heimliche Hoffnung gewesen, ein anderer könne den Namenszug gefälscht haben? – »also so weit ist es mit dir gekommen! Ein Fälscher, ein Betrüger –« er fuhr sich an den Kopf, alles drehte sich im Schwindel.

»Was ist denn das nun wieder?« klagte die Mutter.

»Und dann – wir wollen mal zu Rande kommen – was ist das mit der kleinen Soltau? Heute an der Börse gratuliert mir der junge Peemöller. Ich hatte Mühe, ihn zur Ruhe zu bringen. Trefft ihr euch heimlich? Seid ihr verlobt? Oder ist das auch nur eine von deinen Liebschaften? – Dann aber« – da wurden seine Augen so drohend, daß der Sohn zurückwich – »das kann ich dir sagen, dann hat hier im Hause dein letztes Stündchen geschlagen. Soltau mein Kompagnon – mein bester, treuester Freund – wenn du in das Haus Schmutz trägst –«

»Mann, was sind das für Reden.«

»Wir sind so gut wie verlobt«, sagte Fritz. »Aber weil ich doch noch nichts bin, und weil wir so jung sind –«

»So gut wie verlobt? Und ich weiß, daß Soltaus bestimmt damit rechnen, Paul Heinecken als Schwiegersohn zu bekommen.«

»Das weiß ich nicht. Jedenfalls liebt Elfie mich und nicht Paul.«

»Das ist sehr dumm von ihr. – Und wenn sie dich liebt – ich will annehmen, daß es euch beiden wirklich ernst ist – wie kannst du dann solche Soupers geben? Damen und Herren vom Theater –«

»Es sind Künstler. Und tüchtige, anständige Menschen.«

»So! – Kann sein, kann auch nicht sein. Da mischt sich zu viel, das läßt sich nicht kontrollieren. Von jetzt ab verbiete ich dir jeden Umgang mit Leuten, die nicht in unserem Hause verkehren. Du sollst solide werden, und jetzt bist du auf dem besten Wege, total zu verlumpen.«

Der junge Mensch wollte auffahren, sah den Wechsel auf dem Tische und ließ den Kopf sinken.

»Also, hast du mich verstanden? Aufgabe dieses Künstlerverkehrs und stramme Arbeit auf dem Kontor. Da macht es der jüngste Kommis besser als du.«

»Ich halt' es nicht aus im Kontor.«

»Was? Was heißt das nun wieder?«

»Ich bin doch nur Kaufmann geworden, weil du es verlangtest, und weil ich es nicht besser wußte, und es hier überall so Sitte ist, daß die Söhne beim Vater eintreten. Aber ich bin kein Kaufmann und ich werde nie einer.«

»Dafür lasse mich nur sorgen. Ich ziehe dir die Kandare jetzt stramm.«

»Vater! – Dann brenne ich durch.«

»Solche dummen Reden verbitte ich mir. Wohin willst du überhaupt, mein Herr Sohn?«

»Zur Bühne.«

Sprekelsen versagte das Wort. Er starrte dem Sohn in das Gesicht. Der hatte die Lippen zusammengedrückt und trotzte ihn an.

Die Mutter kam aus ihrem Stuhl in die Höhe, sah ebenso erschrocken auf ihren Jungen und fand kein Wort.

»Zur Bühne«, wiederholte Sprekelsen endlich. Es klang heiser. – Dann lachte er kurz auf. »Ich will nichts gehört haben. Das war ein dummer Schnack.«

»Das war kein dummer Schnack. Ich will Schauspieler werden. Ich habe das Talent dazu und die brennende Lust zum Theater.« Er hastete vorwärts mit seinen Worten. Nur den Vater nicht erst zur Besinnung kommen lassen. »Ich habe längst abends Stunden genommen bei Herwig, dem ersten Liebhaber vom Stadttheater. Und ich hab' mich prüfen lassen von Pollini und Maurice, und kürzlich auch von Ludwig Barnay, wie der hier war und den Othello gab. Sie sagen alle, es wäre ein großes Talent in mir.«

»Du bist verrückt. Du bist komplett verrückt.«

»Ich bin ganz vernünftig. Verrückt ist es, wenn man einen Menschen zwingt, etwas zu werden, wozu er weder Geschick noch Lust hat. Ich passe nicht zum Kontorbock, ich kann das nicht aushalten, da den ganzen Tag zu hocken und Zahlen zu schreiben.«

»Unser altes Geschäft. Und du direkt hineingeboren. – Melitta, sag' es ihm mal, ich kann gar nicht mehr – er ist einfach wahnsinnig.«

»Aber wenn er doch mal nicht zum Kaufmann paßt, Mann.«

»Fängst du auch an! Man kann alles, was man ernstlich will. Ich hätte auch lieber studiert, statt im Kontor zu sitzen, aber mein Vater sagte: Du wirst Kaufmann, und ich wurde es. –« Er faßte sich wieder an den Kopf. »Mir dreht sich alles. Ich –« da wurde der Schwindel Herr über ihn, und er sank schwer auf den nächsten Stuhl. Seine Frau lief nach Tropfen, Fritz rannte und holte Wein – es gab für die nächste Viertelstunde nichts als Sorge um den herzkranken Vater.

Dann – als er sich im eigenen Zimmer auf das Sofa gelegt – saßen Mutter und Sohn beisammen, und die gutmütige Frau ließ sich von ihrem Einzigen ausmalen, wie er als großer Künstler die Welt durchreisen werde, überall Lorbeeren und klingenden Lohn erntend, und wie sie als Mutter stolz auf ihn sein würde – wie der Vater sich mit dem neuen Beruf aussöhnen würde, sah er nur erst, daß es dem Sohn wirklich Ernst war – wie sein Name in ganz Deutschland mit Bewunderung genannt werden würde – er verstand es ausgezeichnet, Luftschlösser zu bauen und der Mutter vorzuspiegeln, sie seien bereits greifbare Wirklichkeit.

Ernst Sprekelsen war den vereinten Stürmen von Mutter und Sohn nicht gewachsen. Nach acht Tagen gab er – schweren Herzens – seine Einwilligung zu dem neuen Beruf. Aber eine Bedingung war daran geknüpft: »So lange du nichts bist, so lange dein neues Studium dauert, so lange läßt du mir die kleine Soltau absolut in Ruhe. Keine heimlichen Zusammenkünfte, keine Versprechungen für die Zukunft – kein Wort, wegen dessen ich einmal ihrem Vater gegenüber in Verlegenheit sein muß.«

Fritz gelobte alles. Besserung. Eifrige Arbeit bei seinen Lehrern. Solidität. Keine heimlichen Beziehungen zu Elfie Soltau.

Und die Mutter glaubte ihm. Der Vater zweifelte.

* * *

Paul Heinecken ging einen unangenehmen Gang.

Er mußte Adelheid sagen, daß er das alte Landhaus verkauft hatte. Die Stadt wollte gerade dort eine Straße durchlegen. Erzwungen wäre der Verkauf wohl nicht, man konnte den Straßenzug auch zur Not anders führen, aber er lag so sehr vorteilhaft für Paul Heineckens Grundstücke. Der große Garten ließ sich mit der Zeit zu wertvollen Hausplätzen umwandeln, achtzehn konnte man herausschneiden, vielleicht noch mehr. Und schließlich – konnte man es ihm verdenken, daß er auch einmal etwas vom Erbe des Vaters sehen wollte? Nach seinem Testament blieb Adelheid für Lebenszeit im Zinsgenuß des Vermögens. Über das Haus aber war keine Bestimmung getroffen. Jetzt zahlte sie Miete, anständig und genügend – immerhin – diese Sache mit dem Verkauf war doch ein ganz anderer Kram.

Niemand konnte ihm verdenken, wenn er sich solch Geschäft nicht entgehen ließ.

Aber als er vor Adelheid stand, war ihm doch sehr unbehaglich.

»Na, Paul,« begrüßte sie ihn freundlich, »sieht man dich auch einmal? Wie geht es denn den Töchtern? Ist Annas Junge wieder munter? Nur ein bißchen mit den Zähnen war es? Gott sei Dank. Und Minna?«

Minna hatte bisher keine Kinder, sehr zu ihrem Kummer.

»Minna – ach ja – alles gut. Bloß ihre ewige Klage – Na ja. – Nun hat sie ihren Stolle, und nun ist sie auch noch nicht zufrieden.«

»Du hast etwas auf dem Herzen«, sagte Adelheid. »Du siehst überall hin, nur nicht in mein Gesicht. Was gibt es?«

Es mußte also sein. »Auf dem Herzen – ja – sozusagen. Ich wollt' es dir schon immer mitteilen, liebe Heide. – Aber es war noch unsicher – nämlich – ich hab' das Haus verkauft.«

»Euer Haus? Warum denn? Wurde es euch zu groß? Wollt ihr hier mit mir zusammenziehen? Das wäre nett. Seit Tante Anna auch gegangen ist, ist es mir recht einsam in dem großen Kasten.«

»Nein. Nicht unser Haus. Hier – das alte.« Und als sie ihn verständnislos ansah, redete er hastig weiter: »Sie wollen ein neues Straßennetz anlegen. Senator Burgmann war persönlich bei mir. – Und – das Haus ist ja nicht mehr viel wert. Aber sie zahlen sehr anständig. – Und oben steht doch alles leer. Minna meint, es müßte dir doch ungemütlich sein, und es gibt so nette Etagen jetzt –«

»So«, sagte sie langsam. »So.« Ja, sie verstand. Sie lebte zu lange. Er mußte warten. Und er war scharf hinter jedem Gewinn her. Als wenn die vielen Wechselfälle im Leben des Vaters eine ewige nervöse Angst in ihm hinterlassen hatten, ihm könne es einmal ähnlich gehen. Da wies er sogar sie hinaus aus den geliebten Räumen.

Es tat weh.

Aber sie hatte so viel hergeben müssen – sie würde auch dies ertragen. Sollte er sich jahraus, jahrein mit der Miete begnügen, nur weil sie hier ihren Erinnerungen nachhing?

Heinecken saß und scharrte mit den Füßen. Ihm war doch sehr ungemütlich.

»Muß ich schon bald ziehen?«

»Nein, nein. Sie wollen erst zum Frühling mit dem Abreißen beginnen. Bis dahin –«

»Dann will ich zum Herbst gehen. Daß ich fort bin, wenn die Wühlerei beginnt.«

»Wie du willst. Ganz wie du willst. Dann steht das Haus über Winter leer. Aber das schadet nichts. Sie zahlen, sobald geräumt wird. Aber –« er hatte den Wunsch, ihr etwas zu sagen, was nicht nur Geschäft war, etwas Herzliches – »ja, Minna sagt, bei uns soll immer ein Zimmer für dich sein, daß du den Sommer recht viel herkommen kannst. Und von den alten Bäumen werden nur die geschlagen, die der Straße im Wege sind.«

»Minna ist sehr freundlich.«

Paul stand auf. »Ich muß in eine Aufsichtsratssitzung. Also – du verübelst es mir doch nicht, Adelheid?«

»Ich verüble es dir nicht, Paul. Jeder ist sich selbst der Nächste.«

Es tat ihr gleich leid, daß sie die Worte gesprochen. Man soll sich in allen Lagen beherrschen können. Als er gegangen, sah sie sich still im Zimmer um. Und all die guten Stunden kamen und gingen durch den Raum, die sie hier mit dem geliebten Manne verlebte. Und all die fernen Sonnenlichter leuchteten auf, die um das Haupt ihres Kindes geflogen waren. Und es war sehr schwer. –

Aber nach einer Stunde ging sie an die tägliche Arbeit in ihrem Verein, wo sie verwahrloste Kinder und Mädchen betreuten. Als man da ein vierzehnjähriges Ding brachte, das obdachlos von der Polizei aufgegriffen war, vater- und mutterlos – halb verhungert, mit traurigen, dunklen Augen, da nahm sie dies Kind mit schnellem Entschluß in ihr Haus und an ihr Herz. »Daß doch dieser Tag, der so harte Hände für mich hat, einem andern Menschen ein bißchen Segen in das Leben bringe.«

»Wie heißt du?« fragte sie.

»Die Mutter hat mich Hanna genannt.«

»Gut, Hanna. Ich will versuchen, dich zu einem tüchtigen Menschen zu erziehen. Es hängt von dir ab, ob wir zusammenbleiben. Machst du dich erkenntlich, sollst du es gut bei mir haben.«

Das Mädchen antwortete nicht, nur die dunklen Augen sprachen.

So nahm Adelheid es mit sich hinaus nach Hamm, und hatte bis an ihr Lebensende eine treue Dienerin.

* * *

Die »Queen Victoria« stampfte schwer durch grobe See.

Es war gegen Abend, die letzten Feuerfanale am Himmel waren im Erlöschen. Zwischen zerrissenen Wolkenmassen glühten sie auf wie tiefe Flammenschlünde. Aber tief im Westen war alles eine einzige schwarze Bank. Seit zwei Stunden hatte der Dampfer die Themsemündung hinter sich, hinüber nach Rotterdam wies seine Route. Den nächsten Morgen sollte er in die Rheinmündung einlaufen.

Ein frisch aussehender Herr hoch in den Vierzigern wanderte am Deck auf und ab. Neben ihm ein Mädchen, schlank, groß, blond, höchstens fünfzehn Jahre alt, aber von einem so sicheren, unbekümmerten Aussehen, wie es Töchter haben, die ohne Mutter aufwachsen und im Vater den besten Kameraden finden.

»Willst du nicht zur Koje gehen?« fragte der Vater. Er sprach mit rheinischem Tonfall, weich und ein wenig singend. »Wir bekommen hier bald nasse Grüße an Deck.«

Das Mädchen richtete sich noch mehr auf. »Sind wir beiden jemals dem Wetter aus dem Weg gegangen, Herr Vater?«

»Du hast aber solch Wetter noch nicht kennengelernt, wie es uns heute nacht blühen wird.«

»Meinst du, es wird arg? Ein richtiger Sturm?« Ihre Augen strahlten, als sehe sie eine köstliche Aussicht vor sich. »Zwischen England und Holland? Gibt es das?«

»Im Herbst oft genug, Kind. Aber die ›Queen‹ ist ja ein tüchtiger Kasten, die wird uns schon nicht übermäßig schütteln.«

Als wollte der Dampfer ihn Lügen strafen, tauchte er eben mit der Nase tief hinein in den Salzschaum, stieg gegen den Himmel und ließ eine Riesenwelle von hinten her das Deck überfluten. Die beiden Passagiere waren im Schutz der Kommandobrücke, als die Sturzsee sich von hinten her ergoß. Es spülte um ihre Füße, schwabbte, floß ab, hatte sie aber nicht von oben getroffen.

Dicht neben sich sahen sie einen jüngeren Herrn, der sich in den Bankwinkel geklemmt hatte, und im Augenblick der Überschwemmung die Füße noch hinaufzog. Einer von den wenigen, die es vorzogen, an Deck zu bleiben, während die meisten Mitreisenden sich in die Salons und Kabinen geflüchtet hatten. Unwillkürlich suchten sich die Blicke, und die Augen des Mädchens lachten den Mann an. Sie war, trotz ihres sicheren Auftretens, doch noch vollkommen Kind.

»Wenn Sie an Deck bleiben wollen, sollten Sie sich hier in die Ecke setzen«, sagte der junge Mann. Er sprach Englisch, doch etwas in seiner Sprache ließ das Mädchen glauben, daß er kein Engländer sei. Eher Holländer. Er sprach langsam, als lasse er sich Zeit zwischen den Worten.

»Danke«, sagte sie, denn es war nicht ihre Art, die Muttersprache zu verleugnen, und Holländer verstehen ja auch meistens Deutsch. »Wenn wir Sie nicht beengen. Komm, Herr Vater, der Herr sagt, hier ist Platz für uns alle drei.«

»Also auch Deutsche.« Paul Heinecken sah das junge Ding genauer an. »Man ist es so gewohnt, das Englischsprechen.«

»Dann waren Sie jedenfalls lange drüben.« Der Rheinländer ließ sich neben ihm nieder, seine Tochter klemmte sich in die Ecke der Bank, dicht an den Vater gedrängt.

Eine mächtige See, halb seitlich heranbrechend, warf die »Queen« wie einen Kahn, daß der Riese schwankte und stieß und die drei Reisenden sich an ihren Sitz klammerten, die Füße gegen den Boden stemmend.

»Ja, ich war fast vier Jahre drüben, die Zeit rennt, wenn man erst einmal fort ist.« Und wieder hob sich das Schiff, sank in einen Wellengrund und stieg, wie keuchend, wieder empor.

»Der Wind geht nach Norden herum. Bisher war er rein westlich. Er wird uns zu schaffen machen. Ich sagte es schon zu meiner Tochter. Sie kann heute nacht in der Koje ordentlich tanzen.«

»Vielleicht tut man besser, nicht in die Koje zu gehen.«

»Bester Herr, was trauen Sie der ›Queen‹ zu? Unsicherheit? Zwischen London und Rotterdam? Ich mache die Fahrt heute zum achtzehntenmal, es hat schon so manches Mal tüchtig geweht, aber mehr war es nicht. Die Schiffe der Red-Rose-Linie sind gut gebaut.«

»Ich fahre zum erstenmal die Route über Rotterdam. Wollte eigentlich mit der ›Suevia‹ direkt nach Hamburg. Aber schließlich – man kann so ein bißchen von Holland sehen.«

»Wenn man Zeit hat. Wir haben keine, wie, Trix?«

»Ich schon, nur du nicht, Pa.«

»Wer soll übermorgen in der Schule sein?«

»Sag' bloß nicht Schule. Ich hasse sie.«

»Nette Jugend.« Der Vater lachte Paul an. »Ja, das kommt, wenn man die Einzige wie einen Kameraden gehalten hat. Da wachsen sie einem über den Kopf. – Aber es wird wahrhaftig immer stürmischer. Old England sendet uns unangenehme Grüße nach.«

»Warum sollte es auch nicht? W–wir bewundern es, aber die Bewunderung ist sehr einseitig.«

»So? Sie bewundern das Land? Oder die Menschen? Oder die Macht?«

»Von dem Lande sah ich nicht so sehr viel. Als angestellter Kaufmann blieb mir zu Vergnügungsreisen wenig Zeit. Aber ich bewundere, w–was das Volk dieser einsamen Insel aus sich gemacht hat. Wie es verstanden hat, die Fäden seines Handels über die ganze Erde zu spinnen. Ein Netz hat es gewoben, in dem wir alle gefangen sind.«

»Na, na. Ich bin auch Kaufmann, aber so sehe ich die Sache nicht.«

»Ich meine nicht: Willenlos gefangen. Ich meine, durch unsere Interessen und die eigenen Vermögensumstände an den mächtigen Vetter gebunden. Heute herrscht noch das Schwert und die Politik, oder richtiger die Politik durch das schärfste Schwert. Aber ein paar Jahrzehnte weiter, da herrscht der Handel.«

»Das Geld regiert die Welt. Wenn Sie so meinen – und doch haben arme Völker wieder und immer wieder mit ihrer Kraft die Macht des Geldes gebrochen.«

»Das Geld – Nein, so nicht, w–wenigstens nicht ganz so. Ich meine den Handel. Den Verkehr aller mit allen. Das gegenseitige Interesse der Völker. Ich gebe, daß du gibst. – Und natürlich, wer am meisten zu geben hat, der hat die Lebensnerven der andern in der Hand.«

»Also sorgen wir, daß wir zu geben haben.«

»Deutschland ist sich in den letzten zehn Jahren bewußt geworden, daß es seinen Platz an der Sonne – mit dem Schwert erworben – im Frieden unermüdlich neu erobern muß, wenn es nicht zurückfallen soll.«

Durch das Brausen von Wind und Wogen kam ein dumpfer Ton. Drunten im Schiff schlug der Gong an. Abendessen.

Die drei Reisenden standen auf, und sich zur Treppe tastend stiegen sie hinab.

Der Speisesaal war wenig besucht. Viele der Mitfahrenden lagen schon opfernd in den Kojen, andere hatten sich vor der Zeit einen kleinen Imbiß servieren lassen und sich dann ebenfalls zurückgezogen. Als Paul Heinecken, nachdem er seinen Gummimantel und die wassertriefende Mütze in seine Kabine getragen, eintrat, saßen der Rheinländer und die blonde Tochter bereits bei der Suppe, und da sie ihm nicht winkten, und die Hamburger Reserve ihn immer noch stark beherrschte, wagte er nicht, an ihren Tisch zu treten. Er setzte sich so, daß er die Fenster des Raumes sehen konnte und die steigenden und sinkenden Wasserberge, die draußen schwarzgrün vorüberglitten. Wenn der Strahl der Lampen sie traf, funkelte es in ihren Tiefen wie verborgenes Gold, dann tauchten sie wieder in dunkle Nacht.

Das Essen war ein mühsames Geschäft bei den ebenso steigenden und sinkenden Tischen und Tellern. Ehe er gesättigt war, erhob sich Paul darum wieder, grüßte zu den beiden Gefährten hinüber, und ging in seine Kabine. Nach kurzem Überlegen beschloß er doch, sich nicht zu entkleiden. Nur den Rock warf er ab, dann legte er sich in die schmale Koje. Er hatte Glück. Der Dampfer war wenig besetzt und er bekam keinen Genossen.

Donnerwetter! Das wurde doch schlimmer, als er gedacht. Wie die »Queen« stampfte und rollte. Ein Glück, daß er seefest war, so konnte ihm wenigstens nicht die Seekrankheit über den Hals kommen. Es war auch so unangenehm genug.

Da griff er zu dem einen Mittel, das ihm schon oft in den letzten Jahren geholfen, wenn unangenehme Stunden zu überwinden waren. »Elfie!« Und sie stand vor ihm.

Wie feingliedrig sie war. Wie ihre Füße flogen, wenn sie um den Rasen lief! Die verkörperte Grazie.

Und wie sie lachen konnte. In allen Tonarten. Silbern und süß wie eine Elfe und kichernd und boshaft wie ein kleiner Teufel. Und er liebte den kleinen Teufel ebensosehr wie die Elfe.

Mit ihr stand alles auf, was seiner Jugend Helle und Fröhlichkeit gegeben. Das alte Haus der Großeltern. Der [riesige] Garten mit den Urwaldbäumen, den hundert Rosen, den langen Erdbeerbeeten, er roch den Duft förmlich, den die süßen Beeren ausströmten, wenn die glühende Sommersonne sie kochte –, die Spiele durch alle Steige und alle Gebüsche, die Schaukel und das Reck, die ihm verbotenen und doch immer heimlich besuchten Geräte, da flog die Schaukel mit ihm und dem süßen, kleinen Mädchen. Er trieb sie hinauf, immer höher, immer höher, nun sanken sie wieder zurück, er spürte ihren zierlichen Körper sich gegen seine Brust neigen, ihre Locken flogen um sein Gesicht. Paul war vom wachen Traum in den des Schlummers geglitten.

Und der Wind wuchs sich zum Sturm aus. Die wilden Wogen der Nordsee kamen aus der Ferne des Ozeans, brachten seine Kraft und Wildheit mit sich, rannten über den weiten Plan zwischen der britischen Insel und dem festen Lande, begannen ihre Herbstspiele und fegten hohnlachend alles Menschenwerk wie winziges Spielzeug vor sich her.

Die »Queen« hatte ihre hundertste Reise hinter sich, sie war keine von den ganz jungen Damen, die diese Route fuhren, aber sie war stark und seetüchtig, hatte gute Mannschaft und einen alten Kapitän, einen richtigen Seebären, der einmal die ganze Welt umfahren, jeden ihrer Winkel kannte und diesen Nordseesturm nur als eine Mütze voll Wind ansah. Trotzdem ging er in der Nacht nicht von der Brücke.

Sie sollten mit dem anbrechenden Tage an Hoek von Holland vorüber in die Rheinmündung einlaufen, gegen zehn Uhr in Rotterdam anlegen, und die Passagiere, die sofort nach Deutschland weiter wollten, hofften den Mittagszug trotz Zoll und Gepäckbeförderung noch rechtzeitig zu erreichen. Wind und Strom versetzten das Schiff. Das Ruder gehorchte nur unvollkommen, immer wieder trieb die »Queen« trotz Dampfkraft und Steuer südlich ab. Als es acht Uhr war und die Reisenden schon ungeduldig zu werden begannen, sah man endlich die Einfahrt vor sich.

Eine haushohe Brandung stand an den Molen, die weit in die See hinausgingen. Die Wogen überrannten den breiten Steindamm, bäumten sich wütend empor, wenn er ihren Weg sperrte, geiferten auf, daß Schaumberge sprühten, und schwangen lange Schleier um ihre Köpfe.

Paul Heinecken stand wieder im Schutz der Brücke, wo er am Abend vorher gesessen hatte, und sah in das wilde Schauspiel. Der Rheinländer trat neben ihn. »Sehen Sie zwischen den Molen die Einfahrt? Wenn wir da richtig hineinkommen, haben wir viel Glück. Wette, es geht kein Lotse aus.«

Da sahen sie drinnen im Strom in den tanzenden Wogen das Lotsenboot. Holland ließ sich nicht nachsagen, daß es seine Pflicht versäumte. Wie ein schwarzer Fisch hob es sich für Augenblicke aus all dem Wasserschwall, schon war es wieder in die Tiefe gesunken.

Aller Augen spannten sich, als könnten Blicke das helfende Boot heranziehen durch die brüllende Brandung, die die Einfahrt sperrte.

Und wieder und immer wieder stieg das Boot. Durch ein Fernrohr sah man die sechs Mann in ihm, die die Ruder taktmäßig senkten und hoben, aber wieder und immer wieder, so oft es sich der Schaumlinie der Ausfahrt näherte, wurde es von anbrechenden Wogenmassen zurückgeworfen.

Die »Queen« lag ruckend und stampfend, hin und her geschleudert, quer zur Einfahrt, mühsam das Herangeworfenwerden vermeidend. Einmal und noch einmal wendete sie und ging gegen die kochende See, sich rückwärts den Weg bahnend, um Zeit zu gewinnen, bis der Lotse heransein würde. Hoffnungsloses Beginnen.

Vom Lande aus sahen sie, wie der Dampfer stieg und tauchte, wie er sich vergebens mühte, dem pressenden Sturm und Strom Widerstand zu leisten. Jetzt wandte das Lotsenboot, ein Dampfer versuchte, hinaus zu gelangen.

»Sie wollen uns einschleppen«, sagte der Rheinländer.

Seine Tochter, dicht an seinen Arm gedrängt, spähte scharf zum nahenden Schiff. »Kommen sie heraus aus dem Strom, Pa?«

»Wir wollen es hoffen.«

Sie warteten. Der Lotsendampfer war jetzt hart an der anjagenden Brandung, da faßte ihn eine Woge, warf ihn quer, preßte ihn rückwärts, am Lande und auf dem englischen Dampfer schrien die Menschen laut auf im Schreck, es sah aus, als müsse das Schiff kentern, da wandte es sich und gewann den Strom zurück.

Dreimal erneuerte es sein Beginnen, dreimal schleuderte die See es wieder hinein in den Strom.

Und wie die Minuten und die Viertelstunden gingen, trieb die »Queen« unaufhaltsam der Molenspitze entgegen.

Die Reisenden waren jetzt alle an Deck, standen mit weißen Gesichtern, klammerten sich an Bänke und Galerien, faßten, einer stützesuchend, den Arm des andern, sahen näher und näher die grausige Brandung an dem aufgemauerten Felsendamm, und schon kamen die ersten Brecher von vorn und warfen ihren Schaum weithin über das Deck, das längst von den rücklings anrennenden Wogen überströmt wurde.

Neben sich hörte Paul Heinecken die Stimme des blonden Mädchens: »Pa, gehen wir unter?«

»O bewahre. Wer geht angesichts des Hafens unter?«

Und wie er es sagte, krachte es unter dem Kiel, das Schiff bäumte sich, stieg wie ein Pferd, das sich überschlägt, warf sich noch einmal nach vorn, stieg zum zweitenmal, Fluten brachen von allen Seiten über das Deck, Menschen schrien in Todesangst wie Tiere, es dröhnte und krachte von berstenden Planken, das Brüllen der See wurde zum Donner, dann stand das Schiff. Die Spitze ragte hoch empor aus der Flut, das Hinterdeck wurde überrannt von den tosenden Wassern. Die dort gestanden, waren hinweggefegt in die Tiefe.

Paul sah einen Mann vorbeitreiben, der noch verzweifelt mit den Armen über sich griff, als suche er nach einem rettenden Tau, nach einem sicheren Halt – schon sank er unter die Flut.

Instinktiv hatte er selber im ersten Stoß nach dem Geländer der Brückentreppe gegriffen, und wie er eine Hand an seinem Arm spürte, faßte er diese Hand und hielt sie und zerrte sie heran an das Gitter, und preßte sich und das, was neben ihm Schutz suchte, fest gegen das Holz.

Schaum flog ihm in die Augen und machte ihn minutenlang blind. Die Wellen heulten ihm in die Ohren und machten ihn taub, nichts war für die nächsten Augenblicke in seinem Bewußtsein als ein krampfhaftes Bemühen, fest zu halten, nicht abzugleiten, irgendeine Sicherheit zu gewinnen.

Langsam ordneten sich seine Gedanken.

Vor ihm ragte das Deck auf wie eine Wand. Menschen saßen dort oben, hatten alle irgend einen Halt, an dem sie sich sicherten, Tauwerk, Holz, Eisen, und wenn es nur die eisernen Schrauben der Deckbretter waren, auf denen sie lagen. Und neben ihm waren auch Menschen. Und irgend etwas Lebendes war ganz dicht an ihm, an seiner Brust, förmlich von ihm angenagelt an die Treppe. Er blinzelte mit den Augen, bis er klare Sicht bekam – die kleine Rheinländerin. Ihre Hand hatte er gefaßt und herangeholt.

Aber das Mädchen sah ihn nicht an, es sah seitlich zum Vater, der es von der anderen Seite schützte und stützte.

»Pa, o Gott, Pa!«

»Wir sind aufgerannt, Trix. Auf den Mohlenkopf, oder richtiger wohl auf die Felsen, die vor ihm in der See liegen.« Er schrie es in ihr Ohr, denn das Höllenkonzert ringsum übertönte alle menschlichen Stimmen.

»Und nun ertrinken wir?«

»Nein, nein. Wir sitzen fest, aber sie holen uns herunter. Nur Geduld müssen wir haben.«

Sie sah sich nach Paul um. Der Vater, natürlich, der tröstete, aber der andere, der fremde Herr, was sagte der? Der sah ihr gerade in die Augen und sagte in seiner langsamen Weise, ja, sie schien trotz aller Not noch um einen Grad bedächtiger: »Natürlich holen sie uns. Sehen Sie hinüber, da geben sie Signale.«

Sie hatte kein Verständnis für die Signale. Was bedeutete ihr das Wimpel, das dort stieg und fiel, der schwarze Ball, der an einer Rahe hin und her glitt? Schiffersprache, nur den Eingeweihten verständlich. Aber was sie verstand, das war das Toben der See, das Knirschen in den Brettern unter ihren Füßen, das langsame Hinübersinken des Schiffes nach der rechten Seite.

»Wir müssen höher hinauf«, sagte ihr Vater.

Wie steil das Deck emporstieg. Wer klomm da in die Höhe?

Hatte man von droben endlich erkannt, daß es Pflicht sei, die Tieferstehenden heraufzuholen, ehe die wilden Brecher sie niederzogen? Matrosen klommen, an Taue gebunden, nieder, warfen erst dem Mädchen, dann den zwei Männern Schlingen um den Leib, zogen die unter den Armen zusammen, verknoteten sie, und nun, von droben gezogen, von unten geschoben, ging es aufwärts. Viel war nicht gewonnen. Auf dem schrägstehenden Raum war schlechtes Verweilen. Alles, was an Seilen und Strickwerk von den Seeleuten zu erreichen war, mußte heran, die Schiffbrüchigen zu sichern. Dicht zusammengedrängt, schauernd vor Nässe in dem jagenden Sturm, übergossen von der Flut, hungrig, Todesangst im Herzen, hingen sie, mehr als sie saßen, dort über der Flut, und jeder fragte sich: Hält das Schiff so lange aus, bis sie uns holen? Kommen sie heraus aus dem Strom? Kommen sie bis zu uns heran?

Sie sahen einen zweiten Dampfer, größer als den ersten, der sich verzweifelt mühte, die Ausfahrt zu gewinnen, sich an die Mole so weit heranzudrängen, daß ein Verbindungstau geworfen werden konnte; sie sahen, wie er von den wütenden Wellen an die Steine geschleudert wurde, lange, ehe er heran war, nun wandte er. Schwer stampfend und nach Backbord überhängend wie ein Verwundeter, schleppte er sich zurück.

Und die Minuten gingen und die Stunden, und der ganze lange furchtbare Tag.

* * *

Adelheid hatte, nachdem sie das alte Landhaus verlassen, ihr neues Heim an der Ecke des Glockengießerwalls und der Ferdinandstraße gefunden. Da sah sie hinüber zur Alster, sah zur Kunsthalle mit den frischen Anpflanzungen, sah unten um die Straßenecke das starke Leben rennen und jagen, war mitten in der Stadt und hatte doch Weite und Helle und eine Aussicht in die Ferne.

Als einziges Mädchen hatte sie Hanna, den kleinen Herumtreiber, mit sich genommen, denn sie mußte auch zu sparen beginnen. Das Geld hatte nicht mehr den Wert wie vor dreißig Jahren, und nun, wo sie erhöhte Miete zahlte, und alles teurer wurde und immer teurer, kam es ihr zum Bewußtsein, daß die Zeiten gewesen waren, wo sie eine reiche Frau war. Nur eine bescheidene Wohlhabenheit war geblieben.

Ja, wenn Hamburg nicht Hamburg gewesen wäre. Wo so viele Dinge einfach absolut notwendig sind. Wo es so selbstverständlich war, daß ein Name wie der ihre immer dabei sein mußte, wenn gesammelt wurde, wo tausend kleine Dinge zusammengenommen so viel bedeuteten. Der große Weihnachten für die Dienstboten, für die Kinder in der Warteschule, für alle, die irgendwie im Laufe des Jahres im Hause etwas zu tun gehabt. Und die Geschenke in der Familie, zu Geburten, zu Konfirmationen, zu Hochzeiten, der regelmäßigen Gaben gar nicht zu gedenken. Lieber selber sich versagen, was sich versagen ließ, als sich unnobel zeigen gegen andere. Das saß ihr im Blut. Das war eben Hamburger Art.

Es war doch wohl gut, daß Paul das Haus verkauft hatte. Sie hätte es nicht lange mehr erhalten können. – Nur – hinausgehen tat sie nicht gerne mehr. – Es war Herbsttag und Hamburger Wetter. Der Regen schmierte, die Straßen patschten, alle Menschen liefen mit Regenschirmen.

Adelheid saß an ihrem Nähtisch am Eckfenster. Unten hielt eben die Straßenbahn an. Niemand Bekanntes, der ausstieg. Und doch klingelte wenige Augenblicke später die Etagenglocke, und Hanna, sehr sauber im rosa Kattunkleid und weißem Häubchen, kam und meldete die junge Frau Heinecken.

»Minna, bei dem Wetter! Und wie du naß bist. Kamst du denn eben mit der Bahn? Ich sah dich doch nicht aussteigen.«

»Ich bin gegangen. Ja, warum denn nicht? Sie haben den Fahrpreis jetzt wieder um fünf Pfennige erhöht. Alles steigt. Und ich habe doch den guten Regenmantel von dir bekommen, und den Lodenhut. Ich ging sehr gerne.«

»Na ja, wem nicht zu raten ist, dem ist nicht zu helfen. Von Hamm hierher! Was gibt es denn Neues?«

»Ja, ich wollte dir doch sagen, heute morgen ist ein Brief von Paul gekommen, den hat er am Tage seiner Abreise geschrieben. Er fährt über Rotterdam, mit einem englischen Dampfer.« Sie zog den Brief aus der Tasche.

»›Queen Victoria‹, richtig. Er will noch drei Tage in Rotterdam bleiben, aber ich denke, so am Mittwoch ist er hier. Heute ist Freitag, ja, Mittwoch gewiß, vielleicht schon Dienstag. Denk' mal, nun sind es fast fünf Jahre, seit er fortging. Ich freue mich so unbeschreiblich.« Wirklich war ihr Gesicht von einer leichten Röte gefärbt, ein Zeichen seltener Erregung bei ihr.

»Wenn er nur nicht gleich mit dem Vater wieder von seinen Zukunftsplänen anfängt. Paul wird jedesmal ganz heftig, wenn er davon schreibt. Er will doch, daß er einmal sein Nachfolger werden soll. Und immer hat er diese Idee von ›sich selbst ein Geschäft gründen‹. Das kann doch nie gehen.«

»So? Warum kann denn das nicht gehen?«

»Aber Adelheid! Woher will er denn das Kapital nehmen? Sein Vater kann es ihm doch nicht geben.«

»Ich glaube, sein Vater könnte es ihm gut geben, er will nur nicht. Na, lassen wir das. Sage mal, geht ihr heute abend ins Stadttheater?«

»Ja, wir müssen doch. Obgleich es bei diesem Wetter ein Entschluß ist. Ich will jetzt hin und die Billetts holen. Und dann nach der Sechslingpforte, da gibt es Freitags immer die frischen Bücklinge. Draußen in Hamm muß ich das Pfund mit zehn Pfennigen mehr bezahlen.« Sie hustete ein paarmal kurz und hart.

»Minna, deine ganze Sparerei ist ohne Sinn und Verstand. Du rennst dir an der Gesundheit ab, was du an deinem Portemonnaie ersparst. Jetzt bleibst du hier bei mir sitzen. Ich werde dir eine Tasse heißen Tee machen, und Hanna geht inzwischen zum Theater und zum Bücklingsmann. Die hat jüngere Beine.«

»Willst du der denn so viel Geld mitgeben? Wir möchten drei Billetts haben, und du –«

»Ich gehe nicht. Ich werde ja in der nächsten Woche noch öfter den Genuß haben, meinen Herrn Neveu auf den Brettern zu sehen. Kean ist kein Schauspiel, das mich lockt. Einmal ganz nett, aber häufiger –« Sie schellte.

»Hanna, Kind, du mußt zum Theater –« Und als das junge Ding gegangen: »Warum soll ich ihr übrigens das Geld nicht anvertrauen? Die verliert so leicht nichts.«

»Man kann doch nicht wissen. So eine, die solche Vergangenheit hat –«

»Sie hat glücklicherweise noch keine, und daß sie auch keine bekommt, dafür werde ich sorgen.« Dabei erinnerte sie sich an den Blick, mit dem ihr Neffe Fritz das niedliche Ding am Tage vorher betrachtet hatte. Ja, sie würde die Augen offen halten. Jedenfalls kam Hanna auch nicht in das Theater, so lange der jugendliche Liebhaber des Göttinger Theaters sein Gastspiel in Hamburg absolvierte. Rampenlicht hat eine verführende Wirkung.

»Ich muß so viel denken,« sagte Minna, als sie vor dem dampfenden Tee saßen, »wie das wohl mit Paul und Elfie ist. Damals, ehe er fortging, war mir manchmal unheimlich dabei. Ich hab' ja nichts bemerkt, aber Dora machte immer solche Anspielungen. Und daß Elfie noch nicht verlobt ist – sie ist nun doch auch einundzwanzig –, ich dachte immer, die wäre mit achtzehn verheiratet. Glaubst du, daß er noch an sie denkt?«

»Ja, Minna, eine alte Großmutter nimmt sich solch junger Mensch nicht zur Vertrauten. Kommt Zeit, kommt Rat. Und übrigens dachte ich in den letzten Jahren eher an meinen lieben Fritz.«

»Das erlauben doch Soltaus nie. Ein Schauspieler! Verzeih, er ist doch dein Neffe! Aber Schauspieler, die haben doch alle Verhältnisse.« Als sie das Wort ausgesprochen, wurde sie noch nachträglich rot.

»Jedenfalls haben sie mehr Temperament als andere Menschen und müssen das auch haben. Das ist keine große Bürgschaft für die Ehe. Ja, ich glaube, Fräulein Elfie wird ihren Eltern noch allerhand Rätsel aufgeben.«

Minna stand auf. »Ich muß nun doch zurück. Es wird sonst später mit dem Mittagessen.« Wieder hustete sie.

»Zurück fährst du. Ich habe noch Pferdebahnbilletts für die Hammer Bahn, die ich nicht mehr brauche. Aber selbstverständlich nimmst du sie. Und rennst nicht wieder bei solchem Wetter zu Fuß. Seit du die Rippenfellentzündung hattest, sollst du dich doch schonen. Dein Mann soll dir besser aufpassen.«

Sie wickelte Minna sorgsam ein und sah ihr nach, wie die aus dem Hause ging und in die Bahn stieg. Sollte man es glauben, so reich – denn sie waren reich, das ließ sich Adelheid gar nicht abstreiten –, und dabei dies Rechnen um den Pfennig. Minna lief sich die Schwindsucht an den Hals, um nur irgendwo eine Sache drei Pfennig billiger einzukaufen, und Paul – wenn er seinen Garten goß und die Rosen düngte – trug dabei die alten hellen Gesellschaftshosen und langen Gehröcke auf, die sonst im Schrank verkommen wären. Dazu gestickte Morgenschuhe an den Füßen! Adelheid lachte ihn aus, wenn sie ihn so sah. Er ärgerte sich über ihr Lachen, aber er blieb bei seiner Garderobe.

Himmel, wie der Regen gegen die Scheiben schlug. Nordwestwind. Der mochte draußen auf der See einen schönen Tanz aufführen. Wenn Paul nur erst in Rotterdam wäre. Sie rechnete nach. Kein Grund zur Sorge, der Dampfer mußte schon in aller Morgenfrühe dort gewesen sein. Und in wenigen Tagen war der alte Junge also wieder in Hamburg. Sie freute sich auf ihn.

Der Sturm wurde wirklich unheimlich heftig. Wie das in den Telegraphendrähten sang und pfiff. Ein Poltern und Knallen, da hatte er drüben den Schornstein heruntergeholt. Die Leute liefen zusammen, nein, es war noch gut abgegangen, niemand beschädigt. Aber sie wollte doch nachsehen, ob auch alle Fenster gut geschlossen waren.

Was für ein Glück, daß Paul schon glücklich im Hafen war. – –

Die Dämmerung kam früh. Adelheid hatte eine Bekannte zum Abend bei sich, eins von den alten Fräulein, die die unzähligen Hamburger Stifte bewohnen. Nach einem Leben voll Arbeit und Pflichttreue auf die Wohltaten anderer angewiesen.

Es war neun, als Fräulein Neumann ging, und draußen stürmte es noch immer. Adelheid klingelte nach Hanna. Die kam und brachte die Zeitung. Sie hatte ganz aufgeregte Augen, es mußte irgend etwas in dem Blatt stehen, was sie stark anfaßte. Während drinnen der Besuch war, hatte sie in der Küche gelesen.

»Ach Gott, Frau Heinecken, was da drin steht.«

»Haben sie wieder jemand umgebracht?«

»Ach nee. Aber ein großes Schiff ist aufgelaufen. Letzte Telegramme, da steht es, und die Menschen fallen alle davon 'runter, weil keiner sie holen kann, auf der letzten Seite, Frau Heinecken, und sie können sie vom Lande aus sehen, und wie sie winken und schreien, und können sie nicht reinholen in den Hafen –« Das Kind der Seestadt verstand gut genug, was die kurzen telegraphischen Nachrichten besagten.

»Das ist ja entsetzlich. Wo ist denn das passiert?«

»Ich glaub' bei Spanien. – Nein, Spanien nicht – wo war es noch – Holland. Ja, Holland –« Da riß Adelheid das Blatt auseinander, flog mit den Blicken über die Seiten, faßte an den Tisch –

»Frau Heinecken, o Gott, Frau Heinecken, Sie fallen ja um.«

»Ich – ich falle nicht um. – Ich –«

Hoek van Holland. Der Einfahrtshafen für Rotterdam. Und der Name des Schiffes –

Und die Eltern und die Schwestern saßen im Theater und lachten und amüsierten sich.

Herr Gott! Ob er auch zu denen gehörte, die die See fortgerissen? Ob er noch auf den splitternden Brettern hing und vergebens aussah nach Rettung?

»Hanna, meinen Mantel. Ich muß in das Theater.«

»O Gott, Frau Heinecken. Bei dem Wetter.«

Nein, es hatte keinen Zweck. Bis sie dahin kam, war das Theater aus. Und zu Hause fanden sie die Abendzeitung, und dann – –

Junge! Junge! Alter lieber Junge! Du da draußen in solcher Not! Bei diesem Sturm, und wir können keinen Finger heben für dich. Nur beten, beten – aber die Todesangst ließ keinen betenden Gedanken zum Schluß kommen. Herrgott! Herrgott! – Weiter ging es nicht.

Und der Sturm heulte und höhnte und pfiff durch die Straßen. –

Drinnen im Theater hörte man ihn nicht.

Das tolle, aufgeregte, hetzende Stück ging über die Bühne wie so manches Mal, und daß ein junger Schauspieler aus Göttingen als Gast auftrat, hätte das Publikum wenig berührt, wäre es nicht ein Hamburger Kind gewesen, dessen Name jedem bekannt war, der an der Börse zu tun hatte.

Ersten Rang saßen die Eltern. Ernst Sprekelsen sah sehr apoplektisch aus und hatte einen kurzen Atem. Aber heute, wo der Junge ihm zum erstenmal bewies, daß er wirklich in diesem Beruf etwas leistete, kümmerte er sich nicht um seine Gesundheit. Es war doch auch ganz nett, wenn die Leute so klatschten, wenn die Damen heiße Augen bekamen, so oft der Künstler sich verneigte, wenn man sich sagen konnte: Das ist nun deiner. Doch ein feiner Kerl!

Soltaus saßen dicht daneben, und Paul Heinecken mit seiner Frau, die recht fiebrig aussah. Sollte sich auch mehr schonen. Aber das steckte mal nicht in ihr.

Unten im Parkett die beiden verheirateten Heineckentöchter mit ihren Männern, dazu Dora, die zum Kummer ihrer Mutter noch gänzlich unverlobt war, Bernhard und Elfie Soltau.

Wenn Fritz vor dem Vorhang erschien, sich verneigte und die flinken Augen über das Publikum hingehen ließ, kniff Elfie vor Vergnügen Dora in den Arm. »Soll man es glauben, daß der Junge unser alter Fritz ist? Wie famos er aussieht! Küssen könnt' man ihn.« Sie hatte es zwar erst am Nachmittag getan, als er mit ihr draußen am Kuhmühlenteich spazierenging, aber das brauchte Dora ja nicht zu wissen.

Schließlich, was war dabei, wenn man einen so guten alten Freund – und so selten, wie man sich sah – Und wenn das bißchen Liebe nicht wäre – die Bälle und Diners bekam man auch satt.

So, nun war das Stück endgültig aus, nun ging man zu Pforte und aß ein gutes Abendbrot. Frischen Hummer und Austern – oder Kaviar im Eisblock – wenn Onkel Sprekelsen dabei war, konnte man in dieser Hinsicht ganz ruhig sein.

Unten in der Vorhalle standen die Menschen um einen alten Zeitungsverkäufer, der die Abendblätter ausrief.

»Was? Was? Einer von unseren Hapagdampfern?«

»Nein, nein, Red-Rose-Line. Englische Linie. Bei Hoek van Holland.«

»Was ist da los?« fragte Heinecken, der die Worte aufgefangen. »Ist ein englischer Dampfer untergegangen?«

Der Alte fing seinen Sang an: »Letzte Nachrichten! ›Queen Victoria‹ von London nach Rotterdam sitzt auf der Mole von Hoek fest. Wegen des Sturms sind keine Rettungsversuche möglich.«

Um die Heineckens sammelten sich Bekannte. Es war bekanntgeworden, daß Paul erwartet wurde, die verstörten Gesichter von Eltern und Geschwistern verrieten genug.

»Ich – ich – Hinfahren muß ich«, stammelte Paul Heinecken hilflos und sah Soltau an. Der war in geschäftlichen Dingen immer die treibende Kraft, der war auch in diesem entsetzlichen Augenblick wie ein Stab.

»Ob heute abend noch ein Zug geht?«

»Sie fahren nicht«, sagte Soltau bestimmt. »Sie können dort nicht helfen, und Ihre Frau hat sie sehr nötig.« Minna sah aus zum Umfallen. – »Aber Bernhard fährt. Bernhard, wo –«

»Hier. Ja, Vater. Ich kann noch den Nachtschnellzug erreichen, wenn ich sofort zum Bahnhof gehe.«

»Gut. Also du hast Vollmacht zu allem, wie, Heinecken?«

Der konnte nur nicken. Ihm flogen die Glieder. Immer in aufregenden Momenten kam diese Nervenschwäche.

»Du telegraphierst sofort. Auf das Geld kommt es nicht an. Was ich bei mir habe –« Sie traten zur Seite, heraus aus dem Strom der Menschen – fünf Minuten später schwang sich Bernhard draußen auf eine Straßenbahn und jagte zum Bahnhof.

In diesem Augenblick trat Fritz zu ihnen. Er hatte sich hastig umgekleidet und die Schminke oberflächlich entfernt, er wollte so schnell wie möglich seinen jungen Ruhm von den Angehörigen bestätigt haben.

Aufgeregte Worte flogen ihm entgegen. »Paul! Ja, Paul Heinecken! Wenn er nur noch am Leben war! Diese Zeitungen waren auch zu lakonisch in ihren Berichten. Kam es denn darauf an, wieviel ein Telegramm kostete, wenn doch solche Todesangst nach jedem Wörtchen haschte? Dachte denn keiner in der Redaktion daran, daß auch in Hamburg Angehörige der Passagiere sein konnten?

»Ich gehe zur Hauptpost und telegraphiere an den deutschen Konsul in Rotterdam«, sagte Soltau in seiner kurzen, energischen Weise. »Morgen früh kann Antwort da sein. Vielleicht ist Paul jetzt längst von dem Kasten herunter und liegt in einem behaglichen Hotelbett. So dicht vor der Einfahrt – es müßte doch toll zugehen, wenn sie da die Menschen nicht hereinbekommen hätten. Zeitungen bauschen alles auf. Nachher ist es nur halb so schlimm.« Seine frische Stimme hatte zwingende Beredsamkeit. Natürlich war es anzunehmen, daß alle Reisenden längst vom Dampfer herunter waren. Ein Atemholen kam in die schwere Spannung, man sah sich an, jeder sagte ein hoffnungsvolles Wort – schon schien sich die erste Not zu lösen.

Fritz stand neben Elfie.

Dieser vertrackte Paul! Daß der ihm immer in den Weg kommen mußte. Jeder sprach nur von ihm, als sei er, Fritz, nicht eben der bewunderte Held des Abends gewesen.

»Elfie,« er murmelte es dicht an ihrem Ohr, »sieh mich doch mal an. Bist du mit mir zufrieden gewesen?«

Ihre glänzenden Augen wandten sich ihm zu. Wie die erregt funkelten! »Denk' dir nur, da auf dem gescheiterten Schiff zu sitzen! So dicht am Lande! Und dann nicht hinkönnen. Ob Paul da auch noch so ruhig und sicher bleibt? Das muß doch ganz furchtbar aufregend sein.«

»Jedenfalls ist es dir im Augenblick eine sehr interessante Aufregung, wie ich sehe. Und da ich heute abend nicht mit einer ähnlichen Sensation aufwarten kann, empfehle ich mich. So leid es mir tut, ich kann jetzt nicht mit hinausfahren, der Direktor und einige Kollegen erwarten mich noch.«

Er log, und sie wußte, daß er log. Ihre Blicke glitten ganz langsam über sein Gesicht. Wie höhnisch er die Mundwinkel niederzog! Wie er die Augen einkniff. Ganz deutlich dachte sie: »Schauspieler«.

»Wenn du in der Stimmung bist, noch mit anderen Herren zu feiern, ich bin die letzte, dich abzuhalten.«

Sie gingen den übrigen nach, die draußen im Regen standen und nach Droschken riefen, denn Minna Heinecken war hart an einer Ohnmacht, und ihr Mann mußte sie förmlich in den Wagen heben.

* * *

Zwei endlose Tage und Nächte wütete der Sturm. Zwei endlose Tage und Nächte, von denen jede Stunde eine Ewigkeit war, hingen die unglücklichen Menschen im Angesicht des Hafens droben auf den schiefen Planken des langsam sinkenden Schiffes. Immer einmal und wieder einmal rissen die peitschenden Wassermassen Teile des Wracks hinweg, und immer wieder geschah es, daß einer und der andere erschöpft den letzten Halt fahren ließ und niederfiel in die Tiefe.

Was Menschenmacht versuchen konnte, das wurde versucht, vergebens. Kein Schiff kam durch diese Brandung so nahe heran, daß die verbindende Leine hinüberflog zum Wrack.

Bernhard Soltau war von Rotterdam ohne Aufenthalt weitergefahren zur Unglücksstätte. Wenn er gehofft hatte, Geld könne helfen, so sah er, ohne eine Frage getan zu haben, die Unmöglichkeit ein. Es brauchte kein Geld, keinen Lohn, keine Versprechungen. Die holländischen Seeleute rangen mit der See, setzten täglich ihr Leben ein für das Leben der Schiffbrüchigen, ohne nach Entgelt zu fragen – aber was kann der beste Seemann, wenn die See Herr ist über Menschenwerk.

Am dritten Morgen flaute der Sturm ab, und drei Stunden später waren alle gerettet, alle, die so lange Kraft besessen, sich auf den schlüpfrigen Brettern zu halten. Einige, die fest an Bänke und Bretter gebunden gewesen, lagen bewußtlos, spürten die Rettung nicht mehr, wie sie die letzte Not nicht mehr gespürt hatten, und einer, ein junger Überseer aus Brasilien, wachte aus dieser Bewußtlosigkeit nicht wieder auf.

Paul hatte die Augen offen, als das Boot herankam, das Rettung brachte, aber die wilde Erregung des ersten Tages, die Verzweiflung des zweiten, die ernste Ergebung der letzten Nacht, alles war untergegangen in gänzlicher Stumpfheit. Wie ein dunkler Traum war es, was um ihn geschah. Ein Traum von Flut und Wind, Sonne und See, Menschen und Schiff. Als sie ihn losbanden, fiel er hilflos vorn hinüber, denn seine Arme waren lahm und die Hände von Kälte und Salzwasser ganz steif geworden. Da ließ ihn etwas aus seiner Dumpfheit auffahren. Eine Stimme, die hatte er doch schon gehört? – die sagte: »Oh, Pa! Ich schlief gerade so schön –«, und dann sank dicht vor ihm ein Mädchen im Arm eines Lotsen nieder von den Brettern in das auf- und absteigende Boot.

Irgend jemand, den er auch kennen mußte, war mit einemmal neben dem Boot, faßte ihn, hob ihn heraus und fragte: »Bist du es denn wirklich, alter Junge? Paul, Paul, kennst du mich nicht?«

Was wollte der? Natürlich kannte er ihn. Er mußte sich nur besinnen. Er war so wunderlich müde – – Warum die Straße nur so stieg und sank, die war wohl auf das Schiff gekommen und die See warf sie herum. – Und dann vergingen die Gedanken ganz, denn sie flößten ihm Rum ein und heißen Tee, und die Wärme lullte die letzte mühsam ringende Kraft in festen Schlaf.

Im Krankenhaus kam er zu sich. Warum lag er denn da? Und was fiel Bernhard Soltau ein, ihn zu behandeln wie eine Wärterin den Säugling?

»Wie ist dir denn, Paul? Willst du mal trinken? Kaffee? Gut ist er, stark und heiß. Willst du etwas essen? Beefsteak mit Ei? Oder ein Hühnchen?«

Um Gottes willen, nur kein Hühnchen oder Täubchen. Das Geknabber mit den Knochen! Natürlich hatte er Hunger, mächtigen Hunger. Immerhin, bis die Bouillon kam, sollte man ihm sagen, was dies Ganze bedeutete.

So. – Also so war das! – Zwei Tage lag er hier und schlief wie ein Toter. Und da draußen, da schlugen die wilden Nordseewölfe die letzten Trümmer der »Queen Victoria« in Splitter. – Ja, nun wußte er wieder Bescheid. Als er sich strecken und aufrichten wollte, mußte er stöhnen. Alle Glieder wie zerbrochen und zerschlagen. Und die Augen so entzündet. – Na, das gab sich. Alles kam wieder in die Reihe, wenn das Leben geblieben war.

»Nett von dir, Bernhard, daß du dich so nach mir umsiehst. Bist du denn jetzt in Rotterdam, oder wie kommst du hierher?«

Dann erst die Erkenntnis, daß viele Herzen in großer Not um ihn gewesen, und mit dieser Erkenntnis ein heißes Liebesgefühl tief drinnen in der Brust. Habt nur noch ein bißchen Geduld, nur wenige Tage, dann bin ich bei euch, dann will ich euch alle Sorge und Liebe vergelten. Dann wollen wir so glücklich zusammen sein.

Ach, Leben war doch gut. Schon das Atmen. Wenn es auch ein bißchen weh tat in der Brust – es war doch warme, reine Luft, die aus und ein ging im Körper. Und das weiche Bett. Die warme Decke. Die gute Suppe. Das rein animalische Behagen umgab ihn wie ein laues Bad.

Bernhard sprach von daheim. Von den beiderseitigen Eltern, den Geschwistern – Paul horchte nur immer nach dem einen Namen – dann auch von Fritzens Erfolgen, und wie sie die Nachricht aus Holland im Theater erfahren.

»So hab' ich ihm noch seinen Abend gestört«, sagte Paul gutherzig. »Der arme Kerl.«

»Der braucht kein Bedauern. Er versteht noch immer, was er schon als Junge ausgezeichnet konnte: Sich stets eine Extrawurst zu verschaffen. Um den laß dir keine grauen Haare wachsen.«

»Und Elfie?«

So wenig sprach Bernhard von der Schwester. Man mußte ein bißchen anstoßen.

»Oh, Elfie!« Dann eine Pause. – »Sie hält uns ein bißchen in Atem. Letzten Winter erwarteten wir sicher, sie würde sich mit dem Sohn von Bürgermeister Grohmann verloben. Mit einemmal war es vorbei, und wir bekamen allerlei Spitzen zu hören von den guten Freunden. – Es war nicht das erstemal, daß sie es so weit kommen ließ. Aber sie ist zu lebhaft. Es geht mit ihr durch, und sie denkt sich nichts dabei.« Er glaubte die letzten Worte selber nicht.

So. Also beinahe verlobt. Und schon öfter so – Ja, was hatte er denn erwartet? Daß sie diese langen Jahre immer nur auf Paul Heinecken warten sollte? Nur an ihn denken, wie er nur an sie gedacht hatte? Aber er war langsam und schwerfällig, die Treue saß ihm im Blut, Ruhm war gar nicht dabei. Und sie war voll Leben und Launen. Und wie sie war, so hatte er sie lieb.

Dann kam ein Gedanke, der war so schön, daß dem guten Jungen das Herz ganz heiß wurde. Wenn sie doch nur seinetwegen alle andern Bewerber ausschlug? Wenn da immer im letzten Winkel ihres Herzens der Gedanke lebte: »Erst Paul wiedersehen. Erst wissen, wie der denkt, wie der fühlt!« Wenn sie, die zwar selten schrieb, »schreiben ist nicht mein Metier –«, wenn sie auf ihn wartete?

»Bernhard, wann können wir fahren?« Und mit einem kläglichen Versuch, den zu täuschen: »Die Eltern werden sich sehnen.«

»Wenn du dich bis übermorgen erholt hast – am Sonnabend könnten wir in Hamburg sein.«

Drei Tage. Drei Tage nur noch, dann kam der Himmel auf Erden.

»Bernhard, man soll im Glück doch auch an andere denken, da war ein Herr mit mir auf dem Schiff, ein Rheinländer mit seiner Tochter, weißt du, wo die hingebracht sind?«

»Weißt du den Namen?«

»Es war keiner von den seltenen. Müller.«

»Ich glaube, die sind von Verwandten abgeholt worden. Solch blonder Mann und ein kaum erwachsenes Mädchen? Sie waren mit dir im Boot?«

»Ja, die werden es gewesen sein.«

»Soviel ich weiß, in Privatpflege. Aber ich kann mich ja umhören. Kanntest du sie von London her?«

»Nein. Erst auf dem Schiff. Aber in solchen Tagen, da steht man als Mensch zum Menschen. Wir haben uns gegenseitig geholfen, so gut man eben konnte.«

Aber Herr Müller war mit seiner Tochter zu Bekannten auf ihren Landsitz in der Nähe von Hoek gefahren, die Adresse wußte man nicht – sie hatten Paul aus den Augen verloren wie er sie – was sich kaum nähergetreten, ging bereits wieder auseinander.

* * *

In Soltaus bester Stube sahen Paul und Elfie sich wieder. Im Beisein von Frau Mercedes. Die wirkte immer wie ein Zügel auf die Tochter.

Also das war sie? So hatte sie sich entwickelt?

Ganz die vollendete junge Dame. Wie sie ihn begrüßte – freundlich, beinahe herzlich, und doch durchaus in den Grenzen. Wie sie ging und stand! Wie sie gekleidet war! Alles erste Gesellschaft bis zu jeder Handbewegung. Aber ob es auch dazu gehörte, daß sie einmal wie zufällig an ihren Hals rührte und dabei Paul ansah? Dem wurde glühend heiß. – Sie hatte also nicht vergessen. Und das Kettchen an ihrem Halse, von ihm gekauft, als er noch ein halber Junge war, hatte sie gemahnt, so oft ein anderer sich ihr werbend genähert. – Daß sie die Kette längst nicht mehr trug, darauf wäre er in seiner Ehrlichkeit nie gekommen.

Wie gern er nur eine Minute mit ihr allein gewesen wäre.

Die ganze nächste Woche versuchte er, diesen Zweck zu erreichen, leider immer vergeblich. Ja, das Glück fällt nicht jedem auf den ersten Griff in den Schoß.

Dafür kam ihm ein anderes ganz unerwartet.

Nach den Briefen des Vaters hatte er sich auf einen langen, zähen Kampf gefaßt gemacht, bis er sein Ziel, ein eigenes Geschäft zu beginnen, erreichen würde.

Doch die Tage, wo er den Sohn in Todesnot wußte, die hatten Vater Paul hart angegriffen. Er liebte ihn doch aufrichtig, wenn es auch eine langweilige und pedantische Liebe war. In den Tagen hatte er es Adelheid versprochen: »Wenn ich ihn zurückbekomme, dann will ich ihm nachgeben. Er soll seinen eigenen Weg gehen.«

Und im stillen hatte er dazu gedacht: »Fünfzigtausend kann ich ihm geben. Fünfzigtausend. – Damit hat mancher anfangen müssen. Und er wird froh sein, wenn er sie hat.« Als die Nachricht kam: Gerettet – hatte er sich zu dreißigtausend entschlossen. – Als Paul zuerst wieder am väterlichen Tisch saß und trotz England und vierjähriger Abwesenheit noch ganz der alte war, sagte er sich: Zwanzigtausend tun es auch. Erst abwarten, was er erreicht damit – und endlich waren es zehntausend, die der Sohn erhielt.

Zehntausend! Und damit wollte er ein Welthaus gründen.

Aber es war schon viel wert, daß man ihn gewähren ließ. Und wie er immer das, was er begann, vorher bis in die letzte Faser geprüft hatte, so hatte er auch längst in seinen Gedanken den künftigen Bau bis in jede Einzelheit gegraben, gerichtet, unter Dach gebracht.

Er konnte beginnen, und er begann.

Das Kontor war das erste.

Im Hause von Sprekelsen und Soltau waren die ganzen oberen Räume zu Kontoren eingerichtet worden. In dem Zimmer des Flügels, da, wo vor vierzig Jahren Adelheids Jungmädchenzimmer gewesen, schlug Paul seinen Sitz auf. Ohne Lehrling, ohne Kommis, ohne Buchhalter. Und den größten Teil des Tages war er unterwegs. –

Lebensmittelhaus. Das war der Grundgedanke. Lebensmittelhaus für alle, die in Übersee leben, die auf Konserven in allen Formen angewiesen sind, die vor allem auch auf die absolute Reellität der Firma angewiesen sind, die diese Konserven sendet.

Das Feld war fast unübersehbar groß. Um mit der Aussaat zu beginnen, mußte man sich mit einem ganz kleinen Teil begnügen.

Zuerst Milch. Ungezuckerte Milch in Dosen, die die Ernährung kleiner Kinder in den Tropen ermöglichte. Bisher hatte man nur die dicke, übersüße Konservenmilch, die wie Sirup war.

Er hatte die Adressen von deutschen und Schweizer Firmen, die solche Dosenmilch bereiteten. Jetzt fuhr er persönlich zu den Besitzern und setzte ihnen auseinander, was er wünschte. Man zuckte die Achseln. Ungezuckert? Unmöglich. Die Milch würde sich nicht halten. Sie so lange kochen lassen in den Gefäßen? Sehr unsichere Sache. Immerhin, der eine, ein junger, unternehmungslustiger Herr wollte doch sehen, wie sein Chemiker sich zu der Sache stelle. Zweifellos konnte es, wenn es gelang, eine gute Sache werden.

Dann Fleischwaren. Nicht das ewige argentinische Corned beef, das hatten sich die Leute da draußen ja zuwider gegessen. Es mußte frisches Fleisch sein, oder doch schmecken wie frisches. Es gab da schon ein paar Fabriken, die machten dergleichen. Beefsteak und Rouladen und Wiener Würstchen und Leberwurst, alles in Dosen, aber hielt sich das Zeug in Frost und Hitze? In der Tropenglut faulten die Sachen drinnen im Blech. Paul kaufte sich von allem Derartigem zusammen, was er bekommen konnte. Ließ es im einsetzenden Winterfrost auf dem Dach vor dem Kontor frieren, bis die ganzen Dosen Eisklumpen waren, und packte sie dann hinter seinen eisernen Ofen. Da sprühte ihnen die Glut um den Blechmantel, als sollte er schmelzen. Nach vier Wochen öffnete er eine nach der andern. Nur wenige hatten das Experiment vertragen. Die aber wurden mit Namen der Firma in das Hauptbuch eingetragen als künftige Stützen des Hauses.

Zehntausend Mark. Schändlich wenig. Um wenigstens zu verdienen, bis das Auslandsgeschäft seine Spesen abwarf, lief er von Pontius zu Pilatus und spielte den Agenten in Reis, in Seife, in Likören, in Kakes, nie müde, nie verdrossen, immer mit offenen Augen und Ohren.

Soltau, der ihn als Jungen nie so recht ernst genommen, gewann Hochachtung vor ihm. Nach einem halben Jahr fragte er einmal: »Willst du Hilfe von mir, Paul? Dein Weg ist weit und nicht ganz leicht.«

»Danke, Onkel Soltau. Finanzielle Hilfe ist nicht so nötig für den Augenblick. Ich schlage mich schon durch. Aber eine große Gefälligkeit – wenn du mir die erzeigtest –«

»Na –«

»Morgen spricht Swensen im Verein für Kunst und Wissenschaft über seine Reise nach dem Südpol. Wenn du mir ein paar empfehlende Worte für den Herrn geben wolltest. – Er ist doch ein Bekannter von dir.«

»Empfehlung an Swensen? Soll er dir Eisbärfleisch mitbringen für deine Dosen? Geschäftchen zwischen Pol und Äquator vermitteln, wie?«

»Wenn auch nicht das – Ich habe ein Anliegen an ihn. Nur, daß ich zuverlässig bin, kein Luftikus und Projektenmacher, sondern ein solider Kaufmann. Das andere sag' ich ihm schon selber.«

Zwei Tage später saß Paul dem Forschungsreisenden gegenüber. Ein bißchen beklommen war ihm, denn der Verkehr mit ganz Fremden hatte bei ihm eine Unbehaglichkeit nicht ganz genommen. Aber er wußte, was er wollte, und das war schließlich die Hauptsache.

»Ich bin Anfänger, Herr Doktor. Und es liegt mir daran, daß die Menschen Vertrauen zu mir gewinnen. Ich würde gern um der Sache selber willen für die Expedition beisteuern, ich hörte, daß sie mit Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Leider bin ich keiner von den großen Hamburgern, die das können. Mein Beitrag besteht nur in Lebensmitteln, und ich muß es Ihnen überlassen, ob Sie die annehmen wollen.«

»Und der Entgelt? – Denn nach Ihren Worten darf ich annehmen, daß irgendeine Gegenleistung unsererseits damit verbunden sein soll.«

»Nichts weiter als – wenn meine Sachen sich als tadellos erwiesen haben – Sie mir das nach Ihrer Rückkehr bezeugen.«

Der Forscher musterte den jungen Mann eine Weile mit seinen scharfen Blauaugen. »Und das lohnt sich für Sie?«

»Ja, Herr Doktor, das würde sich für mich lohnen.«

»Eine Art Reklame, scheint mir?«

»Ja, Herr Doktor, eine Art Reklame. Aber ich denke, keine, die nicht vor jedermann bestehen kann. Sehen Sie – ich will Sie nicht lange aufhalten, aber ich darf wohl eine kurze Erklärung geben – das Ausland ist uns lange zuvorgekommen, und Amerika kommt uns bei dem Kampf um den Platz an der Handelssonne immer mehr zuvor. Wodurch? Durch seine Reklame. Sie sehen es da drüben an allen Hauswänden: Pryms Elixier ist das beste. Sie lesen es in der Tram – es flackert in Feuerbuchstaben über den Dächern, wenn Sie abends aus dem Fenster sehen, Sie hören die Drehorgeln eine Melodie leiern, und der Mensch singt dazu ein Lied: Pryms Elixier is the best. Es hämmert sich Ihnen schließlich die Überzeugung ein: Nichts über Pryms Elixier. Nun, ich hab' es schließlich versucht – auch nicht besser als all diese Schlucks, die sie da Likör nennen. Aber weil der Mann das Geld dafür ausgibt, bringt sich ihm das Geld auch wieder ein.«

»Sie wollen also Ihr Geschäft auf Reklame aufbauen.«

»Und auf Solidität. Solidität ist das erste. Damit die aber bekannt wird, brauche ich die Reklame. Erst müssen die Leute zu mir kommen, weil ich es ihnen in die Ohren hämmere: Bei mir kauft man am besten – dann kommen sie nachher von selber, weil sie einsehen, daß ich ihnen tatsächlich die besten Waren liefere.

Man hat mir gesagt, der größte Feind aller Expeditionen in die Polarländer sei der Skorbut, der aus Mangel an frischem Fleisch entstände. Nun, Herr Doktor, ich will und kann Ihnen anderes liefern als Salzfleisch. Was in den Dosen ist, die ich Ihnen zur Verfügung zu stellen mir erlaube, das verträgt Hitze und Kälte, und bleibt so gut wie eben gekocht. Dazu möchte ich Milch fügen und Gemüse. Ich kann natürlich nur einen kleinen Teil, nur einen sehr kleinen Teil, von all dem liefern, was Sie während zwei Jahren da brauchen, vielleicht wird Ihnen aber dieser kleine Teil in Krankheitsfällen nützlich sein. Und wenn ich später sagen kann: Die ›Nixe‹ hatte von meinen Waren an Bord, und Doktor Swensen kann es bestätigen, daß alles tadellos gewesen und geblieben ist – – Für mich wäre das sehr viel.«

Paul fühlte Schweißtropfen auf seiner Stirn. Der kluge Herr da vor ihm ließ ihn sehr herankommen. Man sah es ihm an, er war an allerlei Vorschläge gewöhnt, und es waren sicher viele darunter gewesen, die nichts taugten.

»Herr Otto Soltau hat Sie mir empfohlen«, sagte er endlich. »Das ist ein Mann, zu dem ich unbedingtes Vertrauen habe. Daraufhin will ich Ihnen sagen: Gut, senden Sie uns, was Sie für gut ansehen. Aber mehr als eine etwaige spätere Empfehlung kann ich Ihnen nicht bieten. Wir sind schon mit unseren Einkäufen nach allen Seiten hin gebunden. Was man uns als freiwillige Spende bietet –«

Paul atmete auf. – Ein Schritt vorwärts. – Ja, einer, der erst in zwei Jahren seine Früchte tragen würde, und wenn das Schiff nicht zurückkehrte, trug er sie nie – aber der kluge Kaufmann baut weit hinaus.

Er sprach von diesem Geschäft nur zu einem Menschen, zur Großmutter. Sie war die einzige, die ihn verstand. Die einzige, die mit ihm plante und hoffte.

* * *

Fritz Sprekelsen war zu Hause. Die Theater hatten für den Sommer geschlossen. Außerdem wünschte der Vater ihn bei sich zu haben. Der alte Herr hatte einen leichten Schlaganfall gehabt, ging zwar wieder herum, trug aber den rechten Arm in der Binde, denn der wollte sich nicht rühren, und außerdem befand sich die gute Laune gänzlich auf Reisen.

»Du glaubst nicht,« sagte der Sohn und schlenderte neben Elfie durch die Gärten, die jetzt so wenig begangen wurden, »du glaubst nicht, was das für ein Stück Arbeit ist, den alten Herrn zu unterhalten. Alles will er wissen, und alles versteht er falsch. Aber schwerhörig – Gott bewahre. Im Leben wird er nicht schwerhörig. Wir sollen nur ordentlich den Mund aufmachen. Wenn ich mittags zu Mama sage: Bitte, gib mir doch den Senf, wittert er schon ein Komplott.«

»Na, bei uns ist es auch nicht zum schönsten. Der Vater hat zu viel im Geschäft zu tun, seit dein Vater nicht mehr kommt. Die Mama hat mit ihren Gallensteinen zu tun, Bernhard spielt den älteren Bruder mit mehr Eifer als Glück – ich soll dies nicht, ich soll das nicht – und Hans will mal wieder zurückkommen nach Deutschland, und die Eltern haben Angst, er kommt doch noch mit einer sehr merkwürdigen Schwiegertochter an.« Sie lachte vor sich hin. »Ich möchte ja auch nicht meine Mutter sein. Wenn sie mich nur erst verheiratet hätte.« Wieder ein Lachen. »Du glaubst nicht, was ich für Mühe habe, Paul davon abzuhalten, daß er zu Papa geht. Ich bin ihm erst ausgewichen, soviel ich konnte. Dann, als er dringender wurde, hab' ich gesagt: Beweise doch erst, daß du was bist. Du weißt, Papa will Erfolge sehen. – Nun aber, wo er vorankommt, nun will er mich sicher haben.«

»Und natürlich nimmst du ihn und fährst einmal mit Vieren und verachtest den ehemaligen Kameraden.«

»Ach, Fritz, du bist solch ein leichtsinniges Huhn – zu leiden bist du ja gut, aber das kannst du nicht verlangen, daß ein Hamburger Kaufmann dir die einzige Tochter gibt.«

»Mädel, wenn du nicht so süß wärest, ich hätte dich längst nicht mehr angesehen. Aber es muß mit dem Kuckuck zugehen – immer wieder komm' ich zu dir zurück. Du solltest dir doch die Sache überlegen. Meine Gage ist ja nicht groß –«

»Fritzchen, du kommst ja allein nicht mit ihr aus.«

»Ausreden lassen. Meine Gage ist ja nicht groß, aber ich bekomme doch einen netten Zuschuß, und dein Vater wird dich auch nicht verhungern lassen. Und denk' dir mal, wir zwei zusammen – es müßte doch ein fideles Leben werden. Himmelherrgott, alle Tage ließen wir den Teufel tanzen.«

»Ja, aber ehe es dazu käme, ließe der Papa dich tanzen, aus seinem Hause nämlich, wenn du den Mut hättest und gingest zu ihm. – Es ist häßlich von ihm, aber er hat einmal gar kein Vertrauen zu deinen moralischen Qualitäten, Fritzel.«

»Man müßte – man müßte – wenn ihm keine Wahl bliebe – Helgoland ist schließlich mit der ›Freya‹ in vier Stunden zu erreichen.«

»Ach, du bist ja ganz und gar verdreht.«

»Und mündig bist du. Die paar notwendigen Papiere könnte man sich am Ende auf alle Fälle verschaffen –«

»Nun hör' schon auf, bitte.«

»Elfie! Hast du mich nun lieb, oder hast du es nicht?«

Da hing sie an seinem Halse und küßte ihn und lachte und schwor, er sei doch der aller-allernetteste und der aller-allerliebste, und wenn sie nur den Papa herumbekämen, sie würde ja ganz gewiß seine Frau – wobei ihr allerlei verführerische Bilder von Kunst und Bühnenglanz bestechend durch den Sinn fuhren.

»Komm beiseite. Da kommt jemand«, flüsterte Fritz. Sie traten hinter dichte Fliederbüsche und spähten. Paul kam den Weg her aus dem elterlichen Garten, hatte einen schwarzen Anzug an, sah sehr tadellos aus, trug Rosen in der Hand, ging durch die Pforte in den Soltauschen Garten. – Die beiden Lauscher blickten sich an. – So, nun ging das Schicksal seinen Gang.

»Elfie,« sagte Fritz hart, so hatte er noch nie mit ihr gesprochen, »jetzt kommt es zum Schluß. Nun muß ich in einer Stunde wissen, ob du mich wirklich lieb hast, oder ob das alles nur Spielerei von dir gewesen ist. Und wenn dein Vater dich mir nicht gibt –«

»Hab' doch Geduld, Schatz. Ich kann doch nicht mit der Tür in das Haus fallen.«

»Gut, dann gehe ich jetzt den gleichen Weg wie Paul. Zwar ohne Rosen, aber mit besseren Rechten.«

»Nein, nein, um Gottes willen. Ich will doch alles tun was du willst. Alles.«

»Auch Helgoland –«

»Ja, ja. Auch Helgoland.«

»Dann geh' hinein und sieh zu, wie du dich aus dieser Zwickmühle herauswindest, wenn du meine Hilfe nicht willst.«

Elfie ging, aber sie ging nur bis auf den Flur und lauschte an der Tür. Drinnen klang die Stimme des Vaters, Worte konnte sie nicht verstehen, und dann hörte sie die Mutter die Treppe herabkommen, da huschte sie lieber davon in das eigene Zimmer.

Wenige Augenblicke später hörte sie ein Klopfen an der Tür: »Fräulein Elfie –« Ach, das war das Mädchen.

»Ich bin nicht da, Gesa, ich bin ganz und gar nicht da.«

So, die ging wieder.

Es währte eine kleine Viertelstunde – Stimmen unten im Flur – Paul ging. Ob er seine Rosen wieder mitnahm?

Nein, die lagen auf dem Sofatisch, als sie hinunterkam, harmlos und heiter. Die Mutter sah sie ernst an.

»Es ist wieder einer dagewesen, Elfie, und hat bei Papa um dich angehalten.«

»Und er sagte, du hättest ihm ein Recht dazu gegeben.«

»Ich? – Ein Recht? –«

»Es war Paul Heinecken.«

»Ach Gott, Paulchen.«

Frau Mercedes hörte trotz des Lachens den falschen Klang in der Stimme. Elfie spielte Komödie. Und wie die Mutter die Tochter stehen sah, dicht am Fenster, das volle Sonnenlicht auf den Zügen, sah sie auch im Gesicht Spuren, die nicht hätten sein dürfen. Die feinen Brauen waren mit Tusche nachgezogen, und auf der Stirn und gegen das Ohr hin sah man Puder. So etwas tat man doch nicht in Hamburg.

Es war vulgär. Es streifte an das Zweideutige. Und dazu hatte Elfie Soltau Kunstgriffe wirklich nicht nötig.

»Du sagst, Paul hat kein Recht zu seinem Antrag? Das wundert mich. Er ist einer, der sicher geht.«

»Papa, ich bin gewiß dem guten Menschen immer herzlich gut gewesen, so wie es unter alten Kinderfreunden ist. Daraus muß er etwas ganz anderes herausgelesen haben. Er hat – na ja – er hat ein paarmal Andeutungen gemacht – ich hab' ihm immer zu verstehen gegeben, daß die nicht angebracht wären – augenscheinlich hat er nicht recht verstanden. Es ist mir gräßlich peinlich.«

»Mir auch«, sagte Otto Soltau. »Daß gerade bei dir die Herren nicht verstehen, wenn du abwinkst. Und dann Paul – ein so naher Freund des Hauses –«

»Wie oft sollen sich diese Sachen noch wiederholen?«, fragte die Mutter. »Es ist keine Ehre für ein junges Mädchen, wenn man von ihm sagt: die hat viele Körbe ausgeteilt.«

Elfie zuckte die Achseln und schob die Unterlippe vor. »Wenn ich den haben darf, den ich will –«

Beide Eltern horchten auf. Was kam da? Und so ganz unerwartet?

»Ich will Fritz Sprekelsen.«

»Quatsch!«

»Papa!«

»Das ist ja ein ganz dummer Schnack. Du hast mitunter Ideen, Ideen –«

»Ich hab' nicht mitunter Ideen – wie du das nennst. Ich will Fritz und keinen andern. Er ist aus gerad' so guter Familie wie Paul. Er ist gerad' solch alter Kamerad wie Paul. Er ist gerad' so vermögend wie Paul –«

»Er ist gerad' solch Leichtfuß wie Paul solide. Er ist gerade so unzuverlässig wie Paul vertrauenswürdig. Er ist gerade solch Schürzenjäger wie Paul ein anständiger Kerl –«

»Und ich will ihn. Ihn und keinen andern.«

»Dann bekommst du also keinen.« Soltau lachte. Er nahm diese Reden seiner Tochter einfach nicht für Ernst. Frau Mercedes aber sah in den Augen des Mädchens eine Härte, die warnte.

»Wir wollen heute nicht weiter darüber reden«, meinte sie. »Elfie wird sich schon selber sagen, daß Fritz keine Bürgschaft gibt für ein dauerndes Glück.« Sie sah ihren Mann an, der schwieg. Seine Frau mochte Recht haben, man mußte die Sache nicht auf die Spitze treiben.

Elfie ging. In ihrem Zimmer stand sie eine Weile nachdenklich und starrte vor sich hin. Der Vater würde nicht nachgeben. Wenn er auch so tat, als sei das nicht des Beredens wert – sobald er den Ernst erkennen würde, würde er sehr viel sagen und nichts Angenehmes.

Und mit einemmal schien es ihr das einzige Glück der Welt, mit Fritz zu leben. Der so lachen konnte. Der so viel Dummheiten angab. Der küssen konnte – küssen – Ihre Wangen begannen zu brennen.

Sie war keine sinnliche Natur. Was aber in der Hinsicht in ihr geweckt worden, das hatte Fritz geweckt. Und er hatte das andere, das ihr im Blut lag, das Abenteuerliche, die Sucht nach immer neuem Erleben, nach Dingen, die man nicht tun durfte und doch tat, den Wunsch, herauszukommen aus ehrbaren, soliden Verhältnissen, all das hatte er aufgepeitscht mit seinen Erzählungen vom Theaterleben, von Liebesabenteuern, von Reisen, Maskenfesten, fremdartigen Menschen.

Also – Helgoland.

Das hatte auch einen Reiz.

So ganz allein hinausfahren in die Welt, hin zur alten Felsenklippe im Meer, wo die Felsen rotglühend in der Abendsonne standen, die Wellen an ihren Fuß sprühten, elegante Menschen in den Fischerbooten zur Düne hinüberfuhren – und all die vergnügten Wochen, die sie so manches Mal in der Sommerzeit dort verlebt hatte, standen vor ihr.

Da zusammen sein mit einem, der allein einen so ganz verstand, verstand in allen Torheiten und allem heißen Lebensdrang – natürlich fuhren sie nach Helgoland.

Warum war der Vater so gräßlich altmodisch?

Warum wollen die Eltern über das Glück ihrer Kinder entscheiden? Sollen sie die doch gehen lassen und ihr eigenes Glück oder Elend finden. Sie wollte sich das Leben selber bauen!

* * *

Bei Adelheid Heinecken ging das Telephon.

»Ja – Du da, Minna? Ja, ich bin selber hier.«

»Was? Ob Elfie Soltau bei mir ist? Nein, wie sollte sie, die kommt doch nur bei offiziellen Gelegenheiten.«

»Was? Nicht nach Hause gekommen seit heute früh? Und jetzt ist es halb neun? Ja, wenn euch das lieb ist, komme ich hinaus. Obgleich ich ja nichts helfen kann.«

Draußen in Hamm furchtbare Erregung.

Am Morgen hatte es in aller Frühe eine Auseinandersetzung zwischen Vater und Tochter gegeben, dann war Soltau zum Geschäft gefahren, und Elfie hatte die Musikmappe genommen, sich zu Fräulein Schneeklut zu begeben. Dort war sie nicht angekommen, man hatte nachgefragt.

Zum Frühstück war sie nicht gekommen, nicht zum Mittagessen – ja, das hatte sie auch sonst schon gemacht, wenn sie bei Freundinnen war. Immerhin, Mercedes hatte begonnen, an Bekannte zu telephonieren.

Mit der Abendpost um acht ein Brief von ihr, in der Stadt abgestempelt, da der Vater sie ins Unglück bringen wolle, würde sie ihren Lebensweg jetzt allein suchen. Sie käme nicht eher heim, als bis alles in Ordnung.

»Ja, um des Himmels willen, Mercedes, was heißt denn das?«

»Liebe Adelheid – Ich kann es nicht sagen. Es ist so entsetzlich.«

»Du glaubst doch nicht, daß sie sich das Leben – Aber so klingt das doch nicht.«

Da flüsterte Minna, denn Frau Mercedes brachte die Lippen nicht auseinander: »Fritz Sprekelsen ist auch heute früh fortgegangen und auch noch nicht wieder da.«

»Fritz – Ja, was hat denn der –« Plötzlich Blitzlicht.

»Spielte denn etwas zwischen den beiden?« Und heimlich der Gedanke: »Armer Paul.«

»Sie sagt, sie lieben sich schon lange«, murmelte die Mutter. »Wir wollten es nicht glauben. Vorgestern sprach sie davon. Otto lachte. Gestern nachmittag kam er selber – Adelheid, er ist dein Neffe, und wir stehen uns so gut mit den Eltern – aber hättest du ihm eine Tochter anvertraut?« Adelheid schüttelte den Kopf.

»Otto verlangte, daß sie noch wenigstens ein Jahr warten sollten. Im letzten Jahr hat Fritz es zu bunt getrieben, sein Vater spricht ja ganz offen davon. Er müßte doch gewisse Garantien bieten, daß er ein anderer werden wollte – Und heute morgen –« Wieder verstummte sie.

Die drei Frauen saßen allein, denn die Männer, Soltau und Bernhard und Paul Heinecken waren unterwegs. Sie waren zu den verschiedenen Bahnhöfen gewesen, hatten dort unter allerlei Vorwänden sich erkundigt – peinlich, gräßlich peinlich – die Blicke – die mit Lächeln gegebenen Antworten – alles hatte nur ein Nichts ergeben.

Unten an der Haustür ging die Klingel.

Telegramm.

Und dann saß Frau Mercedes und hatte die Hand mit dem Blatt fallen lassen und starrte Adelheid an und wollte sprechen und konnte nicht, und Minna nahm ihr das Papier aus der Hand, denn sie mußten nun doch alle wissen, woran man war – und da stand lakonisch: »Soeben getraut. Bitten um euren Segen.« – Aufgegeben auf Helgoland, sechs Uhr dreißig.

Mitten in dem stolzen Hause stand grinsend der Skandal.

* * *

Leben und Tod gingen durch die Straßen. Das Leben strich über ein paar Kinderaugen, da öffneten sie sich zum Licht, der Tod strich über alte, müde Lider, und sie schlossen sich zur letzten großen Ruhe.

Im Heineckenwinkel standen Wiege und Särge.

Der erste, der ging, war Ernst Sprekelsen. Wieviel Anteil an seinem Tode der Leichtsinn des Sohnes hatte, blieb unentschieden. Jedenfalls hatte er den ungeratenen Sprößling im Testament auf den Pflichtteil gesetzt mit der Bestimmung, daß das Vermögen der Mutter bis zu ihrem Tode verbleiben solle. Fritz, der zur Beerdigung gekommen war, aber ohne seine junge Frau, machte dazu sein gleichmütigstes Gesicht. Ihm sollte keiner nachsagen, er sei geldgierig. Im stillen dachte er sich, die Mutter, die ihm nie einen Wunsch versagt, werde in Zukunft sicher nicht hartherziger sein.

In Sprekelsens Haus zogen die Habermanns, denn Melitta Sprekelsen war es da draußen immer ein bißchen abgelegen gewesen. Sie zog in eine behagliche Wohnung an der Alster, und Habermanns mit ihren fünfen kamen und brachten Leben in den großen, alten Garten.

Anna hatte sich ganz gut mit dem Mann abgefunden, den sie jahrelang verschmäht. Sie war jetzt Mutter, eigentlich nur Mutter, und Herr Habermann so ziemlich das fünfte Rad am Wagen. Aber da er sehr im Geschäft aufging und viel verdiente, so spürte er das nicht besonders.

Dann ging Minna Heinecken.

Sie hustete und hustete, aber nur so ein bißchen, und weil sie stets blaß und schmal gewesen, fiel es niemand sonderlich auf, daß sie immer blasser und schmäler wurde, bis endlich die Kräfte ganz versagten. Paul, der nur diese eine Frau geliebt hatte und sie in seiner Weise immer noch liebte, war außer sich, als ihm die Ärzte sagten, seine Frau müsse nach Sankt Moritz. Nur Minna konnte noch aufgeregter darüber sein. Daß so viel Geld für sie ausgegeben werden sollte, für sie, die nie an sich gedacht, das schien ihr unfaßbar. Doch dieses Mal verlor ihr Mann kein Wort über die Auslagen. Für seine Frau war alles da, mußte alles da sein.

Er selber reiste mit ihr, blieb den ganzen Winter mit ihr im Luftkurort, ertrug die fremden Menschen, die Hotelbetten, die gräßlichen, neugierigen Kellner, das Gasthausessen, und brachte doch im nächsten Mai nur eine Sterbende in die Heimat zurück.

Als seine geliebten Rosen in voller Blüte standen, konnte er sie der Frau in den Sarg legen.

Seitdem war er ein vollständiger Einsiedler.

Die Stellung als Direktor der Lebensversicherung gab er auf. Er konnte nicht mehr mit den Menschen verkehren. Nötig hatte er das Geld ja auch nicht, sein Vermögen war in die zweite Million gestiegen und mehrte sich von Jahr zu Jahr. Und Dora nahm ihm alle häuslichen Sorgen ab, denn sie war so tüchtig wie die Mutter und unermüdlich, dazu kräftig, gesund, heiter. Aber nach einigen Monaten begann der Vater, ihr das Leben recht sauer zu machen. Er sprach fortwährend von Verlusten, von Sorgen, von Einschränkungen, die sie sich auferlegen müßten, und wenn sie Wirtschaftsgeld haben wollte, setzte es einen Kampf, bis sie mühsam wieder hundert Mark errungen hatte.

Einmal machte der Vater auch Andeutungen, Paul müsse eigentlich zum Haushalt beitragen. Es sei nicht recht, daß er, der doch selbständig sei, immer noch unter Vaters Dach wohne und an Vaters Tisch esse, ohne zu bezahlen. Da wurde jedoch die Tochter energisch, denn sie wußte, wie schwer der Bruder um jeden Schritt vorwärts arbeiten mußte, und so verlief diese Sache wieder im Sande.

Soltaus hatten sich nach der übereilten Heirat der Tochter gänzlich vom größeren Verkehr zurückgezogen. Nur die allernächsten Freunde des Hauses wurden noch empfangen. Überall fürchteten sie spöttische Blicke und unzarte Anspielungen. Die schwankende Gesundheit von Frau Mercedes gab Anlaß genug, diesen Schritt zu rechtfertigen.

Offiziell war der Segen der Eltern gegeben worden. Soltau selber war nach Helgoland gefahren und hatte sich mit der Tochter auseinandergesetzt, in Hamburg aber war sie drei Jahre lang nicht gewesen. Nur in Travemünde trafen die Eltern im Sommer mit ihr zusammen.

Hatte Paul den Schlag sehr tief empfunden?

Es fragten sich seine Schwester und Großmutter, Soltaus und Sprekelsens umsonst danach. Er sprach mit keinem Wort über seine Gefühle. Nur noch verbissener war er in Arbeit und Geschäftssorgen, und jeden Monat konnte er sich sagen: Einen Schritt weiter! Einen kleinen Schritt. – Schon begannen sich die großen Konservenfabriken mit ihm zu beschäftigen. Ihre Reisenden saßen in seinem Kontor, er hatte Personal und hatte Lagerräume, und seine überseeischen Verbindungen wuchsen. Aber immer noch war er einer unter vielen.

Im August des Jahres achtundachtzig, gerade an seinem neunundzwanzigsten Geburtstag, bekam er einen Brief aus Bremen, der eine große Genugtuung bedeutete. Die »Nixe« war, schon verlorengegeben, nach mehr als dreijähriger Abwesenheit vom Südpol zurückgekehrt, und Doktor Swensen schrieb ihm:

»In drei Tagen spreche ich in Hamburg über unsere Reise, ihre Gefahren und ihre Ergebnisse. Dann ist auch die Stunde gekommen, wo ich Ihnen meinen Dank und den meiner Gefährten abtragen kann für das, was Sie uns in Ihrer Beihilfe zu unserer Fahrt gegeben haben. Es war so viel, daß ich nur wünsche, mein Dank möchte in gleichem Verhältnis stehen. Ich darf wohl hoffen, Sie an diesem Abend unter meinen Zuhörern im Hansasaal zu sehen.«

Ob Paul dort war! Längst hatte er damit gerechnet, jene Spekulation als verfehlt ansehen zu müssen. Längst hatte er sie auf der Verlustliste gebucht. Jetzt war ihm wie einem Kind am Heiligabend – gleich mußte sich die Tür zum Lichterglanz öffnen. – – –

»Ich habe,« sagte Doktor Swensen, nachdem er bis zum dritten Jahr der Expedition im Vortrag gekommen, »nun einen Dank abzutragen, der gerade hier in der alten Hansestadt einem Hanseaten gebührt, dessen Einsicht und Hilfe wir alle, die wir Mitglieder der Expedition waren, wahrscheinlich unsere Heimkehr zu danken haben. – Wie ich Ihnen erzählte, hatten wir uns auf die Walroß- und Eisbärjagd verlassen, soweit es galt, frisches Fleisch für uns zu beschaffen, und hatten das um so eher tun können, als die Forscher, die vor uns gerade jene Gegenden bereisten, dort überall ausgiebige Jagdgründe gefunden hatten. Auch wir hatten in den zwei ersten Jahren in dieser Hinsicht nicht zu klagen gehabt. Wären wir nicht durch die ungünstigen Eisverhältnisse zum längeren Verweilen gezwungen worden, es hätte alles einen normalen Verlauf genommen.

Nun, wir lagen fest, der dritte Winter begann, wir mußten mit den zusammengeschmolzenen Vorräten rechnen, waren vor allem auf das Salzfleisch angewiesen, und sahen vergebens nach günstiger Jagd aus. Die Walrosse kamen nicht, denn der Eisgürtel, der unsere ›Nixe‹ von der offenen See trennte, war meilenbreit, er war auch für unsere Jäger nicht zu überschreiten – und die Eisbären – die schienen ausgestorben. Da kam der schlimmste Feind des Polarforschers zu uns an Bord, der Skorbut. Bald nach Weihnachten hatten wir den ersten Fall. Unser Koch zeigte zunehmende Symptome der unheimlichen Krankheit. Darauf folgten zwei der Seeleute, dann mein Famulus, Herr Gregorius – wir konnten das Ende absehen.

Und wie ich trotz aller Medikamente die große Not immer näherkommen sah, erinnerte ich mich an den Besuch eines Hamburger Herrn, kurz vor unserer Ausreise. ›Ich möchte Ihnen Lebensmittel zur Verfügung stellen‹, sagte er damals, ›die nur einen kleinen Teil Ihres Proviants ausmachen können, aber in Krankheitsfällen vielleicht einmal von Nutzen sind. Es ist das frisches Fleisch in Dosen, Fleisch, Gemüse, Obst, alles so eingekocht, daß es noch nach Jahren wie frische Ware wirkt.‹ Und der Herr hatte einige große Kisten an Bord geschickt, die mit dem andern Tausenderlei verstaut worden waren. Ganz unten im Raum mußten sie sein, da sie bisher nie dem Koch in die Hände gefallen waren. – Ich muß bekennen, ich hatte selber nicht mehr daran gedacht. Es wird, wenn ein solches Unternehmen geplant wird, so viel angeboten, für so vieles Reklame gemacht – man vergißt eins über das andere.

Immerhin lohnte es doch, nun – in der Not – den Versuch zu machen, ob in jenen Kisten ein Heilmittel enthalten war.

Nun, meine verehrten Anwesenden – die Kisten wurden gesucht, gefunden, ihres Inhalts entledigt, und wir begannen die Dosen zu öffnen.

Unser gütiger Geber hatte nicht ein Wort zuviel gesagt. Fleisch, Fisch, Gemüse, Obst, Milch, alles war so tadellos, als sei es eben an Bord geliefert. Das schreckliche Salzfleisch, das bereits unser Blut vergiftete, war ausgeschaltet, wir waren gerettet.

Fünf Monate haben wir uns mit diesen Konserven über Wasser gehalten, sozusagen. Wir mußten sparsam mit ihnen umgehen, damit sie nicht vor der Zeit zu Ende gingen, aber gerade, als dies Ende nicht mehr fern war, kehrten mit dem erwachenden Licht Seevögel zurück, wir bekamen Bären zu Gesicht – als gesunde, lebensfähige Männer begrüßten wir das Frühjahr, das uns die Erlösung aus dem Eise und die Heimkehr brachte.

Ich möchte darum hier an dieser Stelle – wie ich es auch in meinen schriftlichen Berichten tun werde – Herrn Paul Anton Heinecken meinen ehrlichen Dank sagen für das, was er an uns getan hat.«

Wenn sich doch nicht all die Menschen nach ihm umgesehen hätten. Hätte er geahnt, daß man ihn hier mit Namen nennen würde, er hätte sich hinter eine Säule gesetzt. – Wie sie ihn anstarrten, als sähen sie ihn zum erstenmal. Als hätten sie ihm so etwas im Leben nicht zugetraut. Am liebsten wäre er hinausgegangen, wäre nur nicht der lange Saal zwischen ihm und dem Ausgang gewesen.

Und doch im Herzen dieser Jubel!

Er, der immer ein bißchen über die Achsel angesehene, er, der langsame, der schwerfällige Paul, er hatte diese Männer vor dem Untergang bewahrt. Und das war tausendmal mehr, als ihm sein Tun an eigenem Erfolg bringen konnte.

Wie er den nächsten Tag bei der Großmutter saß, war immer noch das stille Glück in seinen Zügen.

»Du verstehst das«, sagte er. »Es ist viel mehr, viel mehr, als ich erwartete. Es ist nicht nur der Kaufmann, es ist der Mensch in mir, der dankbar ist.«

»Ich verstehe das gut, Paul. Aber nun muß auch der Kaufmann den Erfolg ausnutzen. Man muß das Eisen schmieden, so lange es warm ist.« Und als er schwieg: »Was ist da wieder verkehrt? Sei offen.«

»Ja, gegen dich kann ich es ja sein. Ich hab' alles, was ich in den letzten zwei Jahren gewonnen, wieder in das Geschäft gesteckt, und gerade nun müßte eine großzügige Reklame einsetzen. Sieh mal, ich weiß, die Leute da drüben, die da zum Teil auf einsamem Posten sitzen, die sind wild auf Bücher. Und ich weiß auch, Preislisten, Reklameschriften, die werden weggeworfen, und wenn sie gebraucht werden sollen, sind sie längst nicht mehr vorhanden. Also will ich meine Kundschaft, die ich habe und die ich gewinnen will, mit Büchern versorgen. Mit guten Büchern selbstverständlich. Mit solchen, die sie sich aufheben. Und vorn und hinten in den Büchern soll mein Preisverzeichnis eingebunden sein. Da ist es sicher, nicht verloren zu gehen. Und jeden Monat muß solche Buchsendung hinausgehen in das Ausland.

Ich hab' hier mit Buchhändlern gesprochen und an Verleger geschrieben. Die Preise sind natürlich sehr verschieden. Nehme ich Reklamehefte, so kosten mich zweitausend Stück mit allem Drum und Dran, Preisverzeichnis, Briefumschläge, Porto – etwa vier bis fünfhundert Mark. Nehme ich einen modernen Roman oder eine Reisebeschreibung der Jetztzeit, dann kostet es mindestens fünf- bis zehntausend.

Ja, das ist das eine.

Und dann hab' ich neben dem Kontor ein zweites gemietet, daß ich mit den auswärtigen Kunden ungestört bin. Aber das reicht nicht. Ich hab' da so eine kleine Sammlung von Likören, Konserven, Kakes – na, was ich so führe – auf Tischen und in Glasschränken aufgebaut, aber wenn das ziehen soll, muß es eine ganz andere Aufmachung haben. Der Überseer will was sehen. Der Amerikaner ist an › Show‹ gewöhnt. Da denke ich an zwei oder drei Räume für eine Musterausstellung. Alles ein bißchen elegant zurechtgemacht, alles tadellos und doch alles behaglich. Die Leute sollen sich da zu mir setzen, meinen Kognak proben, meinen Rheinwein – ich muß da eine Dame haben, die – sie kann ja sonst Briefe schreiben – es versteht, einen guten Kaffee zu bereiten, eine Hummerdose zu öffnen und das ein bißchen nett hinzustellen. – Du kannst es dir vielleicht vorstellen.«

»Ganz gut. Und warum wird das nichts? Weil du knapp bist mit Kapital? Nimmt dein Vater denn noch immer keine Vernunft an? Hast du es ihm mal ruhig auseinander gesetzt?«

»Ja, das habe ich. Nicht einmal – zehnmal – Er hört zu, sagt nichts, so lange ich spreche, sieht die Wand an, und zum Schluß steht er auf, geht aus dem Zimmer, und so in der Tür murmelt er etwas von Verlusten, von Sorgen, Einschränkungen –«

»Hat er denn tatsächlich Verluste gehabt? Aber wodurch?«

»Wir wissen es nicht. Minna hat ja immer den meisten Einfluß auf ihn gehabt, weil sie Mama am ähnlichsten sieht. Sie hat ihn neulich ernstlich ausgefragt. Er bleibt bei Allgemeinheiten. Sie meinte, er möchte spekuliert haben und dabei wäre viel Geld verloren.«

»Spekuliert? Dein Vater?« Adelheid lachte. »Ganz ausgeschlossen. Nein, eher stürzt der Himmel ein.«

»Ja, dann weiß ich nicht, was es ist.«

Er sah so still vor sich hin, ihr wurde das Herz groß.

»Junge – nimm es nicht übel, daß ich noch immer so sag', es kommt ja nur, weil du mir so lieb bist – also hör' mal, wenn dir nun einer hunderttausend geben würde, nicht auf hohe Zinsen, sondern ganz frei als Betriebskapital, würde dir das mal ein bißchen reine Bahn schaffen.«

Da lachte auch Paul. »Wo dieser Jemand wohl zu finden wäre, Großmama! Den fände der selige Diogenes mit der größten Laterne nicht. Nein, ich muß eben langsam weiterkröpeln. Schritt für Schritt, Schritt für Schritt.«

»Wart' mal einen Augenblick.«

Sie ging aus dem Zimmer, und als sie wiederkam, trug sie einen Kasten, der sah aus wie indische Arbeit, hatte eingelegte Halbedelsteine in vergoldetem Deckel, und Paul hatte ihn noch nie gesehen.

»Dein Großvater«, sagte sie, »hatte eine Liebe für schöne Steine, und eine noch größere für Perlen. Er hat mir im Laufe unserer Ehe viele Schmucksachen geschenkt, die meisten erst drüben auf Java. Da hatte er immer die eine Furcht, es könnten für mich einmal sorgenvolle Tage kommen, und die Kostbarkeiten, die in diesem Kasten sind, sollten mir in solchen Tagen helfen. Er hatte es auch gern, wenn ich die Sachen trug. Dort drüben fällt das nicht so auf, die Malaien besonders sind es gewöhnt, ihre Fürsten in glänzender Pracht zu sehen, die achten den Europäer um so höher, je kostbarer sein Auftreten ist. Daher habe ich dort diese Kette viel getragen.«

Sie entnahm dem Kasten eine Perlenkette, die – um den Hals gelegt – bis zum Gürtel niederhing. Ein indisches Amulett in stilisierter Tierform mit flimmernden Edelsteinaugen hing daran.

»Nach dem Tode deines Großvaters trug ich nie etwas davon wieder. Es hätte schlecht zu meiner Witwenkleidung gepaßt. Aber manches Mal fragte ich mich, wie ich über diese Schätze verfügen sollte. Meiner selbst wegen hätte ich nichts davon verkauft, ich habe, was ich brauche. Mehr will ich nicht. Deine Schwestern sind in guten Verhältnissen. Zum Tragen für so junge Frauen sind die Schmuckstücke zu auffallend. Also – nimm sie. Mache sie zu Geld – bau damit das Haus auf, das dir seit Jahren in Gedanken steht.«

»Ich – die Schmucksachen – v–verkaufen? Die Großvater dir schenkte? Das tue ich nicht.«

»Das tust du! Sonst muß ich es selber tun, und eine Frau wird bei solchem Handel immer übervorteilt. Paul, nimm doch Vernunft an. Was war der Wunsch deines Großvaters immer und immer? Daß einmal einer aus seinem Blut das erreichen sollte, was er selber nicht erreichte. Was ihm immer wieder unter den Händen zerbrach. Dies hier ist sein Vermächtnis für dich. Nun zeige, daß du es zu nutzen weißt. Ich will es noch erleben, daß alles Wahrheit geworden ist, was wir zwei hier so manches Mal planten und hofften.«

»Das ist zu viel. Diese Kette –«

Adelheid nahm kleine Kästchen heraus, ließ die Federn springen, stellte Nadeln und Ringe vor ihn, lächelte über seine immer größer werdenden Augen, legte ihm endlich die Hand auf die Schulter und sagte aus Herzensgrund:

»Du, der letzte Heinecken, du sollst dem alten Namen neuen Glanz geben. Bald bist du dreißig Jahre, ich stehe vor den siebzig – Paul, ich will noch durch deine Ausstellung gehen. Und ich will auch noch einmal deinen Sohn über die Taufe halten und wissen, der führt weiter, was sein Vater ersonnen und begonnen.«

»Großmutter – da wirst du umsonst warten müssen.«

»Dummes Zeug. Auch für dich kommt die Stunde, wo das Leben einmal ein lachendes Gesicht zeigt. Wenn du nur nicht wie ein blinder Hesse an allen netten Hamburgerinnen vorbeilaufen wolltest –«

Da begann Paul ein anderes Gespräch.

* * *

Das Leben zeigte ihm in den nächsten Tagen nichts weniger als ein lachendes Gesicht. Ganz erfüllt von dem großen Glück, zu dem ihm die Liebe der Großmutter geholfen, kam er heim.

Dora erwartete ihn in seinem Zimmer.

»Nun – was ist denn los?«

»Paul – ich muß mal allein mit dir reden. Ich weiß nicht mehr, was da mit Papa ist.«

»Wieso?«

»Diese ewigen Geldgeschichten.«

»Hat er wieder neue Sorgen? Ich glaube, er redet sich da in Dinge hinein, die gar nicht sind.«

»Ja, Paul, das glaube ich auch. Aber wie nennst du das, wenn Menschen sich so in Dinge verrennen, die nicht sind?«

»Dora – Ich versteh' dich wohl nicht.«

»Doch. Du hast mich ganz gut verstanden. Was ist das? – Ich wollte dir nicht damit kommen, solange ich dachte, ich bildete mir selber was ein. Aber es geht nicht länger. Ich bin heute morgen bei Doktor Hansen gewesen, der ihn im letzten Jahr behandelte, als er so an Kopfschmerzen litt. Ich hab' offen mit ihm gesprochen. – Ja, ich war vorher bei Onkel Soltau gewesen, der meinte auch, es sei ganz ausgeschlossen, daß Papa sich wirklich in irgendeiner Notlage befände. Das wäre ja zum Lachen. – Aber wenn er doch ganz ohne Sorgen leben kann – Onkel Soltau sagt, wir wären nicht nur wohlhabend, wir wären reich – sage mal, warum will er sich dann nicht einmal mehr sattessen –«

»Was?«

»Ja, du hast es doch auch merken müssen, daß er mittags so wenig ißt.«

»Er war ja nie ein starker Esser. Und er sagt ja, er hat leicht Magenschmerzen –«

»Aber bisher aß er doch früh zum Kaffee immer ein Ei, und zum Frühstück machte ich ihm ein bißchen was Warmes, etwas vom Tage vorher oder eine Tasse Bouillon. Heute morgen verweigerte er plötzlich das Ei, und als ich ihm zuredete, wurde er furchtbar heftig, schrie, wir wollten ihn ganz in Not bringen mit unserer Verschwendung, er wüßte nicht mehr, wie er die Wirtschaft aufrechterhalten sollte. – Er war so aufgeregt, wie ich ihn im ganzen Leben noch nicht gesehen habe. Ich habe mich furchtbar erschrocken. Nachher ging er in den Garten und begoß seine Blumen und war wie immer. Aber ich ging doch zum Arzt.«

»Was sagte der?«

»Ach, Paul – ich hoffte, er würde mich auslachen. Aber er lachte gar nicht. Er sagte, die Kopfschmerzen, die immer wiederkämen, gefielen ihm schon lange nicht. Papa litte an Aderverkalkung. Das käme bei allen alten Leuten, und es hätte meist nicht viel zu sagen. – Ob denn Papa irgend etwas im Leben erlebt hätte, was ihn jetzt in der Erinnerung vielleicht auf solche Gedanken bringen könnte?«

»Großvaters Zusammenbruch. –«

»Glaubst du das? Das ist doch so lange her. Ich weiß eigentlich gar nicht mehr viel davon.«

»Ich auch nicht, aber Onkel Soltau sprach kürzlich mit mir darüber. Damals wäre Papa schwer erkrankt, und der Alte wäre er nie wieder gewesen.«

»Und das soll jetzt noch auf ihn wirken können?«

»Wenn der Arzt es meint.«

»Aber was sollen wir dabei tun?«

»Ja, Dora, wenn Doktor Hansen dir keine Verhaltungsmaßregeln gegeben hat, ich weiß es doch nicht.«

»Er sagte, wir müßten alles vermeiden, was ihn auf diese Gedanken bringen kann. Ich will das ja auch gern, aber was man tut, alles dreht er so, daß es irgendwie auf Geldsorgen hinausläuft.«

»Du darfst ihn gar nicht mehr um Wirtschaftsgeld bitten. Ich kann dir jetzt geben, was wir brauchen. Das wenigstens können wir vermeiden.«

»Und red' nicht mit ihm von deinem Geschäft. Heute fragte er mich, ob du auch Schulden hättest. Diese Reklameanzeigen, die du in überseeischen Blättern erscheinen ließest, die müßten Unsummen kosten. Er könne nicht dafür haften.«

Paul seufzte. Er hatte den Vater nie um größere Summen angegangen, er war sich bewußt gewesen, daß der seine ganzen Geschäftsideen für Unsinn ansah, trotzdem also quälte sich der alte Herr mit solchen Sorgen.

»Wo ist er jetzt, Dora?«

»Er trägt Blumen zum Friedhof. Ich denke, wir können zu Abend essen, sobald er kommt.«

Paul fand im Wesen des Vaters nichts wunderlicheres an diesem Tage wie an allen vorangegangenen. Er mühte sich, mit der Schwester ein harmloses Gespräch in Gang zu halten, und der alte Herr nahm teil.

»Heute sprach ich übrigens Peemöller«, sagte er selbst dazwischen. »Den jungen Peemöller. Er war auf dem Kirchhof, ließ seinem Vater da ein schmiedeeisernes Gitter setzen. Das muß ihm einen tüchtigen Schilling kosten. Da kamen wir ins Gespräch. – Kürzlich hat er Fritz und Elfie in Dresden getroffen. Er meinte, mit der Ehe wäre auch nicht viel los. Fritz wäre ein so loser Vogel, wie er immer gewesen, und Elfie hätte da auch einen Verehrer gehabt, der ihr nicht von der Seite gegangen wäre. Das Ehepaar hätte sich Spitzen gesagt, und es wäre für ihn als Dritten nicht sehr angenehm gewesen.«

Da es selten vorkam, daß der Vater so eingehend sprach, hörten seine Kinder schweigend zu. Dora dachte: »Wenn er das doch ließe. Für Paul ist es sicher gräßlich, so von Elfie sprechen zu hören«, aber Paul konstatierte zu seiner eigenen Überraschung, daß ihn diese Worte berührten, als gölten sie ganz fremden Personen.

War alles von ihm abgefallen, was einmal Glück und Leid seiner ganzen Jugend gewesen? War er schon so alt? Oder wachte ein neues Jungsein in ihm auf?

Sie gingen früh zu Bett. Man sollte auch bei der Beleuchtung sparen. Es mochte Mitternacht sein, und Paul schlief fest und traumlos, da schlug Dora an seine Tür.

»Paul! Paul! Um Gottes willen, wach doch auf. Komm doch bloß herunter –«

Er fuhr in die Höhe.

Über der Stimme der Schwester schwebte noch ein anderer Lärm, wirr, fremd – ein Schreien, Lachen – es kam von unten her, wo der Vater sein Schlafzimmer hatte – er sprang aus dem Bett, notdürftig bekleidet rannte er hinunter.

Dora stand vor der Tür der Schlafstube, neben ihr beide Mädchen, alle drei ganz weiß vor Angst, und drinnen ein Lärm, als rängen Männer miteinander, jetzt Keuchen, dann Schurren, wie wenn Möbel geschoben würden – nun wildes Reden –

»Ich laß euch nicht. Ich laß euch nicht. An den Schrank kommt ihr nicht. Ihr sollt mir mein Geld nicht stehlen. Räuber, Hilfe!«

Paul warf sich gegen die geschlossene Tür, sie dröhnte von dem Stoß, aber weder Holz noch Schloß gaben nach. Da rannte er in den Keller, holte das Beil aus dem Kohlenraum, schmetterte es gegen die Türfüllung, wieder und immer wieder, während drinnen das Schreien wilder und wilder wurde, nun splitterte das Brett, ein Loch, groß genug, die Hand hindurchzustecken, brach auf, er griff hinein, faßte drinnen den Schlüssel, drehte ihn – die Tür flog nach innen auf – niemand war im Zimmer als der Vater. Der stand vor dem Geldschrank, den er in seine Schlafstube hatte bringen lassen, drückte sich gegen dessen Tür, starrte mit weitaufgerissenen Augen dem Sohn entgegen und schrie wieder: »Räuber, Räuber, Hilfe.«

Dora lief zu ihm, wollte ihn beruhigen und umfassen – er stieß sie zurück, schlug nach Paul, begann plötzlich zu zittern, sank in sich zusammen, wimmerte wie ein krankes Kind und fragte angstvoll: »Sind sie weg? Sie waren da am Fenster, und da an der Tür und da –« Sein Kopf fiel schlaff zur Seite, er wurde besinnungslos –

Die Geschwister hoben ihn auf das Bett. Das eine Mädchen lief zum Arzt, das andere rannte und holte Habermanns.

Anna und ihr Mann waren noch auf gewesen und kamen sofort.

»Ich hab' es kommen sehen«, sagte Habermann. »Er war zu sehr verändert in den letzten Monaten. Euch fiel das nicht so auf, weil ihr immer um ihn wart. Aber wenn man ihn eine Weile nicht gesehen hatte – der Blick war so unsicher geworden, und der Gang so matt –«

Dann erschien der Arzt, fand im Augenblick wenig zu tun, meinte aber, es würde nötig sein, einen Wärter anzunehmen.

»Ich lasse keinen fremden Menschen zu meinem Vater«, sagte Dora energisch. »Das würde ihm schrecklich sein. Ich übernehme seine Pflege allein.«

»So lange wie Sie es können«, war die Antwort.

Paul Heinecken schlief die ganze übrige Nacht so fest, daß es dem Sohn, der bei ihm Wache hielt, zuletzt wie ein wüster Traum war, was sich am Abend ereignet. Und am andern Morgen wußte er nichts von seinen nächtlichen Phantasien, war sehr ärgerlich, daß man ihm zumutete, im Bett zu bleiben, spürte aber beim Aufstehen die häßlichen Kopfschmerzen, die ihm jetzt oft Not machten, und fügte sich.

Dora hatte leicht gesagt: »Ich übernehme die Pflege allein.« Es währte nur Tage, da kam ein Krankenwärter, und der hatte vollauf zu tun, wenn dem alten Herrn die Angstzustände kamen, wenn er glaubte, Einbrecher wollten ihm an seinen Geldschrank, oder seine eigenen Kinder wollten ihn zum Essen zwingen, um ihn zu vergiften.

Der Arzt riet zu einem Privatsanatorium. Damit traf er bei Dora und Paul auf gleichen Widerstand. Nein, das nicht. Das war wie eine Schande. Das tat man nicht.

Und während Paul den ganzen Tag arbeitete, und, wie er selber spürte, mit immer wachsendem Segen arbeitete, waren die Abende und Nächte für ihn eine Qual. Er mußte dem Krankenwärter zur Seite stehen, wenn die Anfälle kamen, er mußte wechselnd mit dem die Nächte wachen, und erst als größere Morphiumdosen in solchen Fällen Ruhe schufen, konnte er sich etwas besinnen. – – Sein Geschäft stieg in die Höhe.

»Ich habe nur tadellose Ware«, sagte er den Kunden in seiner schlichten Art. »Ehe es mir nicht feste Ueberzeugung geworden, daß das, was ich anbiete, das beste dessen ist, was angeboten werden kann, eher nehme ich es gar nicht in meinem Vertrieb auf. Und sollte es doch einmal vorkommen – bisher war es nicht der Fall – daß eine Sendung nicht so ausfällt, wie sie soll – bitte, reklamieren Sie sofort. Wir werden alles ersetzen. Es ist mein größtes Bemühen, die Zufriedenheit meiner Geschäftsfreunde zu erwerben.«

Als der Frühling des nächsten Jahres kam, spürte er, ihm würde die Arbeit über den Kopf wachsen, wenn er nicht einen Kompagnon bekam.

Er hatte an Bernhard Soltau gedacht, doch der war nach Ernst Sprekelsens Tode bei dem eigenen Vater eingetreten, hatte kürzlich geheiratet, nicht Dora Heinecken, wie die Bekannten erwartet, und auf den war also nicht mehr zu rechnen. Aber Hans? Der noch immer in Brasilien saß? Der dort tatsächlich eine unkluge Heirat gemacht hatte, aber nach zwei Jahren Witwer geworden war – Hans? Wenn der zurückkam? Er war nun schon achtunddreißig, dürfte sich die Hörner abgelaufen haben – wenn er noch einmal festwerden wollte in der Heimat, wurde es Zeit für ihn.

Paul ging zu Soltau und sprach mit ihm.

»Du bist doch wahrhaftig ein anständiger Kerl«, sagte der. »Das haben die Soltaus nicht um dich verdient.«

»Na, Onkel, erlaube mal – Wer von euch hat mir denn je etwas anderes als Freundschaft bewiesen? Und mit einem Fremden anfangen? Du weißt, so wie ich bin, finde ich mich schwer in ganz fremde Menschen. Zum Kompagnon muß ich jemanden haben, der mir wie ein alter Freund ist.«

So kam Hans Soltau in die Heimat zurück. Ein ernst gewordener Mann. Man sah ihm an, daß die zwei Jahre seiner Ehe ihn hart angefaßt hatten. Einen kleinen Buben brachte er mit. Der war ein fremder Vogel, wild und trotzig, doch der Vater nahm ihn scharf an die Kandare. »Er soll mir nicht verderben«, sagte er zu Paul. »Man kann auch Wildlinge veredeln, und er hat doch zur Hälfte Soltausches Blut in sich. Das will ich wachrufen. Kein leichtes Geschäft, darüber bin ich mir klar, doch, wie die Bauern sagen: De rugsten Fahlen warn de glattsten Pier.«

Paul atmete auf, als er den alten Bekannten neben sich hatte. Am großen Schreibtisch saßen sie sich gegenüber, wie vor dreißig Jahren ihre Väter. Die Firma bekam Ruf.

Es war Zeit, daß er Hilfe bekommen, denn mit dem Vater ging es wieder sehr schlecht, und ein Jahr nach dem ersten schweren Anfall – sie hatten es kommen sehen, und dann war es doch ganz plötzlich – trat mit einem Gehirnschlag der Tod ein.

Neben seiner Minna wurde Paul Heinecken auf dem Hammer Kirchhof eingesenkt. Hinten an der Friedhofshecke gingen noch stille, unbebaute Straßen durch einsame Felder, aber vorn vor dem Portal klingelten unaufhörlich die Straßenbahnen, die Wandsbeker Chaussee bekam Nebenstraßen, unaufhörliches Wagenfahren dröhnte, Menschenscharen zogen vom frühen Morgen bis in die sinkende Nacht aus der preußischen Vorstadt Wandsbek hinein nach Hamburg. Die ganze Gegend zwischen der Wandsbeker Grenze und Sankt Georg wurde bebaut, Straße um Straße entstand, Hamburg war ein Riese geworden, dem sein altes Kleid zu enge ward, er streckte sich und verlangte nach neuem Gewande. Auch in Hamm breitete sich Straße um Straße. Man trat an die Erben von Paul Heinecken heran mit dem Ersuchen, den ganzen grünen Plan, der so lange Jahre ihnen und den Freunden Heimat gewesen, der Stadt zu überlassen. Paul konnte sich nicht entschließen. Aber die verheirateten Schwestern und ihre Männer waren für die Sache, ihnen bedeutete die Vergangenheit nicht so viel, und er mußte sich fügen.

Die Kaufsumme war groß, doch sie hätte viel niedriger sein dürfen, und die Heineckenschen Kinder hätten es nicht gespürt, denn sie fanden ein Vermögen vor, noch bedeutend größer, als sie jemals erwartet.

»Nun hätte ich, wenn ich gewartet, dir deinen Schmuck nicht zu nehmen brauchen«, sagte Paul zu Adelheid.

»Laß es gut sein. Du hast mehr als ein Jahr gewonnen, ist das nichts wert gewesen? Und mir laß die Freude, daß ich es war, die dir in den Sattel half.«

Hans Soltau hatte als seine besondere Pflicht die Reisen übernommen, die durch Deutschland, Österreich, Frankreich führten, denn immer noch, wenn er auch über seine Sprachschwäche ganz Herr geworden, war Paul der Verkehr mit Fremden unbequem. Mußte es sein, fand er sich tadellos damit ab, lieber war es ihm, diesen Teil ihrer gemeinsamen Arbeit erledigte sein Kompagnon. Aber einmal hatte der kleine Karlos, Hans Soltaus Söhnchen, sich eine Mandelentzündung geholt, gerade als der Vater eine Rheinreise antreten sollte, unter den großen Weinbergsbesitzern neue Verbindungen anzuknüpfen. Einer mußte fahren, es war alles vorbereitet, und der Junge brüllte so entsetzlich bei dem Gedanken, den Vater fortzulassen, daß Paul kurz entschlossen sagte: »Also – ich fahre heute abend.«

»Das ist dir gut«, meinte Dora, als sie ihm den Koffer packte. »Du kommst ja gar nicht mehr aus Hamburg heraus. Laß dir Zeit. Fahr' bis zur Bergstraße, setz' dich in Heidelberg auf die Schloßterrasse – sei mal jung und sorglos. Mein Gott, du kannst es jetzt doch. Reich und hübsch – du wirst wahrhaftig immer hübscher, Paul, brauchst gar nicht rot zu werden wie ein kleines Mädchen, dir steht eben das Männliche besonders gut. – Ja, was wollte ich sagen. Wenn ich du wäre, ich reiste jetzt im Frühjahr ganz gewiß ein bißchen da unten in die Obstblüte hinein. – Überleg' es dir.«

Paul überlegte nicht, er war entschlossen, sofort nach beendeter Tour heimzukommen.

Aber der Rhein! Und die Lenzluft! Und die fröhlichen Menschen da unten. Und das Bewußtsein, so leicht reißt du dich nicht wieder heraus. – Er fuhr nach Heidelberg.

* * *

Es war nach Sonnenuntergang.

Auf der Schloßterrasse saßen nur noch ein paar Dutzend Menschen hier und da verstreut und genossen den lauen Abend.

Paul hockte versonnen auf dem Geländer und sah zum Fluß hinunter. Wie einem grünen Fuchs war ihm zumute. So ganz stillselig, so ganz aufgelöst in Schönheit und Träumerei.

Wie selten waren Stunden in seinem Leben, wo er sich selber gehörte. Immer, seit Jahren, gingen die Arbeitsgedanken mit ihm, auch in seine Zerstreuungsstunden. Heute fiel das alles von ihm ab. Er ließ sich fangen von der Stunde, sich treiben von dem Strom großer Erinnerungen, die an diesem Ort hängen.

Deutsches Schloß, niedergebrannt von fremden Horden, in deinem Verfall noch so schön, daß die Reisenden über das Meer kommen, dich zu besuchen, eine Predigt von allem, was unser armes reiches Land seit Jahrhunderten ertragen hat. Immer wieder von feindlicher Faust in die Knie gebrochen, immer wieder wie ein stählerner Bogen aufschnellend zu neuer Kraft! Wir da oben an der murrenden See, wir haben nichts, was dir gleicht in deiner Art, aber wir haben das eine, das uns mit dir verbindet, daß auch uns seit einem Jahrtausend Feinde an allen Grenzen und Küsten erstanden sind. Sie haben uns überfallen seit alten Zeiten, unsere Stadt versengt, unsere Bewohner ermordet, unsere Schiffe geraubt. Und immer wieder stieg Hamburg aus der Asche empor wie ein Phönix, und immer wieder gründeten seine Männer neue Häuser, bauten neue Schiffe, zwangen sich das Meer unter ihren Kiel, ließen die Flagge mit den drei wehrhaften Türmen über Land und See flattern, waren nicht auszurotten, nicht unter den Fuß zu treten.

Wie ihm so die Gedanken gingen, wurde ihm heiß und stolz im Sinn.

»Gott sei Dank, daß ich ein Hamburger sein darf.«

Er achtete nicht auf die Menschen, die an ihm vorübergingen, obgleich zwei darunter waren, die mehrere Male zurückkamen, wieder vorbeistrichen und ihn scharf beobachteten.

»Er ist es ganz gewiß«, sagte ein junges Mädchen. »Er hat sich einen Backenbart stehenlassen, aber ich würde ihn überall erkennen. Umsonst hat er mich damals nicht stundenlang festgehalten, als die See mich herunterholen wollte.«

»Ja, Trix, wenn du deiner Sache so sicher bist, will ich ihn anreden.«

Der Herr, dem schon ein leichtes Grau den blonden Bart färbte, trat seitlich an Paul heran und sagte leichthin: »So schön ist Heidelberg selten.«

»Ist es nicht? Ich sehe es zum erstenmal.«

»Und wenn ich Sie nicht am Gesicht erkannt hätte, würde ich Sie an der Sprache erkennen, Herr Heinecken.«

Paul drehte sich um.

Einen Augenblick Zaudern. »Herr Müller, ja –? Und das – Fräulein Trix, Sie hätt' ich nicht wiedererkannt.«

»Ja, man ist alt geworden.« Da flog ein Lachen über das Gesicht, und nun war es ihm doch vertraut. In den schrecklichen Stunden, wo sie über dem schäumenden Abgrund hingen, wo der Vater wieder und wieder frug: »Hältst du noch aus, Trix?«, da war auch immer bei solcher Frage ein tapferes Lächeln über die jungen Züge gegangen. »Ich halte gut aus, Pa.«

Paul streckte lebhaft die Hand aus: »Mein kleiner Kamerad. Daß wir nie wieder voneinander hörten!«

»Ja, Sie hätten einmal schreiben dürfen.«

»An Herrn Müller in Köln? Ob das wohl angekommen wäre? Wir wurden zu schnell getrennt, und ich suchte vergebens zu erfahren, wo Sie geblieben. Es hieß nur: Bei Bekannten auf deren Landsitz.«

»Ja, und wir schrieben, denn wir dachten, der Name Heinechen sei am Ende in Hamburg nicht so häufig, daß Sie nicht zu finden sein sollten, der Brief kam als unbestellbar zurück.«

»Sehr begreiflich, denn ich schreibe mich mit ck, nicht mit ch.«

»Was hab' ich dir gesagt, Pa? Aber der Herr Vater wußte es besser. Und so haben wir uns begnügen müssen, oft von Ihnen zu sprechen.«

Sie gingen gemeinsam zurück in die Stadt, saßen beim Abendessen zusammen und verabredeten am nächsten Tag eine Fahrt nach Baden-Baden.

»Denn,« sagte Trix, »Alt-Heidelberg ist schön, aber die Badener Ruine, wenn sich auch nicht so schwere Erinnerungen an sie knüpfen, ist mir noch lieber. Sie liegt so verborgen im Walde, man hat sie für sich allein, besonders wenn man morgens hinaufsteigt. Da liegt das ganze Tal in Sonnenflimmern, und der Wald ist so tauschwer, und alle Schönheit gehört einem ganz.«

Herr Müller, der selber Besitzer einer großen Eisengießerei war, bedauerte lebhaft, seine Erzeugnisse nicht an Paul abgeben zu können. »Aber wenn ich Ihnen dienen kann mit meinen Beziehungen –«

»Es ist mir wenig gut gegangen bei den großen Herren vom Weinbau. Die sind es gewohnt, daß zu ihren Auktionen alles, was Wein kauft und verkauft, erscheint, und ihnen ihre Stücke für bares Geld abnimmt. Sie wollen nichts von einem Kaufmann wissen, der nur Mittelglied zwischen ihnen und dem Publikum sein kann. Ich bin aber nicht in der Lage, mir die großen Vorräte, die ich eventuell versenden werde, auf Lager zu legen. Der Wein ist doch nur ein einzelner Artikel meines Geschäfts.«

»Wenden Sie sich doch mal an meinen Schwager Canter, den Bruder meiner verstorbenen Frau.«

»Eben bei dem bin ich auch gewesen. Umsonst.«

»Ich werde ihm schreiben, und wenn Sie sagen, daß Sie von mir kommen, wird es nicht wieder umsonst sein. Und er hat es in der Hand, Sie einzuführen bei den anderen seiner Kollegen. Wohlsein, Herr Heinecken. Auf die Zukunft Ihres Hauses.«

»Ich möchte lieber auf eine gute Zukunft unserer Freundschaft trinken. Da das Schicksal es so gut gemeint hat, uns noch einmal zusammenzuführen, möchte ich, wir behielten uns künftig im Auge.«

Als sie den nächsten Tag in Baden-Baden ankamen, war es Mittag, und Herr Müller, der zum Starkwerden neigte, hatte wenig Lust, gleich nach dem Essen in den Wald und auf die Ruine zu klettern. So ging Paul allein mit dem jungen Mädchen.

Droben im Norden war es noch recht frisch gewesen, als er abfuhr, hier im sonnigen Süden des deutschen Landes blühten alle Obstbäume, der Wald war voll Leberblumen und Priemeln, die Tannen hatten helle Lichter an den Zweigen, an den Eichen war noch das jungbräunliche Laub, das in der Sonne golden flimmerte, die Ferne war klar, und erst als sie droben waren und in einem ausgebrochenen Fenster ihren Sitz aufschlugen, sahen sie über dem Rheintal feinen blauen Dunst aufsteigen. Aber er war wie Märchenschleier, nur lockender scheint, was sich hinter ihm verbirgt.

Paul war noch nie so mit einem jungen Mädchen durch die Frühlingswelt gegangen. Das tat man nicht in Hamburg, und wann war er aus Hamburg herausgekommen?

Jetzt genoß er die seltene Stunde.

Immer sah er heimlich das Mädchen an. War sie schön? Vielleicht nicht einmal hübsch, wenn man Anforderungen stellte. Die Züge hatten keine Regelmäßigkeit, sie wirkten nicht einmal pikant. Aber eine Frische und Gesundheit lag auf ihnen, und in den Augen eine Klarheit, auf der sehr hellen Stirn so viel Klugheit, er begriff gut, daß dies Mädchen dem Vater ein Kamerad war, und daß sie es geworden, weil sie einem reifen Manne Kamerad sein durfte.

Sie sprachen von jenen furchtbaren Stunden vor fünf Jahren.

»Es kommt mir noch manchmal im Traum«, sagte Trix. »Dann fühle ich wieder die Todesangst, fühle das Schiff unter mir sinken, und die Wellen sind Hunde, die mich zerren und reißen, es ist gräßlich. Aber dann fühle ich auch eine feste Hand an meinem Arm, die läßt mich nicht los, und sobald ich die fühle, werde ich im Traum ganz ruhig. Dann weiß ich, daß ich gehalten werde, was auch kommt.« Sie sah Paul groß und offen an. »Sie sehen, was Sie damals für mich getan haben, das ist nie vergessen worden.«

Wäre Paul Fritz Sprekelsen gewesen, er hätte aus diesen Worten auf eine heimliche Liebe des Mädchens geschlossen, da er aber der gute, ehrliche Paul Heinecken war, sagte er nur – etwas linkisch auch noch: »Oh, ich tat doch nur, was jeder andere auch getan hätte. Sie beschämen mich, wenn Sie daraus etwas machen.«

Trix lächelte. »Das sagen Sie. Und wissen Sie nicht mehr, wie die Menschen da einander drängten und stießen, um nur selber ein bißchen besser und sicherer zu hocken? Damals hab' ich zum erstenmal empfunden, was das heißt: Die Bestie im Menschen.«

»Und wissen Sie denn nicht mehr, wie da auch einzelne waren, die das eigene Leben nichts achteten, wenn sie helfen konnten? Der holländische Prediger, der die beiden Kinder der englischen Dame wieder und immer wieder höher hinaufschob, sie vertaute, sie mit Kakes fütterte, ihnen den letzten Tropfen Tee aus seiner Flasche einflößte –«

»Und es doch nicht hindern konnte, daß sie starben. Und die Mutter warf sich ihnen nach in die See.«

Über den klarblauen Tag legte sich ein dunkler Schatten.

»Und das alte Paar, das nach dreißig Jahren zum erstenmal aus Amerika nach Deutschland zurückkehren wollte, das so ergeben Hand in Hand den Tod erwartete, und es nicht fassen konnte, daß es doch gerettet wurde.«

Sie sahen sich an. Beide dachten in diesem Augenblick das gleiche, daß es etwas Wundervolles sein müßte um ein Leben, an dessen Ende zwei Menschen so bereitwillig gehen wollen, wenn es nur vereint geschehen kann. Aber keiner von ihnen sprach es aus. Doch der dunkle Schatten war wieder fortgewichen aus ihrem Tag.

»Wenn man solche Erinnerungen hat, solche gemeinsamen Erinnerungen,« sagte Paul endlich, »dann sind drei Tage der Bekanntschaft doch mehr als drei Jahre unter gewöhnlichen Umständen. Es ist mir jetzt selber unfaßlich, wie ich es nicht versucht habe, Sie wiederzufinden. Aber zuerst – da war diese Schwäche –, dann die Heimreise, die Rückkehr in das Elternhaus nach langer Abwesenheit, und dann –« Elfie stand da, ihre Augen lachten, wie es schien, ziemlich spöttisch, ja, er brach ab.

»Sie haben natürlich viel Wichtiges zu tun und zu denken gehabt. Bei mir war das anders. Ich bin immer viel allein gewesen. Ohne Mutter, ohne Geschwister, und der Vater hat seinen Beruf. Es war das Furchtbarste und doch das Größte, was ich erlebte, ich konnte nicht davon los.«

»Und nun, wo wir zum zweitenmal zusammenkommen, Fräulein Trix, nun meint der Himmel es so gut mit uns. Setzt uns in diesen schönen Erdenwinkel an einem der schönsten Frühlingstage, gibt uns Jugend und Gesundheit dazu, alle Schönheit zu genießen, was sollen wir tun, ihm zu danken?«

»Uns dran freuen aus Herzensgrund, Herr Heinecken. Ich habe zu Hause einen kleinen Kalender, den schenkte mir eine geliebte Kusine, als ich ein kleines Ding war, und sagte dabei: In diesem Kalender sollst du jeden Tag rot anstreichen, der so recht, recht schön war. Ich will dich fragen, wenn du zehn Jahre älter bist, wieviele Tage angestrichen sind. – Damals, ich war elf Jahre, hab' ich darüber gelacht. Ich dachte, in zwei, drei Jahren ist jedes Datum mit einem roten Strich versehen. – Nun sind die zehn Jahre nächstens um –« Sie verstummte.

»Und wenn also Ihre Kusine Sie fragen wird –«

»Sie wird mich nicht fragen. Sie war ein Liebling der Götter. Sie wissen, die gehen früh den letzten Weg. Aber mir ist das kleine Buch seitdem noch viel lieber, wie ein Vermächtnis. – Diesen Tag heute, den will ich anstreichen. Nicht nur einen Strich soll er haben, sondern einen Stern. Sterntage sind wohl nur ein halbes Dutzend in dem Buch.«

»Das ist eine hübsche Idee. Ich möchte mir auch solch ein Buch mit Sterntagen anlegen, aber ich fürchte, vor einem so trockenen Menschen wie mir, da laufen die Sterntage davon.«

»Sind Sie trocken? Davon hab' ich noch nichts gemerkt. Ich kann so offen mit Ihnen sprechen wie nur mit meinem Vater. Und Sie lachen nicht über meine Gedanken.«

Die Sonne senkte sich dem Westen zu. Lange violette Lichter lagen über der Ebene, von unten, vom Horizont her, flammte es feuerfarben dazwischen, weißer Duft stieg aus den Tälern. Trix stand auf. »Wir müssen gehen. Ich glaube, wir haben drei Stunden hier oben gesessen. Nun kommt der Abstieg.«

Es klang wie Resignation. – Paul wußte kein rechtes Wort darauf zu finden.

Beim Abendessen im Hotel war sie still und versonnen, während die beiden Herren politisierten und über Handelsfragen sprachen.

Früh am andern Morgen mußte Paul reisen.

Als sie sich abends die Hände zum Abschied gaben, hätte er gern ein Wort von Wiedersehen gesagt. Doch in ihm war eine Stimme: »Laß das sein. Knüpfe nicht wieder an einen guten Tag ein ganzes Leben voll Hoffnungen. Sei dankbar, daß dir Menschen ihre Freundschaft schenken, die wirkliche Freunde sind und bleiben werden. Bescheide dich.«

Er fuhr am nächsten Tage noch einmal an den Rhein und suchte Herrn Canter auf und fand ein anderes Entgegenkommen, machte gute Abschlüsse, bekam Empfehlungen an weitere Firmen, war sehr zufrieden, als er nach fünf Tagen im Schnellzug Köln–Hamburg saß und die letzten Wochen überdachte. Und dann schrieb er noch im Zug eine Karte an Herrn Müller, fügte einen Gruß an Fräulein Trix hinzu, und hoffte auf ein Wiedersehen im nächsten Jahre. – Die Karte würde sie in Köln treffen, denn nun mußten sie auch auf der Heimfahrt sein.

* * *

Mittags kam er in Hamburg an, ging erst zum Geschäft, fand Hans Soltau nicht, denn der war auf der Börse, und so fuhr er zum Essen nach Hause. Es war Sonnabend, da wollte er sich einen Nachmittag als Beschluß der Reisefreiheit gönnen.

Dora hatte ihn noch nicht erwartet. In ihrem neuen Heim in der Ritterstraße, wo sie ein nettes, nicht zu großes Haus bewohnten, war aber alles in tadelloser Ordnung, und sie brachte nach dem ersten Erstaunen auch ein ebenso tadelloses Mittagessen auf den Tisch.

»Ich fahre noch zu Soltau«, sagte Paul. »Hans war zur Börse, ich denke, er fährt heute auch nicht wieder in die Stadt. Es ist jetzt ja auch schon fünf durch. Soll ich da was von dir bestellen?«

Soltaus wohnten noch in der Heineckenecke, doch klagten sie, daß es da nicht mehr behaglich wäre. Lärm und Menschen und Staub nehmen überhand, und Sonntags dudelte ein Karussell, und in einem Biergarten knallten die Kegelkugeln – das Ganze bekam einen heruntergekommenen Anstrich. Sie wollten auch fort, irgendwo an die Alster, das Haus war schon verkauft.

Paul fand den alten Herrn vor seiner Tür im Vorgarten. Er band Nelken hoch, das waren seine Lieblinge. Im Winter hatte er sie im Kalthaus durchwintert, nun kamen sie ins Freie.

»Na, wie siehst denn du aus?« begrüßte er den Neffen. »Zehn Jahre jünger geworden. Ordentlich blanke Augen hast du ja. Wenn der Rhein so gut bekommt, fahre ich nächstens auch hin.«

»Du hast es nicht nötig, Onkel Soltau.«

»Das sagst du. Weißt du, daß Elfie wieder zu Hause ist?«

Es traf Paul doch wie ein Stoß vor die Brust.

»Wieder zu Hause? Wie meinst du das? Zum Besuch, oder –«

»Besuch! Nein, sie ist wieder bei uns. Ihre Ehe ist zu Ende.« Der alte Herr sah sehr gedrückt aus. Otto Soltau, der immer heitere, hatte sein vergnügtes Gesicht ganz verloren.

»So«, sagte Paul nur. Dann schwiegen sie beide eine ganze Weile.

»Ja, ja, Paulchen. So ist das nun. – Jeder Mensch muß seine Wechsel zahlen. Auch die, die er sich auf das Glück ausgestellt hat. Mir ist es ja immer ganz nett gegangen im Leben. Komm, wir gehen ein bißchen hinten in den Garten.« Und wie sie unter den alten Bäumen auf und ab schritten, fing er wieder an: »Sieh mal, ich hab' als Geschäftsmann viel Glück gehabt. Anders hab' ich mir das ja gedacht, als ich hoffte, Kompagnon deines Großvaters zu werden. Da war alles großzügiger, stärker, voll Leben. Na, das war nichts, und ich bin so ja auch nicht schlecht gefahren. Wenn ich mal die Augen zutue, haben Mercedes und die Kinder ein gutes Vermögen. Und ich hab' die Frau bekommen, die ich haben wollte. Das war mein großes Los. Wir haben uns lieb wie am ersten Tage. Es gibt nicht viele Eheleute, die das sagen können. Aber – es ist doch die andere Rasse. Sie sagten mir das damals in Java: Es rächt sich an den Kindern. Ich hab' drüber gelacht. – Es rächt sich doch, Paul. Hans – nun, er hat durchgeseucht, und ich hoffe, er wird seinen Jungen – bißchen fremdartig ist der Bengel ja – zu einem ordentlichen Menschen machen. Aber es gab doch schwere Jahre. Und Bernhard – es ist nicht laut geworden, aber ich weiß, er hat mal mit dir davon gesprochen, und du hast ihm geholfen, na ja, ich will nicht viele Worte drum machen. Wir helfen uns alle mal. Aber das verdammte Spiel saß ihm fast ebenso tief wie Hans die Weiber. Es ist da bei verschiedener Blutmischung, als liefe irgendein dunkler Tropfen hinein in die Adern und riefe die Urinstinkte der Menschenrassen wieder wach. Und nun Elfie –«

Sie gingen still hinunter.

Als Soltau nicht wieder begann, fragte Paul endlich: »Hat Fritz sich eine Untreue zuschulden kommen lassen? Will sie deshalb von ihm fort?«

»Eine? Ach, bester Paul, das wäre nicht schlimm, so wie die beiden denken. Sie sind längst auseinander, wie sie eigentlich nie eins gewesen sind, in dem Sinne, wie unsereins die Ehe auffaßt. Er geht seiner Wege, sie geht ihrer Wege, ja, das ist das schlimmste. Müßte mein Kind leiden, viel leiden, aber es litte unschuldig, ich wollte dankbar sein. In meinem Hause sollte es ihr so warm werden, daß sie alles überwände – und stärker würde in ihrem Leid. – Aber sie leidet gar nicht besonders, sie ist nur verstimmt, gereizt, wütend auf das Leben, das ihr nicht alles gibt, was sie will. Sie möchte nun einen anderen, und der andere, der wohl mit ihr gespielt, der will sie nicht. Es ist darum, um diesen anderen, endlich zwischen ihr und Fritz zum Bruch gekommen, nun will sie nicht zurück, kann es auch nicht, und vor ihr liegt alles sehr dunkel. – Dunkel wenigstens, so wie wir das ansehen.«

»Arme kleine Elfie.«

»Es wäre alles anders geworden, wenn sie dich lieb hätte, Paul.«

»Vielleicht. Aber sie hatte mich nicht lieb. Der dunkle Tropfen, von dem du sagst, Onkel. Ich war für eine Elfie viel zu schwerblütig. Ich wäre ihr ein Stein im Wege gewesen, eine Schlinge, wie sie fliegen wollte.«

Sie sahen bei einer Wendung, dem Hause zu, Frau Mercedes am Fenster. »Ich will doch Tante guten Tag sagen. Wie elend sie aussieht.«

»Sie hat wieder viel mit ihren Gallensteinen zu tun. Der Arzt sagt: Operieren. – Wir haben ja jetzt glänzende Operateure in Hamburg, aber sie meint, sie würde es nicht überstehen. Ich glaube, sie fühlt sich viel matter, als sie uns zeigen will. Und nun noch dies –«

Etwas legte sich Paul drückend auf die Brust, als sie in das Haus traten. Nur würde er auch gleich Elfie gegenüberstehen. Zum erstenmal seit fünf Jahren. Er steifte sich innerlich. Nur nicht spüren lassen, daß er gelitten. Nur nicht so viel Mitleid mit ihr empfinden, daß dies Mitleid ihn zu eigenem neuem Leiden zwang.

Er stand vor Frau Mercedes und wechselte die üblichen Fragen nach Befinden und Reise, da knisterte es hinter ihm von seidenen Röcken. Elfie war aus dem Nebenzimmer getreten.

Paul wandte sich um. Und da war alle innere Unruhe vorbei. Nein, diese Dame mit der hochmodernen Frisur, mit den dunklen Brauen, denen jetzt jeder die Nachhilfe ansah, mit dem starken Fliederduft um sich, diese elegante, überelegante Frau – seine Elfie, die er so grenzenlos lieb gehabt, die hatte nichts mit dieser mehr gemein.

»Paul.« Ihre Stimme hatte schmeichelnden Klang. »Einer aus der lieben, alten Zeit. Ach Paul, wie viele Jahre haben wir uns nicht gesehen. Und inzwischen bist du ein großer Mann geworden.« Ein kleines Lachen. »Sie singen mir alle dein Lob, seit ich zuhause bin. – Mama, wollen wir immer stehen bleiben?«

Doch als Frau Mercedes mit einer Handbewegung zum Sitzen einlud, sagte Paul: »Dora wartet auf mich. Ich hatte eigentlich nur Hans sprechen wollen, wegen des Geschäfts. Da er erst zum Abend zu kommen scheint, will ich doch noch einmal in die Stadt fahren, es ist ziemlich viel, was ich ihm zu sagen habe.« Er nahm Abschied.

»Ich bring' dich an die Pforte«, sagte Elfie. »Ich habe einen wahren Heißhunger nach den alten Bekannten, du mußt mir noch von deinen Schwestern erzählen.«

Sie gingen zusammen durch den Garten, und an der Pforte blieben sie – da die junge Frau eifrig sprach – stehen.

»Wie das hier alles unverändert ist, Paul. Nur du bist ein anderer geworden. So energisch siehst du aus, so männlich. Warum warst du nicht schon damals so?« Ein Seufzer. »Und was hab' ich inzwischen alles durchmachen müssen. – Die große Leidenschaft. – Auf der Bühne hat sie das Wort und macht sich wunderschön, aber im Leben. Wenn man sich morgens gegenübersitzt beim Kaffee, und abends sieht, wie der andere zu gähnen beginnt, und mittags hören muß, daß der Mann über ein schlecht gebratenes Huhn seine ganze Würde vergißt. – Eben noch ein König auf den Brettern oder ein duldender Held oder ein Romeo in Liebesekstase, und sobald er mit der Frau allein ist, da bleibt nur der eitle, selbstbewußte Ehemann übrig. Die ganzen erhofften Wunder und Phantasien gehen in ein paar Monaten verloren.«

Paul stand und sah sie ruhig an. Wie sie noch immer alles so zu drehen wußte, daß der andere Teil Schuld trug. Vielleicht erst in diesem Augenblick erkannte er in der fernen Vergangenheit schon im Kinde die gleiche Art. Damals hatte er das nicht verstanden und innerlich geschäumt, wenn Dora sie den kleinen Satan mit den Taubenaugen nannte, jetzt sah er ein, wie recht die Schwester gehabt. Aber er ließ sie reden. Ihm war, als würde ihm, elegant und gewandt, eine Komödie vorgespielt, und er müsse Kritik üben.

»Ja, und nun bin ich flügellahm heimgekehrt. Und die Eltern können das nicht verstehen. Die sind von der alten Schule, wo die Ehe wie bei den Katholiken ein Sakrament war. Ach, Paul, ob es Menschen gibt, bei denen sie das wirklich ist?«

»Bei deinen Eltern sicher.«

»Ja, die Alten. – Nein, ich meine bei jungen Menschen.« Sie sah ihn von unten her an, ein bißchen zärtlich, ein bißchen schelmisch, es rührte ihn gar nicht. Was ging ihn diese Weltdame an? Deren Tonfall man es anhörte, daß sie Kurse genommen, sich die Bühnensprache anzueignen. Es mochte das sehr hübsche, weiche und doch sonore Töne ergeben, aber ihm waren sie fremd. Die kleine Elfie, die mit durch die Gärten getollt war, die er geschaukelt und in der Sportkarre gefahren hatte, die sein Glück gewesen war und sein Tyrann, die war tot.

»Wir finden wohl noch öfter Gelegenheit, uns zu sprechen,« sagte er, »du mußt es mir nicht übel nehmen, wenn ich jetzt gehe. Die nächste Straßenbahn fährt in drei Minuten. Ich kann sie noch gerade erreichen.«

Mit einem bösen Blick sah sie ihm nach.

Paul spürte den Blick nicht. Mit schnellen, schwingenden Schritten ging er der Bahn entgegen, und in ihm war ein großer Jubel. Eben, wie sie da zusammen standen, wie er spürte: Die Jugendliebe war tot, da hatte ein klares Auge ihn angestrahlt, er hatte einen warmen, festen Händedruck empfunden, und eine Stimme, die nicht unecht klingen konnte, sagte: »Dieser Tag soll einen Stern haben. Sterntage sind selten in meinem Leben.«

In seinem waren sie es auch gewesen. Aber nun sollten sie kommen. Ganz schnell, wie eine Eingebung aus einer anderen Welt, hatte das vor ihm gestanden: Das Alte ist vergangen, es ist alles neu geworden. Du lieber Kamerad mit den Sterntagen, mit den Sternaugen, wie hab' ich nur so von dir fahren können. Wie hab' ich nur zaudern und schwanken und fürchten können! Aber noch ist es nicht zu spät. Noch kann ich zurück zu dir und mein Glück holen.

Es flog alles nur so durch ihn hin.

In der Straßenbahn saß er, sah nicht, wie ihn ein Bekannter grüßte, stieg ganz mechanisch aus, rannte mehr als er ging zum Kontor, fiel Hans Soltau, der gerade die Kurse studierte, förmlich auf den Schreibtisch und rief: »Du, ich muß gleich wieder zurück an den Rhein. Ich hab' was ganz Notwendiges vergessen.«

»Was ist denn mit dir los? So aufgeregt. Mensch, hast du dich verlobt?«

»Noch nicht. Aber – sag' mal, der D-Zug nach Köln, geht der nicht um acht vom Hauptbahnhof?«

»Willst du den noch erwischen? Dann darfst du dich eilen. Hast du denn dein Gepäck schon bei dir?«

»Gepäck? Ach so. Weißt du, das geht auch am Ende mal ohne Gepäck. Ich fahr' ja die Nacht durch, und morgen kann ich mir in Köln kaufen, was ich brauche.«

»Morgen ist Sonntag.«

»Sonntag? Ach nee. – Na, dann muß es auch so gehen. Wiedersehen, Hans. Wenn ich Montag noch nicht wieder da bin, dann komm –«

»Dann kommst du auch sobald noch nicht. Kann ich mir denken. Alles Glück auf den Weg, alter Junge.« Er sah dem Kompagnon nach, wie der wieder die Haustreppe hinunterrannte. »Na, den hat es aber gründlich. Hoffentlich ist es zu seinem Glück.«

* * *

Trix Müller stand an ihrem Blumentisch und goß ihre Kamelien. Sorgsam rückte sie den Tisch ein wenig mehr in die warme Frühlingssonne.

Ein Mädchen meldete: »Ein Herr wünscht Fräulein Müller zu sprechen.«

Um diese Zeit? Es war kaum elf Uhr vormittags.

Ehe sie antworten konnte, wurde die Maid beiseite geschoben, und Paul Heinecken stand im Zimmer.

»Sie?« Trix, immer so klar und beherrscht, konnte es nicht hindern, daß sie feuerrot wurde. »Ich denke, Sie sind vorgestern nach Hamburg gereist.«

»Ja, und gestern bin ich da angekommen, und heute nacht fuhr ich wieder hierher. Es fiel mir ein, daß Sie gestern abend hier sein mußten, und ich hatte etwas vergessen.«

»Hier bei uns?« Er war doch gar nicht hier im Hause gewesen.

»Hier bei Ihnen. Das muß ich schnell nachholen. Es ist nur eine Frage: Wollen Sie meine Frau werden, Trix?«

* * *

»Das hättest du ja auch einfacher haben können, lieber Paul,« sagte Herr Müller ein paar Stunden später, »wenn du gleich in Baden-Baden deinen Mund aufgetan hättest.«

»Es gibt Menschen, denen muß erst eine ganze Illumination aufgehen, ehe sie das sehen, was andere im Dunkeln fühlen können, lieber Schwiegerpapa. So ging es mir. Dann mußte ich aber auch gleich sichergehen. Und ein Brief dauerte mir zu lange. Aber ich bin gereist, wie ich ging und stand, bis morgen, wo die Geschäfte öffnen, mußt du mir aushelfen. Ich sehe stark nach einem Nachtreisenden aus, und die offizielle Bewerbungstoilette fehlt gänzlich.«

»Das holst du alles bei der Hochzeit nach.«

* * *

Der Riese Hamburg dehnte sich und schuf sich immer neue Vorstädte und Hafenanlagen, Bahnen, Kanäle, Kaufhäuser, Docks und Speicher. Seine Fabriken wuchsen, seine Schornsteine ragten wie kündende Denkmäler zum Himmel auf: »Die Stadt der Arbeit, die Stadt des vorwärtsdrängenden Handels.«

Heinecken und Co. waren längst ein Name, der Weltklang hatte. Sie kannten ihn in China wie in Brasilien, in Mexiko und Venezuela, auf den westindischen Inseln und in den afrikanischen Kolonien. Wohin deutsches Blut wanderte, da folgten die Lebensmittel der Hamburger Firma, immer gleich tadellos, immer gleich treue Helfer in allen Gegenden, wo ungesundes Klima und schwierige Verhältnisse dem Europäer eine Ernährung zu einer Hauptfrage seines Daseins machten.

Als der Zollanschluß Hamburgs große Hafenbauten brachte und viele der alten Straßen fielen, wurde auch das Sprekelsensche Haus am alten Wandrahm ein Opfer der neuen Zeit. Heinecken und Co. suchten sich ein anderes Quartier, bauten Kontore und Ausstellung zum zweitenmal für ihre Kundschaft auf, und als nach abermals zehn Jahren wieder ihrem Geschäft das Kleid zu eng wurde, kauften sie in der Großen Reichenstraße das Haus, in dem einst Karl Anton Heinecken sein Kontor gehabt hatte.

Die Firma kehrte zu ihrem Ausgang zurück.

»Mich hat der liebe Gott vergessen«, sagte Adelheid, wenn an ihrem Geburtstag die Besucher kamen und Glück wünschten. »Ich ginge nun ganz gerne. Sehen kann ich ja noch, hören auch, gottlob, und eigentlich fehlt mir so körperlich nichts weiter. Aber es wird so leer um mich, so leer. Die Jugend, die aufblüht, Pauls drei Buben, ja, man freut sich an ihnen, gewiß, aber es ist schwer, daß bald niemand mehr da ist, zu dem man sagen kann: ›Weißt du noch? Damals –‹ Otto Soltau ist der einzige, und der kommt so selten. Einmal in vierzehn Tagen, das ist wenig, wenn man wartet.«

Sie sollte ihren fünfundachtzigsten Geburtstag feiern.

An diesem Tage wollte Paul das neue Heim der Firma eröffnen.

Es war ein Sonntag. Man hatte alle Räume für sich, kein Besucher würde stören. Und alles sollte kommen, was zur Familie gehörte.

Nicht im Privathaus an der Alster, in den Räumen des Geschäfts sollte der Tag gefeiert werden.

Adelheids wegen hatte man das Mittagessen auf vier Uhr angesetzt und eine Stunde vorher die Besichtigung des Hauses.

Schlag drei Uhr fuhr der Wagen vor, der die alte Dame brachte. Neben ihr saß Otto Soltau.

Beide schneeweiß. Unter Adelheids Blondenhaube drängten sich ganz nach alter Art ein paar weiße Löckchen hervor. Sie trug noch die Spitzenhauben, die in ihrer Jugend Mode gewesen waren. Die neue Art mit falschen Scheiteln und Zöpfen sagte ihr nicht zu.

Otto Soltau, schmal und zusammengesunken, war ein bißchen kahl um die Schläfen, aber auf dem Scheitel hatte er noch immer die krausen Haare seiner Jugend. – Ritterlich half er Adelheid aus dem Wagen. Er war doch noch zwei Jahre jünger als sie, er ließ doch ihren Enkel nicht heran. Man blieb, was man gewesen, der aufmerksame, galante Freund.

Sonst wäre auch ihm die Ruhe willkommen gewesen, denn seit seine Mercedes gegangen, seit er in kleiner Etage am Hirschgraben wohnt, – was sollte er noch mit großen Räumen –, seitdem hatte er für die Jetztzeit nicht viel übrig. Aber dies Fest, von Paul und Hans veranstaltet, das lockte ihn doch heraus aus seinem Winkel.

Drinnen im Hause mußte er seinem ältesten Sohn das Recht abtreten, die alte Dame zu führen. Neben ihn trat Paul, und so – gefolgt von all den wartenden Kindern und Enkeln – begannen sie ihren Rundgang.

Die beiden Teilhaber erklärten. Die zwei alten Leute bekamen glänzende Augen bei allem, was sie sahen, sagten »Ja, ja«, wußten aber oft nicht, was denn das alles bedeutete, das man ihnen da zeigte.

Die verschiedenen Kontore – ja zu ihrer Zeit hieß alles »Kontor« –, die hatten jetzt die verschiedensten Namen: Buchhalterei, Sekretariat, Propagandaabteilung, Telephonzimmer, Empfangsraum für Gäste, Spedition, Zimmer von Herrn Hans Soltau, Zimmer von Herrn Paul Heinecken. Und wie diese Zimmer – in denen man mit den ausländischen Herren verhandelte – eingerichtet waren. Früher war ein Ledersofa neben den üblichen Rohrstühlen ein Luxus gewesen, jetzt gab es da Teppiche und Klubsessel, und Bilder, tatsächlich wertvolle Bilder an den Wänden, und Schränkchen standen in den Ecken mit feinen Gläsern und Tellerchen, damit jederzeit ein Imbiß genommen werden konnte, wenn die Kunden eine Probe haben wollten, ja, es war doch eine große Sache um solch Haus, das seine Fäden um die ganze Erde spinnt. Eine Treppe höher die Ausstellung. Was die Erde bietet an Getränken und eßbaren Dingen, das war vorhanden. Brot in Blechdosen und Cakes, und Mehl und Kuchen, und jede Art Wurst, und alle feinen und feinsten Fleischwaren, und Gemüse und getrocknete und gezuckerte und eingekochte Früchte, und Marmeladen und Liköre und Biere und Weine.

»Willst du einmal kosten, Großmutter, ein echter Bols!«

»Ach nein, mir ist schon schwindlig von all dem Sehen.«

Da war ein kleines Wasserbassin mit Miniaturspringbrunnen. Goldfische schwammen drin umher. »Abkömmlinge der Fischchen in eurem Teich in Hamm,« sagte Paul, »die mich einmal ins Wasser schießen sahen.« Rund um den kleinen Teich ein Gebirge von Dosen mit tausenderlei Fischsorten. Lachs, geräuchert und gekocht, Heringe in siebenundzwanzig verschiedenen Zubereitungen, Aal in Sauer und geräuchert, Makrelen und Sardinen und –

»So, Paul, wenn du nun nicht bald aufhörst, bin ich satt, ehe ich mich an deinen Tisch gesetzt habe.« Da lachte der Enkel, und sie gingen in das letzte große Zimmer, wo eine Tafel in Hufeisenform gedeckt war.

Adelheid aß wenig und lobte viel, denn sie sah, wie der Enkel sie immer wieder anstrahlte mit seinen warmen Augen. »Ja, Großmama, das ist nun so, wie wir zwei es uns vor fünfundzwanzig Jahren ausmalten. Und wenn du nicht gewesen wärest –«

Dann – nach der Suppe, als der Sekt geschenkt wurde, stand er auf und sprach. Es war kein Stocken mehr in seinen Worten, vielleicht nur, daß er ein ganz klein wenig langsamer redete als andere Herren. Doch das schien so zu seiner ganzen Persönlichkeit zu gehören, schien nur ein letztes Überlegen zu sein vor jedem Satz, daß es niemals auffiel.

»Als ich sechsundzwanzig war,« begann er, »da fing ich an und legte den Grundstein zu diesem Hause. Nein, wenn ich richtig sagen soll, so legte ich ihn schon als kleiner Junge, als zuerst das Wort in mir Wurzel schlug: Dein Großvater hat ein Welthaus bauen wollen. – Wie eine Wunderburg, wie ein Bau aus lauter Gold und weißem Stein stand damals solch Welthaus vor mir. Nun weiß ich, daß es ein Haus der Arbeit ist, ein Haus – mehr wie ein Bienenstock als wie ein Schloß anzusehen. Tausend Fäden spinnen sich von diesen vier Wänden hinaus und bilden ein Netz um die ganze Erde. Zwanzig Jahre sind vergangen, seit ich meine Arbeit begann, meinen treuen Helfern habe ich es zu danken, daß die Arbeit zum Ziele führte. Vor allem meinem lieben Kompagnon, Hans Soltau, und der einen Frau, die wir alle mit Liebe und Verehrung nennen, meiner Großmutter. Sie hat mir Mut gemacht, wenn ich selber verzagte. Sie hat mir mit ihrem eigenen besten Besitz geholfen, als ich nicht wußte, wie ich mir sonst helfen sollte, sie war die Seele meines Werkes. Nach ihr kamen noch viele und standen mir bei, und daß ich nicht nur Arbeit, sondern auch Sonne in der Arbeit fand, daß –« Er hob sein Glas leicht gegen seine Frau. »Nun steht das Haus. Wir hoffen, es soll stehen durch Jahrzehnte, und vielleicht durch Jahrhunderte. Junges Leben wächst um uns auf, einmal bereit, der Väter Werk weiterzuführen. Ein Stein sind wir geworden im großen Haus des Welthandels, und das ist wohl das schönste, was ich mir heute sagen kann: Wir sind damit zwischen den Faktoren, die das Leben und Schicksal der Völker bestimmen, auch eine Ziffer geworden. Denn der friedliche Handel, der in allen Häfen, an allen Küsten seine Zelte spannt, der ausgleichende, alles verbindende, allem helfende Handel ist ein Friedensbote, wie es keinen zweiten gibt. Wenn erst alle Völker eingesehen haben, daß der friedliche Austausch von Gütern aller Art, leiblichen und geistigen, jeden hebt und seinen Wohlstand fördert, dann wird das goldene Zeitalter kommen, so weit das auf Erden möglich ist. Dann wird es keinen Krieg mehr geben, denn die große Interessengemeinschaft aller wird jedem gebieten, im Frieden mit dem Nachbar zu leben.«

Da klang in die kleine Pause, die er machte, Adelheids Stimme hinein: »Ach Gott, mein alter Junge, man sieht, daß du dich nie so recht mit anderen Jungen gehauen hast.«

Ein Lachen flog um den Tisch.

Paul hob sein Glas der Großmutter entgegen. »Ich weiß, du bist in dieser Hinsicht ein ungläubiger Thomas, Großmutter. Wir wollen uns nicht darum streiten. Was auch kommen möge, ich trinke auf dein Wohl, auf das Wohl der Seele meines Hauses, und daß du uns noch lange, recht lange so frisch und voll Anteilnahme erhalten bleibst.«

Sie waren um den Tisch gegangen und hatten ihre Gläser an das der alten Dame klingen lassen. Nun war die Erregung abgeebbt.

Wieder saß sie und ließ die Augen über den großen Kreis schweifen. Neben ihr Otto Soltau, still wie sie und nachdenklich, aber wie sie mit einem freundlichen Lächeln in den Zügen. Drüben, ihr gegenüber, Paul, etwas weiter hinauf am Tisch seine Frau, neben ihr Hans Soltau. Dann Bernhard und Frau, Anna und Minna mit ihren Männern, Dora, leider ledig geblieben. Es fehlten nur zwei, die einstmals mit im Heineckenwinkel durch die großen Gärten rannten.

Fritz Sprekelsen befand sich auf einer Tournee in den Vereinigten Staaten als erster Held einer deutschen Schauspieltruppe. Er verdiente auf dieser Reise Geld und Lorbeeren, und doch kamen an Paul Briefe, die bitter klagten über die unverschämten Preise, und wie ein Mann, der auch im Privatleben immer vor der Öffentlichkeit stände, gezwungen sei, sich so manchen Luxus zu leisten, den er – persönlich – verabscheuen würde. Und Paul hatte gelächelt beim Lesen des Briefes, und weil er die große Anhänglichkeit an alles, was alte Freundschaft hieß, nie verlor, ging ein Wechsel über See, der es Fritz ermöglichte, sich weiter den verabscheuten Luxus zu gewähren.

Elfie hätte ja kommen können, denn sie war in Berlin, und ihr Bruder hatte sie eingeladen, doch sie hatte nichts mehr für Hamburg übrig. Ein Jahr nach ihrer Scheidung hatte sie einen großen Berliner Börsenmann geheiratet, dem ihre kostspieligen Launen nicht zu teuer waren, und der auch im übrigen ein Auge zudrückte. – Seit sie in die Vierzig gekommen, war sie die Protektorin junger Talente geworden und erlebte nun mit andern alle amüsanten Abenteuer, die ihr selber nur noch spärlich zuteil wurden.

Aber für diese zwei fehlenden Angehörigen saß viel Jugend am Tisch. All die jungen Habermanns, zwei von den Töchtern waren auch schon verlobt, dann Bernhards drei Töchter und ein Sohn, Karlos Soltau, der künftige Mitinhaber der Firma, ein brauner, sehniger Bengel von neunzehn Jahren, mit einem kühnen Freibeutergesicht, Pauls drei Jungen, der Älteste auch bald so weit, daß er in die Lehre treten würde.

Ja, es war eine große Schar. Und doch – sie sah, was keiner von den Jungen sah –, rings um den Tisch viele, viele Gesichter, die lange vergangen waren.

Als spüre er ihre Gedanken, sagte Otto Soltau in diesem Augenblick:

»Ich rechne eben, Großmutter Adelheid. Das müssen so 65 Jahre sein, seit ich als Stift im Wandrahm saß und der alte Ladwig mich anpfiff, weil ich ein brennendes Interesse an einem gewissen Herrn nahm, der mit Rosen neben sich auf einem feinen Kabriolett vor das Haus fuhr. 65 Jahre! Daß man das selber war! – Der gute alte Ladwig, er hat viel unter mir gelitten.«

Adelheid lachte leise in alten Erinnerungen. »Wie Sie dem Kater den Helm aufsetzten und die Papierschuhe anzogen. Solche Kater, wie unseren Emil, gibt es heutzutage nicht mehr. Er hatte veilchenblaue Augen.«

»Es gibt auch keine Originale mehr. Wissen Sie noch, Piepenreimers? Und die Rutsch-Anna, Hamburgs Postillon d'amour? – Und die alten Winkelstraßen und Gänge – nun wollen sie ja auch die Steinstraße fortreißen mit ihren Höfen. – Ja, die neue Zeit braucht Platz und Licht.«

»Gönnen wir es ihr. Platz an der Sonne und Licht auf allen Wegen. Mir hat das Leben viel Licht geschenkt, in den engen Gassen und in den weiten Gärten. Wenn ich jetzt zurückdenke – Licht, Licht, überall Licht.«

In ihren Augen hatten sich warme Lichter entzündet. Still saß sie von nun an und träumte über all das junge Leben hin. Was tat sie hier eigentlich noch? Sie war zufrieden, aber sie war doch auch eigentlich recht müde. Wenn man so müde ist, soll man schlafen gehen.

Nichts Schöneres als zur Ruhe gehen, todmüde nach einem hellen, arbeitsamen Tage.

Und viel schöner noch mußte das Einschlafen sein nach einem reichen, arbeitsamen Leben, das große, tiefe Einschlafen.

»Großmutter,« fragte Paul, »ist es dir zuviel? Du wirst so blaß.«

»Ach nein, mein alter Junge. Es war alles sehr schön. Aber nun möchte ich doch heim. Meine Hanna wird schon unten warten mit dem Wagen. Seid noch recht vergnügt zusammen, ihr habt ja noch Zeit, noch viel Zeit. Zeit zur Arbeit und Zeit zum Glücklichsein.«

Sie nickte allen zu, ging die Treppe hinunter und fuhr heim.

»Laß mich noch ein wenig am Fenster sitzen«, sagte sie, als Hanna, nun auch schon ein spätes Mädchen, sie zu Bett bringen wollte. »Sieh nur, wie die Abendsonne auf der Alster liegt. Die Schwäne schimmern ordentlich silbern in ihrem Glanz. Ach, Hanna, mein Hamburg ist doch schön.«

Eine Stunde später saß sie noch so, doch als das Mädchen sie mahnte, sich zur Ruhe zu begeben, war sie schon in der letzten großen Ruhe. Es war ihr ebenso gut geworden wie einmal dem geliebten Manne, ganz still und schmerzlos war sie heimgegangen.

* * *

Paul mußte es erleben, daß seine Hoffnungen auf die Friedenssegnungen des Handels unerfüllt blieben. Der Sturm brauste über das deutsche Land, sein Haus schwankte in diesem Unwetter, aber es stand, als der Orkan vorübergebraust war, denn seine Grundmauern waren tief und fest eingesenkt, und junge Kraft wird es hüten und halten als einen der Grundpfeiler deutscher Zukunft.

* * *


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