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Als Jens Brodersen, der Doktorssohn von Föhr, damals die Hilfe seines reichen Bremer Onkels annahm, um in München die Kunstakademie zu besuchen, ahnte er, daß er einstmals die Kusine Anna heiraten sollte.

Als er auf Kosten des Onkels fünf Jahre später nach Italien und Paris ging, war die Heirat eine ausgemachte Sache, und er war im Grunde ganz damit einverstanden; denn der lange Friese trug so gewisse althergebrachte Begriffe in sich, darunter auch den: »Ehen sind Familiensache. Die Frau, die man heiratet, sucht man sich nicht mit Liebesaugen aus; denn die Frauen, in die man verliebt war, die heiratet man doch nicht.« Woraus sich ergibt, daß seine Beziehungen zum weiblichen Geschlecht bis dahin ziemlich stark nach unten gravitiert hatten. Drei Jahre später – da war er achtundzwanzig und die Kusine drei Jahre jünger – feierten sie Hochzeit, und Jens Brodersen bekam in Bremen ein Atelier mit allen Schikanen. Seine Frau erzählte allen Bekannten, wie wahnsinnig teuer die Einrichtung eines Ateliers sei. Des Mannes wegen hätte sie aus einem halben Dutzend Staffeleien und einem Hocker bestehen können; denn das andere, was da herumstand, war nur im Wege.

Er malte Seebilder. Immer Wasser und Sand, Wolken und Segler, und in all seinen Bildern leuchtete etwas von Sonne. Irgendwo – auch wenn ein Wrack auf schwarzgrüner Woge trieb – brach es sieghaft aus der Höhe und warf ein Licht in die Finsternis.

Ein Kritiker nannte ihn einmal den Sonnenmaler, und der Name blieb ihm, obgleich er selbst eigentlich ein sehr ruhiger, stiller Mensch war, der ohne Lärm und viel Lachen seinen Tag hinging.

Der Frau gab er, was nach seiner Meinung der Frau zukam. Treue, Freundlichkeit, genügendes Wirtschaftsgeld und eine gutmütige Gleichgültigkeit für ihre Interessen, die vor allem darin bestanden: »Denk dir, Onkel Emil sagt –« – »Denk dir, Tante Toni will verreisen.« – »Du, bei Vetter Ludwig ist das dritte Mädchen angekommen.«

Persönlich war ihm die ganze Familie schrecklich gleichgültig. Er war aber sehr zufrieden, daß Anna ihm drei Jungens schenkte. Der erste hieß Heino, der zweite Jon, und den dritten wollte er Emmo nennen. Aber da war es der Frau mit dem Friesentum zuviel, und der dritte wurde ganz einfach Adolf genannt. »Was aus dem schon werden wird«, murrte Brodersen. »Sicher ein Kaufmann oder ein Studierter, aber im Leben kein Seemann oder ein Künstler.«

Damit behielt er recht.

Heino wurde Schriftsteller, Jon, der eine schiefe Schulter hatte, weil er mit fünf Jahren Kinderlähmung bekam, wurde Maler wie der Vater, und Adolf studierte Medizin.

Aber das hatte die Mutter nicht mehr erlebt.

Sieben Jahre nach Adolfs Geburt kam noch ein Töchterchen, das nur wenige Tage lebte und die Mutter mit sich nahm.

Nach ihrem Tode merkte der Mann erst, wie wenig die Frau ihm gewesen war. Er entbehrte sie eigentlich gar nicht. Und als die ersten Monate vorüber waren, lebte er förmlich auf. Immer schon hatte er wochenlang in der alten Heimat, irgendwo auf den Inseln oder an der Küste, seine Staffelei aufgestellt, jetzt war er monatelang fort, und seine Kusine Lite – der Name bürgte für Zuverlässigkeit – betreute die Buben. Dann faßte es ihn mit einemmal, als hätte er das Beste seines Lebens in den wohlgeordneten Verhältnissen versäumt; er brach seine Zelte in Bremen ab und zog nach München.

In München heiratete er zum zweitenmal.

Die ganze Familie schrie Zeter, denn die zweite Frau war sehr einfacher Herkunft und brachte nichts mit als ihre brünette Schönheit und ein sprühendes Temperament. Das Temperament hatte ihn verhext. Mit vierzig Jahren erst hatte er seine große Leidenschaft.

Elise – die Leidenschaft hieß ganz schlicht und bürgerlich Elise – tat auch ebenso pünktlich ihre Pflicht wie Frau Anna und verehrte ihrem Manne einen vierten Buben, der Peter genannt wurde. Einfach weil Eltern und Brüder überzeugt waren, solchen goldenen kleinen Peter gebe es nicht zum zweitenmal.

Peter zählte drei Jahre, da fuhren die Eltern in die Schweiz – Tante Lite hütete inzwischen Haus und Kinder –, und in der Schweiz geschah das Unglück, von dem Jens Brodersen als ein verstörter, zerbrochener Mensch zurückkam.

Er war so verzweifelt, daß die Bilder der zweiten Frau alle fortgenommen und verborgen werden mußten; denn er raste förmlich, wenn er sie sah. Wochenlang mußte man ihm den kleinen Peter aus dem Wege halten; er bebte, wenn er das Kind erblickte. Die gute Lite ging in jenen Monaten in jeder Hinsicht auf Socken und machte sich so unsichtbar wie möglich.

Die Zeit gleicht aus. Auch die größte Verzweiflung kann nicht immer toben, sie sinkt ab und wird still. Aber aus Jens Brodersens Bildern war viel Sonne gewichen.

Bald danach zog er fort aus München, zurück zum Norden. Doch wollte er den Orten fernbleiben, die ihn früher gekannt hatten, er ging in den alten mecklenburgischen Hafenort an der Ostsee. Dort wuchsen seine älteren Söhne zu Männern und der vergnügte kleine Peter zum Jüngling heran.

Vielleicht wäre Jens Brodersen ohne den Krieg noch einmal wieder der Alte geworden. Schon standen seine Heidekaten auf Dünenhöhe wieder im Licht, schon tanzte es wieder in goldenen Funken über glasklare Wogenstürze, da riß ihn das Elend seines Landes zurück ins Dunkel. Der Friesensohn konnte ohne Freiheit nicht leben. Seit Hunderten von Jahren waren die Inselfriesen ein hartes Geschlecht gewesen, das sich den Zaum nicht auf den Nacken legen ließ. Jens Brodersen knirschte unter dem Joch.

Haß war in ihm und ohnmächtiger Zorn. Was sein eigenes Schicksal nicht vermocht hatte, ihn zu zerbrechen, das tat jetzt das Schicksal seines Volkes. Seine Bilder wurden freudlos wie seine Seele. Und die wetterzerrissenen Fichten auf öder Höhe, die dunklen Wogen, über denen dunklere Wolken schwerhängend hintrieben, kahle Sandbänke im toten Watt – wer wollte sich diese dunklen Bilder in sein Haus tragen? Man kaufte schon so wenig Bilder; tat man es, so sollten sie wenigstens ein Gegengewicht sein zum Ernst des Lebens.

»Sonne, Sonne, Jens Brodersen«, sagte die Kritik. »Wo ist deine frühere Sonnenfreudigkeit geblieben? Werde der Zeit und den Menschen gerecht und gib ihnen, was sie brauchen: Helle, Fröhlichkeit, bunte, leuchtende Farben – gib ihnen, was du ihnen früher gegeben, als sie dich den Sonnenmaler nannten.«

Mehr noch als die Kritik sagten es die Kunsthändler. »Was sollen wir mit diesen trostlosen Fichten? Schauerlich sehen sie aus in ihrer Zerrissenheit. Als möchte sich gleich einer an ihnen erhängen. Um des Himmels willen, die kauft uns kein Mensch ab.«

»So, wie sie auf dem Bilde stehen, so stehen sie in der Wirklichkeit. Traurig, wenn die Menschen nicht einmal mehr ein paar sturmgepeitschte Bäume ertragen können.«

»Bester Meister, es gibt aber doch noch andere Motive. Die sehen Sie jetzt nur nicht, weil Sie sie nicht sehen wollen. Da hinten in Ihrer Rostocker Heide sind doch Schneisen voll von Farnwäldern und Abendsonne. Und der alte Torfgraben mit seinen spiegelnden Bäumen und den Lichtflecken auf seinem braunen Wasser, den Sie früher malten, der ist doch auch nicht verschüttet. Nehmen Sie es nicht für ungut – diese Bilder können wir nicht kaufen.«

Tante Lite ging wieder auf Socken, und die älteren Söhne wichen dem Vater aus, wenn er im Atelier mit allem, was ihm in die Hände kam, um sich warf und dabei zornig murrte wie ein gefangener Bär. Nur Peter sang und pfiff durch das Haus wie in den besten Zeiten; denn er war so in die dunklen Jahre hineingewachsen, daß er sie nicht empfand, weil er von der großen Vergangenheit keine Erinnerung hatte. Und Jens Brodersen, wenn er auch mit Welt und Menschen zerfallen war, hatte für seinen Jüngsten eine Schwäche, die hatte er für keinen der anderen Söhne gehabt. Pet sollte eine helle Jugend haben. Pet sollte so wenig wie möglich mit den dunklen Seiten des Lebens in Berührung kommen. Vor allem sollte alles, was Schmutz und Gemeinheit hieß, von dem Jüngsten fernbleiben. Denn dieser Jüngste war selbst so froh und hell, daß der Vater es nicht ertrug, an eine Trübung seiner singenden Knabenseele zu denken.

Wer hätte dagegen gewirkt? Die Brüder hatten den Kleinsten von Kindheit auf als Hätschelkind betrachtet und verzogen, und Tante Lite – ach Gott, Tante Lite hätte sich klaglos für ihren Liebling vierteilen lassen.

Als Peter in Obersekunda saß – er hatte sich nicht sonderlich mit dem Absolvieren des Gymnasiums beeilt –, starb Jens Brodersen an einer Grippe. Den drei älteren Brüdern nahm er das Versprechen ab, dem Jüngsten alles zu sein, was er nun nicht mehr sein konnte, und ihn vor allen Dingen »so hell und rein in Gedanken und Gefühlen zu erhalten, wie er bisher gewesen. Denn ich weiß, wie nötig der Mensch Glauben und Vertrauen hat. Und Pet ist ohnehin belastet. Na ja, ihr wißt ja Bescheid. Haltet mir meinen Jungen rein und stark!«

Das versprachen sie ihm aus vollem Herzen.

*

Vor dreißig, vierzig Jahren war die Heide, wie der meilenweite Wald von alters her heißt, noch ein unberührtes Kleinod. Die Bäume, die gefällt wurden, mußten mühsam fortgeschafft werden; denn es gab keine Chausseen, und in den Schneisen wucherte Moos und Farnkraut schnell genug wieder über die Spuren, die die Holzwagen im weichen Waldboden rissen.

Lichtungen gab es da voll märchenhafter Keuschheit, Waldwinkel, verborgen wie ein Zauberreich, Hallen von riesenhaften Kiefernstämmen – im Abendlicht einem glutroten Tempelhof gleichend – bauten sich auf den Seedünen. Hirsche hoben aus silbernen Nebelschleiern das königliche Haupt dem frischen Salzwind entgegen, und in den dunkelsten Kuhlen, unter uralten Eichen sielte das Schwarzwild.

Aber das Auto verlangt Chausseen. Und die Menschen, die keine Zeit mehr haben zur stillen Naturfreude, verlangen Kraftwagen, um alles, was schön ist, im Hundertkilometertempo zu durchrasen.

Da bauten sie die großen Straßen.

Hart an der Küste, dort, wo der Wald mit seinen äußersten Stämmen an die abfallenden Dünen herantritt, hatte Heino Brodersen sich eine Klause erworben. Ursprünglich war es ein Soldatenheim gewesen zur Bewachung der Küste, nun stand es leer, und die Mäuse hatten drinnen einen königlichen Tanzsaal.

Der ganze Würfel, aus Holz gebaut, war sieben Meter tief bei dreizehn Meter Front. In der Mitte – sieben zu sieben – der große Hauptraum; rechts und links je zwei kleinere Räume. Der eine diente als Küche, die anderen drei hatten Schlafkojen für die Mannschaft abgegeben. Nach oben zum Boden führte eine schmale Stiege vom Mittelraum aus. Man mußte eine Klappe heben, wenn man droben landen wollte.

Der ganze Kasten saß voll Spinnweben, und Käfer und allerlei Waldgetier hatten sich heimisch gemacht in ihm. Ein Wiesel hauste unter den Fußbodenbrettern. Fledermäuse hingen am überdachten Giebel. Schwalben bauten am Sims. Und die wilden Kaninchen, der Verderb der Dünen, saßen im ersten Morgenlicht auf der Schwelle, machten Männchen und klopften mit den Hinterläufen den Boden, als wollten sie Einlaß haben.

So fand Heino den Bau, als er an einem Morgen im zeitigen Frühjahr vorüberkam. Er war langsam von Warnemünde hergegangen, nachdem ihn die Fähre über den Strom gesetzt hatte.

Windstill war die Luft. Die See stieß nur mit leisem Rucken gegen den Strand. Von den Kiefern kam wundersamer Harzgeruch. Tief drinnen im Wald hörte man Tauben gurren und Spechte hämmern. Die Chaussee zog sich fernab durch das Land und war wie ein Gürtel, der diese Wald- und Weltecke abschnitt vom großen Verkehr. Nur ein Fußsteig, sammetweich von Moos und Tannennadeln, kam an das Haus heran. Bei einem energischen Griff an die Tür sprang sie auf. Eine Waldmaus floh wie gehetzt in ihren Winkel, dann stand der große Mann in dem dämmerkühlen Raum. Die Fenster waren von Staub und Spinnweb so dicht verschleiert, daß das Licht nur ganz sanft und matt von Nord und Süd in das Haus kam.

Leer alles. Vergessen von der wilden Zeit, verlassen von den Menschen, denen es nie ein Heim gewesen war.

Er beschloß bei sich, es zu einem solchen zu machen.

Ein paar Wochen später wohnte er dort; hatte mit dem Haus einen Fetzen Wald- und Dünenwildnis erworben und das Ganze mit Findlingen umhegen lassen, einer Grenze, die mit einem Schwung zu überspringen war. Bald verschwanden die Steine im hohen Farnkraut; nur der eine und der andere, auf dem die Brüder hockten, wenn sie abends ihr Palaver abhielten, sah grau und verwunschen zu den singenden Wipfeln auf.

Hier in der großen Einsamkeit lebte Heino Brodersen seit zwei Jahren mit Apenjule als einzigem Gesellschafter. Apenjule war Knecht, Hausdiener, Koch, Gartenarbeiter – alles in einer Person. Dazu der ergebenste Kerl auf Gottes Erdboden, und ehe er nicht totgeschlagen war, hätte keiner seinen Herrn anrühren dürfen.

Die anderen drei Brüder – na ja, sie waren ja auch ganz ordentlich, aber sie waren alle drei zusammen noch lange nicht so viel wert wie der älteste allein. Apenjule saß auch Abend für Abend, wenn die dunkle Stunde kam, in der Heino Brodersen nichts von sich wußte, geduldig neben ihm und hütete seine Ohnmacht. Kein Schelten und kein Befehlen konnte es erreichen, daß er ihn sich selbst überließ.

»Laten S' man sin, Herr, wat möt, dat möt. Dat's min Amt, un dat kümmt mi tau.« Er war zäh wie die Wurzeln der Kiefern, die den ganzen Boden um das Haus her durchzogen. Er ließ sich nicht verdrängen.

Es war ihm auch nicht recht, daß sich der Herr Geheimrat nebenan anbaute. »Wotau? Kann de nich in Rostock blieben?« Denn der alte Geheimrat Trummer, der Pastorsohn aus Apenjules Heimatsdorf, war mit einer Schwester von Jens Brodersen verheiratet gewesen. Und er brachte, wenigstens vorübergehend, seine Tochter mit in die Stille, dazu weibliche Bedienung, und überhaupt – es lag so was Weibisches in der Luft, was Jule nicht schätzte, vielleicht, weil er selbst nie von den Frauen geschätzt worden war.

Das Schlimmste aber kam, als der reiche Lederhändler aus Berlin das große Sommerhaus errichtete, mit einem richtigen Garten und Gärtnerwohnung und Garage und »all so'n dammligen Kram«.

Freilich, der Lederhändler kam nur für drei Sommermonate, und der Geheimrat verlebte die schlimmste Jahreszeit auch in Rostock, aber »wenn dat anfangt, denn weit kein Minsch, wo dat uphürt«. Es konnte nur zuviel Leben in die Einsamkeit kommen.

Apenjule brachte hinter dem Haus welkes Laub und verdorrtes Farnkraut auf den Komposthaufen. Dann befreite er die Kletterrosen von ihren Hüllen und heftete die jungen Triebe an die Holzwände. Hier im Süden gab die Märzsonne schon Wärme ab, und der Wald schützte vor Winden. An der Vorderseite, wo es über die See heranblies und nur eine späte Abendsonne ein kaltes Gold spendete, war es noch rauh.

Und da in dem fliegenden Wind stand der Herr und hatte eine Unterredung mit dem Jungen. Apenjule brauchte nur ein bißchen um die Ecke zu spähen, dann sah er Heinos ernstes Gesicht und die verdrossen nach vorn gedrückten Schultern von Peter. Der verdammte Bengel! Was hatte er nun wieder ausgefressen? Mußte er dem Bruder ewig Ärger machen!

»Wenn du mir nur sagen willst, was du dir eigentlich dabei denkst«, fragte Heino Brodersen. »Ein halbes Jahr bist du nun Student, und die Hörsäle kennst du nur dem Namen nach.«

»Andere bummeln drei Semester, und keiner findet was dabei.«

»Du bummelst ja gar nicht in dem Sinn der anderen.«

»Wär' dir's lieber, ich täte das?«

»Red' keinen Unsinn; du weißt, was ich meine. Wärst du in einer Verbindung, würdest du mit deinen Kameraden zechen und fechten und ausgelassen sein – na, meinetwegen, einmal schäumt es über. Aber du dammelst herum und bist mißmutig und liegst den halben Tag auf dem Sofa und liest alberne Kriminalromane, und Tante Lite verwöhnt dich wie ein Wickelkind, und – also kurz und gut, so geht es nicht weiter.«

»Ihr habt es ja so gewollt.«

»Wir?«

»Ja, ihr Herren Brüder. Ich bin ja das Kind. Ich hab' ja zu kuschen! Ich muß mich ja eurer höheren Einsicht fügen. Ich muß Medizin studieren, weil ihr es beschlossen habt. Was ich selbst will, das ist ja ganz gleichgültig.«

»Pet, quatsch nicht! Was hast du denn gewollt? Du warst ja ganz einverstanden mit dem medizinischen Studium.«

»Einverstanden? Na! – Ich wollte fliegen. Aber das war nicht einmal einer Erörterung wert.«

»Es war ja Unsinn, Junge.«

Peter schwieg verbockt.

»Du hast es wohl mal so hingeworfen, ernstlich meintest du es doch nicht.«

»Du mußt es ja wissen. Immer seid ihr drei gegen einen. Was soll man da erst lange herumstreiten. Es geschieht ja doch, was ihr wollt.«

»Warum ist dir denn das medizinische Studium so unangenehm?«

»Weil ich kranke Menschen nicht ausstehen kann. Ich hab' nicht das geringste Verlangen, sie zu heilen. Und dann die Leichen da in der Anatomie! Einmal war ich drin – drei Tage war mir übel. Ich muß freie Luft haben und Sonne und Wind und Weite. Du baust dir hier ein Heim mitten hinein in Wald und Heide. Aber für mich ist die Stadt gut genug und die Krankenhäuser und all das andere Zeug.«

Heino Brodersen senkte nachdenklich den Kopf und schwieg. Da hatten sie nun alle den Jungen gehätschelt und verzogen und ihm alles ferngehalten, was häßlich und sorgenvoll war. Nun wollte er das Kranke und Häßliche nicht sehen. Immer hatten sie sein Bestes gewollt, und er warf ihnen vor, sie wollten sein Unglück.

War etwas Wahres daran? Oder war dieser jäh auflebende Wunsch des Jungen ein kindlicher Einfall, den man am besten überhörte?

Als Peter sah, daß der Bruder in seine Gedanken versank, wie er das so an sich hatte, schlenderte er in das Haus, suchte sich etwas zum Lesen, fand nichts nach Geschmack und kramte auf dem Schreibtisch des Großen. Ein Büchlein, leicht geheftet, lag aufgeschlagen zwischen allerlei Papieren.

Seine Augen gingen über die offenen Seiten, sogen sich fest an den Zeilen, wurden groß und begannen noch einmal mit dem Gedicht. Und wie er es zum zweitenmal las, wurde seine Stirn heiß, seine Haltung straffte sich, und die mürrisch verschobenen Schultern richteten sich auf.

Als Heino in diesem Augenblick in die Tür trat und ihn stehen sah, das Buch in der Hand, dachte er wie schon oft: Er ist doch ein feiner Bengel.

»Was hast du denn da vor?«

Peter sah ihn an. »So was liest du? Und dann willst du mich nicht Flieger werden lassen? Der Mann hat das gesagt, was man nicht selber ausdrücken kann. Der hat gewußt, wie unsereinem zu Sinn ist.« Er sprach die Verse mit einer tiefen, warmen Stimme:

»Der schönen Sehnsucht breit' ich aus die Schwingen.
Je höher mich der Lüfte Hauche heben,
So freier soll der stolze Flügel schweben,
Die Welt verachtend himmelwärts zu dringen.

Und mögt ihr mich dem Ikarus vergleichen,
Nur stärker noch entfalt' ich mein Gefieder.
Wohl ahn' ich selbst, einst stürz' ich tot hernieder –
Welch Leben doch kann solchen Tod erreichen?

Und fragt mich auch das Herz einmal mit Zagen:
»Wohin, Verwegner, fliegst du? Wehe, wehe,
Die Buße folgt auf allzukühnes Wagen! –«

»Den Sturz nicht fürchte«, ruf' ich aus der Höhe.
»Auf, zum Gewölk empor und stirb zufrieden,
Ward dir ein ruhmreich-edler Tod beschieden.«

Strahlend hingen seine Blicke an Heinos Zügen. »Fein! Das ist wirklich fein!«

»Ja, aber ein Flieger schrieb das nicht, du Banause. Die Verse sind von einem, der bald vierhundert Jahre tot ist. Von Giordano Bruno. Was wußte Bruno von unseren Flugzeugen? Der dachte an seinen kühnen Geistesflug.«

»Im Grunde dasselbe. Der Geist fliegt voran und erobert sich die Luft, dann folgt der Körper in dem Haus, das ihm der Geist baute.«

»Etwas anders war es doch wohl, mein Junge. Und er spricht von dem, was der Jugend noch so fern liegt: vom Sterben.«

»Es sind Hunderttausende gestorben in den letzten zehn Jahren, die noch jung waren. Aber« – das leichtsinnig-heitere Lächeln, das die Knabenzüge unwiderstehlich machte – »man braucht doch auch nicht gleich zu sterben. Wer immer an den Tod denkt, lebt nie richtig. Man kann stürzen, gewiß, aber man muß nicht stürzen. Je besser einer fliegt und je vernünftiger, um so sicherer ist ihm der Erfolg.

Heino, ich sag' es dir nun im Ernst. Ich kann nicht Arzt werden. Ich kann es einfach nicht. Dann verbummel' ich tatsächlich. Tu mir den Willen, laß mich Flieger sein.«

»Ach Pet, ihr Jungens wollt ja heute alle so in die Lüfte, wie die Mädchen zur Bühne. Das rechnet man nicht.«

»Rechne es jetzt. Du bist mein Vormund, Heino. Noch ein ganzes Jahr. Red' nicht mit den Brüdern, entscheide selbst. Du weißt doch, wie das ist, du bist doch Kriegsflieger gewesen.«

»Eben darum. Ich hab' es erfahren, was das bedeutet.«

»Ich will dir so dankbar sein. Und ich will mir Mühe geben. Tatsache! Ich werd' mich höllisch 'ranhalten. Du sollst stolz sein auf mich.«

»Gib mir Zeit bis morgen.«

Da wußte Peter Brodersen, daß er gesiegt hatte.

*

»Na, dat segg ik man, nu kümmt de oll Dam ok noch an«, murrte Apenjule – da sah er von der Chaussee her Tante Lite kommen, die mit der elektrischen Bahn gefahren war. Mit ihren kleinen, trippelnden Schritten ging sie über Moos und Tannennadeln. Apenjule mit seinem trottenden Gang, die langen Arme schwenkend, als könnte das die Schnelligkeit fördern, trabte zur Riesenfichte, wo die drei Brüder Heino, Jon und Adolf auf ihren Findlingen saßen und die erste warme Märzsonne genossen.

Peter hatte es vorgezogen, sich in die Dünen zu verziehen, wo er zwei Seeflugzeuge beobachtete, die auf dem Breitling aufgestiegen waren, in wenig Sekunden die Landbrücke überflogen hatten und nun ihre Kreise über der See zogen.

Sein Herz flog mit ihnen. Donnerwetter, lagen die Kerle in den Kurven! Als müßten sie jeden Augenblick über den Flügel abschmieren! Tante Lite würde sich die Hände vor die Augen halten, wenn sie es sah. Das Licht schimmerte wie Silber auf Rumpf und Tragflächen, der Motor sang sein dröhnendes Lied, der Propeller war ein einziger blitzender Strich, und aus dem Auspuffrohr flog der Dampf wie der Atem eines vorsintflutlichen Ungeheuers. Stundenlang konnte Pet die Flugzeuge beobachten. Daß er selber noch nicht aufgestiegen war, empfand er geradezu als Schmach.

Die drei Brüder auf ihren Steinblöcken hörten mitten im eifrigsten Gespräch das Donnern und Dröhnen über ihren Köpfen und sahen auf. Gerade über sie hin flogen die Maschinen.

Heinos Blick folgte ihnen, bis sie hinter dem Haus verschwanden. So war auch er einmal der Sonne entgegengeflogen. Einmal? Hundertmal! In Kampf und Not und jauchzender Kraft. Bis es ihn traf und warf. Er konnte dem Jungen nachfühlen, was in ihm zog und schrie.

Jon hatte nichts über für die Fliegerei. »Und in solcher Klamotte soll der Jung' nu 'rumsausen? Verrückt, total verrückt. Bleibe auf Erden und nähre dich redlich, das ist dir wenigstens ganz unschädlich. Einmal kriegt der Mensch nur seine gesunden Knochen.«

»Ich hab' es ihm zugesagt. Soll er verbummeln? Haben wir nicht auch werden können, was wir wollten?«

»Er verbummelt als Flieger noch viel leichter«, sagte Adolf. »Letzten Sommer haben ihm schon die eleganten Berlinerinnen Augen gemacht. Wenn er jetzt rennt mit Lederjacke und Fliegerkappe – die werden ja alle wie verrückt hinter ihm her sein. Er ist nun mal seiner Mutter Sohn.«

»Er ist auch unseres Vaters Sohn.«

»Aber Vater konnte rechnen. Und Peter – Allgütiger! Schenk ihm fünfzig Pfennig – er freut sich wie ein Stint. Schenk ihm fünfzig Mark – er verjuxt sie, als wenn es fünfzig Pfennig wären, und ist nachher mächtig erstaunt, wo in aller Welt das Geld hingekommen ist.«

»Ja, Adolf, das Rechnen hast du allein geerbt. Ich hab' es schwer lernen müssen. Immerhin – jetzt kann ich es. Aber Jon hat auch nie was. Gestern hab' ich mein Froschquartett verkauft. Schlecht. Zwölfhundert. Aber ich will nicht so sein. Die Hälfte stift' ich für den Jungen.«

»Er wird es brauchen können. Viertausend kostet der A-Schein.«

»Wieso? A-Schein? Was verstehst du darunter?«

»Er muß, eh' er auf die große Luftverkehrsschule kann, erst den Vorschein, den sogenannten A-Schein auf einer kleinen Schule erworben haben. Ich hab' mit Nix gesprochen, der nimmt ihn als Flugschüler an. Da kann er hier bei mir bleiben oder drüben in Warnemünde wohnen. Der erste Schein berechtigt zum Fliegen von Flugzeugen mit Fracht, wenn es so etwas gibt. Na, vielleicht Zeitungs- und Postmaschinen. Passagiere werden dem Inhaber noch nicht anvertraut. Das kommt erst mit dem zweiten, dem B-Schein.«

»Scheint mir eine ziemlich verwickelte und langwierige Geschichte«, brummte Jon.

»Gleicherweise teuer und töricht.« Das war Adolf.

In diesem Augenblick trappte Apenjule mit dem Ruf: »De oll Dam' kümmt!« um die Hausecke, und da sahen sie auch schon Tante Lite den Waldweg herankommen.

Heino seufzte, Jon lachte wie ein Spitzbube, Adolf stand auf, ging ihr entgegen, zog ihre Hand durch seinen Arm und leitete sie nett und höflich zum Beratungsplatz.

»Ach Adolf, ist es wahr? Hat Heino seine Einwilligung gegeben zu diesem Unfug?«

»Leider, Tante.«

»Euer Vater würde sich im Grabe umdrehen, wenn er es wüßte. Wie leicht kann dem Jungen dabei ein Unglück zustoßen.«

»Er bestreitet das. Einer Bahnfahrt gegenüber soll die Reise im Flugzeug eine reine Lebensversicherung sein. Und dann hat Heino einen Satz aufgestellt, der ist ganz Heino: ›Wenn ihm was geschehen soll, so will ich den Jungen lieber an den Tod verlieren als an das Leben?‹«

»Als an das Leben? Was sind das wieder für komische Reden?«

Adolf zuckte die Achseln. Tante Lite war und blieb in solchen Dingen ein Kind. – –

Acht Tage später war Tante Lite auf dem Hof des Brodersenschen Hauses in Warnemünde mit der Waschfrau beim Wäscheaufhängen. Da brummte es laut und herrisch heran, flog fünfzig Meter über ihr in scharfer Kurve nach Süden und verschwand im ersten Frühlingsdunst.

Der alten Dame sanken die Arme nieder, das saubere Tischtuch fiel zu Boden, und ihre Augen folgten dem Flugzeug, bis es hinter den Dächern verschwand. »Baffsch, das war eins von Nix seinen Untieren. Ich kenne sie schon. Sie haben einen roten Rumpf und hellgraue Flügel. Wenn der Jung da drinnen sitzt! Mir bleibt richtig der Atem weg.«

»Das soll er woll«, sagte Baffsch. »Wo hat Fräulein das auch einmal leiden können, daß der junge Herr son gottlosen Beruf anfaßt. Das sollt meiner sein. En paar hinter die Ohren! Da vergehen ihnen solche Mucken.«

»Mein Neffe hat im Leben keinen Schlag bekommen.«

»Nie en Schlag –? Denn wunder ich mich über nichts mehr.«

Mit dieser Weisheit war Tante Lite aber auch nicht zufrieden.

*

Der April hatte einen stillen Morgen gebracht, nachdem er nachts alle Bäume in wildem Sturmtanz geschwenkt hatte. Regen war niedergeprasselt, in so wilden Güssen, daß sein Rauschen mit dem Brausen der See zu einem einzigen Sang sich einte.

Peter war die Nacht in Heinos Klause geblieben. Das schlechte Wetter war willkommener Vorwand, am Abend nicht nach Warnemünde heimzufahren, wo Tante Lite mit ihrer Sorge und ihren vielen ängstlichen und so ganz unwissenschaftlichen Fragen ihm schwer auf die Nerven fiel. Adolf hatte sein Zimmer als Assistenzarzt im Rostocker Krankenhaus, und Jon war zu einer Gemäldeausstellung nach Berlin gefahren. So hatte sie ihren Liebling ganz »in der Mache«, wie Jon es nannte, wenn er vom Flugplatz kam.

Als Peter das Rad aus dem Hause schob und die Augen seewärts sandte, kam es in milchweißer Trübe von dort heran. Noch nicht viel mehr als ein Hauch, nicht stärker die Luft färbend als ein Tröpfchen Milch ein ganzes Glas voll Wasser. Aber das Kind der Küste wußte: eh sein Rad am Flugplatz war, lag Flut und Land in dickem Nebel.

Heino sah dem Bruder nach, wie er so frisch und jugendfroh auf blankem Stahl den Waldweg hinflog, und seine Brust weitete sich. Was der Bengel in den letzten zwei Wochen für blanke Augen bekommen hatte! Den ganzen Winter hatten sie matt und verdrossen in das Leben gesehen. Noch hatte er nicht selber im Flugzeug gesessen – Nix war verreist gewesen –, und doch hatte der frische Wind, der den ganzen Tag den Flugplatz umjagte, ihm Herz und Sinne wieder hell gemacht. Man kann die Möwe nicht in den Käfig sperren. Sie gehört hinaus in Sturm und Weite. Und wenn der Nebel sie irrt und der Sturm sie wirft – da fiel ihm ein Wort ein, das Apenjule immer im Munde führte: »Was leben soll, das lebt.«

Lebte er selber nicht auch, trotz des furchtbaren Sturzes damals im Feld?

Aber wenn er dann dachte, der Junge müßte einmal den gleichen Preis zahlen, nur um zu leben – da ließ er den Kopf sinken. Langsam wandte er sich, ging hinein an den Schreibtisch und setzte sich vor sein Manuskript.

Obgleich ihm das Schreiben kleiner Artikel unsympathisch war, hatte er sich jetzt dazu entschlossen; denn Peters Zukunft kostete Geld, und das väterliche Vermögen war fort wie alles Vermögen im deutschen Land. Wenn der große Roman, der in Berlin vorlag, angenommen und bezahlt war, dann gab es eine Weile Ruhe, und er konnte im Sommer an eine neue Arbeit herangehen. An eine Arbeit, die voll sein sollte von Sommer, Sang und Lachen.

Er dachte: Niemand liebt die Heimat so wie der, den das Heimweh plagt. Muß ich nicht auch das Lied der seligen Lebensfreude am besten singen können, weil ich ausgeschlossen bin von ihr? Ist es Feigheit, wenn niemand dunkle Worte lesen und schwermütige Bilder sehen will, oder ist es der unbesiegbare Lebenswille, der zu seinem Wachsen und Kämpfen die Sonne und den leuchtenden Himmel so nötig hat, wie jede Pflanze sie braucht?

Mir gab ein Gott, zu sagen, was ich leide. Aber wem gebe ich etwas mit dem Bekenntnis meiner Leiden? Reiß dich zusammen, Heino Brodersen, und trage ein bißchen Licht in das viele Dunkel um dich her.

Er griff zur Feder und schrieb einen Artikel über den schwedischen Maler Larsen, dessen Buch »Das Haus in der Sonne« seit Jahren auf seinem Tisch lag. »Bringt Licht und Lachen, bringt Klang und Singen in die Welt, ihr Künstler«, schrieb er. »Nur der hat ein Recht, von Not und Leid zu reden, der Not und Leid in starker Überwindung gezwungen hat. Nur der kann euch Größe geben, ihr armen, geplagten Menschenkinder, der groß geworden ist in sich selber, mag er auch klein und ärmlich in der Welt stehen.

Alles kann ein Mensch verlieren, Hab und Gut, Hoffnung und Kraft, aber bis zum letzten wird die Sehnsucht nach Licht in ihm bleiben, und wäre diese Sehnsucht nur ein winziges, verlöschendes Fünkchen. Ihr, die ihr Leiter und Propheten eures Volkes sein sollt, facht diese schwachen flackernden Lichtfünkchen an zu einer Flamme. Nährt sie mit eurer eigenen Kraft, und wenn ihr euer ganzes Leben drangebt – es ist nicht zuviel gegeben. Denkt nicht, daß eure eigene Lichtquelle kleiner wird durch solch Geben. Man kann an einer Kerze tausend andere entzünden, und immer gleich klar und ungetrübt strahlt ihr goldener Schein.«

Heino Brodersen war ein Idealist, aber er durfte es sein; denn er hatte durch Taten bewiesen, daß er kein Wortheld war. Vier Jahre hatte er als Flieger im Weltkrieg gestanden, wenn man so sagen darf, im August 1918 war er an der Westfront abgestürzt, von sieben Feinden zu Tode gehetzt. Als ihn die Freunde fanden, lag er schwer verbrannt und ohne Besinnung, und erst nach mehreren Tagen kam langsam das Bewußtsein zurück.

Er genas, aber er wurde nie wieder ein ganzer Mann. Die schwere Gehirnerschütterung hinterließ Folgen, die sich in täglichen Ohnmächten zeigten. Sie kamen in den ersten zwei Jahren zu jeder Tageszeit wie ein Blitz aus heiterem Himmel, ordneten sich von selber im Lauf der Zeit und waren jetzt zu einer regelmäßigen Tageserscheinung geworden. Jeden Abend zwischen zehn und elf forderte das ermüdete Gehirn eine Pause. Heino sank nach kurzem Schwindel in eine tiefe Bewußtlosigkeit, die etwa eine Stunde währte, erwachte ohne irgendeine unangenehme Empfindung, war nur sehr müde, legte sich nieder und schlief meist bald ein.

Er war zu berühmten Psychiatern gefahren, sie hatten ihm alle das gleiche gesagt. Solange diese Ohnmachten, die das Gehirn, irgendwie in seinen Funktionen gestört, als Ruhepunkt verlangte, in ihrer Regelmäßigkeit anhielten, sei kein Grund zu irgendeiner Sorge. Sollten sie einmal plötzlich aussetzen, so wäre das aber äußerst bedenklich.

Und jeder hatte ihm geraten, ein vollkommen ruhiges und gleichmäßiges Leben zu führen, sich selbst zu erziehen zu einer Passivität, die nichts verlangte, aber alles, was an kleinen Freuden kam, mit beruhigter Heiterkeit hinnahm. Über den Dingen stehen, das mußte die Losung seines Lebens sein, wenn er auf ein langes Leben rechnete. Alle erregenden Genüsse, jeder Rausch in jeder Form war streng verpönt.

Mit einem Wort: Wollte er alt werden, so mußte er als alter Mann leben schon in der Jugend.

Wie groß und hart sein Kampf gewesen war – ob er nach diesem Wissen am Leben verzweifelt war oder sich still gefügt hatte –, niemand konnte es sagen; denn er hatte mit niemand darüber gesprochen. Wenn Jon mit Adolf über den Bruder sprach, von dessen voller Entsagung sie doch kaum wußten, sagte er: »Ich würfe lieber das Leben fort, als so vor der Zeit den Greis zu markieren«, und Adolf nickte dazu.

Aber Heino hatte nicht umsonst die vier Jahre im Feld in eiserner Pflicht und Selbstentsagung gelebt. Er wußte, daß er kein Recht hatte, zu gehen, solange der kleine Bruder noch unsichere Füße hatte, und er wußte auch, daß sein Volk jeden Mann brauchte, der nichts für sich wollte, aber alles für die anderen.

Darum lebte er, darum arbeitete er, darum hatte er gelernt, Licht an dunklen Wegen zu entzünden. – –

Inzwischen fuhr Peter den Weg hin mit seinem Rad und pfiff vor dem Trummerschen Grundstück »Auf, in den Kampf, Torero«. Vom Fenster her winkte es, seine Kusine, schlank, hoch, lichtblond, kam aus der Haustür und führte das eigene Rad vor sich her. »Los, los, Jungfrau Else! Meinst du, der Zug wartet auf dich?«

»Jüngeling, es ist noch so viel Zeit. Ich will erst noch mal auf die Mole. Sie schießen ja schon mit der Nebelkanone.«

In singendem Rhythmus glitten die beiden Räder nebeneinander her. »Sieh,« sagte Else und wies mit dem Kopf nach der Lederhändlervilla, »Molls sind auch schon eingezogen. Gestern hielt ihr Auto auf dem Bahnhof, und heut sind alle Fenster offen.«

»Nichts Neues unter der Sonne. Apenjule hat den ganzen schweren Fall mit allem Drum und Dran schon heute beim Kaffee verzapft. Weiß der Himmel, wo der alte Kerl alles her hat! Er haßt das weibliche Geschlecht, aber ohne Beziehungen zu Köchinnen und Jungfern kann er unmöglich alles erfahren. Der Herr Ledermann hat sein Herz an eine Jungfrau vom Theater gehängt. Apenjule sagt: So eine von die, die ihre Beine zeigen und da umenander 'rumhüpfen. Womit eine Dame der Revue gemeint sein dürfte. Und die Frau Ledermann ist dahinter gekommen, hat ihre Siebensachen gepackt und ist mit Nina in die Einsamkeit gefahren. Im allgemeinen pflegen Frauen das Kampffeld doch nicht so kampflos zu räumen.«

»Warum nicht, wenn sie anständig denken? Wenn ich einen Mann hätte, und der Mann wäre auch für Revuedamen begeistert – ich ließe ihn ihnen ohne Bedauern.«

»Für die heutige Zeit denkst du sehr streng, Elselein.«

»Strenge? Ich weiß nicht. Ob das strenges Denken ist oder stolzes Denken oder beleidigte Liebe oder einfach ein ästhetisches, ethisches Empfinden – darüber würde ich mir den Kopf nicht zerbrechen. Es würde mir einfach nicht passen. Absolut nicht passen. Und das würde mir genügen.«

Peter lenkte sein Rad hart neben die Kusine. Sie fuhren den Weg so oft zusammen, daß sie fast im Schlaf das gleiche Tempo hielten. »Weißt du, daß du so denkst, das freut mich. Weißt du, das ist doch überhaupt fein, zu wissen: Ja, es gibt so viel Dreck und Gemeinheit, und die halbe Welt lebt in den widerwärtigsten Verhältnissen. Aber man selbst steht da ganz außerhalb. Es kann nicht 'ran an einen. In der eigenen Familie ist alles sauber gewesen seit hundert Jahren. Und vorher schon ganz gewiß. Bei uns ist nie einer mit einem schmutzigen Kragen gegangen.«

Else schwieg eine Weile. »Vielleicht ist das gar kein Ruhm, sondern einfach Temperamentssache. Ich weiß ja auch, es kann nicht an mich heran, aber prahlen möcht' ich nicht damit. Der Norddeutsche und der Friese sind derb, aber schwerfällig. Eh' sie sich recht besonnen haben, ob sie sündigen wollen, ist die Sünde schon oft wieder davongelaufen.«

»Du machst es zu einer Sache der Abstammung. Aber meine Mutter war doch aus ganz anderen Verhältnissen. Ein Kind des Volkes. Tante Lite gestand es mal. Und voll sprühenden Lebens. Und wie glücklich hat sie den Vater gemacht. Zwanzig Jahre war er älter als sie und hatte drei große Jungen – ja –. Aber Else, seit meine Mutter verunglückte, ist mein Vater ein glückloser Mann gewesen. Liebe und Treue ist eine persönliche Angelegenheit, mit der Abstammung hat das nur sehr bedingt zu tun.«

»Wie war das eigentlich mit deiner Mutter? Ist sie abgestürzt?«

»Ja, beim Blumenpflücken. Aber man durfte Vater nie darauf anreden. Er kam einfach nicht darüber fort. Nicht einmal ihr Bild konnte er ertragen. Er hatte sie selbst gemalt, als junge Frau, wie sie mich auf dem Arm hat. Das Bild hab' ich nach seinem Tod ganz versteckt im Atelier gefunden und in mein Zimmer genommen. Schade, daß ich ihr gar nicht ähnlich sehe.«

»Du bist ein richtiger Brodersen.«

Sie waren längst vom Waldweg auf die Chaussee gekommen. Vor ihnen lag jetzt der Nebel in dicken Schwaden, lag hinter ihnen, zu allen Seiten, war nur auf hundert Schritt zu durchschauen. So sahen sie Nina Moll erst, als sie schon dicht hinter ihr waren. –

Zierlich wie eine Wachspuppe, die krausen, silberblonden Haare unter eine dicke Strickmütze geschoben, beide Hände in den Taschen ihrer Lodenjacke vergraben, ging sie mit flotten Schritten die Straße hin.

Peter ließ die Radklingel ein fürchterliches Gelärm anstimmen. Nina wandte sich und winkte. »Eben denk ich: Wenn doch was käme und mich mitnähme. Leute, ihr könnt mich aufladen. Stop mal, du Enakssohn!« Mit einem Schwung stand sie hinten auf Peters Rad, legte ihm die Hände auf die Schultern und befahl: »Bißchen dalli! Streng' dich an, junger Mann.«

Es war ihre Gewohnheit, mit allen jungen Leuten beim dritten Sehen Brüderschaft zu schließen. Mit Damen ging es langsamer. Peter kannte sie nur von einigen Tanzereien des vergangenen Sommers in Warnemünde und hatte sie bisher nicht recht ernst genommen. Emporkömmlinge waren nicht sein Fall. Der junge Mensch hatte einen gewaltigen Nagel.

»Du bist unter die Flieger gegangen?« fing Nina wieder an. »Wie kann einer, der aus solcher soliden Familie ist, solchen leichtfertigen Beruf ergreifen.«

»Eben darum. Denk mal, wenn du mit einem Verkehrsflugzeug fliegst, und da sitzt ein leichtfertiger Mensch auf dem Führersitz! Dazu ist dein junges Leben doch zu schade.«

»Was weißt du von meinem jungen Leben? Übrigens fahre ich nicht mit euren zugigen Klamotten.«

»Erstens sind sie nicht zugig, sondern haben geschützte Kabinen. Zweitens ist das Wort Klamotte eine ganz ungehörige Beleidigung. Und drittens fährt man nicht durch die Luft, sondern man fliegt. Meine Tante Lite kann sich das auch nicht abgewöhnen. Die will auch immer ›fahren‹.«

»Wenn du da ebenso kribbelig fährst wie hier auf dem Rad, fällst du ganz gewiß mal 'runter.«

»Man fällt nicht 'runter. Man stürzt ab.«

»Hier in den Graben wären wir auch bald abgestürzt. Das nächste Mal stell' ich mich lieber hinter Fräulein Trummer. – Wollen Sie nach Rostock?«

»Ich fahre jetzt jeden Morgen hin. Als wohlbestallte Bakteriologin an der Universität.«

»Das ist ja wohl der gräßliche Beruf, wo man zerschnittene Eingeweide und sonstige menschliche Überreste auf allerlei Keime untersuchen muß, nicht? Warum geben Sie sich zu so was her?«

»Es ist ein Beruf so gut wie ein anderer.«

»Keine zehn Pferde bekämen mich dazu. Peter, du willst schon wieder in den Graben.«

»Ich nicht, aber du. Du stehst ja keinen Augenblick still.«

»Red' nicht! Du kannst einfach nicht fahren. Und dann bist du noch so ungalant und schiebst deine Sünden auf eine Dame ab. Warum der Herrgott nur die Männer erschaffen hat! Vielleicht dachte er, die Welt würde zu sehr dem Himmel ähnlich, wenn nur Frauen auf ihr lebten.«

»Dein Mundwerk möcht' ich haben.«

»Was würd' es dir nutzen, wenn du meinen Grips nicht hättest? – Sag mal, hier fängt doch der Flugplatz an. Durch die kleine, grüne Tür da gingen letzten Sommer immer die Flieger zur ›Hohen Düne‹ rüber. Willst du hier nicht hinein?«

»Wir wollen noch zur Mole und sehen, wie die Fähre im Nebel einkommt. Hast du nicht gehört, daß die Nebelkanone schon den ganzen Morgen geht?«

»Das ist die Nebelkanone? Das Gebumse? – Willst du denn mit 'rüber über den Strom?«

»Warum denn? Wir gehen auf die Ostmole. Da bist du natürlich noch nie gewesen. Die kleinen Mädchen stendern alle auf der Westmole herum, wo sie sich zeigen können. Au! Laß meinen Schopf in Ruhe!«

Sie fuhren am Flugplatz hin und hörten das Brummen eines Motors.

»Fliegt ihr bei solchem Nebel?«

»Nein, der läuft Probe. Das versteht ein kleines Mädchen nicht.«

Durch die Nebelschwaden sahen sie den Strom. Still und blank lag er da, und die schwere, alte Fähre, die den Verkehr mit dem Ort auf der Westseite vermittelte, rührte sich nicht auf den leise ziehenden Wassern.

Sie sprangen ab und schlossen die Räder an einen Pfosten der hölzernen Wartehalle, gingen die Stufen zur langen Steinmole hinauf und drangen ein in die wässrige Welt. Wie sie hundert Schritt gegangen waren, lag zu ihrer Linken der Strom, zur Rechten die Bucht der See, und vor ihnen war eine weiße Wand. Aber diese Wand war kaum zwanzig Meter hoch, und die Sonne ließ von oben so viel sieghaftes Licht niedergehen, daß rings um die Wandernden her eine helle Goldinsel war, ganz sanft durchhaucht von schimmerndem, weißem Gespinst. Ringsum diese helle Lichtinsel, und dann alles weiße Wand.

Vor ihnen aus der Wand kam ein dumpfes Brüllen, als riefe ein Dinosaurier über das Meer. Gleich darauf drüben auf der Westmole ein Kanonenschlag. Und nun ein lautes, blechernes Läuten. Sie riefen mit der Glocke, die an dem roten Signalturm befestigt war. Aber sehen konnte man nichts von drüben. Nicht den langen, steinernen Wall, nicht den Turm, nicht die signalisierenden Menschen.

Wieder das tiefe Brüllen, wieder die Kanone. Als die drei auf den Molenkopf kamen, standen dort Nix und Panthenius, sein Fluglehrer, schauten aus in die verhangene Welt und lachten über Lump, der sich naß und mißmutig an die Stiefel seines Herrn schmiegte.

»Ist da Gefahr?« fragte Nina. Ihre Augen funkelten ordentlich in der Hoffnung auf eine zusagende Antwort.

»Gefahr?« antwortete Nix. »Aber, gnädiges Fräulein, wie kann bei diesem ruhigen Wetter irgendeine Gefahr sein. Und mit dem Riesenkasten! Höchstens ein bißchen Verspätung für die Leute, die mit den D-Zügen weg wollen. Na, das Gebummer von der Glocke geht einem durch Mark und Bein. Nun könnte sie auch endlich auftauchen.«

Die ganze Gesellschaft gruppierte sich auf der hellen Insel, die der Molenkopf im durchschimmernden Sonnenlicht bildete, droben auf der Mauer, ließ die Füße niederhängen über die graue Flut und lauschte dem wechselnden Gelärme. Plötzlich stieß Else einen hellen Schrei aus.

»Dort! Dort!«

Viel östlicher, als es sonst der Fall war, kam die große dänische Fähre aus der weißen Wand hervor. Zuerst der helle Aufbau mit den dunklen Fensterhöhlen, wie losgelöst vom Ganzen; ein wunderliches Seegespenst, geisterhaft, aus vielen finsteren Augenhöhlen totenkopfartig herüberstarrend. Zwei oder drei Sekunden später mit einem Schlag der ganze Riesenkasten mit Masten und Schornsteinen, die wehende braungelbe Rauchfahne wie eine Trophäe hinter sich herschleppend. Bahnzüge standen auf Deck, Menschen liefen droben auf der Brücke, ein Tuch wehte und wurde mit Winken begrüßt – da glitt das massige Schiff schon an der Mole hin, tauchte wieder hinein in die Schwaden über Hafen und Fluß, war einen Augenblick lang noch ein dunkler Schatten und landete im Fährbett.

»So,« sagte Nix, wuchtete die Hünengestalt mit einem Schwung von der Mauer und stand vor Peter, »wollen meine jungen Herren heute noch einmal den Flugplatz verschönern? Darf ich die Damen auch mitnehmen zu einer Zigarette?«

»Danke«, sagte Else. »Ich muß eilen, daß ich den Zug noch bekomme. Mein Professor ist unangenehm, wenn er eher kommt als seine Leute. Fräulein Moll, wollen Sie mein Rad zur Heimfahrt benutzen, oder soll ich es Fähraugust übergeben? Der hütet es mir bis heute abend.«

Nina zögerte. Am liebsten wäre sie mit den Fliegern auf den Platz gegangen, doch sie spürte, daß Nixens Aufforderung nur eine höfliche Form gewesen war, und wandte sich an Peter. »Was macht ihr da denn nun?«

»Probieren den Motor aus. Schleifen Ventile ein. Haben theoretischen Unterricht bei Herrn Panthenius.«

»Ist das interessant?«

»Für jemand, der Mathematik kann und sich für Flugzeugbau interessiert, gibt es da allerhand zu lernen.«

»Danke. – Ja, ich nehme Ihr Rad gern an, Fräulein Trummer. Unser Chauffeur bringt es heute nachmittag wieder herüber, daß Sie es abends haben.«

Sie radelte die Chaussee zurück, verstimmt und sehr geneigt, der Mutter Vorwürfe zu machen, die sie in diese Einsamkeit geschleppt hatte, wo es in Berlin noch so unterhaltsam war. »Denn das muß sich doch jede Frau sagen, daß ein Mann, der zehn Jahre jünger ist, Seitensprünge macht. Mutter will sich interessant machen, weiter nichts!« Sie dachte sehr kühl über die Ehezwistigkeiten der Eltern. Die drei Herren verabschiedeten sich an der Stromfähre von Else Trummer. Die große Fähre ging ausnahmsweise schon am frühen Morgen zur anderen Seite, da vier Holzwagen aus der Heide auf das Übersetzen warteten.

»Geh mit, Lump«, befahl Nix seinem braunweißen Spaniel, der ihm nicht von den Hacken wich. »Geh mit! Geh nach Hause zu Frauchen!«

Widerwillig gehorchte der Brave. Als er aber drüben ankam und sah, wie Fähraugust das kleine Boot zur Rückfahrt lostäute, stieg er ohne weiteres wieder ein.

»Nein, du sollst doch nicht!« ermahnte Fähraugust ihn. »Herrchen hat doch gesagt: Geh zu Frauchen! Na, nu geh schon!«

Aber Lump erkannte nur einen Herrn über sich an, und als Fähraugust ihn mit fester Hand aus dem Boot befördern wollte, knurrte er energisch. »Na, denn bleib drin! Nachher schimpft Herrchen uns beide aus. Du sollst dich doch nicht immer drüben 'rumtreiben.« Und zu einem Reichswehrsoldaten: »Den kennst nich? Denn büst woll noch nich lang drüben stationiert; dat's Nixen sin, dat is de wichtigst Person up'n ganzen Platz. Meist hett hei Hexen bi sik, dat's sin Fru, aber nu hett de jungt, nu ströpt hei alleen rümmer. Kümmt kein Minsch mihr? Na, denn willn wi man führn.«

Als Nix eine halbe Stunde später aus den Schuppen kam und sein Zimmer betrat, lag Lump in der Sophaecke und tat, als müßte es so sein. Denn er war nicht irgendein beliebiger Hund, er war »der Fliegerhund«, und ohne ihn konnte die ganze Sache nicht gehen.

*

Zwischen See und Breitling liegt der Flugplatz. Im Norden und Osten trennt ihn ein hoher Bretterzaun von Wiesen und Straße, im Süden plätschern die stillen Fluten des Breitlings, im Westen zieht sich der Strom. Windüberweht, sonnenüberleuchtet dehnt sich der riesige Raum. Die großen Hallen sind klein in seinem Raum, die vielen Häuser im West und Norden, wo Reichswehr wohnt, Beamte, Zwangsmieter, die sind Spielzeug, das gar nicht zählt. Und die Segler der Lüfte, wenn sie aus den Schuppen herausfahren und sich mit klingendem Lied und ungeduldigem Beben zum Aufstieg rüsten, sind wie große Vögel, schimmernd im Himmelslicht.

Die Menschen aber, ob sie in Trupps die lange Ablaufbahn herkommen oder einzeln und in kleinen Gruppen auf dem Rasen stehen, haben etwas von Ameisen, krimmelnd und wimmelnd und lächerlich klein gegen Himmel, Erde und Flut.

Die Augen gehen über meilenweite Ebene. Fernab, zwei Meilen weit, liegt die Stadt. Ihre Türme sind die Wetterprüfer. Stehen sie klar und deutlich gegen den Himmel, liegen die Häuser zu ihren Füßen wie eine frohe Silhouette in unbestimmten sanften Farbentönen, dann ist es gut aufsteigen zum Horizont, auch wenn Wolken segeln. Sind sie verschleiert und nur graue, verschwommene Schatten, ist es gefährlich, sich allzuhoch über den sicheren Boden zu erheben. Das graue Meer droben in den Lüften ist hundertmal tückischer und unbarmherziger als die wogende graue See.

Stehen sie aber ganz scharf, als hätte eine Riesenhand sie in die Nähe gerückt, sieht man ihre Konturen wie mit dem Stichel gerissen, so klar und so nah, dann ist Verrat im Spiel. Regen und Sturm warten irgendwo in der Ferne und jagen heran mit Siebenmeilenstiefeln.

An einem der letzten Apriltage sah Peter Brodersen sie so stehen, wie abgezirkelt gegen eine dunkle Wolkenwand, die im Süden unbeweglich am Horizont lehnte. Er stand dort, wo die Seeflugzeuge anlegen, und mit ihm standen der Werkmeister, zwei Monteure, Panthenius, Leopold Graf, Fritz Gamm, Ottomar von Baden und der kleine Kriesch, Nixens fünf Flugschüler.

Auf dem Wasser schaukelte die Strehla, eine Kabinenmaschine, die in den letzten Wochen überholt war. Wenn im Sommer die Badegäste den Platz überschwemmten, machte Nix Rundflüge mit ihr, und jetzt, wo Warnemünde sich zum Sommer zu rüsten begann, wurde auch die brave Strehla aus dem winterlichen Ruheplatz im Schuppen an das Licht geführt und sollte zeigen, ob sie nichts verlernt hatte von ihrer alten Kunst.

Jeden ersten Flug mit einer neu hergerichteten Maschine machte Nix selber. Er kam eben vom Büro heran, schon ganz in Leder gehüllt, den dicken Wollschal um den Hals geschlungen, mit langen, fördernden Schritten. Als er seine Getreuen neben dem Flugzeug sah, ging ein Lachen über sein Gesicht. »Die möchten natürlich alle mit.« Erwartungsvoll aufstrahlende Augen. Außer Panthenius hatte noch keiner von ihnen in dieser Maschine gesessen, und wann will ein Flieger nicht mit einem neuen Apparat aufsteigen?

»Nehmen wir also mal den Jüngsten mit an Bord. Wer ist es?«

Selig trat Peter neben ihn.

»Also hinein, junger Mann! Vorn neben mich.«

»Es können noch vier in der Kabine sitzen«, murmelte der kleine Kriesch.

»Ein andermal, lieber Kriesch. Wollen sie erst mal nicht zu sehr belasten. Lump, geh weg! Nein, Herrchen nimmt dich nicht mit. Heute nicht. Halten Sie ihn mal fest, Herr Graf!«

Der lange Leopold beugte sich und faßte Lump an das Halsband. Die Monteure standen vorn auf den Tragflächen, drehten den Propeller an, sprangen zur Seite ab, fauchend, schnaubend, dröhnend begann der Motor zu arbeiten, Dampf stieg auf aus den Auspuffern, wie ein großes Insekt, ungeheuer in seinen Ausmaßen, glitt die Maschine über das Wasser hin, wurde vom Wind gefaßt – das Höhensteuer tat seine Pflicht – da lösten sich die Schwimmer von der Flut, gegen den wolkigen Frühlingshimmel hob sich aufsteigend der Riese.

Im gleichen Augenblick gingen zwei graue Maschinen, dem Seeflug gehörig, nieder auf das Wasser. Seeflugschüler rannten heran, Arbeiter kamen, es war für einen Augenblick ringsum wirbelndes Leben. Und in diesem Augenblick riß Lump sich mit jähem Ruck los, warf den Kopf zurück, immer den Blick auf die steigende Strehla gerichtet, und war drinnen im Breitling. Sie riefen alle und pfiffen, Lump ließ sie schreien. Er sah auch nur nach der Maschine, die seinen Herrn entführte. Jetzt war sie hundert Meter hoch, jetzt zweihundert, jetzt drehte sie eine Kurve und flog dem Strom zu, über den Strom hin zur See – –

»Der Hund ist verrückt,« rief der Werkmeister. »Er schwimmt nach in die Warnow.«

»Spaniels sind die geborenen Schwimmer«, sagte Graf weise.

»Aber doch nicht im auslaufenden Strom. Südwind haben wir auch noch«, der kleine Kriesch war aufgeregt vor Sorge um das von allen geliebte Tier. »Das nimmt ihn in die See. Nix schlägt Sie tot, mein lieber Graf, wenn er wiederkommt, und Sie haben den Lump versaufen lassen.«

»Wir müssen das Motorboot losmachen«, riet Panthenius. »Zum Glück ist der Motor erst vor fünf Minuten abgestellt. Fix, fix, fix!« Sie rannten alle, und fünf Minuten später schoß das Boot über die Flut. Weit draußen, hart an der Mündung des Stroms, sahen sie einen kleinen braunweißen Ball treiben. Leute auf der Mole, die den Hund bemerkt hatten, riefen ihn; denn wer in Warnemünde kannte Nixens Spaniel nicht? Aber Lump sah immer noch in der Ferne den großen Vogel, und den großen Vogel mußte er erreichen.

Den Kopf zurückgelegt, mit den dicken Schwimmpfoten wassertretend, ließ er sich hinaustreiben in die See. Erst als er das Boot neben sich erblickte, als all die bekannten Gesichter über den Rand sahen und die bekannten Stimmen ihn riefen, gab er das Rennen auf. Schnaufend kam er heran, wurde hochgehißt und ungeheuer belobt und bewundert. Kein Flieger hatte ein trockenes Taschentuch oder einen sauberen Schal an diesem Tage, sie hatten alle herhalten müssen, das Tier trockenzureiben.

All die Seelöwen, die Tag für Tag vor der Vogtei stehen, hingen über das Stromgitter, als das Boot zurückkam, und schrien: »Hebbt ji em fat? O nee, wat'n Dirt!«

Ein Reisender, der sich zu ihnen gesellt hatte und wegwerfend meinte: »Wie kann man solchen Aufstand um einen Köter machen?« wurde mit Verachtung angesehen.

»Och Herr, dat verstahen S' nich. Son Warmünner Hund, dat's en ganz anner Hund as en annern Hund.« Dann spuckten alle in den Strom – »de Fisch willn ok wat hebbn« – und dösten die nächste Stunde behaglich weiter. Denn an der Brücke vor der Vogtei, wo es hinübergeht zum Bahnhof, ist der angestammte Platz der Seelöwen, und alles von achtzehn bis achtzig, was hafenbinnen ist, bringt da seine Tage zu, mag es Regen geben und Sturm oder Sonnenschein und linde Luft. Sie halten es nicht aus ohne Wasserfeuchte, Fischgeruch und schaukelnde Fischerboote.

Als Nix und Peter aus der Wassertiefe aufstiegen in die leichte Himmelsluft, ahnten sie nichts von der Unruhe, die sie hinter sich ließen. Seit zwei Wochen war Peter im Betrieb tätig, verdarb sich die Hände mit Feilen, Schleifen, Putzen, Ölen, und noch nicht einmal war er aufgestiegen, denn die B. 3, die Schulmaschine, hatte Graf auf den Kopf gestellt und das unverschämte Glück gehabt, sich nicht das Genick dabei zu brechen.

Ein Wunder, daß auch die Maschine nicht vollständig im Dutt war, sondern nur einen zerbrochenen Propeller und eine geknickte Fläche aufwies. Immerhin mußte sie in schwere Reparatur, und da der Unfall zwei Tage nach Peters Eintritt stattfand, war der nicht der größte Freund des »Grafen«.

Aber nun, wo er gar nicht damit gerechnet hatte, nun schwebte er, losgelassen von aller Erdenschwere, dahin. Wunderlich, wie ganz anders das war, als er sich gedacht hatte. Irgendwie versank die Erde unter ihm, versanken Strom und Wiesen, tat sich eine bläulich schimmernde Fläche auf, die unmöglich Wasser sein konnte. Er beugte sich zur Seite, gerade niederspähend, und sah in dunkelgrünes Glas, klar wie Kristall, das dem Blick den Grund freigab, den Grund mit langen, dunklen Streifen – wahrscheinlich Algen – über hellem Sand. Wunderlicher Gegensatz, diese dunkelgrüne Glasmasse in der Nähe und die ferne graublaue Fläche. Unter ihnen die Fähre, kriechend gleich einer schwerfälligen Schildkröte. Unter ihnen ein fliegender Segler, alle Leinwand gespannt – er blieb in wenigen Sekunden weit zurück. Unter ihnen eine Flottille von Motorbooten der Warnemünder Fischernußschalen mit Streichholzmasten.

Höher stieg das Flugzeug, den Wolken entgegen.

Peter sah auf Nix, der seit zehn Jahren an dieser Küste seine Maschinen lenkte. Die dunklen Augen sahen ruhig in die Ferne, die Hand lag am Steuerknüppel, das von Wetter und Wind rotbraun gebeizte Gesicht, eng umschlossen von der Fliegerkappe, veränderte keinen Augenblick den ruhigen Ausdruck. Jetzt wandte es sich, wohl berührt vom Blick des großen Jungen, ein wenig zur Seite und lächelte ihn an, lächelte mit dem warmen Lächeln, das ihm die Herzen seiner Flugschüler gewann.

Dann deutete die linke Hand in die Tiefe, das Flugzeug beschrieb eine Kurve, und jäh stand die ganze Fläche der See wie eine schräge Wand gegen sie auf. Sank zurück, lag wieder in weichen Wellen, ein leichtbewegtes Seidentuch, im Grunde.

Die Molen sah man als schmale graue Striche, sah die Häuser des Ortes in zierlichen bunten Steinhäufchen um die Spielzeugkirche, und nun wies Nix abermals hinunter. Ein kleines Motorboot kam zwischen den Molen hervor – seine scharfen Augen hatten das eigene erkannt. Er griff neben sich auf den Sitz und reichte Peter ein kleines Fernrohr. Was machten die da plötzlich an der Strommündung?

Peter begriff, stellte das Rohr ein, hatte jetzt das Boot im Glas, erkannte auf ihm die Kollegen, die sich alle nach der einen Bordseite drängten – etwas Winziges, Rundes, Weißbraunes wurde hochgehißt – schüttelte sich, sprang an Kriesch in die Höhe. Er schrie Nix in die Ohren: »Lump! Lump!« Der nickte nur. Er hatte sofort begriffen.

Schon waren sie wieder über dem Strom, über dem Breitling, noch einmal stand eine Wasserwand fast senkrecht neben ihnen – da gab es schon einen leichten Stoß unter den Kufen, die Strehla hatte aufgesetzt, der Motor war verstummt, rauschend glitt der große Vogel an den Strand des Flugplatzes.

Der heranschlendernde Sipo begrüßte sie mit den Worten: »Herr Nix, Ihr Lump –«

»Sie haben ihn schon herausgeholt, alles in Ordnung.«

Der sieht auch alles, dachte der Mann und schlenderte zu seinem Wachhaus zurück.

»Nun, Brodersen, wie ist Ihnen?«

»Fein.« Peters Gesicht strahlte. »Schade, daß es schon zu Ende ist.«

»Haben Sie aufgepaßt, wie ich steuerte?«

»Keine Spur. Ich hatte zuviel zu sehen. Aber das nächste Mal.«

»Das nächste Mal sitzen wir in der Schulmaschine. Wenn das Wetter danach ist – morgen.«

Das Wetter sah sich nicht so an; denn es schob eben die dicke Wolkenwand aus Südwesten herauf, die Sonne löschte aus, Regenfladen jagten heran, töteten jede Fernsicht, peitschten die Gesichter, prasselten auf die Lederjacken, jagten alles, was Mensch hieß, vom grünen Rasen fort hinein in die Hallen und Werkstätten.

Sie waren drinnen dabei, Monteure und Schüler, Nixens Auto, einen flotten Steiger, vorzunehmen. Die Karosserie war abgenommen, der Motor wurde überholt, der Lackierer strich alles Metall mit einer leuchtend roten Lackfarbe, nur die Motorhaube hämmerten sie kunstvoll zu einem marmorierten Grau. Rot waren die Rümpfe der Flugmaschinen, lichtgrau waren die Tragflächen, das Auto sollte schon äußerlich bekunden, daß es zum Aerosport gehörte.

Keine der großen Flugschulen war der Aerosport, die mit staatlichen Mitteln alles großartig aufziehen können. Er mußte sorgen, daß er oben blieb in diesen harten Jahren. Aber waren nur wenig Schüler dort, so war das Leben unter ihnen um so kameradschaftlicher, und der auf dem gleichen Platz gelegene Betrieb des Seeflugs, der mit einem halben Dutzend Wassermaschinen schulte – die nahe Aradowerft, wo gebaut und eingeflogen wurde – und das andere Werk, dessen Maschinen nicht nur über Europa, sondern weit hinaus nach Japan, Südamerika und wer weiß wohin gingen, gaben den Jungschülern Anregung.

Es war immer Leben auf dem Rasen und dem Wasser, und schon kam es vor, daß die Warnemünder murrten: »De Dinger, de maken en Krach, dat's rein tau dull.« Sie standen aber doch am Strom und bei der Kirche, wenn ein erfahrener Pilot eine neue Maschine droben in den Lüften tummelte, Loopings drehte, das Flugzeug trudeln ließ, daß unten alte Damen angstvoll aufkreischten, es im steilen Gleitflug niedergehen ließ und es hundert Meter über dem Boden ebenso steil wieder in die Höhe zog.

Als gegen Mittag Regen und Hagel im wilden Getobe eine Pause machten, zogen die Flugschüler die Ablaufbahn hin zum Tor – an dem seit mehr denn zehn Jahren die Tafel hängt: »Zutritt verboten«, was kindliche Seelen bisweilen verstört – und hinüber über den Strom mit dem Fährboot. Fähraugust zählte die Häupter seiner Lieben, er kannte jeden. »Dor fehlt doch noch een. Wo hebben S' denn Herrn Gamm laten?«

Gamms große, breitschulterige Gestalt kam eben heran an die Anlegestelle. »Mitnehmen, August!«

»Sei hebben wedder nölt«, sagte August. »Tante Paula ward de Suppe kolt.«

»Tante Paula wärmt sie uns gern wieder auf. Los!«

Der auslaufende Strom drängte das Boot ab, alte, morsche Eisschollen stießen gegen das Holz und wollten den Holzkasten mithinausnehmen in die unendliche Weite, aber Fähraugust ruderte mit der Gelassenheit, die all sein Tun auszeichnete, erst dem Strom entgegen und dann mit dem Strom hinüber, stieß gegen die Treppenstufen und sagte: »Hopp«. Da sprangen sie auch schon an Land.

Nur Gamm, der wieder stehenblieb, hob den Kopf zu den Möwen, die über die Flut schossen, kniff die Augen ein und wandte sie dann zwei Krähen zu, die von der Heide herüber schwerfällig heransegelten.

»Dalli, dalli«, schrie Kriesch. »Mein Magen hängt schief.«

»Und es muß doch gehen, daß der Mensch selber fliegt«, brummte Gamm. »Nicht immer nur drinsitzt in den Klamotten.«

»Ist nicht! Wir haben zuviel Mark in den Knochen, das hat uns schon der Professor in der Naturgeschichte auseinandergesetzt.«

»Hohle Knochen sind natürlich leichter. Aber im Verhältnis zum Gesamtgewicht nicht ausschlaggebend. Außerdem haben die Fledermäuse und sonstiges Nachtgetier gar keine hohlen Knochen.«

Peter schrie zornig: »Das können wir alles nach Tisch bereden. Ich bin positiv verhungert. Wenn er nicht 'runter will von seinem Steckenpferd, schlagen Sie ihn tot, Kriesch!«

Wortlos streifte Gamm den Ärmel zurück und zeigte die Muskulatur. Kriesch klopfte ihn begütigend. »Alles schön, alles gut. Kommen Sie nur schon. Lassen Sie doch den Gladiator in Ruh, Brodersen!«

Sie gingen mit schwingenden Schritten am Strom hin, und vor ihrer Veranda stand Frau Martin und sah sie kommen, wandte sich und rief:

»Kinder, die Flieger. Otto, keine Suppe für den ›Grafen‹, aber viel Kompott. Und Herr Gamm muß Kalbsbraten haben, der ißt keinen Fisch«, denn sie war die Fliegermutter, und jeder von ihnen war ihr ans Herz gewachsen.

»Tante Paula,« sagte Kriesch, »wir bringen einen neuen Mann, der hier geatzt werden will. Kompliment, Brodersen!«

»Lassen Sie man, Herr Kriesch. Herrn Brodersen kenn' ich all viel länger als Sie. Den hab' ich schon gekannt, als er so hoch« – sie zeigte eine unmögliche Kleinheit – »war. Na, Herr Brodersen, denn setzen Sie sich man an den Doppeltisch in der Veranda, da sitzen die Herren immer. Otto, die Suppe –« Otto lief schon.

»Wissen Sie auch das Neueste, Tante Paula? Hexe hat Junge. Vier Stück. Eins davon bekomm' ich. Auf eins hat Brodersen schon abonniert.«

»Mag Tanten das auch, Herr Brodersen?«

»Tanten kriegt ihn gar nicht zu sehen. Ich nehm' ihn immer mit auf den Flugplatz. Und mittags futtert er hier bei Ihnen, Tante Paula.«

Die große blonde Frau sah nicht überglücklich aus. Junge Hunde – sie konnte ein Lied davon singen. Irgendeiner der Flieger hatte immer einen aus der Lumpschen Nachkommenschaft. Aber wann schlug sie einem von ihnen einen Wunsch ab? »Ja, wenn es nicht anders ist, denn bring' em man mit, lütt Jung.«

Lütte Jungens waren sie alle bei ihr, sie hätte mit ihren Fünfzig ja auch ihre Mutter sein können.

»Tante Paula! Laufen Sie doch nicht weg, Tante Paula! Hören Sie doch mal zu. Nächste Woche mach' ich meinen Alleinflug. Am ersten guten Tag. Und abends feiern wir bei Ihnen. Bowle und was für den Schnabel. Haben Sie was Gutes im Keller?«

»Den trinken Sie nicht aus.«

»Wir sind ein Dutzend Mann, die kommen.«

»Können auch zehn Dutzend sein. Was denken Sie, der Wein soll doch den ganzen Sommer reichen! Ananas- oder Pfirsichbowle?«

»Ananas. Und die große Grüne, wo zwanzig Flaschen hineingehen.«

»Kann ich Ihnen nicht zu raten, Herr Kriesch. Das dampft ab. Das ist bloß was für Leute, die protzen wollen. So im Sommer die reichen Agenten aus Berlin, die so tun, als wenn ihnen die Welt gehört. Nehmen Sie die kleine weiße, zehn Flaschen, Sekt und Rheinwein, und denn kann ja immer frisch angesetzt werden.«

»Hören Sie mal, Kriesch, haben Sie das große Los gewonnen?«

»Wenn Sie pumpen wollen, Gamm – über ist nichts.«

Gamm wehrte nicht einmal ab. Er pumpte nie. Lieber lag er krumm.

Otto kam mit einem in Leder gebundenen Buch. »Frau Martin läßt bitten, daß Herr Brodersen sich einschreibt, weil er zum erstenmal als Flieger hier ist.«

Peter griff nach dem Buch. Auf der ersten Seite stand:

»Den Königen der neuen Zeit,
Den Fliegern sei dies Buch geweiht.«

Auf der gegenüberliegenden hatte Nix mit flotten Strichen einen Doppeldecker gezeichnet. Dahinter, auf den folgenden Blättern viele Verse, Sentenzen, Skizzen, immer mit dem Namen eines gezeichnet, der als Flieger bei Tante Paula verkehrt hatte.

Peter zog einen Stift und schrieb:

»Der Mutter der Flieger
Ein Lüftebesieger.«

Gamm und Kriesch, die ihm über die Schulter sahen, brachen in ein Höllengelächter aus.

»Der Mann ist gut! Der kann so bleiben! Größenwahn in schlimmster Form! – Einmal aufgestiegen unter sicherer Führung und fühlt sich als Bezwinger der Luft.«

Peter lachte mit. »Was nicht ist, wird schon werden. Prost, auf unser aller Zukunft! Otto, noch ein halbes Dutzend Dünnbier!«

Eine Viertelstunde später trabten sie wieder über die Brücke, noch schnell auf der hohen Düne hinten am Flugplatz eine Tasse Mokka, gebaut auf mecklenburgischen Roggenfeldern, zu genießen, ehe es wieder in den Dienst ging.

*

Als Jens Brodersen seinerzeit von München fort und an die See gezogen war, hatte er sich in Warnemünde am Strom ein altes Fischerhäuschen gekauft, mit Hof und Hinterhaus und was so drum und dran hing. Das hatte er ausbauen lassen, mit einem Atelier oben im Giebel, mit einem langen Flügel und mit allem Behagen, das der moderne Mensch auch fern der Stadt nicht entbehren will.

Jetzt hatte Jon das Atelier, und wo jahrelang die düsteren Landschaftsbilder des Vaters gestanden, lachten seine kleinen, übermütigen Märchenstücke von Staffeleien und Wänden. Dazwischen standen kleine Plastiken; denn die Natur hatte ihm zum Ersatz für seine unglückliche Gestalt doppeltes Talent geschenkt.

Unten im Haus waltete Tante Lite und sah von der großen Veranda aus mit sehnsüchtigen Blicken zur Strombrücke hinüber, über die Pet kommen mußte, wenn er einmal kam. Aber allzu oft war das nicht. Pet aß mit den Kameraden bei Tante Paula und schlief am liebsten bei Heino in der Seitenkabine, wo nur ein Bett stand, das er manches Mal noch mit einem der Brüder teilen mußte.

Er verachtete plötzlich allen Komfort, den er sonst sehr geliebt hatte, fühlte sich als Mann und hatte ein mitleidiges Lächeln bei den Nöten und Besorgnissen der guten Tante.

Jetzt mußte drüben am neuen Strom eine Fähre herübergekommen sein. Vom Bahnhof her über die Brücke kamen Menschen, zu wenig für einen Rostocker Zug. Tante Lite rief durch das Haus: »Jon, mach! Trummers kommen mit Heino, und Adolf ist auch dabei.«

Oben Scharren von Stühlen oder Staffeleien, Jon flötete sein Antwortsignal, da hörte man auch schon die Gäste in die Veranda kommen.

»Wo ist Pet?«

»Also sag ich es nicht? Wir werden nicht mal begrüßt. Erste Frage: Wo ist Pet?«

»Ach Adolf – ich wunder mich doch nur –«

»Sei ruhig, in den Bach ist er nicht gefallen. Er kommt nach. Um Zeit zu sparen, hat er sein Rad mit einem Motor versehen. Irgendein altes Ding, das er alt gekauft hat. Infolge der übergroßen Geschwindigkeit dieser Maschine kommt er nach.«

Jon kam hinzu, schüttelte Onkel und Kusine die Hand und fragte: »Um alles in der Welt, was ist denn das für 'ne Muckepicke, auf der Pet da über die Brücke kommt? Die unglücklichen Räder schlottern ja nur so vor Angst bei seinem Rennen.«

Sie traten alle vor das Haus und bewillkommneten ihn mit Hallo.

»Jung, du willst wohl das Sechstagerennen gewinnen?« – »Paß auf, daß du keine Strafmandate bekommst wegen tollen Fahrens.« – »Wenn du mit diesem rasenden Roland nicht das Genick brichst, hat sich noch nie ein Flieger das Genick gebrochen.«

Nur Else spürte ein menschliches Rühren und sagte: »Laßt ihn doch, es fällt kein Meister vom Himmel. Komm 'rein, Pet, Tante Lite will dich in die Arme schließen.«

»Na, denn zu, kurz und schmerzlos.« Tante Lite bekam einen flüchtigen Kuß, schon gingen die Augen des Jüngsten über den Kaffeetisch. »Keine Sandtorte?«

»Sie kommt gleich herein, mein lieber Junge.«

Geheimrat Trummer schüttelte den Kopf. »Immer das gleiche, Lite. Der Jung! Der Jung! Und wieder der Jung! Hoffentlich nimmt Nix ihn ordentlich hoch, in jeder Hinsicht. Warst du gestern in der Maschine, die über die Heide flog?«

»Nein, in der saß der Jraf, der fliegt seit sechs Wochen allein. Hast du die dallerigen Kurven gesehen, die er machte? Er hat höllische Angst, die Maschine auf die Seite zu legen. Sollst sehen, er schmiert noch mal ab. – Else, gib mir noch mal den Butterkuchen. Man glaubt gar nicht, was man da oben in der Luft für einen Appetit bekommt. – Warum habt ihr denn Nina nicht mitgebracht?«

»Sie meinte, es schickte sich nicht, ohne Aufforderung von Tante Lite gleich zum Kaffee ins Haus zu fallen. Aber sie kommt nach.«

»Nina?« fragte Jon. »Ist das die Silberblonde? Das Tanagrafigürchen, das neulich mit dir auf der Bahn war, Else? – So, das ist die Ledertochter aus Berlin! Gut, daß der Beruf des Vaters nicht immer auf die Töchter abfärbt.«

Adolf, der immer Höfliche und Rücksichtsvolle, fragte: »Paßt es dir, Tante Lite, wenn wir um sieben Abendbrot essen? Wir möchten heute abend das Rostocker Studentenorchester hören. Und wenn wir um acht nicht da sind, bekommen wir keinen ordentlichen Platz mehr.«

»Natürlich, Adolf, natürlich. Das läßt sich machen. Sag' mal, wie hast du denn die Nacht geschlafen?«

Adolf, der alle sechs Wochen nur einen freien Sonntag hatte, war am Abend vorher von Rostock heruntergekommen und gleich zu Heino hinausgewandert.

»Danke für gütige Nachfrage! Wenn ich meine schlaflosen Stunden zusammenzähle mit denen, die ich gewacht habe, dann kommt so ziemlich die ganze Nacht heraus.«

Jon verstand. »Pet hat wohl das ganze Bett für sich beansprucht?«

»O nein, nur neun Zehntel. Manchmal mußte ich allerdings in die Wand hinein, wenn ich nicht erdrückt werden wollte. Aber Heino hat mit Apenjule geredet. Der will sein möglichstes tun, daß ich nächstesmal eine Laubschütte bekomme. Die Wolldecke dazu bring ich mir von Rostock aus mit.« Er machte sein ernstestes Doktorgesicht, er verdarb sich seine Reden nie durch eigenes Lachen.

»Ach, das ist ja schrecklich«, bedauerte Tante Lite, die für Humor nicht das geringste Verständnis hatte. »Kannst du denn nicht ein zweites Bett anschaffen, Heino? Dein letzter Roman ist doch so gut bezahlt worden.«

»Das darfst du ihm nicht zumuten, Tante«, rief Else. »Heino sitzt wie ein Drache auf seinen Schätzen.« Ihre Augen sprachen eine andere Sprache als ihre Lippen. »Sieh, da ist auch Nina.«

Nina Moll kam ein wenig zögernd – denn sie kannte Tante Lite, die hier Hausfrauenrechte vertrat, eigentlich gar nicht – in die Veranda. Aber als sie ohne Umstände willkommen geheißen und zwischen Pet und Adolf gesetzt wurde, fühlte sie sich äußerst wohl. Ihr helles, krauses Haar war vom frischen Wind zerzaust, die zarten Farben blühten nach dem Gang in der herben Luft, die raffiniert einfache Kleidung, in einem ersten Berliner Atelier angefertigt, setzte jede ihrer Linien in das hellste Licht.

Sie wußte, daß sie wirkte, und sie fühlte sich nach fünf Minuten so wohl wie der Spatz im Hanfsamen. Zunächst machte sie sich beliebt bei den alten Herrschaften. Sie bestellte Grüße von ihrer Mutter, die nie aufgetragen waren, erklärte dem alten Geheimrat, daß sie schon im letzten Sommer für seine Rosen geschwärmt hätte, sagte Tante Lite, Pet spreche so viel von ihr – sie kenne sie schon ganz genau, und machte Heino, der für alles, was menschliches Theater war, eine starke berufliche Neigung hatte, unbändigen Spaß.

Bis sie sich auch ihm zuwandte und ihre Angel auswarf. Da zog er sich in sein Schneckenhaus zurück. Das war Nina nicht gewohnt, sie verstand gar nicht, wie ein Mann nicht mit Entzücken nach dem kleinsten Brocken ihrer Gunst haschen konnte, und es verdroß sie.

Als daher nach dem Kaffee Jon ihr den Vorschlag machte, sein Atelier zu besehen, stieg sie sofort mit in den Giebel.

Der erste Eindruck war eine starke Enttäuschung. Jon hatte vom Vater die Vorliebe für eine sehr einfache Werkstatt geerbt. Aller überflüssige Kram störte ihn nur in der Arbeit. Nina sah etwas gelangweilt um sich. Sie hatte gedacht, in einem Atelier wären lauter lauschige Ecken, weiche Polster, zarte, verführerische Farben – lauter Dinge, die betörend und entzückend wirkten.

Dann sah sie die vielen Skizzen an den Wänden, sah auf der Staffelei den Entwurf zu einem neuen Bild, stieß einen Schrei des Entzückens aus und lief darauf zu.

Der Winkel einer Landstraße, ein Grabenrand, alte, morsche, schiefe Weiden. Die blattlosen Zweige gleich struppigen Haaren um halb gutmütige, halb hexenhafte Gesichter, Nasen, Augen, Münder ebenso viele Knorren und Risse – und all diese Baumgesichter starrten neugierig oder verächtlich auf einen alten Stiefel, dessen Sohle, abgerissen vom Oberleder, tief im Schlamm steckte. Während die Weiden, besonders soweit sie vermenschlicht waren, ziemlich fertig gemalt waren, waren Straße und Stiefel nur leicht angelegt.

»Gefällt's Ihnen?« fragte Jon.

Nina antwortete eine ganze Weile gar nichts. Endlich sagte sie gerade heraus: »Bis auf den Stiefel – ja. Aber da muß was anderes hin.«

»Und was sollte das nach Ihrer Meinung sein?«

»Ein Gegensatz. In dem Schmutz und der Verlassenheit ist ein zertragener Stiefel doch nichts Besonderes. Da muß – warten Sie mal – ja, da müssen Sie auf dem Stein, der aus der Pfütze sieht, ein verirrtes Elfenkind malen. Heulend oder lachend – das überlass' ich Ihnen. Aber so ganz leicht und luftig angetan und so ganz gottverlassen da in seiner Einsamkeit. Da werden die alten Weiden wirklich glotzen.«

Jon bekam blanke Augen. »Sie haben gar nicht unrecht. Und damit ich das kleine, feine Ding richtig herausbekomme, wissen Sie, so den Gegensatz, den Sie wünschen, da müssen Sie mir dazu Modell stehen.«

»Ist das sehr langweilig?«

»Langweilig? Wahnsinnig interessant ist das. Ich werde mir den Kopf zerbrechen, Ihnen jedesmal etwas Neues und Nettes zu bieten. Und denken Sie mal die Reklame, wenn Sie da in einer Berliner Ausstellung hängen.«

»Reklame für Sie oder für mich?«

»Für Sie natürlich. Oder wissen Sie gar nicht, daß ich schon so etwas habe, was man einen Namen nennt?«

»Schön, wann wollen wir anfangen? Und was soll ich anziehen?«

Jon legte den Kopf auf die schiefe Schulter und blinzte mit den Augen wie ein Kakadu, bis Nina hell auflachte. »Anziehen? Wissen Sie, das sag ich Ihnen schon, wenn Sie kommen. Ich glaube, für diese Art von jungen Damen weben die Spinnen meist sehr luftige Schleier – –«

Nina hob das zierliche Näschen. »Sie wissen wohl nicht, daß Sie mit einer Dame reden?«

»Dame? Mit einer Elfe. Und Elfen sind reine Natur. Und mir nimmt keiner etwas übel. Ich zähle doch nicht mit. Ich bin doch – sozusagen –« er deutete auf seine Schulter, »in galanter Hinsicht nur ein Neutrum.«

»Ihnen trau ich nicht.«

»Aber Sie kommen.«

»Ich will es mir überlegen.«

»Bis morgen zwischen zwölf und mittag, ja? Absagen werden nicht angenommen.«

Lärm kam über den Boden, Peter, Else und Adolf drangen ein, und sie hatten gar nichts am Stiefel auszusetzen. Ausgerechnet die kleine Ledertochter hatte das richtigste Verständnis für die Sache gehabt.

Die junge Welt wanderte in das Hotel, wo die Rostocker Studenten zum Besten des eigenen Studiums und für minderbemittelte Kommilitonen am Sonntag zum Tanz musizierten. Der Geheimrat und Heino machten sich auf den Heimweg.

Als sie im matten Dämmer des tiefstehenden Mondes den Dünenweg der Ostseite hingingen, während unten die Wellen rauschend gegen den Strand liefen, fing der alte Herr an: »Es ist gut, daß du den Jungen da draußen hast. Noch kannst du ihn ziehen. Aber ein oder zwei Jahre länger in Lites Verwöhnung, da wäre er total schlapp geworden.«

»Er hat viel frisches Leben in sich.«

»Aber wenig Festigkeit. Das Leben hat ihn ja nie gerüttelt. Ihr habt ihn alle verwöhnt, und dies Märchen von der guten, vergötterten Mutter –«

»Mein Vater hat sie tatsächlich vergöttert.«

»Es werden auch Götzen vergöttert. Ihr habt sie dem Jungen aber zu einer Gottheit gemacht.«

»Wir nicht. Er sich selber. Und als Tante Lite es merkte – ja – da mag sie wohl ein bißchen nachgeholfen haben.«

»Wunderlich sind die Frauen. Wo sie eure zweite Mutter nicht leiden konnte. Denn sie hat euren Vater sehr lieb gehabt.«

»Das wußten wir schon als Jungens. Sie ist ja so leicht zu durchschauen. Nur Vater, glaub' ich, hat es nie erkannt.«

Sie sprachen abgerissen, immer stehenbleibend und über die See schauend, deren weiße Kämme matt leuchteten.

»Ich glaube, so, wie die Mädchen in meiner Jugend liebten, so lieben sie heute nicht mehr. So bedingungslos. So selbstvergessen. Die Ehe – da hatten Vater und Mutter viel mitzureden. Aber die Liebe – das heißt ohne alle Konsequenzen; denn schon ein Kuß war für ein junges Mädchen aus gutem Hause undenkbar ohne den Ring – ja, diese schwärmerische, tiefe Liebe, die verschenkten sie aus innerstem Herzen. Heute haben sie so viel, was sie erfüllt, und zum Teil auch ausfüllt –« er brach ab.

Er dachte an seine Tochter, die ihm als letztes von vier Kindern geblieben war. Er dachte, daß ihre Augen immer hell wurden, wenn der lange Vetter in die Stube kam, und daß sie, die stets ein bißchen Stachlige, sanft wurde, wenn Heino sprach. Und er sagte sich: Es ist gut, daß heute die Mädchen noch anderes in Gedanken haben als eine Liebe. So wird nicht ihr ganzes Leben dadurch zerbrochen.

Da sagte Heino neben ihm, auch aus spinnenden Gedanken heraus: »Kannst du dir denken, daß die kleine Berlinerin an gebrochenem Herzen stürbe? Oder daß Else, die so sicher das eigene Leben lenkt, um eine unerwiderte Neigung leiden könnte?«

Der alte Herr schwieg. Vor ihnen wuchs der Wald heran. Das Brausen der See mischte sich mit dem Brausen der Wipfel, in denen der Nordwind wilde Gesänge wachrief.

»Wenn der Wind noch mehr nach Westen geht – er scheint eine Neigung dazu zu haben –, dann kann es 'ne nette Nacht werden.«

Vor Trummers Haus blieben sie stehen, wandten sich nach Westen zurück, sahen die Lichter des Orts drüben jenseits des Stromes schimmern, und hoch in der Luft ging in weißem Fächer der Schein des Leuchtturms, wies durch Nacht und Regenböen den Weg und versagte nur, wenn der schlimmste Feind des Seemanns wie des Fliegers, der tückische Nebel, sich über Land und See legte.

»Gute Nacht«, sagte der alte Herr. »Ist dein Jule zu Haus? Mir ist es gar nicht recht, daß du da so allein mit dem wunderlichen Kerl haust.«

»Der ist zuverlässiger als tausend Weiber. Und dann kommt Peter ja auch noch heran. Nein, ich bin hier glänzend aufgehoben.«

Er ging in seine Klause, wo schon auf dem Schreibtisch die altmodische Petroleumlampe brannte und im Kachelofen ein paar Buchenkloben knackten; denn es zog kalt durch die Holzwände. Jule war nicht zu sehen, man hörte nur bisweilen auf dem Boden die Dielen knacken, da wurzelte er also herum.

Als aber Heino, gemahnt durch eine ziehende Schwere in den Gliedern, sich auf den Boden streckte, wie er es zu dieser Stunde gewohnt war, klappte zwei Minuten später die Falltür droben, Jules verrunzeltes Gesicht sah nieder, der ganze Mensch, ein verdorrter Knorren, klomm die Leiter nieder, und dann hockte der Alte, zusammengekauert wie ein Gnom, neben seinem Herrn, der blaß und mit leise keuchendem Atem fast eine Stunde lang ohne Besinnung dalag, anzusehen wie ein Sterbender.

Erst als der Atem kräftiger und regelmäßiger wurde, als die Farbe in das Gesicht zurückkehrte, zog sich Jule vorsichtig wieder zurück. Der Herr liebte es nicht, ihn beim Erwachen neben sich zu sehen. Aber oben an der Luke lauschte er, und erst als die Tür von Heinos Schlafkammer in das Schloß klappte, streckte er sich selber auf sein Lager.

*

Die Brodersens fanden einen Ecktisch, den sie durch Ansetzen eines zweiten verlängerten, und als kaum die Stühle herangeholt waren für ein halbes Dutzend Menschen, sahen sie an den Köpfen der jungen Mädchen, die alle nach einer Seite gingen, daß am Eingang etwas Besonderes auftauchte. Ein Raunen lief durch den Saal: »Die Flieger, die Flieger.«

Gamm in seiner ganzen römischen Kraft und Schönheit, obgleich er ein Ostpreuße war, Baden, geschmeidig und blond, Panthenius – ein bißchen licht um den Scheitel, aber sonst noch sehr gut beisammen – und, lachend und alle ein bißchen schubsend und treibend, der kleine Kriesch – so kamen sie durch den Saal und begrüßten Pet mit so viel Wärme, daß man sie wohl oder übel an den eigenen Tisch komplimentieren mußte. Da wurde es denn so lebhaft, daß die kleinen Warnemünderinnen und die Rostocker Mädchen, die mit Studenten und Heringsbändigern Sonntags zum Tanz nach Warnemünde fuhren, immer wieder die Blicke in jene Ecke gehen ließen, wo zwei Damen einen ganzen Tisch voll der nettesten, vergnügtesten Herren für sich allein hatten.

»Wo habt ihr denn den ›Grafen‹?« fragte Peter. »Verschmäht der die Warnemünder Lokale?«

»Die Lokale nicht, aber unsere Gesellschaft. Er ist mit einer kleinen Tippmamsell unterwegs. Heute nachmittag schon bei Bechlin, und vorhin auf der Mole. Wir werden sie hier noch erleben.«

Kriesch verneigte sich vor Else, was Adolf ärgerte, der eine Vorliebe für die Kusine hatte. Da sie ihm fortgenommen war, forderte er Nina auf.

Es war noch nicht sehr voll, die einzelnen Paare konnten sich bewegen, ohne ihre Füße auf die anderer Leute zu setzen, und die sieben Studenten fiedelten und paukten mit unermüdlicher Kraft.

Schon hob es in einer Ecke an zum Spiel zu singen:

»Ich hab das Fräulein Helen
Baden sehn,«

»Das war scheen«, fiel es von allen Seiten ein, und die Tanzenden bewegten sich lebhafter.

»Wenn ich etwas hasse, ist es dies Gesinge«, sagte Else, sehr zum Bedauern ihres Tänzers, der als echter Rheinländer nur zu gern mitgesungen hätte. »Ich finde, es klingt direkt ordinär.«

»Oh, oh! Wie hart Sie sind, gnädiges Fräulein. Wir sind hier eben zwischen dem Volk.«

»Das sagen Sie nicht laut. Sie würden Anstoß erregen. Wer ist denn der dunkle Mann, der immer so dicht neben uns tanzt?«

»Den kennen Sie nicht? Das ist der Japs. Und seine Dame ist Buchhalterin bei Zeeck in Rostock, Fräulein Maier, mit a-i –. Eine tiefe und heiße Liebe. Sie tragen bereits den Ring.«

»Sie ist ja grauenvoll häßlich.«

»Nach unserer Ansicht. Aber wahrscheinlich entspricht sie dem japanischen Schönheitsideal. – Ho – da rührt sich was. Sehen Sie dort an der Tür? Seeflug kommt mit sieben Mann in den Saal.«

Wieder das allgemeine Köpfedrehen. Lehrer und Schüler des Seeflugs traten in geschlossener Masse ein, bahnten sich einen Weg durch die Tanzenden und belegten einen zweiten Ecktisch. Die Kellner rannten. Flieger gingen immer sorglos mit dem Gelde um.

Ein neuer Tanz. Schon drängten sich die Paare, und immer noch strömte es in den Saal, und in den Vorräumen füllten sich die letzten Tische. Noch waren keine Badegäste im Ort, noch öffneten die eleganten Tanzdielen ihre Pforten nicht, so sammelte sich alles an dieser Stelle, und all die Rostocker Pärchen, die den Sonntagabend vergnügt sein wollten, fuhren hinunter an die See und kehrten mit dem Mitternachtszug heim zur Stadt.

Wieder Gesang:

»Der Neger hat sein Kind gebissen, ho, joho!
Er hat es mit der Wurst geschmissen, ho, joho!«

Aufjauchzen der Geigen, dröhnender Schlag der Trommel, die Jazzmusik verschärfte den Rhythmus, Else und Nina wirbelten bereits mit Gamm und Peter davon. Einmal streifte ein Arm an Elses Ellenbogen, sie sah zur Seite, Leopold Graf mit einer verwegen aussehenden Schönen, deren buntkarriertes Seidenkleid sich straff um den Körper spannte, drehte an ihr vorbei. Sie fragte Gamm: »Was ist ihr sogenannter Graf eigentlich für ein Mensch? Er hat keine netten Augen.«

Gamm in seiner unzerstörbaren Ruhe sagte niemand etwas Schlechtes nach.

»Der Jraf? Och, der Jraf ist ein ganz netter Mann. Wer ihm nichts tut, dem tut er auch nichts. Er hat schon im letzten Kriegsjahr geflogen, war inzwischen in Amerika als Kaufmann, ist nun zur alten Fahne zurückgekehrt. Er fliegt hier die ersten 5000 Kilometer ab für den zweiten Schein. Nachher geht er nach Staaken, sagt er.«

»Warum hält er sich nicht zu Ihnen? Ich meine zu Ihrem ganzen Kreis?«

»Er ist etwas Sonderling. Und die kleinen Mädchen, die er auszeichnet, sind keine Gesellschaft für Sie, gnädiges Fräulein.«

Peter und Nina wirbelten eben vorüber. Peter mit dem ganzen Feuer eines, der noch nicht lange ein guter Tänzer geworden ist. Else und ihre Freundinnen hatten seine Tanzstundenkünste in den letzten Monaten zu einer gewissen lebemännischen Gewandtheit umgewandelt, während Jon dazu Geige spielte. Nina aber war in den Berliner Dielen in den letzten Schrei jedes Tanzes und jeder Tour eingeweiht. Und doch machte es ihr einen unbändigen Spaß, hier zu tanzen zwischen der buntgewürfelten Gesellschaft, mit jungen Menschen, denen allen die Unternehmungslust aus den Augen funkelte, Menschen, um die sie von allen anwesenden Damen beneidet wurde; denn heute ist der Flieger für alle kleinen Mädchen in Warnemünde das, was ehemals der Leutnant war.

Sie sah entzückend aus, so ganz hell und zierlich im schwarzen Seidenkleid, das in raffiniertester Weise ihre Blondheit betonte. Peter, dem sie bisher weder lieb noch leid gewesen, sah, wie die Blicke der Männer ihr folgten, mehr als Else, die doch so viel königlicher war in Wuchs und Haltung, und er holte sich das Lazertlein immer wieder zum Tanz.

Adolf, der wenig getanzt hatte, nur mit seinen ruhig wägenden Blicken die Gesellschaft beobachtete, stand auf. »Ich muß gehen. Der Zug geht in einer kleinen halben Stunde. Ich will noch mal auf die Mole. Eben sagten zwei Herren, die von draußen kamen, der Wind würde Sturm. Laßt euch nicht stören.«

Sie erhoben sich alle mit ihm. Gleich nach dem letzten Rostocker Zug ging auch die letzte Fähre über den Strom hinüber zur anderen Seite. Peter, Nina und Else wollten sie erreichen. Die anderen jungen Leute wohnten im Ort.

Hinter ihnen her kam ein neuer Schlager, der Protest gegen das badende Fräulein Helen.

»Das Fräul'n Helen soll nicht mehr baden,
Ich hab genug gesehn von ihren Waden.«

»Grausig«, sagte Else, aber sie lachte doch. »Tante Lite würde einen Schlaganfall bekommen, wenn sie die heutigen Texte hörte. Peter, hast du die Garderobenummern? Natürlich mußt du sie haben. Na, dir kann auch einer was anvertrauen –«

»Ich hab sie«, sagte Adolf. »Der Jüngling ließ sie erst liegen. Wann bist du morgen früh im Krankenhaus, Else?«

»Sag bloß nicht Krankenhaus. Ich graul' mich, wenn ich heut abend an Jodoform und Äther und Bazillen denk –« Ihre Stimmen verklangen in der Nacht, die mit wilden Sturmstößen und dröhnender Meeresbrandung über sie herfiel. Immer noch stand der Mond zwischen den jagenden Wolken, und die hetzenden Wasserweiber warfen gespenstische Schleier in seinem wechselnden Licht. Dunkel lagen die Molen zwischen schwarzen Flußwassern, aber von Westen her brandete es in stürzenden Bergen gegen die Molenwand, rannte toll und triebhaft über die vorgelagerten Steinmassen, bäumte sich brüllend auf und hetzte wilde Güsse hoch über die Mole hin, schleuderte sie bis hinüber in den finsteren Strom, zog sich zurück in tiefe, schattendunkle Täler und brach mit erneuter Kraft gegen Land und Strand heran.

Lichter schwankten auf und ab vor der Einfahrt, irgendein Schiff, vom Sturm bedrängt, suchte den Nothafen zu gewinnen.

»Wir können nicht darauf warten«, sagte Adolf. »Ich muß zur Bahn. Mein Dienst beginnt morgen früh um sieben. Wir haben wahrscheinlich zwei schwere Operationen. Gallenstein und Fußabnahme.«

»Woher weißt du es?«

»Professor Lindemann rief vor dem Kaffee bei uns an. Ich müßte unter allen Umständen heute abend unten sein. Wenn es noch in der Nacht gemacht werden müßte.«

»Du hast auch nicht viel ruhige Nächte.«

»Das ist bei einem Arzt nicht anders. Aber wir Männer leben anders im Beruf als ihr Frauen.«

»Das hältst du mir oft vor. Aber du irrst dich. Ich interessiere mich wirklich für meine Tätigkeit. Nur ist uns der Kreis so viel enger gezogen. Alles ist auf das Mechanische, das Genaue und Subtile, sozusagen, gestellt. Aber Selbständigkeit, Weiterforschen, eigene Verantwortung, die enthält man uns vor.«

»Wenn du statt Bakteriologin Ärztin geworden wärest, hättest du gerade soviel Selbständigkeit wie ich. – Willst du nun wirklich mit nach drüben? Es hat doch wenig Sinn. Bis du da bist, ist es halb eins. Morgen mußt du vor sechs wieder heraus. Komm doch gleich mit zur Stadt. Dann kannst du wenigstens ausschlafen.«

»Ja, dann geht aber Peter allein mit der kleinen Nina. Und ihre Mutter bat mich –«

»Else, tu mir nicht leid! Die schöne Geste einer Mutter! – Das kleine Mädel mit seinen höchstens achtzehn Lenzen ist dir mit deinen vierundzwanzig doch weit überlegen. Wenn sie Peterchen nichts tut, er tut ihr sicher nichts.«

Da ging sie mit zur Bahn.

Peter und Nina kamen an die Fährtreppe, als Fähraugust mißmutig schon einen gellenden Pfiff auf seiner Taschenpfeife ausstieß. »Na, ich denk doch, Sie kommen überall nich mehr an Land. Nu hätt ich auch nich länger gewart. Eben war Lump noch hier und suchte seinen Herrn. Der ist mit seiner Frau im Auto nach Rostock, nu suchte ihn der Köter den ganzen Nachmittag. En verdeubeltes Vieh.«

Er stieß ab. »Der Strom drängt bannig ein. Man grad, daß wir noch 'rüberkommen. Das hat uns schon manchmal mitgenommen. Was Fräuln, das wär en Spaß, wenn wir so halbwegs Rostock 'runtertrieben.«

»Meinetwegen gern«, lachte Nina. »Mit Ihnen und diesem jungen Helden als Beschützer wär' mir nicht bange.«

Fähraugust grinste. Ihm wurden selten von jungen Damen nette Worte gesagt. Wie die zwei jungen Menschen in die Nacht hineingingen, sah er ihnen nach. Wer auch noch einmal so jung sein könnte! Die mochten so bald nicht ans Haus kommen. Na, er gönnte ihnen ein Schäferstündchen, zwischen Tannenkusseln und Dünensand.

Aber Peter hätte nie gewagt, der Begleiterin gegenüber sich irgendeine Freiheit herauszunehmen. Nur den Arm bot er ihr, und so schlenderten sie durch die Nacht. Einmal lachte Nina auf. »Du hast ja dein Motorrad nicht mit.«

»Ich hol es mir morgen.«

»Dann hätt' ich nicht zu laufen brauchen.«

»Das hättest du doch müssen; denn jetzt kippelt es noch mehr als früher, und du kannst ja nicht stillstehen.«

»Warum auch, Peterchen? Das Leben ist Bewegung. Wer rastet, rostet. Und du bist doch für Gefahr, wärst du sonst Flieger geworden?«

»Du möchtest wohl eine Gefahr für mich werden?«

Nina lachte klingend auf. »Nein, du Schäfchen. Das wäre mir zu einfach. Du bist ja ein ganz unbeschriebenes Blatt. Und außerdem – ich bin dafür, daß sich die Männer um mich bemühen. Unter uns, sie tun es auch.«

»Das hab' ich heut abend gesehen.«

»Ach, das bißchen Tanz!« Plötzlich wurde sie ernst. »Peter, du bist ein guter, reiner Mensch. Sei still, du bist es, ich kenn' die Männer. Willst du mein Freund sein? Weißt du, ich kann einen Freund brauchen. Ich bin gräßlich einsam. Meine Eltern – lieber Himmel, ich bin dran gewöhnt, so lange ich denken kann. Schöner wird es darum nicht. Sieh mal, meine Mutter ist eine Portierstochter gewesen, und mein Vater stammt aus einem Grünkramkeller. Und mich haben sie erziehen lassen in den teuersten Schulen und den feinsten Pensionen. Nu wundern sie sich, daß wir nicht zusammenpassen. Freundinnen? Na ja! Aber ich kann sie nicht ins Haus kommen lassen. Die aus den gleichen Verhältnissen her sind, die passen mir nicht. Und die aus guter Familie stammen, denen pass' ich nicht. So mein ganzes Drum und Dran, weißt du. – Ich kann überhaupt viel besser mit jungen Leuten fertigwerden als mit Mädchen. Else ist sehr nett, aber – ›eine Höhe, eine Würde entfernet die Vertraulichkeit‹.«

»Else ist der natürlichste Mensch von der Welt.«

»Ja, ja. Ein Musterexemplar der modernen Tochter. Ich bin gar kein Musterexemplar. Ich bin ein dummes, albernes Gör. Und unzufrieden und unglücklich dazu, wenn ich auch noch so ausgelassen bin. Im Grunde habt ihr ja alle eine recht mäßige Meinung von mir.« Sie kam sich in diesem Augenblick selbst sehr bemitleidenswert vor. Sie glaubte immer selbst, was sie gerade erzählte. »Dein Bruder Heino sieht so über mich weg wie über einen kleinen Hund, der ihm vor die Füße läuft.«

»Na, aber Nina!«

»Und Adolf, ach Gott, Adolf, der ist vernarrt in die blonde Else. Und Jon meint, ich bin so eine, der man alles bieten kann.«

»Wer? Jon? Wie kommst du auf solchen Blödsinn?«

»Und du, du läßt mich so mitlaufen. Ernst nimmst du mich am allerwenigsten.« Da war sie so betrübt über das eigene Schicksal, daß ihr ein paar Tränen aus den Augen rannen, und weil sie gerade vor ihrer Gartenpforte stehenblieben und sie das Gesicht zu ihrem Begleiter emporhob, sah er die Tropfen im Mondlicht schimmern und bekam ein unbändiges Mitleid. Mitleid ist aber eine ganz gefährliche Klippe. Peter scheiterte denn auch an ihr, beugte sich ein bißchen aus seiner Höhe zu dem Lazertlein nieder und küßte die nassen Augen, und als es ihm nicht gewehrt wurde, auch die Wangen, und so sachte verirrte er sich zum Munde, der ganz still hielt, ja, wenn er sich nicht täuschte – er hatte noch so gar keine Erfahrung – dann wurde sein Kuß mit einem weichen Gegendruck erwidert.

»So,« sagte Nina, und nun sah sie wieder ganz vergnügt und getröstet in die Welt, »das war Dummheit genug. Nun geh schlafen, lieber Junge, und träum' von mir. Und wenn du morgen oben in der Luft kreist, dann sieh mal hier herüber, ich lass' auf unserm Dach die Fahne wehen, die grüßt dich dann.« Da lief sie schon über die Kieswege in das Haus.

Peter ging die letzten tausend Schritt weiter, hörte Heino aus seiner Koje rufen: »Na, du tanzlustiger Jüngling, bist du endlich da?«, verzog sich in die eigene Kabine und war still selig. Das erste Mal, daß er ein Mädchen im Arm gehalten. Nur wenige Minuten, aber wie süß waren die gewesen. In seinem Herzen begann es zu blühen. Ein wundervolles, berauschendes Empfinden wachte da auf, und als er schon schlief, murmelte er noch halb im Traum: »Kleine Nina. Meine kleine Nina.«

*

Nina saß ihrer Mutter bei der Morgenschokolade gegenüber.

»Was soll denn daraus werden?« fragte Frau Moll.

»Woraus?«

»Ich hab' euch doch gestern abend gesehen. Hinter der Gardine 'raus. Ich will dir was sagen, Nina: das is'n Unfug.«

»Überlaß mir bitte meine eigenen Angelegenheiten. Heutzutage mischen sich die Mütter nicht mehr in die zarten Beziehungen ihrer Töchter. Und hinter der Gardine lauschen ist total unfair.«

»Hab dich nich! Ich weiß allein, was ich tu, mein Kind. Du und Vater mit euren modernen Redensarten, ihr imponiert mir nich die Bohne. Ihr macht bloß Dummheiten. Der Brodersen, der is doch noch nichts und hat nichts. Ich weiß es von der Friseurin. Er studiert auf die Fliegerei von dem, was sein Bruder ihm gibt.«

Nina zuckte nur die Achseln. Daß die Mütter immer gleich auf die Eheaussichten hinaus müssen. Heirat ist Vernunftsache, aber bis man so weit vernünftig geworden war, wollte man noch ein bißchen vom Leben haben. Sie sah die Mutter kühl an, konstatierte, daß hier in der Ruhe und bei der ausgezeichneten Kost der Rostocker Köchin die Mutter noch mehr in die Breite gegangen war, und sagte: »Wenn du mir gute Ratschläge gibst, will ich dir auch einen geben. Laß endlich das Schokoladetrinken und die vielen Mehlspeisen. Du gehst total aus der Fasson.«

»Ich müller' nachher. Da geht das überflüssige Fett wieder fort.«

»Wenn du in den Spiegel siehst, mußt du das Gegenteil konstatieren.«

Sie stand auf, ging zum Hausboden, kletterte die Leiter hinauf durch die Dachluke und hißte die Fahne. Der frische Wind jagte sie herum, daß es nur so knatterte.

Peter sah sie vom Flugplatz aus, wo er neben dem Flugzeug stand, und seine Aufmerksamkeit wurde merklich von Nixens Worten abgelenkt. Der spürte es und schrie: »Zum Donnerwetter, Brodersen, was haben Sie da nach der Heide zu gucken, wenn ich mit Ihnen red'. Also, Sie steuern heut mal allein. Ich werde mich ganz Ihrer Führung überlassen. Passen Sie auf in den Kurven, und daß Sie beim Niederkommen gegen den Wind landen. So – ach bitte, Panthenius, sehen Sie doch mal eben, was da mit dem Motor ist. Der meckerte.«

»Schon in Ordnung, Herr Nix.«

Nix kletterte hinein in die Maschine, setzte sich auf den Vordersitz und ließ Peter hinter sich Platz nahmen. Die Schulmaschine hatte doppelte Steuerung. Griff der Schüler verkehrt, spürte es der Lehrer am eigenen Steuerknüppel und konnte eingreifen. »Also, Brodersen, drei Runden über dem Platz, auf dreihundert Meter Höhe. Einmal den Ort überfliegen und nieder. Los!«

Peter gab Vollgas, die Maschine löste sich vom Boden, folgte dem Druck des Höhensteuers, stieg über Dächer und Bäume empor, kreiste über dem Flugplatz. Hundert Meter über ihr flogen im Geschwaderflug drei graue Seeflugzeuge, und ganz droben im Blau probte ein Pilot eine neue Heinkelmaschine aus. Peter mußte hinschauen, er mochte wollen oder nicht. Jetzt da oben ein Looping – ein zweites – jetzt ließ der Flieger, er trug einen renommierten Namen, das Flugzeug trudeln. Es sah aus, als müßte im nächsten Augenblick ein grauenhafter Absturz erfolgen. Aber schon schwebte der riesige graue Vogel wieder auf weitgebreiteten Schwingen sicher im Blau. Ein Ruck am Steuerknüppel. Nixens Gesicht fuhr herum. Nur eine Sekunde lang, aber Peter hatte die dunklen Augen in hellem Zorn brennen sehen. Verdammt, er durfte nicht nach anderen Dingen gucken, solange er flog. Mit verdoppelter Aufmerksamkeit vollendete er seine drei Runden, flog über den Ort, umkreiste den Kirchturm, kam zurück – da konnte er es nicht lassen, noch einmal zur Heide hinüber zu schauen, wo die Fahne flatterte. Jetzt das Gas weggenommen, Gleitflug, und mit dem Winde, der aus Norden blies, kam er nieder.

In der Stille des Gleitflugs hörten die unten auf dem Platz Nixens Baß niederdröhnen. »Zum Donnerwetter, Herr, riskieren Sie Ihre eigenen Knochen! Verdammte Schweinerei! Gegen den Wind, gegen den Wind!«

Da setzte die Maschine auf und landete, sauste vor dem frischen Nordost hin über den grünen Rasen und kam dreißig Meter vor dem Wasser des Breitlings zum Stehen.

»Jetzt möcht' ich auch nicht in Brodersens Haut stecken«, sagte Kriesch und zog die Schultern hoch.

»So was kann passieren«, begütigte Gamm. »Wenn man das erstemal allein steuert.«

Hatte Peter eine ähnliche Einwendung gemacht? Man hörte Nix dröhnen. Seine Stimme schmetterte wie eine Fanfare. »Kann passieren? So was darf nicht passieren, sag ich Ihnen. Karren Sie doch lieber mit einem Auto auf der Erde 'rum, wenn Sie die Gedanken nicht zusammenhalten können. Bisher waren Sie doch bei der Sache. Was ist denn nun los, he?«

Mit langen Schritten kam er über das Feld heran, Peter ganz gedrückt und geknickt an seiner Seite. »Wo sind Sie gestern abend gewesen? Kleines Mädchen bei sich gehabt, was? Lassen Sie mir die verdammten Mädels in Ruh, wenn Sie hier üben. Sie sind ja noch nicht mal trocken hinter den Ohren.«

»Ich kümmer mich nicht um Mädels.«

Nix legte den Kopf auf die Seite und blinzte seinen Schüler an. Sein Zorn verflog, sobald er sich ordentlich Luft gemacht hatte. »Kümmern sich nicht um die kleinen Mädchen? Wer das glaubt. Da wären Sie der erste Flieger.«

Peter spürte, das Gewitter zog ab. Auch er sah seinen Chef von der Seite an und sagte todernst: »Da Sie das sagen, muß es ja wahr sein.«

»Infamer Junge!«

»Er lacht schon wieder«, konstatierte Kriesch. »Ist immer nur alles halb so schlimm. Na, nun bin ich wohl dran.« Er wartete, bis Nix dicht heran war, und fragte: »Wie ist es denn, kann ich heut endlich meinen Alleinflug machen?«

»Ist Ihnen so?« Nix sah in die Weite, die im ersten Maisonnenlicht hell und klar dalag, lauschte auf den Wind, der über den Platz sang, ohne zu pfeifen, und nickte Gewährung. »Aber nicht mehr als zwei Runden und besser landen als dieser Jüngling eben.«

Wer hatte es herumgesprochen? Mit einemmal wußten es alle, die zum Aerosport gehörten: Der kleine Kriesch fliegt zum erstenmal allein. Und sie wußten alle, was das hieß. Es war dasselbe wie für den Einjährigen die Ernennung zum Gefreiten. Der Schüler wurde losgelassen von der Kette, trug zum erstenmal die Verantwortung, spürte zum erstenmal Gefahr und Freude als eigensten Besitz, fühlte sich als ein ganzer Kerl.

Drunten standen sie und sahen der Maschine nach. Die gute B. 3. »Wer ihr nichts tut, dem tut sie auch nichts«, pflegte Nix zu sagen. Er formte die Hände zum Schalltrichter und rief Kriesch, der zum Flugzeug wanderte, nach: »Ruhe beim Landen! Die setzt sich ganz allein.« Kriesch winkte mit der Hand zurück. Ein Monteur stand schon, den Propeller anzuwerfen – jetzt fauchte und dröhnte der Motor, da stieg der rote Vogel mit den silbergrauen Schwingen auf.

»Heut abend feiern wir bei Tante Paula«, sagte Kriesch, als er wieder unten war.

»Heute abend feiern wir nicht«, entschied Nix. »In vier Wochen, wenn Gamm und Baden auch so weit sind, machen wir da eine große Sache. Ich muß heute abend nach Berlin. Das Reichsverkehrsministerium hat wieder viele neue Verordnungen und Wünsche. Und dabei sein will ich auch.« Und mit einem sanft ernsten Blick: »Denn was könntet ihr hier ohne mich für Unfug angeben.« –

Nina hatte, mit der Strandbahn fahrend, den roten Flieger gesehen, und ihm zugenickt. Ob er da drin saß, der reizende Bengel? Ihr wurde noch warm, wenn sie dachte, wie lieb er sie umfaßt und geküßt hatte, mit der ganzen Tolpatschigkeit eines, der sehr unerfahren in Liebesdingen ist. Es war doch ganz nett, daß sie schon so früh im Jahr hergekommen war. Von der Sitzung bei Jon, zu der sie hinüber wollte nach Warnemünde, versprach sie sich auch allerlei Unterhaltung. Die vier Brüder ein bißchen durcheinanderzuwirbeln müßte ein netter Spaß sein. Das waren noch alle vier Menschen von der alten Sorte, die sich mit Schicklichkeit, Gewissen, gutem Ruf und solchen schwerfälligen Dingen herumplagten.

In ihren trüben Stunden kam es dem Lazertlein bisweilen, daß diese Dinge mehr Wert haben mochten, als die moderne Berliner Jugend, in der sie lebte, ihnen zugestand. Aber man mußte wohl darin aufgewachsen sein, um sie tragen und ertragen zu können.

Sie schlüpfte am Strom in das Haus und zum Atelier hinauf, ohne jemand zu begegnen, und Tante Lite war von den Neffen viel zu gut gezogen, um zum Beispiel in das Atelier zu kommen, wenn Jon bei der Arbeit war. So sah sie nur Ninas Silberhaar aus der Haustür fliegen, als es Mittag schlug, und Jon sagte harmlos: »Das Kindchen hat sich bei mir Farben und Pinsel geborgt. Es sündigt auch in dieser Hinsicht,« was die harmlose Tante ohne weiteres glaubte.

Es schlug auch Mittag im Rostocker Krankenhaus, und Else, die den ganzen Morgen ein unbestimmtes Sehnen in sich gespürt hatte, legte die letzten Glasplatten mit Präparaten beiseite. Wie es nach Medikamenten roch, nach Desinfektionsmitteln, nach all dem, was die Luft einer Klinik erfüllt. Sie trug es in den Kleidern mit sich, wohin sie ging, sie spürte es oft selber nicht mehr, aber sie sah an den gerümpften Nasen ihrer Bekannten, wie peinlich die davon berührt wurden. Als sie aus dem Krankenhaus ging, um in der Breiten Straße bei Held, dem alten Mittagstisch der Rostocker studierenden und praktizierenden Jugend, ihr Mittag zu essen, kam Adolf eben aus einem Nebeneingang und schloß sich an.

»Operation glücklich verlaufen?«

»Wie oft. Fußabnahme glatte Sache, aber die Gallensteine – alles vereitert. Morgen wird es heißen: Operation gelungen, Patient tot.«

Er sah vor sich hin, sah auf den Wall, dessen Linden voll grüner Wimpel hingen, sah auf die Frühlingsbeete mit Tulpen, Primeln und Narzissen und fragte: »Könntest du die Gefährtin eines Menschen werden, der immer und jeden Tag durch solche Dinge geht und nicht die innere Kraft hat, sich beim Verlassen der Krankenstube restlos von ihnen zu befreien?«

Else schwieg bestürzt. War das eine Lebensfrage? Dann sah sie an seinem grübelnden Blick, daß er in diesem Augenblick eine Doktorfrage gestellt hatte. Er fuhr auch schon fort: »Man denkt als junger Kerl sich das so einfach: Studieren und heilen. – Dann sieht man ein, studieren ist schwer, aber heilen ist noch viel schwerer. – Man träumt erst von all den glücklichen und dankbaren Menschen, denen man Erlösung, neues Leben, Mut, Kraft, tausend wunderbare Dinge geschenkt hat, und drei Wochen, nachdem sie entlassen sind, sehen die im Arzt nur den schrecklichen Mann, der ihnen eine – natürlich immer und unter allen Umständen viel zu hohe – Rechnung geschickt hat. Wie kommt der Mann dazu? Er hat doch nur seinen Beruf ausgeübt. Und wie nett hat man ihm gedankt.«

Else lachte ein bißchen. »Du bist mal wieder in einer deiner Grübeleien gefangen. Weißt du auch warum?«

»Weil ich wieder heut in viel Elend sah.«

»Auch. Aber in der Hauptsache, weil wir gestern unten an der See waren, zwischen all dem leichten Volk, das sich da in Sonne und Luft ein ganz anderes Leben ohne Skrupel und Sorgen um die Ohren schlägt.«

»Glaubst du, daß Nix keine Sorgen hat mit seinem Betrieb?«

»Ich denke an die Jungen. Die singen: Und setzet ihr nicht das Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein! Nimm es ein bißchen leichter, Adolf.«

»Das schwere Friesenblut. Und in den letzten Wochen auch wieder die Sorge um Heino. Er ging gestern so früh fort. Und schlecht sah er aus. Die Farbe gefällt mir gar nicht. Ich hab' deinen Vater dringend gebeten, sich täglich um ihn zu kümmern. Viel hilft es ja nicht, Heino ist in bezug auf sich selbst ein Buch mit sieben Siegeln. Nur daß man weiß, es ist immer ein Arzt in seiner Nähe.«

Nun war auch Elses Gesicht ernst geworden. Aber sie sagte nichts. Sie wußte, Adolf sprach, um seinen eigenen Gedanken einmal Luft zu machen, nicht um eine Entgegnung zu erhalten.

»Vater hält so viel von Heino«, sagte sie nach einer ganzen Weile. »Der sorgt schon von selbst um ihn.«

»Ich weiß. Und du auch.«

Dann gingen sie wieder still weiter durch die belebte Kröpliner Straße, wo das Reden schon von selber aufhörte, kamen in ihr Restaurant und wurden sofort von Bekannten angerufen, mit denen sie hier täglich zusammentrafen. In der alten Universitätsstadt herrschte viel geistiges Leben zwischen der Jugend, und die nahe See, der meilenweite Wald dort hinter dem Strom waren ein Gesundbrunnen an jedem freien Tag. Mit hellen Augen gingen sie zurück an die Arbeit.

*

Der Frühling kam mit Brausen! –

See und Strom schäumten, und die Wasserweiber jagten auf ihren grünen Rossen an den Molen hin, daß es gischtend hoch über die alten Steindämme hinflog. In der Heide krachten die Kronen, wenn der Sturm sie rüttelte. Was morsch war und schwach, mußte ohne Gnade nieder zum Grund. Modernd lagen die gebrochenen Äste im dicken Moospolster, das sie gütig verbarg.

Über den Flugplatz wehte es, riß an den Schuppen, pfiff in allen Baracken, riß den Leuten die Mützen vom Kopf und die Worte vom Mund und hob die Maschinen kraftvoll in die tragenden Lüfte. Dann wieder kamen Tage, da war der Wind schlafen gegangen, es hing in silberner Feuchtigkeit an allen Blättern, spann einen feinen Dunst um die Ferne, war kein kalter Nebel, aber auch kein rinnender Regen, war sanfte Feuchte, von der steigenden Sonne aus dem winterfeuchten Boden emporgelockt und sanft wieder niedersinkend zur mütterlichen Heimstatt.

Hinter der lichten Feuchte stand die Sonne, ließ ein zartes Licht niedergehen, märchenhaft, unwirklich. Ein Licht, wie es die Stadt nie sieht. Ein Licht, nur dem weiten Lande geschenkt, wo die Elemente Herr geblieben sind in Zorn und Liebe.

An solchem Tag stand Adolf im Sprechzimmer des Krankenhauses am Telephon. Er war von Warnemünde aus verlangt worden. »Wer ist da? Guten Morgen, gnädiges Fräulein. Geht's gut? Wie? Schlimme Hand? Was haben Sie denn aufgestellt?«

Von fernher kam Ninas Stimme, ein bißchen gequält, denn sie hatte tatsächlich Schmerzen: »Ich hab' mich an einem Drahtzaun gerissen. Ja, im Wald. Was ich da machte? Gott, ich ging ein bißchen spazieren. Ja, natürlich allein.« Was ging es den an, daß sie mit Peter im sinkenden Abend herumgestreift war, und endlich – sie hatten sich mit ihrer Zärtlichkeit versäumt – über Gräben und Zäune den Heimweg gesucht hatte? »Es muß wohl Rost am Draht gewesen sein. Die Hand ist schrecklich geschwollen. Die ganze Nacht hab' ich nicht geschlafen. Wann soll ich kommen? – Schön, ich fahr' gleich. Um elf bin ich unten.«

Warme Lenzluft umschmeichelte sie, als sie hinunterfuhr zum Strom, warm und feucht hing es über der Welt. In die offenen Bahnfenster zog der Duft des fruchttreibenden Landes, Grasgeruch und herb und stark die Ausatmungen der frisch gebrochenen Ackerkrume. Die Großstädterin empfand das aufreizend starke Lebensgefühl, ohne es zu verstehen. Doch in ihre Sinne drang es ein, wärmte das Blut, reizte alle jungen heißen Triebe. Wäre die dumme schmerzende Hand nicht gewesen, sie hätte jetzt bei Jon gesessen, sich aus seinen bewundernden, werbenden Blicken einen Triumph bereitet. Oder besser noch, sie wäre auf den Flugplatz gegangen, wo es immer genug junge Männlichkeit gab, in deren Köpfen und Sinnen der Frühling gleiche Empfindungen aufpeitschte.

Aber es puckerte häßlich im Daumenballen, und es tat wirklich weh. Als sie bei Adolf in der Sprechstunde stand, wo er seinem Chef, Professor Hoffmann, zur Hand ging, machte sie ein sehr unglückliches Gesicht. Es war dann alles nur halb so schlimm. Ein bißchen Betäubung der Handfläche, ein kleiner Schnitt, ein Verband, der sehr interessant aussah, dann war sie wieder entlassen.

Stand draußen und ärgerte sich. Denn wenn der alte Herr nicht dabei gewesen wäre, hätte man wenigstens mit dem jungen Herrn Doktor ein bißchen flirten können. Sie schlenderte auf dem Wall und in den Anlagen herum, stand auf der Fischerbastion, sah über den breiten Strom und kam, so ganz zufällig, um die Mittagszeit wieder vor das Krankenhaus, als Adolf und Else zum Essen gingen. Was konnten die anderes tun, als sie mitnehmen zum Mittagstisch. Der nächste Zug ging doch erst um halb drei.

»Am liebsten bliebe ich den ganzen Tag in der Stadt«, sagte Nina. »Meine Mutter ist nach Berlin hinüber. Sie will sich anscheinend wieder mal mit meinem Vater versöhnen.« Über ihre intimsten Familienangelegenheiten sprach sie ohne den geringsten Zwang. »Können wir heute nachmittag nicht zusammen bummeln gehen, Fräulein Else?«

»Ein andermal gern. Heut hab' ich meinem Vater versprochen, gleich nach dem Dienst zu kommen. Es ist mein freier Nachmittag, und mein alter Herr hat wenig genug von seiner einzigen Tochter.«

»Was sind Sie hier alle für pflichtgetreue und gefühlvolle Menschen. Gott sei Dank, meine Mutter verlangt solche Aufopferung nie von mir.«

»Es ist kein Opfer, ich bin gern einmal an der See und in der Heide.«

Nina sah sie ein bißchen schief an. Sie hatte nicht viel für dies Mädchen über. Viel zu wenig kompliziert war die, viel zu gerade und klar. Die Bosheit prickelte sie. »Es ist ja zu begreifen. Wo Ihr ältester Vetter gleich nebenan wohnt. Da langweilen Sie sich gewiß nie.«

Das hatte sie doch nicht erwartet, solche starke Blutwelle in dem stolzen Gesicht. Bis zum Hals hinunter war die ganze Haut in Purpur getaucht.

Trotzdem sah Else ihr gerade in die Augen, und ihre Stimme war ganz sicher. »Ja, mein Vater und ich sind Heino immer dankbar, daß er so gute Nachbarschaft hält. Eine Stunde in seiner Gesellschaft ist ein größerer Gewinn als der Verkehr eines Jahres mit anderen Menschen.«

»Siehe mich«, lachte Nina. Und mit schuldbewußtem Blick zu Adolf hin: »Hab' ich da ins Fettnäpfchen getreten? Ich hab' mir doch gar nichts dabei gedacht.«

Aber Adolf sah verstimmt aus. Mehr als Ninas Stichelei hatte ihn Elses Erröten gekränkt. Immer hoffte er, sie sollte endlich den Bruder nur als Vetter ansehen, immer wieder empfand er – obgleich sie sich nie mit einem Wort mitteilte –, daß Heino ihr über allen Männern stand. Und aus diesem Gefühl heraus sagte er: »Wenn Sie mit mir vorlieb nehmen wollen, Fräulein Moll. Ich bin zwar ziemlich langweilig, und viel zu bieten hat Rostock nicht. Aber von fünf an bin ich heute frei. Sie müßten schon so lange irgendwo lesen, vielleicht in einer Konditorei oder –«

»Haben Sie kein Zimmer, wo man ein bißchen ausruhen kann? Die kleine Operation – ja, Sie lachen, aber für mich war es die erste Operation meines Lebens, – die hat mich doch ein bißchen angegriffen. Gott, wenn Ihnen das lästig ist, – ich kann ja auch runterfahren und mich im leeren Haus totgraulen.«

Was blieb ihm übrig, als sich für sehr geehrt zu erklären. Und Elses fragend erstaunter Blick gab seiner Erklärung nur größere Wärme.

Als Else an diesem Nachmittag hinunterfuhr an den Rand von Wald und See, waren ihre Gedanken mehr bei Adolf als sonst je. Nina hatte dem Arzt ohne Wollen und Wissen einen großen Dienst getan, als sie ihm so liebenswürdig entgegenkam. Denn zum erstenmal sah Else in ihren Gedanken den korrekten, zurückhaltenden Vetter, den Menschen der Arbeit und Pflicht als Mann, und langsam mußte sie sich eingestehen, daß er wohl ein Mädchen anziehen konnte, daß man wohl eine Leidenschaft für ihn hegen konnte, wenn auch die kleine flatterige Berlinerin nicht die Rechte für eine Leidenschaft war.

Sie war neugierig, was er ihr am anderen Tag von diesem Beisammensein berichten würde, denn er sprach eigentlich über das kleinste Ereignis seines Lebens mit ihr. Um so erstaunlicher war es – Adolf erwähnte den Nachmittag und Abend mit keinem Wort. Er äußerte nicht einmal, wie lange er mit Nina zusammen gewesen sei, und wohin sie gegangen wären. Das erfuhr sie erst viel später. Und dann war es Peter, der das ausschwatzte.

Denn Peter war auch an diesem Tag – oder richtiger gesagt in der folgenden Nacht – in Rostock gewesen.

Als am Morgen das Silbergeriesel immer einmal wieder und wieder über den Flugplatz zog und den Blick in hundert Meter Höhe schon für jede Fernsicht unterband, hatte Jon sich aufgemacht, in die Heide zu wandern. Nina, die er zum Malen erwartete, war nicht gekommen. Die dünnen Schleierchen, die ihr ganzes Gewand als verregnetes Elfenkind ausmachten, lagen trübselig zerdrückt in der Ecke, und Jon mochte nicht allein in seinem Dachwinkel sitzen. Er ging hinaus in die warme, weiche Frühlingsluft.

An der Fähre traf er Nix, der eben hinüberwollte zum Platz. »Kein Wetter heut zum Fliegen, Herr Brodersen. Wenigstens erlaube ich meinen Schülern das nicht. Aber im Wald muß es wundervoll sein. Zauberhaft.« Nix hatte ein feines Empfinden für allerlei Schönheit. »Was meinen Sie, wollen Sie mit mir fahren? Ich will rüber nach Graal. Für meine Schwiegereltern Sommerwohnung mieten. Kommen Sie mit?«

»Immerzu. Besser gut gefahren als schlecht gegangen.«

Sie gingen auf den Platz, und als der rote Steiger vor dem Büro stand, sammelte sich merkwürdig schnell das ganze Jungvolk an.

»Wer will mit?« fragte Nix. »Ich fahr' nach Graal. Aber Zeit zum Besinnen ist nicht.« Seine Worte waren noch nicht ausgesprochen, da kletterte es schon von allen Seiten hinein. In einem Nu saßen und hingen an dem Wagen, der kaum für vier Menschen berechnet war, ihrer acht, so wie sie auf dem Platz herumliefen. Ohne Hut und Mütze, im Arbeitszeug, den braunen Leinencombinations über Sporthose und Pullover, und schon sauste das Auto die lange Ablaufbahn hin, zum Tor hinaus und die Chaussee entlang. Der Wald wuchs heran. Heino stand beim alten Geheimrat nicht weit von der Straße vor der Trummerschen Villa, da kam es mit Lachen und Händewinken, mit Juhu und Motorgeknatter vorüber. Am Steuer Nixens massige Gestalt, das braune, verwegene Gesicht strahlend vor Vergnügen. So mit seinen Jungens in die junge Gotteswelt hineinsausen war ein Hauptvergnügen für ihn. Da vergaß er für Stunden Sorgen, Verantwortung, Arbeit und Gefahr. Nur die große, gewaltsame Lebenslust füllte ihm alle Poren und strömte machtvoll über. Heino sah die beiden Brüder, wunderte sich flüchtig, wie auch Jon zwischen die Philister geraten war, sah ihnen nach und freute sich. Neid war nicht in ihm. Sollten doch die Brüder, die ihm ans Herz gewachsen waren, alles genießen, was ihm sein Schicksal verbot. Über Eifersucht und Eigensucht war er hinausgewachsen.

Das Auto flitzte die Chaussee hin, vorüber am Forsthaus von Markgrafenheide, hinein in die langen Schneisen, wo die ungeheuren Wettertannen hoch oben im ziehenden Dunst die Wipfel wiegten, daß ihr Rauschen niedersang wie ewiger Orgelton. Wie golden und grün es um die Eichen wob, wie die Buchenwimpel zitterten und die schlanken Farnwedel die ersten lichtgrünen Federn entrollten. Jetzt ein Reißen in dem spinnenden Duft. Strahlend fiel das Sonnengold nieder zwischen die Stämme, riß Fernen auf, zeichnete Lichtinseln zwischen dunkle Tannenwände, – ließ drüben, kaum zehn Schritt von der Straße gegen braune Stämme einen königlichen Vierzehnender stehen. Alle hielten sie den Atem an. Nixens Hand rührte am Hebel, ganz leise und langsam schnurrte das Auto vorüber. Nicht einen Schritt hatte das Tier zur Seite getan. Unbeweglich, den Kopf hoch aufgereckt, sah es den Menschen zu, die als flüchtige Gäste in sein grünes Heiligtum drangen.

»Die Tiere wissen ganz genau, wenn Schonzeit ist«, sagte Nix. »Solch alter Herr, der hat den Kalender im Kopf. Oder wohl richtiger: im Blut. Da vorn! Seht doch da vorn!« Drei Rehe setzten über die Straße, flüchtig, in langen Sprüngen. Schon verbarg das dichte Unterholz sie wieder.

Kein Laut außer dem Gurren der Wildtauben. Hin und wieder der häßliche Warnschrei eines Hähers: »Menschen kommen! Wahrt euch!«

Rechts und links taten sich die langen, schmalen Schneisen auf, die ganz in Duft und Glanz gehüllt waren. Irgendwo in ihrer Tiefe lebte das Märchen. Irgendwo hinter ihren grünen Kulissen wohnte das Glück. Junge Liebe ging diese heimlichen Straßen; Sehnsucht suchte auf ihnen, immer neu geboren, immer unerfüllt versterbend. Lebensekel und Verzweiflung rannten hinein in ihren Frieden und wurden still in ihrer Stille.

Letzte Wunder vergangener Jahrhunderte sind die alten Wälder an unserer nordischen See.

Und die ausgelassene Jugend, am leichten Wagen hängend wie die Beeren an der Traube, einer den anderen haltend, sie verstummte, und nur die hellen Augen sprachen und wurden so voll Leuchtens wie dieser Tag.

Graal tauchte auf mit seinen hellen Häusern auf der weiten Lichtung mitten zwischen den Wäldern. Der Steiger hielt vor der »Strandperle«, Wirt und Kellner rannten, auf der offenen Veranda wurde ein Diner angerichtet mit allem, was der Ort um diese frühe Zeit schon an Finessen bot. Man schrieb erst den siebenten des Monats, die Flieger hatten alle noch Geld in den Taschen, und wann kam ein solcher Tag wieder.

Dann hinunter an den Strand, hinein in die glitzernde See, die jetzt von strahlendster Sonne vergoldet wurde. Das Gold täuschte, es war eisig in den Wellen. Krebsrot waren die jungen Leiber, als sie wieder an Land kamen. Balgend, ringend, sich jagend im Sand, erwärmten sie sich schnell. Und lagerten sich im Sande und tranken Luft und Licht und Waldesrauschen und Meeressingen tief in die Seelen, waren glücklich und wußten selber nicht, daß solche Stunden selten sind wie kostbare Steine. Wie im Rausch waren sie, ausgelassen wie Kinder, gesund bis in die letzte Fiber, sprühend vor Lebenslust. Nur der ›Graf‹ war nicht mit in die Flut getaucht, hielt sich beim Toben und Balgen abseits und hatte ein kühles Lächeln so viel Leichtsinn gegenüber.

Als sie zurückgingen zum Hotel, kam es kühl aus dem Wald. Die Sonne stand als glutende Scheibe tief hinter den Stämmen, ihr rotes Licht wärmte nicht mehr.

Auf der Veranda brannten Windlichter, ein Faß Münchener lag auf, Butterbrote und Salate warteten – man ließ sich nicht nötigen. Erst als die Schatten der Bäume sich lang und dunkel über alle Wege legten, blies Nix zum Aufbruch. Allgemeines Widerstreben.

»Hilft nichts, meine Herren. Keiner von Ihnen hat einen Mantel mit. Außer dem Jrafen auch keiner eine Mütze. Es wird heute nacht eklig kalt. Packen Sie zusammen. Meine Frau wartet auch sicher auf mich. Los, los!«

Man kletterte hinein in das Auto, die leinenen Arbeitsgewänder, zum Bündel zusammengeschnürt, wurden hinten an die Karosserie gebunden; – angekurbelt, abgeknattert, da flitzten sie hin.

»Ist denn dies der gleiche Weg wie heute morgen?« fragte nach einem Weilchen der kleine Kriesch. »Wo fahren Sie uns hin, Herr Nix?«

»Trauen Sie mir nur zu, lieber Kriesch, daß ich Sie sicher heimbringe. Man muß nicht immer denselben Weg gehen.«

Die Laternen überblendeten den Weg. Es war tiefe Landstraße. Das Auto flog einige Male kräftig von rechts nach links, die Mütze des ›Grafen‹ flog über Bord – man hielt sich nicht mit Suchen auf. Jetzt wieder Chaussee, ein Dorf –. Sieh, dachte Pet, der Bescheid wußte in der Gegend, das ist doch Hinrichshagen. Na, das soll mich wundern, wo wir heut noch landen. Wieder flog etwas davon, gerade vor einer langen, dunklen Schneise, breitete wehende Arme aus, flatterte an einen Baum, blieb daran kleben wie ein Schatten. Ein Bauer, der verspätet heimkam, kreuzte und segnete sich. Es mußte ein Gespenst gewesen sein. Wind wachte auf und rauschte in den Laubmassen, als ginge Meeresbrandung durch die Lüfte. Eisig brauste er über die Gesichter hin, warf sich gegen Rücken und Brust, riß an Kleidung und Haar.

Sie freuten sich an seinem Toben. Viel zu jung und gesund, sich um Wind und Wetter zu scheren. Droben in den Lüften pfiff es noch ganz anders. Wer keinen frischen Zug vertragen kann, der soll fortbleiben von der Fliegerei.

Wasser blinkt auf – der Strom. Ein breiter Damm – Straßen – Menschen – Laternen brennen, aus hellen Häusern schallt Musik – Der Steiger hält.

»Meine Herren,« sagt Nix, »ich weiß nicht, was mir da passiert ist. Ich hab' mich im Leben noch nicht im Weg geirrt. Die Heide hat's in sich, es muß mich verhext haben. Wir sind in Rostock statt in Warnemünde. Das hier ist der Tunnel. – Na, denn nur alle Mann hinein.«

Es war erstickend voll im Lokal, aber als die acht Mann hineinkamen, liefen drei Kellner mit Stühlen und Tischen, schoben und rückten und schafften tatsächlich noch nahe der Bühne Platz für die Flieger. Nix war hier nicht unbekannt.

Oben auf der Bühne erschien eine Dame. Jons Augen wurden starr, als er sie ansah. Zum Donnerwetter, diese Ähnlichkeit –. Freilich, die da oben war blond, aber wer weiß heutzutage, ob das Haar nicht gefärbt ist. Dumm, daß er kein Glas bei sich hatte, die Züge ganz genau zu studieren. »Wer ist das?« fragte er den ›Grafen‹, von dem es hieß, er kenne die Rostocker Lokale sehr genau.

»Madame Adrienne Moreau. Letzter Import aus Paris. Aber eigentlich eine Deutsche. Sie war doch mehrere Jahre sehr bekannt im Film, haben Sie sie nicht gesehen? ›Ein verlorenes Heiligtum‹ und ›Sinkendes Leben‹ – so was war ihre Force.«

»So, so. Und was treibt sie hier?«

»Singt. Chansonette. Steht ja auch auf dem Zettel. Musikalisch bis in die Fingerspitzen, aber die Stimme ist zu klein für die Bühne. Pst.«

Die elegante Frau, ganz in Silberspitze gehüllt, die mehr zeigte als verbarg, begann ein modernes Tanzliedchen, dabei die Pas gehend, langsam in schnellerem Rhythmus wirbelnd, endlich in ausgelassenem Tempo wie ein flirrender Kreisel um sich selbst schwingend. Nur einzelne Töne, gleich hellem Aufjauchzen, klangen noch hinein in den scharfen Takt der Musik.

»Tadellos«, erklärte Nix. »Was, hat keiner 'ne Rose da? So was muß man doch immer bei sich haben. Na, ich hab' auch keine. Ober, fragen Sie die Dame, ob wir sie zu einem Glas Sekt einladen dürfen.«

»Ich werde die Dame selber fragen.« Jon stand auf. »Das dürfte höflicher sein als die Bestellung durch den Ober.«

»Deshalb keine Sorge, diese Art Damen sind nicht so empfindlich.«

Peter faßte den Bruder leicht an den Arm. »Wozu denn das? Laß sie doch. Das ist doch keine Verbesserung unserer Gesellschaft. Mindestens vierzig. Und verlebt und geschminkt – Mann, laß die doch laufen! Die ist doch wirklich nichts mehr für einen Künstler.«

Jon antwortete nicht. Er wartete nur, bis die Sängerin ein zweites Chanson mit durchaus eindeutigem Text zu Ende gebracht und den lärmenden Applaus huldvoll entgegengenommen hatte, dann ging er hinter die Bühne.

Nix war es schon leid, daß er einem flüchtigen Gedanken nachgegeben hatte. Na, schließlich – was kam darauf an? Der kleine schiefe Maler würde die Donna unterhalten und damit ex.

Jon kam zurück. »Frau Adrienne läßt sich entschuldigen. Sie ist bereits für diesen Abend versagt. – Prosit, Herr Nix. Proft, kleiner Bruder. Etwas kälter dürfte die Bowle sein. Sie, Ober, bei Ihren Rechnungen dürfen Sie auch mal einen Eiskühler mitgeben.«

»Sogleich, mein Herr.«

Gamm, der Gladiator, der mehr für das Trinken als für das Reden war, wobei es ihm sehr zustatten kam, daß er unheimlich viel vertragen konnte – Ostelbien hatte von jeher Söhne mit dieser Eigenschaft – gab Peter einen kleinen Stups. »Sehen Sie mal da rechts rüber. Ihr Bruder mit der kleinen Ledertochter. Sie hat ihn ordentlich aufgemöbelt. Ganz blanke Augen haben die beiden.«

Peter sah nach der Richtung. Adolf hob sein Glas gegen ihn und trank ihm zu. Was fiel denn den beiden ein? Es war gleich Mitternacht, und Nina saß hier allein mit ihm im Lokal? War das ein Platz für ein junges Mädchen der Gesellschaft? Hätte Else sich hier allein mit einem Herrn hergesetzt? Er empfand plötzlich ungeheuer tugendhaft und wollte es sich selbst nicht eingestehen, daß es gekränkte Liebe war, die ihn packte.

Wie von einem unsichtbaren Band gezogen, erhob er sich nach ein paar Minuten und ging zu den beiden hinüber.

»Sieh da, ein unerwartetes Zusammentreffen.« Er sah den Bruder nicht an, seine Blicke suchten nur Nina.

Die lud ihn unbefangen zum Sitzen ein. »Ja, nicht wahr? Ich hätt' es mir heute morgen auch nicht träumen lassen, daß wir uns hier heut noch treffen würden.« Sie hob die verbundene Hand. »Ich bin Patientin. Der Herr Doktor kann dir erzählen, wie tapfer ich stillgehalten hab' beim Schneiden. Es war gar nicht ungefährlich.«

»Na, na. Dann säßest du wohl nicht hier.«

»Also – unerhört! Sagen Sie es ihm mal, Herr Doktor. War ich nicht heldenhaft? – Na, siehst du? Deinem Bruder wirst du doch glauben. Und weil ich doch den letzten Zug abwarten mußte, und weil ich hier doch ganz fremd bin – ja, es ist einfach wunderbar, was für rührende Ärzte es gibt.«

Peter sah sie unsicher an. War es wirklich so, wie sie sagte? In diesem Augenblick hob von drüben her Nix sein Glas gegen Adolf; da stand der auf und ging für einen Augenblick hinüber zu den Fliegern.

»Weißt du auch,« flüsterte Nina, »wo ich dies« – wieder ein Heben der Hand – »bekommen hab'? Als wir neulich über den Zaun an der Pferdekoppel bei Markgrafenheide kletterten, weil ein gewisser Jemand mich so lange festgehalten hatte im Holz. Ich riß mich doch am Draht. Und du küßtest mir das Blut weg. Nein, bitte – benimm dich –. Hier sind solche demonstrativen Küsse nicht angebracht. Aber ich hab' dem Herrn Doktor natürlich nicht gesagt, daß du dabei warst. So, da kommt er zurück, nun geh nur lieber wieder zu deiner Gesellschaft. Ich muß auch fort, sonst bekomm' ich den Zug nicht mehr.«

»Du kannst doch nicht allein vom Zug durch die Dünen gehen.«

»Ich hab' telephoniert. Der Chauffeur ist da mit dem Wagen.«

»Ich fahre mit dir.«

»Kein Gedanke, mein Junge. Der Mann ist eine Klatschbase. Gute Nacht.« Gleich darauf sah er sie mit Adolf das Lokal verlassen, in dem die Lustigkeit mittlerweile auf den Gipfel stieg.

Als Nina und der Doktor in die Garderobe kamen, trat dort Madame Moreau an sie heran, lächelte und sagte: »Wenn ich mich nicht irre, sahen wir uns schon früher in Berlin bei einer Aufnahme der Ufa, gnädiges Fräulein. Sie mimten mein Kammerkätzchen.«

»Wie liebenswürdig, daß Sie sich meiner erinnern. Ja, ich war damals mitunter dabei. Aber mich befriedigte der Film nicht.«

»Es geht vielen so. Mich hat es auch zur Musik zurückgezogen.«

»Sie sind zu beneiden. Kunst geht über alles. Und so da oben stehen und die Menschen alle in der Hand haben – herrlich muß es sein.«

»Und warum stehen Sie nicht da oben?«

»Mein Vater will es nicht. Ich hatte einen Gesanglehrer in Berlin – er riet dringend, meine Stimme ausbilden zu lassen. Aber die Eltern haben es unterbunden.«

»So, so.« Die Frau sah zu Adolf hinüber, der so tat, als ginge ihn diese ganze Unterredung nichts an, und mit der Garderobiere verhandelte. Spott war in ihrem Gesicht. »Ich bleibe für den Sommer wahrscheinlich hier in der Stadt. Es sollte mich freuen, wenn Sie bisweilen bei mir singen würden. Ich bin sehr einsam hier –.« Ein kleiner Seufzer: »Immer nur die Kollegen – ach, Sie wissen ja nicht, wie das abstumpft. Und wer kümmert sich sonst um uns vom Brettl? Sie würden mir eine große Freude machen mit Ihrem Kommen.«

Nina sagte begeistert zu.

Als sie mit Adolf hinausging, schalt sie. »O Gott, was bist du für ein Philister. Warum kommst du nicht heran und läßt dich vorstellen. Die Moreau hat einen Namen. Überall sieht man ihr Bild.«

»Weiß ich. Auf allen Zigarettenschachteln. Nächstens auch auf Pfeifenköpfen.«

Nun nahm Nina seinen Arm und drückte sich an ihn. »Also, solch einen Bären wie einer, der Brodersen heißt, gibt es nicht mehr. Wo ich heut nachmittag so nett zu dir gewesen bin. Ist dir das vielleicht leid? Wo gehen wir denn nun hin? Irgendwo muß ich bleiben bis morgen früh. Oder soll ich umkehren und Nix bitten, daß er mich auch noch mitnimmt? Peter kann mich ja auf den Schoß nehmen.«

»Ich dachte, du hättest dir dein Auto bestellt und wolltest jetzt mit dem Zug.«

»Kleiner Idiot. Ich kann mich noch lange genug da in der leeren Villa langweilen. – Wenigstens weiß ich nun ja, wohin ich fahren kann, wenn Warnemünde zu langweilig wird. Na, nun sag' auch mal was Nettes.« – Es ging auf drei, als der Wirt die letzten Gäste zum Heimweg aufforderte. Das Auto stand vor der Tür, und Nix verteilte die Plätze. »Bitte, Herr Jon Brodersen, Sie vorn neben mich. Und Ihren langen kleinen Bruder nehmen Sie auf den Schoß. Hinten hinein Panthenius, Graf und Kriesch. Keine Widerrede, Herr Kriesch. Sie sind mir viel zu unternehmend. Sie gehn mir sonst verloren. Und die beiden Nüchternsten, Herr von Baden und Herr Gamm, rechts und links auf die Trittbretter. Passen Sie bitte auf, daß die drei, die da hinten auf der Karosserie hocken, nicht verlorengehen. Alle drin? Los!«

Es war hell, als sie einfuhren in Warnemünde.

Am anderen Tag wußte keiner, wo denn eigentlich alle Arbeitsgewänder geblieben waren. Aber später ging eine Sage um im Lande, es wäre bei der Herbsttreibjagd ein Vierzehnender erlegt worden, der hätte etwas wie eine Fahne um das Geweih getragen, und diese Fahne hätte sich bei näherer Besichtigung als braune Leinenkombination erwiesen.

*

»Du bist ein Affenschwanz«, sagte Nina. »Wie kannst du dich darüber aufregen, daß ich mit deinem Bruder im Tunnel war. Gott, ich hatte noch ein paar Besorgungen gemacht, er hatte mir Bescheid gezeigt in der Stadt, und da war es zu spät für den Abendzug um sieben. Na, und so würdig, wie der Herr Doktor ist –«

Das gab er ohne weiteres zu. Adolf war die Ehrbarkeit selber. Außerdem liebte er Else. Das war offenes Geheimnis. Nina schnitt eine Grimasse. »Aber sieh mal, du süßes kleines Mädchen, du bist zu harmlos. Du gehst immer einfach so, wie es dir paßt, und wir sind hier nicht in Berlin, wo sich keiner um den andern aufregt. Warnemünde klatscht entsetzlich. Und was in Rostock passiert, pfeifen hier die Spatzen von den Dächern. Sie sollen aber nicht über das Mädchen reden, das ich liebe.«

»Liebst du mich denn wirklich, Pet? – Ich denk' immer, ich bin solch kleiner Sommerflirt für dich, und wenn du im Herbst fortgehst, dann bin ich überwunden.«

»So was mußt du gar nicht sagen. Du bist meine erste Liebe, und du wirst meine einzige bleiben. Lach' doch nicht darüber. Über so etwas lacht man nicht. Mir ist es heiliger Ernst.«

Nina lachte nicht mehr. Ganz still und nachdenklich sah sie in sein Gesicht. In einer der vielen Dünensenkungen, die sich am Wald weit hinziehen, saßen sie. Oder vielmehr, Nina saß, und Pet lag zu ihren Füßen und schmachtete zu ihr empor. Großer Junge, dachte das Mädchen. »Du lieber, dummer, du ganz lieber Junge.« Mit weicher Hand strich sie ihm über das Haar. »Wie hell deine Haare sind, Pet.«

»Ja, wir Brodersens sind alle blond. Das ist unausrottbar.« Dann kam ihm wieder etwas in den Sinn. »Und was soll das, Ninetta, daß du nun alle Tage zu der Sängerin fährst. Jeden Morgen fast bist du in Rostock.«

»Nicht jeden Morgen. Manchmal auch nachmittags. – Und Frau Moreau ist sehr unterhaltend. Und wenn du wüßtest –«

»Ich will gar nichts von der wissen. Solche Frauen gehen Wege, die muß ein Mädchen wie du gar nicht kennen.«

Wieder ein langer, musternder Blick aus den Augen des Mädchens. »Sie hat viel Schweres durchgemacht. Von ihrem Mann ist sie geschieden, ihr Kind hat man ihr genommen. Denk mal, was das heißt für eine Mutter.«

»Ohne Grund nimmt man einer Mutter nicht die Kinder weg.«

»Ach, du alter Pharisäer. Du redest auch wie der Blinde von der Farbe. Wenn das nun deine Mutter wäre, und die Leute zögen so über sie her –«

Pet fuhr in die Höhe: »Meine Mutter! – Du weißt ja gar nicht, was du redest. Wie kannst du solche Person mit meiner Mutter vergleichen. Meine Mutter ist eine Heilige gewesen. Mein Vater ist nie über ihren Tod fortgekommen. Meine Mutter –« er warf sich wieder nieder, aber nun lag er mit abgewandtem Gesicht und schaute in die Ferne. Ganz leise kam es: »Wenn ich an meine Mutter denk', Nina, dann ist alles in mir gut und rein. Das ist wie ein Heiligtum, und daran darf keiner rühren. Selbst du nicht.«

Nina antwortete nicht.

Eine ganze Weile verharrten sie in Schweigen, dann stand Peter auf. »So, nun wollen wir nach Hause gehen. Ich muß mich noch ein bißchen nett machen, Heino hat heute abend die ganze Familie eingeladen. Auf Wiedersehen morgen.« Er legte den Arm um sie und küßte sie leidenschaftlich. Nina erwiderte zum erstenmal seine Küsse nicht. »Pharisäer«, sagte sie wieder innerlich. Und zugleich wieder der heimliche Schmerz, der sie bisweilen im heißesten Leben anfaßte: ›Warum kann ich nicht auch so denken? Warum ist mir nichts heilig? Warum bin ich es mir selber nie gewesen? Wie könnte ich dann in dieser Stunde glücklich sein.‹ –

Als Peter am andern Morgen zum Platz kam, fragte der kleine Kriesch: »Wissen Sie schon das Neueste? Hoher Besuch! Panthenius fliegt eine Reklamediva. Da kommen sie eben runter. Sehen Sie den Photographen mit gezücktem Apparat? Wollen mal ein bißchen rangehen.« Aus der Maschine stieg der Fluglehrer, der auch Gäste durch die Lüfte führte, bot einer belederten und bepelzten Dame die Hand zum Aussteigen und sagte: »Nun, wie war Ihnen, gnädige Frau?«

»Durchaus wohl. In so sicherer Führung –« sie lächelte ihn verführerisch an, glättete ein bißchen am Rock, stellte sich neben die Maschine und fragte: »Soll ich so stehen? Das Vergnügen ist vorbei, jetzt kommt die Arbeit.«

Die jungen Flieger sammelten sich um sie. Frau Moreau stand für eine Zigarettenfirma, die ihre Bilder zu hunderttausenden mit der eigenen Ware versandte. Reklame auf Gegenseitigkeit.

»Das gilt nicht«, rief Kriesch. »Wir müssen alle mit auf das Bild. Was für eine Freude, wenn mein alter Herr solche Zigarettenschachtel öffnet, und sein Filius strahlt ihm entgegen.«

»Da müßte man erst wissen, wie gut die Sorte ist, wenn man sie decken soll mit seinem Antlitz«, warf Gamm trocken ein.

»Ach bitte, Herr Mohr.«

Der Photograph kam eilig heran. »Dort drüben steht mein Köfferchen. Die Herren müssen proben, damit sie loben.«

Herr Mohr lief, und die Diva verteilte freigebig Dutzende von Schachteln, verteilte allerliebste Nickeldöschen mit Tabak zur eigenen Anfertigung der braunen Schönen, verteilte eigene Bilder und ging vom Platz hinüber zu den Schuppen, suchte Werkmeister, Monteure, Arbeiter auf, warb mit Blicken und scherzenden Worten und erntete überall ungeteilten Beifall.

Nur Peter sagte zu Kriesch: »Wohin heutzutage die Weiber kommen? Wenn ich dächte, ich hätte eine Schwester, und die sänge abends auf dem Brettl und spielte am Tage Reisende in Zigaretten, und – na!«

»Mädels und Frauen müssen heute alle verdienen. Dies ist ein Geschäft so gut wie ein anderes. Wenn die Ware nur gut ist, für die sie Reklame macht, hab' ich nichts dagegen. Hallo, nun geht's los. Kommen Sie, Brodersen, wir setzen uns auf die Maschine. Ihre langen Beine werden sehr malerisch niederhängen.«

»Danke, es geht auch ohne mich.«

Da rief Adrienne Moreau herüber: »Aber die beiden jungen Herren fehlen noch. Soll ich umsonst warten? Bin ich schon so alt, daß mir das geschehen kann?«

Wohl oder übel mußte Pet sich anschließen, saß aber mit seinem hochmütigsten Gesicht, und als bei einer zweiten Aufnahme die Diva geradezu verlangte, er solle neben ihr stehen, zog er sich unter einem Vorwand zurück.

Dann sah er, wie sie sich von Nix, der herankam, den Zauber zu betrachten, über den Platz führen ließ, wie sie schwatzte und lachte und alle Minen springen ließ, bis sie vor dem Kontorhaus auf eine dunkle Frau trafen, die so selbstverständlich neben den Chef trat, daß es der Vorstellung gar nicht bedurft hätte. »Meine Frau«, sagte Nix. »Wollen gnädige Frau uns die Ehre erweisen und in meinem Zimmer probieren, ob die hiesigen Zigaretten ebensogut munden wie die von gnädiger Frau empfohlenen?« Er wandte sich noch einmal und rief zurück: »Wer von den jungen Herren hinaufkommen will, der ist willkommen.«

Nur der ›Graf‹ erschien. Und da Frau Nix für seine schönen Worte nur leichten Spott hatte, wandte er sich ganz an die Diva, machte ihr nach allen Regeln der Kunst den Hof und bereitete Nix diebischen Spaß.

»Wo bleiben denn Ihre Gefährten, mein Herr?«

»Ach, Gnädigste, der Junge, ja, wir nennen ihn immer den ›Jungen‹, er ist noch so sehr unreif – gnädige Frau haben es vielleicht eben selber schon empfunden – ja, der macht heut seinen ersten Alleinflug. Da sind diese jungen Herren nicht ganz zurechnungsfähig. Alles geht unter in ihrem Stolz, endlich einmal losgelassen zu sein.«

»Allein? Er fliegt ganz allein? Zum erstenmal? Mein Gott, ist denn das nicht gefährlich?« Sie war ganz aufgeregt.

»Aber, aber –« beruhigte Nix, »ich ließe den jungen Mann doch nicht los, wenn er nicht allein fliegen könnte.«

»Wirklich nicht? – Aber Ihnen wird das doch zur Gewohnheit. Sie zittern sicher nicht mehr um die heilen Glieder Ihrer Schüler.«

»Nehmen Sie an, daß ich dann wenigstens um die heilen Stengen und Flächen meiner Maschine zittere. Da können Sie ihn sehen. Gerad' geht er hoch.«

Sie traten alle an das Fenster. Der ›Graf‹ wußte es so einzurichten, daß er dicht hinter der eleganten Frau stand und wie zufällig immer einmal mit seiner Hand an ihren Nacken rührte. Was sie nicht zu merken schien.

Jetzt kam Peter wieder nieder auf den Platz. Die Maschine lief heran an die Baracke der Flugwache, wo sich der Aerosport gesammelt hatte, – Schüler, Monteure, die wachhabenden Sipo –, und unter allgemeinem Händeschütteln nahm er strahlend die Glückwünsche entgegen. »Und heute abend endlich alle bei Tante Paula.«

»Ja, aber jetzt mal hinauf zu Nixen. Mich rauchert's.«

»Kommen Sie, Kriesch.«

In großer Korona kamen sie oben in das Arbeitszimmer, hinter ihnen Lump, der sich schon den ganzen Tag auf dem Platz herumgetrieben und Wasserratten hinter den Schuppen am Breitling gejagt hatte.

»Ah, der junge Sieger. Wie sollen wir Sie feiern?«

»Gar nicht, gnädige Frau. Jeder macht einmal seinen Alleinflug. Das ist ihm ungeheuer wichtig, aber der übrigen Menschheit höchst gleichgültig.«

Ohne den einladenden Wink der Diva zu beachten, setzte Peter sich neben Frau Nix, der er – unbeschadet seiner jungen, heißen Liebe zu Nina – eine stille Verehrung weihte.

Die junge Frau schob ihm ein Gläschen hin. »Einschenken müssen Sie sich selber, da drüben steht der Likör. Wir wollen doch wenigstens auf Ihren ersten Alleinflug anstoßen.«

»Gnädige Frau, ich habe eine Bitte an Sie.«

»Und?«

»Wir feiern heute alle bei Frau Martin unsere Erstlingsflüge. Wollen Sie uns nicht die Ehre und Freude machen und teilnehmen?«

»Als einzige Dame?«

»Ihr Herr Gemahl ist ja auch dabei.«

Seine Augen vermieden mit voller Absicht, die elegante Frau gegenüber. Er hatte das deutliche Gefühl, die würde sich bei dem kleinsten Entgegenkommen eine Einladung erzwingen. Und er fragte sich, was soll diese ostentative Bevorzugung? Die hat sicher Verehrer genug. Was kann solch junger Kerl wie ich ihr bedeuten? Und daß ich reich sein sollte, kann sie doch auch nicht annehmen. Als er eine Viertelstunde später mit den Kameraden das Zimmer verließ, um unten im Schuppen Lumps Nachkommenschaft zu bewundern und sich einen von den kleinen Naukes auszusuchen, hatte er die Diva schon vergessen.

Als abends die ganze Fliegerei bei Frau Martin zur großen Bowlenschlacht eintraf, hatten Kriesch und Pet merkwürdige Auswüchse an ihren Lederjacken, und wie Frau Martin fragte: »Na, was ist denn das, was Sie da mit sich tragen? Haben Sie selbst noch Sekt besorgt?«, griffen beide Jünglinge hinein in die Jacke und setzten je einen jungen Hund auf die blankgebohnerten Dielen der Veranda.

Alle Gäste sammelten sich und bewunderten die fidelen Tiere, die sich wie ein paar Wollbälle umeinander wirbelten, bis Tante Paula kurzerhand sagte: »Nu is naug. So, lütt Jungs, nu steckts man wedder rin in'n Bussen«, worauf unter großem Beifall die Tierchen in die Jackentaschen verstaut und die Jacken an den Riegel gehängt wurden. Da sah immer einmal ein Hundekopf heraus in die vergnügte Gesellschaft, gab einen kleinen Blaff von sich, ließ sich kraulen und streicheln und tauchte wieder verschlafen in sein warmes Versteck. Es war eingebürgerte Sitte, daß Lumps Nachkommenschaft in solcher Weise heranwuchs.

Wenn an diesem Abend spät noch jemand an dem bekannten Restaurant vorüberging und von drinnen Lachen und Singen hörte, sagte er sich: »Flieger!«

Er sagte auch noch später in der Nacht vielleicht dasselbe, denn da wurde es lebendig im Ort.

Als Frau Nix um ein Uhr sagte: »Ich glaube, es ist Zeit, an den Heimweg zu denken«, erntete sie nur Hohngelächter. – Als sie es um zwei Uhr wiederholte, machte ihr Mann einen schwachen Versuch, sich zu erheben, gab ihn aber gleich wieder auf. Als sie um drei selber energisch aufstand, verabschiedete sich auch natürlich Nix.

» Ce que femme veut, Dieu le veut. Heiraten Sie nicht, meine Herren. Sie sehen, was ein beklagenswerter Ehemann zu dulden hat. Wiedersehen. Morgen früh, Schlag neun auf dem Platz. Sie gehen jetzt auch wohl?«

Sie dachten nicht an Gehen. Es stieg ein Rundgesang nach dem andern, bis Tante Paula um vier kurzen Prozeß machte und Schluß verkündete. Da standen sie draußen im hellen ersten Morgenlicht, sahen einander an und sangen: »Wir gehn noch nicht in die Eijaja, in die Eijaja, in die Eijaja –«, faßten einander kräftig unter und schwenkten am Strom hin, hinein in den Ort, an der Kirche vorüber und durch die stille Mühlenstraße, wo eben die ersten Fischer aus den Häusern und in den sonnigen Tag hineinsahen. Die Anlagen tauchten auf in Tau und Schimmer, Nixens Haus lag im Rosengarten, hatte verhängte Fenster und sah verschlafen drein, – hinter den Vorhängen rührte sich nichts. Unwillkürlich hielten alle den Schritt an.

»Wir wollen ihm ein Ständchen bringen«, sagte Pet.

»Nein, ihr«, riet Kriesch.

»Beiden«, entschied Gamm.

Der ›Graf‹ sagte gar nichts, er schrägelte am Gitter hin und murmelte undeutliche Worte.

Baden deutete auf ein offenes Fenster an der Terrasse. »Das ist das Schlafzimmer. Horcht mal, ich glaub', man hört ihn schnarchen?« Es stimmte.

Und wie gezogen von unsichtbarer Hand, gingen sie in den Garten, klommen auf die Terrasse, räusperten sich, und machtvoll klang es auf:

»Dies ist der Tag des Herrn!
Ich bin allein auf weiter Flur,
Noch eine Morgenglocke nur –«

Jäh brach der Sang ab, der Vorhang flog auseinander, Nix stand am offenen Fenster, braunrot vor Zorn, und donnerte hinaus: »Den Deubel auch, seid ihr alle verrückt geworden? Was wollt ihr hier?«

»Kaffee«, krähte Kriesch.

»Kaffee? Ich werde euch kaffeen! Wasser braucht ihr.« Hinter sich greifend, riß er eine riesige Kanne vom Waschtisch, schwenkte sie hoch empor, – da flogen sie mehr, als sie liefen, wieder in den Garten hinunter. Peter aber verfehlte die Treppe und sauste in die nebenstehende Regentonne. Sie stürzte mit ihm um und durchnäßte ihn bis zum letzten Faden. Kriesch und Gamm sammelten ihn auf und kommandierten: »Marsch, marsch! In die Sonne, der Mann muß wieder trocknen.« Hinter sich hörten sie wie ein fernes Gewitter Nixens grummelnden Baß.

An der nächsten Ecke versagten Graf die Füße. Er behauptete, für kein Geld und unter keinen Umständen noch einen einzigen Schritt tun zu können, und wollte sich an den Weg legen. Baden, der am meisten Überlegung hatte, erklärte das für unmöglich. »In einer Stunde kommen die Landwagen aus den Dörfern hier vorbei. Wenn die ihn finden. So bekannt wie wir alle im Ort sind! Es bleibt an uns allen hängen.«

Es stand da ein Möbelwagen vor einem Haus bereit für den kommenden Tag. Sie sahen sich nur an, packten den Genossen, schleppten ihn, der sich kaum mehr wehrte, hinein, spannten sich vor das Gefährt und zerrten den großen Kasten hinein in den Ort. Es polterte und rummelte in den stillen Straßen, dazu hörte man von Zeit zu Zeit aufschmetterndes Lachen, wenn Kriesch die Lustigkeit übermannte. »Dat sünd de Fleigers«, murmelten schlaftrunken wieder die guten Bürger und drehten sich auf die andere Seite.

Auf dem Kirchplatz hatten sie irgendwie den Wagen verloren. Er stand dort neben der Post, und man hörte aus seinem Innern tiefes Schnarchen. Die Flieger hatten plötzlich eine andere Idee bekommen. »Nach Wilhelmshöh und Kaffee trinken.«

Sie polterten bei einem Fuhrunternehmer und begehrten stürmisch Wagen und Pferde. Der Mann, erst vor zwei Stunden von Rostock heimgekommen, antwortete in einem Deutsch, das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. »Un nu makt, dat ji nah Hus kümmt. Son Rümmerdriever! Son Supjes. Laten anstännige Lüt nich slapen. Dor kümmt all en Sipo umme Eck.«

Weg waren sie. Standen auf der Bismarckpromenade und waren verstimmt. Kaffee war eine Naturnotwendigkeit geworden. Kaffee draußen in Wilhelmshöh. Aber zu Fuß da hinaus? Ausgeschlossen!

Das Schicksal hatte ein Einsehen. Ein Mietsauto, dessen Führer die Nacht in Warnemünde geblieben war, kam heran, um nach Rostock zurückzukehren. Der Mann ließ mit sich reden. Die Fünf, die noch übriggeblieben, Panthenius, Baden, Gamm, Kriesch und Peter erklommen es, und als sie eine halbe Stunde später den Wirt des abgelegenen Wirtshauses aus den Federn geholt hatten, saßen sie vor ihren Kaffeetassen wie die Helden, die Troja erobert haben.

Bis trotz Kaffee und Morgensonne die Müdigkeit ihrer Herr wurde. Das letzte, an was Peter sich später erinnerte, war, wie er selbst im warmen Sand lag, goldenes Licht ringsum, unendliches Behagen in jeder Fiber, von jener wunschlosen Müdigkeit erfüllt, die er einst als Kind empfunden, wenn er in sein weiches Bettchen sank. Müdegespielt, sorgenlos dem neuen Tag entgegenschlummernd.

Sorglos, ein großer Junge, immer noch ganz bereit, andere für sich denken zu lassen, dehnte er sich im Sand. Ahnungslos, daß wenige Schritte von ihm der dunkle Herrscher stand, dem alles Leben untertan ist. Daß unergründlich ernste Augen ihn maßen, lange wägend, – eine hagere Hand sich hob –

Aus der Ferne kam Glockenton. Die Warnemünder Kirche rief zum Frühgottesdienst. In dem strahlenden Licht des jungen Tages verging die dunkle Herrschergestalt.

*

Leopold Graf wollte einen Überlandflug machen.

Panthenius erhob Einwendungen. »Hören Sie mal, Jraf, Nix ist fort, und ich hab nicht mit ihm gesprochen, ob ich Sie fliegen lassen soll. Und den Brodersen wollen Sie mitnehmen? Dazu haben Sie auch keine Erlaubnis.«

»Erstens hab ich schon öfter einen der anderen in der Maschine gehabt, wenn ich flog, zweitens will ich in nächster Nähe bleiben, und drittens hat Nix nichts dagegen. Ich sprach selbst mit ihm.«

Tatsache war, daß Nix für seine Abwesenheit Erlaubnis erteilt hatte für kurze Flüge über dem Platz; aber Leopold Graf, der schon auf den zweiten Schein flog und sich allerlei mehr dünkte als die übrigen, sagte sich: ›Was kann mir groß passieren? Er schimpft, wenn er hört, daß ich einen langen Flug gemacht hab, ohne besondere Erlaubnis, und dann ist die Sache erledigt. Ewig hier in der Gegend herumschwirren ist mir zuwider.‹ Und weil er wußte, wie leidenschaftlich sich Peter nach einem weiten Flug sehnte, und weil er schon mehr als einmal den jungen Kameraden angepumpt hatte, wollte er ihn bei guter Laune erhalten und nahm ihn mit.

Pet fragte nicht viel: Darf ich oder darf ich nicht? Denn er sagte sich: Wer viel fragt, kriegt viel Antwort, sondern er kletterte seelenvergnügt in die Maschine und stieg auf. Panthenius, der eine gewisse Unruhe hatte bei der Sache – wenn etwas nicht gut ging, bekam er ein nasses Jahr von Nix –, rief ihnen noch zu: »Aber in einer halben Stunde sind Sie mir wieder am Platz«, sah eine schwenkende Hand, die vielleicht Bejahung bedeutete, und ging zum Schulflugzeug, in dem Kriesch zum Üben aufstieg.

Der Tag war klar und warm. Recht warm sogar. Sie stiegen ziemlich schnell auf tausend Meter Höhe und flogen östlich über das Land hin, sahen die Heide sich als grünes Band abrollen, sahen Güstrows Türme auftauchen, wendeten und flogen südwärts der großen Seenplatte zu, die mit einem Kranz von sieben leuchtenden Wasserflächen das Juwel des Landes, die Residenz, umgibt.

Als sie den hohen Domturm umflogen, schauten von drunten viele Gesichter empor. Der leuchtend rote Rumpf des Flugzeugs schimmerte im hellen Licht, und Eingeweihte sagten: »Warnemünde.«

Wieder gewendet. Nordwärts der See entgegen.

Ganz feine Wolkenschleier waren plötzlich um das Flugzeug her. Graf stieg um weitere zweihundert Meter, da breitete es sich unter ihnen in wiegendem Dunst, ballte sich zusammen, schwamm wie Inseln, aus silbernen Lichtern und blauen Schatten gewirkt, im klaren Tag, löste sich, stieg, sank, war von so zauberhafter Schönheit, daß Pet über diesem Anblick alles andere vergaß.

Bis Graf mit einem leichten Wink nach vorn deutete. Weithin breitete sich die See. Ganz fern sahen sie wie Streifen über der Wasserbläue die Küsten der dänischen Inseln.

Vor ihnen die Türme von Wismar, nach Osten zu der Kirchturm von Warnemünde, deutlich erkennbar.

Sie flogen jetzt mit gedrosseltem Motor, die Fahrt ein wenig zu verlängern und auszukosten. Flogen hart an der Küste bisweilen über der See, aber immer nahe genug der Küste, um im Gleitflug auf Land niedergehen zu können.

Woher kam es mit einemmal? Peter kannte doch diese abscheulichen Seenebel, die an warmen Tagen, wenn die Sonne auf der Flut brannte, plötzlich aufstiegen. In jagender Schnelle heranrückten an das Land, alles, was eben in Sonne und Wärme gehüllt war, in kalte, nasse Tücher schlagend.

Hätten sie nicht sehen müssen, daß dort im Norden zwischen Himmel und See mit einemmal etwas war, was den Horizont verschleierte? War der ferne Dunst so leicht gewesen, daß er nicht warnte? Sie konnten es nie sagen.

Sie wußten nur, jäh war in der Luft diese milchige Feuchtigkeit gewesen, die den Blick trübte, und schon jagte es heran über die See – eine einzige, grauweiße Wand, flog mit einer Schnelle, als stände hetzender Sturm hinter ihr, war neben dem Flugzeug, war vor ihm, unter ihm, ringsumher, schloß alle Ferne, verdämmerte alle Nähe, machte ihre Nerven zucken.

»Nach Süden! Nach Süden! Graf, wenden!« schrie Peter, der die Gefahr als Kind der Küste kannte, wie er den Nebel heranjagen sah. Vor ihm hersausend, Vollgas gebend, konnten sie ihm entfliehen und vielleicht an günstiger Stelle eine Notlandung vornehmen.

Das Knattern und Dröhnen des Motors verschlang den Laut seiner Stimme. Mußte Graf nicht von selbst auf den Gedanken kommen? Aber Graf dachte in diesem Augenblick nur daran, so schnell wie möglich den Flugplatz zu gewinnen. Bei einer Notlandung konnte es Bruch geben. Bei einer Notlandung konnte die Maschine abmontiert und mühsam heimgeschafft werden müssen. Das kostete Geld. Und Nix würde rasen.

Er gab Vollgas, nahm Kurs auf den Warnemünder Kirchturm, um den auch schon leichte Schleier flogen, und jagte ostwärts. Drei Minuten später war es, als wäre rings um sie eine einzige weiße Wattemasse. Kaum hundert Meter sahen sie, und auch in diesem Umkreis war alles schattenhaft, unwirklich.

Noch dachte Peter nicht ernstlich an das Schlimmste. Vielleicht war das nur solche Bank, die bald verging, vielleicht, wenn sie noch etwas stiegen, kamen sie bald hinaus, waren über dem ganzen Dunst, flogen im Licht dem Platz entgegen.

Stiegen sie? Fielen sie? Waren sie über dem Lande? Über der See? Wer konnte es sagen? Jedes Gefühl für Richtung und Lage des Flugzeugs geht verloren im Nebel. Zwar die großen Verkehrsflugzeuge haben Kreiselkompasse, eine kostbare Einrichtung, die dem Führer die Lage der Maschine angibt. Die kleinen Schulflugzeuge können sich das nicht leisten. Sie haben einfach beim Nebel nichts in der Luft zu suchen.

Sie mußten tief niedergegangen sein; denn mit einemmal – es kam ein Riß in den Nebel – sahen sie unter sich, gar nicht sehr weit unter sich, das Wasser. Schon zog sich der Dunst wieder zusammen. Dann plötzlich wieder ein Auseinanderreißen der Nebelwand, und dicht vor ihnen eine andere, die hohe Steilwand der Stolteraa. Wenn sie gegensausten – Graf riß mit aller Gewalt das Höhensteuer – wenige Meter über den saatgrünen Rand droben jagten sie in das Land hinein. Beschrieben sie Kurven? Unter ihnen mit einemmal wieder Flut, und wieder die Uferwand – sie mußten verhext sein. Und wieder das Höhensteuer – und für Sekunden saatgrünes Feld – und dann ringsum nur Nebel und Nebel und tropfende, eisige Kälte mitten im warmen Tag.

Peter schien es, als trieben sie seit Ewigkeiten in diesen weißen Massen. Keine Möglichkeit, sich mit dem Gefährten zu verständigen. Hart hintereinander festgeschnallt an ihren Sitzen, und doch weit voneinander entfernt. Nicht imstande, einer dem anderen ein Wort des Rats, ein Wort der Ermunterung zuzurufen.

Warum Graf nur immer noch mit Vollgas flog? Hatten ihn die Nerven verlassen? Hoffte er mit dieser jagenden Schnelle herauszukommen aus dem Schwall von Wolken? Stiegen sie? Wollte er heraus in hellere Höhen?

Da ruckte es unter ihnen, es klatschte gegen die Tragflächen, sie mußten hart an feste Gegenstände gestreift sein. Etwas fiel auf Peters Hand, er griff danach. Ein winziges Zweiglein, zwei halbzerfetzte Blätter daran. Also jagten sie an Bäumen hin. Vielleicht an einer Landstraße, vielleicht an einem Waldrand.

Und da – wieder ein Treiben im Dunst, – für einen blitzartigen Augenblick tief unter ihnen ein Kornfeld, die Spitze des rechten Flügels senkrecht gegen den Boden gestellt – ›Wir rutschen ab‹, dachte Peter noch – dann war alles dunkel und still um ihn her. –

Auf dem Flugplatz hatten sie Graf nachgesehen, als er den östlichen Kurs nahm, hatten untereinander gesagt: »Der kommt in einer halben Stunde noch nicht,« und waren an die eigene Tätigkeit gegangen. Eine halbe Stunde, eine ganze Stunde – über See und Wiesen heran wogten dicke, weiße Massen.

Panthenius sah sorgenvoll nach oben, nichts mehr zu sehen. Lauschte auf einen heranjagenden Motor, – nichts zu hören. Er ging in den Schuppen, wo Kriesch, Baden und Gamm dabei waren, die B. 3 einer gründlichen Säuberung zu unterziehen, und sagte: »Mir ist gar nicht wohl zu Mut. Sie sind noch nicht da. Wenn ihnen nur nichts zustößt.«

»Sind ja alles seebefahrene Leute«, tröstete Kriesch. »Die sitzen in Güstrow oder Schwerin und warten das Wetter ab. Nachher, wenn es aufklart, kommen sie fidel wieder an Land.«

Noch eine halbe Stunde. »Wenn sie da niedergegangen wären und warteten, könnte Graf doch mal anrufen. Brodersen denkt natürlich nicht daran, aber Graf –«

»Der Jraf ist ein Schaf. Wenn es dem nur gut geht, fragt er viel danach, ob Sie sich hier ängstigen.«

»Ich werde mal selber anrufen in Güstrow.«

Sie zogen alle zusammen in das Büro und riefen Güstrow. »Jawohl. Eine rote Maschine? Jawohl. Hätten gleich gesagt, das wäre Aerosport. Flugwache hätte die Zeit notiert. Zehn Uhr fünfzig. Nicht niedergegangen. Richtung südwärts, wahrscheinlich Schwerin.«

»Der Halunke«, murrte Panthenius und rief Schwerin an. »Jawohl. Hier Flugwache Görries. Ja, hab ich gesehen, rote Maschine. Umflog den Dom, kam auch hier über den Platz, ging nordwestlich.«

»Die sind nach Lübeck. Bitte Flugplatz Travemünde.«

»Hier Travemünde. Rote Maschine? Doppeldecker? Bedauern. Hier ist keine gesichtet worden.«

»So, da sitzen wir. Nun können wir noch in Wismar anrufen. Aber da ist kein Flugplatz, da müssen wir hören, ob die Landgendarmen sie beobachtet haben.«

Nein, Wismar wußte von nichts.

Nun spielte das Telephon in alle Seebäder, vergebens. Als wären sie zwischen Schwerin und der Küste vom Erdboden verschwunden.

Panthenius wurde still. Er fühlte die Verantwortung und machte sich Vorwürfe.

Gamm in seiner Bierruhe regte sich nicht auf. »Die haben eben den Nebel kommen sehen und sind notgelandet. Das ist doch so selbstverständlich. Wie sollen sie da Nachricht geben? Gar kein Grund zur Aufregung.«

Baden, der auffallend feine Nerven hatte, spürte es, daß etwas nicht stimmte. Aber er schwieg. Sie konnten hier gar nichts beginnen. Es war bald kein Dorf mehr in der Runde, das sie nicht angerufen hatten.

»Wir könnten noch mal Alt-Gaarz anfragen.«

»Hier Alt-Gaarz. Eine Nixsche Maschine? Ja, wir kennen sie hier. Nein, nichts. Ach – wie – Bitte mal einen Augenblick.« Pause. »Hier ist ein Mann in der Post, der sagt, vor einer halben Stunde, als er die Chaussee langkam, hat etwas in den Pappeln geprasselt, Zweige sind heruntergekommen, es hat entsetzlichen Lärm gemacht. Er hat einen großen, dunklen Schatten gesehen,« man hörte Lachen im Apparat, »ja, er sagt, er hätte gedacht, der Gottseibeiuns käme über ihn. Abgestürzt? Nein, das kann wohl nicht sein, das hätte er ja gesehen.«

»Also, da müssen wir suchen«, sagte Panthenius. »Gamm, kommen Sie mit. Ich nehme das Platzauto. Der Meister soll auch mit. Los, los, los!«

Sie fuhren zehn Minuten später fort. Die Zurückbleibenden hockten unten im Schuppen bei den Monteuren, und es liefen gräßliche Geschichten von Abstürzen, Vergaserbränden, versagenden Fallschirmen und ähnlichen Dingen um. – –

Peter kam zu sich. Irgendwie hatte er das Gefühl, er sei nur einmal noch aufgewacht, um dann endgültig zu sterben. In der Körpermitte war er durchgeschnitten. Die Beine gehörten ihm gar nicht. Dann der erste klare Gedanke: »Gleich wird es brennen,« und bei dem Gedanken jäh aufleuchtender Lebenswille. Er strengte sich an, die Glieder zu befreien, begriff, daß der Lederriemen um die Taille ihn am Sitz festhielt, riß die Sicherung auf und kroch aus Trümmern hervor auf das Feld. Zwischen zerbrochenen Stengen und zertrümmerten Rumpfteilen, – die eine Tragfläche zusammengeknickt unter sich, die zweite über den zerschmetterten Rumpf geschoben, – hatte er nur noch mit dem Kopf herausgeragt aus der Masse. Und der Kopf hatte auf der Erde gelegen, war wie durch ein Wunder ohne Verletzung geblieben.

Pet betastete seine Schultern, Arme, Beine – alles ließ sich bewegen, war zum Teil schmerzhaft, aber unverletzt.

Er sah sich nach Graf um; und fast in der gleichen Lage wie er selber, den Körper zwischen den Trümmern, den Kopf zum Boden geneigt, fand er ihn. Sehr blaß war das Gesicht, fast wächsern, die Besinnung nicht zurück.

»Graf!« schrie Peter, »Graf! Raus aus der Klamotte, wachen Sie doch auf.« Als seine Stimme keinen Erfolg hatte, versuchte er, den andern herauszuzerren, konnte nach einiger Mühe den Gurt erreichen, ihn lösen, das Holz des Rumpfes auseinanderbrechen und den schweren Körper auf das Feld zerren. Jetzt erst öffnete Graf die Augen, besann sich, richtete sich empor, betastete mechanisch Kopf und Glieder, und brach in ein aufgeregtes Lachen aus.

Als hätte Peter nur auf diesen Ausbruch wilder Heiterkeit gewartet, stimmte er ein. Sie lachten, hockten nebeneinander am Boden und lachten. Sahen auf den Trümmerhaufen, der fast ihr Grab geworden wäre – und lachten. Lachten immer lauter, immer heftiger, kamen endlich auf die Füße, und Graf schrie: »Wir müssen abmontieren, wir müssen sie gleich abmontieren.«

Damit faßte er zwischen Splitter und Trümmer, zerrte, riß und erwischte den Kompaß, den er eilig in seine Lederjacke steckte.

»Fix, fix, Brodersen! Alles bergen, was sich bergen läßt.«

Und Peter, als müßte das so sein, riß auch an dem zerschmetterten Holz und erwischte die Lederriemen. Wie eine unersetzbare Kostbarkeit zog er sie vor und wickelte sie auf. Und wieder, als sie sich ansahen, das laute Lachen, bis Graf begann, sich auf einem Fuß zu drehen, keuchte und, erschöpft, mit wild schlagenden Pulsen, auf den Boden fiel. Da verstummte auch Peter für eine Weile, stand und sah auf ihn nieder, die Lederriemen ganz verloren in der Hand. Stimmen kamen durch den Nebel, dunkle Schatten liefen heran, aus der Dunstwand traten Menschen hervor, schrien, waren neben ihnen, sahen auf die Maschine, sahen auf die zwei Menschen, die durch ein Wunder dem Tod entgangen waren, und fragten. Aber was sie fragten, das kam den Abgestürzten nicht zum Bewußtsein.

Langsam erst verstanden sie, daß die Leute zu einem Gut gehörten, daß sie auf dem Felde gearbeitet hätten, das Dröhnen des Motors und das entsetzliche Krachen gehört hätten, als das Flugzeug niederschmetterte, und daß sie – im Nebel suchend – endlich zum richtigen Fleck gekommen waren. Da wurde es den jungen Männern erst klar, daß sie selbst von einem Krachen nichts gehört hatten. Soviel Peter in jener Stunde und auch später nachgrübelte, immer war das Letzte: Junges Sommerkorn auf dem Felde, die graue Flügelspitze nach unten geneigt, und – nichts mehr. Wäre es der Tod gewesen – leichter hätte er nicht kommen können. Aber die halbe Stunde vorher, die war Grausen. – Die blieb Grausen auch in der Erinnerung.

»Trinken Sie mal«, sagte jetzt jemand. Das mußte der Gutsherr sein. »Sie sehen ja beide aus wie Leichen.«

Peter sah Graf an, sah – was er in seiner Erregung bisher nicht gesehen – dessen Gesicht noch immer als ein Wachsbild, dachte entsetzt: »Seh ich denn auch so aus?«, griff nach der Flasche und tat einen herzhaften Schluck. Gleich darauf schlug sein Herz kräftig gegen die Brustwand, das Blut wurde warm.

»Was machen Sie denn?«

Graf sah auf zu dem Frager. Er kniete wieder am Boden und wühlte zwischen den Sparren. »Wir müssen abmontieren.«

»Muß denn das gleich sein?«

»Gleich sein? Wieso gleich sein? –« Er fuhr sich über die Stirn, sah das Unsinnige seines Tuns ein, stellte sich auf die Füße und murmelte: »Donnerwetter! Und nu Nix.«

»Ja, viel ist nicht mehr nach davon.«

»Nein, so nicht. Nix – das ist unser Chef.« Seine Schultern hingen nach vorn, ihm wurde mit einemmal sehr übel. Starkes Erbrechen schaffte endlich Luft, und danach fragte er nichts mehr und sagte nichts mehr, hockte auf einem Grabenrand und starrte vor sich hin.

So wurden sie eine Stunde später von dem Platzauto gefunden, das im nahen Dorf die erste Nachricht erhalten hatte: »Maschine im Dutt, Flieger gerettet.«

»Daß sie nicht verbrannt sind«, sagte Panthenius. »Es ist tatsächlich ein Wunder.«

Als sie einen Leiterwagen heranschafften, die Trümmer aufluden und den Motor untersuchten, zeigte es sich, daß Graf in der letzten Sekunde die Zünder abgerissen und so einen Brand verhindert hatte. Er wußte es nicht, konnte sich auch nicht erinnern. Ganz mechanisch mußte das Unterbewußtsein ihn veranlaßt haben, das einzige zu tun, was noch getan werden konnte. –

Tante Lite hatte längst die Nachricht bekommen: »Ihr Neffe liegt mit der Maschine hinten bei Alt-Gaarz, er soll unverletzt sein«, und hatte in Sorge und Zittern die Stunden verbracht, bis Peter im Abenddunkel endlich an das Haus kam.

Da stand sie vor ihm und ließ ihren Tränen, die sie so lange zurückgehalten, freien Lauf. »Mein Junge, mein lieber, lieber Junge.«

»Warum weinst du denn?« fragte der Neffe herzlos. »Bist du betrübt, daß ich noch mal wiederkam?«

»Pfui, Peter, du bist abscheulich.« Aber der kleine Ärger ließ die Tränen schwinden. »Waren es nicht entsetzliche Stunden, Kind?«

»Stunden? Das hätten wir einfach nicht ausgehalten. Man dachte so schon, man würde verrückt bei dem Herumschaukeln im Nebel.«

»Dachtest du –« Tante Lite fragte es nur halblaut, fast schüchtern, »dachtest du auch mal an mich dabei?«

»Ich dachte an niemand. Ich dachte nur, wenn es nur endlich zu Ende wäre. So oder so.«

»Und nun – –«

»Was nun?«

»Willst du nun nicht lieber doch wieder Medizin studieren? Oder was anderes werden?«

Peters Augen wurden groß. »Was anderes werden? Wie soll ich denn dazu kommen? Weil ich abstürzte? Das weiß man doch vorher, daß das kommen kann. Gott bewahre! Ich bin Flieger, und ich bleib Flieger.«

»Du bist ein junger Held«, sagte die Tante erschüttert.

»Held! Was für große Worte. Das gehört eben dazu. Damit muß man sich abfinden. Heldentum ist gar nicht dabei.«

*

Bisweilen geht das Leben Jahr und Tag seinen ruhigen Gang, und dann beginnt es, zu wirbeln wie ein tollgewordener Kreisel. Tante Lites Leben war in die Unruhe geraten, und die alte Dame hatte so gar nicht die Nerven dafür.

Else war bei ihr, und gegen Else konnte man offen sprechen. Die regte sich nicht gleich auf und die klatschte auch nichts weiter. Sie war ein Prachtmädchen. Wenn Heino das nur endlich einsehen wollte. Wie entzückend könnte solch junges Glück sein. Tante Lite hatte nur eine sehr undeutliche Vorstellung von der Entsagung, in der Heino leben mußte.

»Ja, Else, und denk dir, wie ich frag', ob er denn nicht an mich gedacht hat, sagt er: gar nicht. Und das wäre kein Heldentum, das wär nun mal so. Früher, in alten Zeiten, da durften die Frauen doch noch einen Mann bewundern, der sich heldenhaft benahm, nun sehen die jungen Menschen das als Beleidigung an.«

»Ist das nicht das einzig Richtige, wenn sie das Selbstverständliche ohne große Worte tun? Wir haben die Zeit der Romantik weit hinter uns. Wir gehen – ich meine wir heutige Jugend – wir gehen gewiß oft keinen leichten Weg, wenn wir aber verlangen wollten, daß man uns darum dauernd bewundert, das wär' ja nicht auszudenken.«

»Du sagst: das Selbstverständliche. Es ist doch nicht selbstverständlich, daß einer einen Beruf ergreift, der ihn immer in Lebensgefahr bringt.«

»Es ist der Beruf, der ihm liegt. Zu dem es ihn zieht. Der seinen Wünschen und Fähigkeiten entspricht. Also der für ihn notwendige. Wenn man das weiß, muß man das andere mit in Kauf nehmen. Und die besten und tüchtigsten der Jungen, die lockt doch die Gefahr.«

»Ja, Else, du hast gewiß recht. Aber wenn man die Sechzig hat, Kind, da findet man sich nicht so leicht mit der veränderten Welt ab. Und dann sieh mal, es gibt doch auch solche, die gar nicht schwere Wege gehen, sondern sich das Leben so leicht und amüsant machen wie nur möglich. Obgleich ich in meiner Jugend für solch Amüsement gedankt hätte. Else – aber du sagst es niemand wieder?«

»Ich sag' doch nie etwas wieder.«

»Nein, das tust du nicht. Komm mal mit 'rauf ins Atelier.«

Und wie sie die Treppe hinaufstiegen: »Jon ist nicht da; er ist nach Berlin hinüber. Du weißt, das nehm ich immer wahr, da kann man mal oben scheuern. Es ist nötig.« Sie stand vor der Ateliertür, behielt die Klinke in der Hand und bereitete vor. »Er hat das Bild fertig, weißt du, das, von dem er schon früher sprach. Die alten Weiden – ja – es steht da offen auf der Staffelei. Wenn er es wenigstens verdeckt hätte. So hat es die Suerbier auch gleich gesehen, als sie reinkam. Und gekrieschen vor Lachen. – Else, ich hab mich ja so geschämt, daß das in unserem Haus –« Und nun öffnete sie endlich.

Da stand es mitten in der hellen Sommersonne, und mitten zwischen den grauen, verwitterten Weiden saß auf einem Stein im Straßenschmutz ein Elfchen, wie hergeweht vom blasenden Wind, der die Zweige der Weiden kämmte, saß da und hatte nichts um und an als ein paar schimmernde Schleierfetzen und einen Mohnkranz auf dem silberblonden Scheitel. Aber trotz Sturm und Verlassenheit war es durchaus bei Laune; denn während es mit der einen Hand seine paar Lümpchen zusammenhielt, drehte es mit der anderen den aufgeregten und empörten alten Weiden eine zierliche Nase, das ganze Gesicht voll strahlendem Übermut.

Else lachte.

Gewiß, sie erkannte Nina auf den ersten Blick, aber sie erkannte auch in dem ersten Gesicht, das da aus dem Stamm sah, Tante Lites Konterfei mit einem so entsetzten, verstörten Ausdruck, daß sie ihr Lachen nicht bezwingen konnte, so viel Mühe sie sich gab.

»Du lachst noch darüber? Darüber? Else, ich bitte dich, das hätt' ich nicht von dir erwartet.«

»Verzeih, bitte. Es ist ganz Jon. Ungezogen ist er ja nun mal. Er kann es nicht lassen; wenn ihm etwas einfällt, muß er es ausführen. Er hätte aber denken sollen, daß es gegen dich sehr wenig nett gehandelt war.«

»Ach ich – Mich kann er meinetwegen ein dutzendmal malen, da mach ich mir nichts draus. Ich kenn' ihn ja, – Aber die da vorn. Die nackte Person! Das ist doch unverkennbar Fräulein Moll.«

»Ja, das soll sie wohl sein.«

»Ohne was an! Die paar durchsichtigen Dinger sind beinah schlimmer als nichts. Und so hat sie ihm Modell gesessen.«

»Wer weiß, ob sie ihm so gesessen hat. Ein Künstler kann auch aus dem Gedächtnis malen, aus der Phantasie heraus.« Aber sie glaubte nicht, was sie sagte.

»Natürlich hat sie ihm gesessen. Sie kam so oft und wollte was von ihm, ich hab' sie eigentlich immer nur zufällig bemerkt. Ich bin das so gewohnt, daß seine Bekannten da 'raufgehen, ich seh' gar nicht hin, wenn jemand auf der Treppe ist. Aber das – das hab' ich nicht für möglich gehalten.«

»Maler brauchen Modelle. Und wo soll er hier etwas herbekommen? Sie ist ja wie geschaffen dafür.«

»Else, du redest drum rum. Sie ist ein junges Mädchen, das hier im Hause verkehrt, sie ist kein Modell. Und sie schämt sich nicht, sich da so splitterfasernackt hinzusetzen und sich ansehen zu lassen und dabei zu lachen? – Es ist schamlos. Mir darf sie hier nicht mehr kommen.«

»Die größten Künstler haben ihre Geliebten als Modell benutzt.«

»Ihre – Glaubst du denn, daß sie und Jon? – Das wäre ja noch schlimmer.«

»Nein, nein. Es war doch nur ein Vergleich. Komm, wir wollen hinuntergehen. Das Bild wird sicher Furore machen auf irgendeiner Ausstellung, und Jon wird es gut verkaufen. Das kann er brauchen. Wir wollen es ihm gönnen.«

»Ich soll also nicht mehr drüber reden. Ja, es ist wohl das beste, ich tu, als wenn ich von gar nichts weiß. Das ist ja heutzutage das Schicksal von uns Alten. Früher kam die Jugend zu den Eltern und Erziehern und sprach sich mit ihnen aus. Jetzt weiß sie alles allein. – Sieh mal, mit Adolf ist auch nicht alles in Ordnung. Was hat der mit einemmal, daß er seine Ferienreise aufgegeben hat? Er wollte doch im Sommer nach Tirol, und nun sagt er, er kommt hierher im Juli und bleibt die ganzen vier Wochen hier. Oder vielmehr bei Heino draußen. Warum das?«

»Ich denke mir, das Geld wird ihm knapp sein.«

»Hm, ja. Das kann sein. Na, dann wäre da wenigstens kein Grund zur Sorge.« So unruhige Augen hatte die kleine Dame und so scharfrot gemalte Bäckchen, daß Else ihr beruhigend das Gesicht streichelte. »Du quälst dich viel mehr um deine ungezogenen Neffen, als sie verdienen. Wart' nur, in drei Wochen bin ich auch hier bei Vater, ich nehm' meinen Urlaub zugleich mit Adolf, da komm' ich oft her, und du kannst deinen Seelsack ausschütten.«

›Was für ein liebes Menschenkind‹, dachte Tante Lite ganz getröstet, als sie der Nichte nachsah, wie sie über die Bahnbrücke hinüberging zur anderen Seite. ›Ja, natürlich hat Adolf einfach kein Reisegeld. Daß ich mir das nicht gleich selber sagte.‹

Else war gar nicht so sorgenlos, wie sie sich gegeben.

Diese Jungen! Diese gräßlichen Vettern! Sie dachte daran, daß eine Schwester im Krankenhaus zu ihr gesagt hatte: »Seit wann legt sich Doktor Brodersen denn auf die leichte Seite? Der soll ja jetzt so oft Damenbesuch haben.«

War Nina damit gemeint? Vierzehn Tage lang war sie ihrer Hand wegen gekommen, und mehr als einmal hatte sie sich ihr und dem Vetter angeschlossen, aber sie hatte nicht viel gesehen, was Anlaß zu solchem Verdacht gab. Nina war ja ein koketter Nickel, sie ließ keinen Mann in Ruhe, aber es hatte etwas – zum Teil so Graziöses – zum Teil so Lächerliches –, man nahm es eigentlich nicht für Ernst. Und Adolf – Wie sie jetzt noch einmal die letzten Wochen überdachte, sah sie ihn manches Mal mit einem veränderten, erregten Blick, mit unruhigen Händen, mit abweisendem Ausdruck. Bisweilen war er sehr beflissen um Nina, dann wieder förmlich schroff.

Warum tat es ihr weh? Ja, stillgestanden, du dummer Innenmensch, verkriech dich nicht und stell' dich nicht dumm. Es tat eben weh. Kann Vetter Adolf nicht tun und lassen, was er will? Hast du nicht selbst gewünscht, er möchte seine mehr als vetterliche Neigung überwinden? Und nun, wo er auf dem besten Weg zu sein scheint, nun ist es dir wieder nicht recht?

›Ja,‹ sagte der Innenmensch, ›aber wenn sie heut den einen Bruder ans Bändchen nimmt und morgen den andern! Und Heino sagte neulich, Peter schiene ihm auch Feuer gefangen zu haben – was soll denn daraus werden? Mir ist es ja gar nicht um mich zu tun, nur um die anderen.‹

Und so zankten sich die zwei Stimmen, die jeder Mensch in sich trägt, hin und her, und Else, die verständige, klare, sonnige Else, war gar nicht mehr klar und sonnig, als sie beim Vater in der Heide ankam. Der saß vor seiner Veranda und sah rauchend und beschaulich in den sanft verhängten Tag. Ein bißchen Wind lief über die Flut, dicke Wolkenschiffe schoben sich schwerfällig über den Himmelssee, immer einmal blaue Tiefen zwischen den grauen Wänden aufleuchten lassend, und die Luft war so voll Seegeruch und Harzduft und stiller Wärme, – alle Unruhe der dummen Menschenseele legte sich zur Ruhe in dieser heiligen Weite.

»Nun,« sagte der alte Herr und wandte das feine Gelehrtengesicht der schlanken Tochter zu, »was bringt mir mein Kind? Du bist nicht recht zufrieden in dir.« Er hatte die feinen Gefühlsnerven, die es magnetisch empfinden, wenn dem andern etwas wider den Strich gegangen ist. Da braucht's kein Wort, nicht einmal einen Blick, es liegt in der Luft und wirkt sich aus.

»Ja, ich bin nicht zufrieden. Laß mich hier bei dir sitzen. Ich ging schon her, statt die Strandbahn zu benutzen; denn ich dachte, ich könnt' es mir verlaufen. Aber es ist nur sehr wenig gelungen.« Sie hockte sich auf die Treppe und berichtete. Darüber kam Heino heran und hörte zu; denn vor ihm hatten weder Vater noch Tochter Geheimnisse.

»Ich hab es auch bemerkt, daß der Junge einen kleinen Flirt mit der niedlichen Berlinerin hat. Das ist nicht anders. Einmal kommt das. Und es könnte schlimmer kommen.«

Geheimrat Trummer rieb sich das Kinn in der Hand. Das war seine Geste, wenn er einen verwickelten Fall überlegte. »Ja, na ja. Andere fangen in der Tanzstunde an, aber ihr habt ihn ja selbst so behütet – Tante Lite saß ja wohl in jeder Stunde auf dem Drachenthron –, da konnte sich ja nichts Rechtes anspinnen. Nun regt sich das junge Blut. Einundzwanzig Jahr! Und kerngesund! Und zwischen den lustigsten und leichtsinnigsten Brüdern der Welt – Laßt ihn laufen. Das zieht sich alles zusammen und wieder auseinander.«

»Wenn er sich nicht dabei an schärferen Dornen reißt, als wir glauben, Vater.« Sie erzählte von dem Bild und dann – aber nur zögernd, fügte sie hinzu: »Ich fürchte, auch Adolf ist von diesem Zauber gefangen.«

Beide Männer begannen zu lachen, ein Erfolg, den sie für ihre Worte nicht erwartet hatte. »Auch Adolf«, rief der alte Herr. »Ich muß sagen, das nehm' ich dem kleinen Racker ordentlich gut, wenn sie den ein bißchen aufwirbelt. Der Mann war mir immer unheimlich mit seiner Gefaßtheit und seiner erhabenen Weltbeherrschung.«

Man sagte von dem Geheimrat, er sollte in seiner Jugend durchaus nichts gegen die Genüsse des Lebens eingewandt haben, und er selber sah das als den tiefsten Grund seiner Altersphilosophie an.

Heino blickte der Kusine in das erstaunte Gesicht. »Kränk' dich nicht, Elslein, er kommt mit doppeltem Feuer zurück. Sie soll ihm nur einmal ordentlich einheizen.«

»Dummes Zeug. Meinetwegen laß ihn so lichterloh für das Ninettchen brennen, wie er kann und mag. Jon und Adolf sind ja auch alt genug, für die eigene Haut zu sorgen. Aber stell dir Pet vor, wenn er das erfährt. Der Bengel hat eine gesegnete Meinung von sich. Es wird ihn direkt zerschmettern. Ihr habt ihn ja immer so in Watte gewickelt, ihr habt ihn ja ganz in dem Gedanken großgezogen, daß für Peter Brodersen immer ein Extrabrot gebacken werden muß – Na, ich möchte nicht dabei sein, wenn ihm sein Ideal in Trümmer fällt.«

»Es wird keiner ein Mann, der nicht vom Leben gestoßen und geschlagen wird.«

»Sehr wahr, Heino, aber ihn werden die Schläge hart treffen. Er wird sein wie ein Krebs ohne Schale.«

Sie brach ab. Die, von der sie sprachen, Nina Moll, kam den Fußsteig her, winkte schon von weitem und gesellte sich hinzu. »Sie wollten doch heute nachmittag einen Spaziergang mit mir machen, Else. Als Sie vorhin bei uns vorbeikamen, dachte ich, Sie würden mich anrufen, – nichts. – Wie eine Königin wandelten Sie vorüber.«

»Ich bin schon bereit. Gehen wir zum heiligen See.« Und die beiden Mädchen gingen.

Nina spürte, da war etwas, was bisher nicht gewesen, und kurz entschlossen packte sie den Stier an den Hörnern und brachte das Gespräch auf die eigenen Sünden.

»Das ewige Tanzen«, sagte sie »wird einem auch über. Und Pet ist so komisch, daß er nicht leidet, wenn mich ein anderer Herr auffordert.«

»Sie sind in den letzten Wochen viel zusammen zum Tanzen gegangen?«

»Wenn er nachmittags Zeit hatte. Sonst abends. Stranddiele oder Strandpavillon. Aber es wird schon voll, man schiebt sich, und wie gesagt –« eine kleine Pause. Kam Else ihr nicht zu Hilfe? Nein, Else ging mit ihren elastischen, gleichmäßigen Schritten den stillen Waldweg hin und konnte es erwarten, was Nina zu sagen hatte.

»Ja, wie gesagt, der dumme Junge spielt sich auf den Eifersüchtigen heraus, sobald ich jemand mal ansehe.«

»Und anlache.«

»Gott ja, warum soll man nicht lachen! Das Leben ist stieselig genug. Ich bin nun mal so.« Zwanzig weitere Schritte ohne Worte. »Finden Sie es denn schlimm, wenn man etwas für Männer übrig hat? Kann ich dafür? Ich hab es von meinem Vater geerbt. Der mag die Frauen gern. Und dann Berlin! Man wird da so, man weiß selber nicht, wie es kommt. Ich muß Betrieb haben. Ich muß die Männer tanzen lassen. Sie verdienen es gar nicht, daß man sie ernst nimmt. Und sie mögen es im Grunde ganz gern, wenn man sie zwiebelt.«

Else sah sich die Begleiterin nachdenklich von der Seite an. »Sie sind eine ganz leichtsinnige Fliege, Nina. Denken Sie nie, daß es Ihnen auch einmal sehr weh tun kann, wenn Ihnen mit gleicher Münze heimgezahlt wird?«

»Mein Herz ist nicht empfindlich. Sonst – Wissen Sie, hier ist nur einer, der mir wirklich gefährlich werden könnte. Nur einer, der kein Spielzeug ist. Aber der kümmert sich den Deubel um die dumme Berliner Jöhre.« Sie sprach betont derbe und lachte dazu. Es klang unecht. Plötzlich mit schnellem Angriff: »Wen liebt denn der Herr Heino eigentlich?«

»Wen – Was fällt Ihnen ein?«

»Funkeln Sie mich nicht so an. Ist er denn ein Heiliger, daß man ihn nicht in solcher Hinsicht nennen darf?«

Else hatte sich schon wieder in der Gewalt. »Ein Heiliger will er gar nicht sein, aber ein Mensch ist er, der sein Teil zu schleppen hat.«

»So? Was denn? Sie wollen es mir nicht sagen? Denn nicht, ich bin nicht neugierig auf die Geheimnisse von Herrn Heino. Neulich las ich übrigens sein neues Buch: ›Der Klang im Leben‹, das war durchaus nicht weltabgewandt. Das las sich so, als hätte es einer geschrieben, der ganz genau mit allem Bescheid wußte, was im Leben klingt und leuchtet.«

Aber Else ging nicht darauf ein, und Nina, nach kurzer Verstimmtheit, begann von ihrer neuesten Eroberung, dem Argentinier. »Haben Sie ihn noch nicht gesehen? Er ist immer auf dem Platz. Seine Regierung hat bei Heinkel drei Flugzeuge bestellt, er soll sich darauf einfliegen.«

»Sie sind oft auf dem Platz?«

»Mit ein paar jungen Mädchen aus Warnemünde. Was soll man denn anfangen, wenn man nicht wenigstens die Flugschüler hat? – Ja, und den Argentinier kann Pet nicht leiden, er sagt, der wäre ein ganz liederlicher Bruder. Und es ist doch nur das südliche Feuer, das auf mich überspringt, wenn wir zusammen tanzen.«

»Nina, ich will Ihnen nicht hineinreden in Ihr Leben. Es hat auch keinen Zweck. Aber den Peter, den lassen Sie mir in Ruhe. Der Junge braucht jetzt seine Nerven im Beruf, und er ist keiner, der seine erste Liebe als Bagatelle nimmt.«

»Sorgen Sie sich um ihn?«

»Ja, wie eine große Schwester.«

Nina zuckte mit den Achseln. »Ich will ihn gern aus meinem Dienst entlassen, wenn Sie es wünschen. Wissen Sie, Else, im Grunde liegt mir mehr an Ihrer Freundschaft als an den ganzen Mannsleuten. Sie sind so klar und sicher – ich möchte, ich wäre wie Sie. Na, das werd' ich nun schon nicht mehr. Also, der Peter, dem wird von morgen an die kühle Seite gezeigt.«

Wie sie das sagte, war es Else auch wieder nicht recht.

*

Der Sommer stand auf der Höhe. Täglich kamen die Fremden in Scharen und füllten den Ort. In den Straßen am Strom und an der See war kein Zimmer zu haben, und nachmittags spien die Rostocker Züge Menschenhaufen aus, daß eine Völkerwanderung am Strom hinzog, als sollte kein Fußbreit Sand am Strand unbesetzt bleiben. Else und Adolf, die beide ihren Urlaub hatten, waren ganz hinuntergezogen an die See. Bei Heino war Massenbetrieb, besonders an warmen Abenden, wo sie alle auf der Düne im Sande lagen und klug redeten.

Peter und Nina aber gingen nach wie vor zum Tanz in die Stranddiele, und kamen sie heim, so sangen sie die neuesten Schlager:

»Wo sind deine Haare, August, August!
Deine goldnen Jahre, August, August!«,

bis Heino ihnen mit Verbannung drohte.

Nina hatte es ja versucht und Pet die kalte Schulter gezeigt, aber da war der große Junge so in Aufregung geraten, daß sie selbst Angst bekam und wieder nett wurde. Und wenn sie abends zusammen durch die Dünen heimgingen, wurde der halbstündige Weg zu einem zweistündigen.

Einmal stellte Adolf sie und sagte: »Laß den Jungen in Ruhe. Wenn er einmal weiß, wie weit du gehen kannst, gibt's ein Unglück.«

Sie sah ihn feindselig an. »In Rostock klang's anders. Hier bist du wieder dem alten Zauber verfallen, da bin ich ein kleines, leichtes Mädchen, wie? Tröst' dich! Peter sagt mir kein dreistes Wort. Für den bin ich, was ich sein möchte. Laß mir das, daß einer an mich glaubt.«

»Du selber wirst ihm den Glauben zerstören.«

»Wart es ab! Vielleicht erscheint ihm mal eine andere interessanter und schöner, dann löst sich unser Flirt ohne Leid.«

An einem Sonnabend waren sie wieder zusammen und jazzten in der Diele. Verschiedene junge Mädchen und Pets Flugbrüder hatten sich zu ihnen gefunden, und es war ein langer Tisch zusammengestellt worden. Zu Pets Verdruß allerdings nicht an der Brüstung, wo der Tanzraum zu übersehen war, sondern ein wenig abseits. Denn jetzt spielten die jungen Flieger nicht mehr die erste Violine. Rennstallbesitzer, Großkaufleute aus Berlin und Hamburg, Industriebarone und alles, was die teuersten Weinsorten bestellte, hatten das erste Wort in den Lokalen.

Nina hatte ein Augengeplänkel mit einem dicken Hamburger begonnen, und Peter sagte nichts dazu; denn der Hamburger sah ungefährlich aus. Als er herankam und bat, mit der Dame einen Tanz absolvieren zu dürfen, wurde es ihm huldvoll gestattet.

»Ihrem Herrn Verlobten schien es nicht ganz recht, gnädiges Fräulein«, meinte er, als sie sich nach den Klängen »Baby, wovon ist dein Mündchen so rot – Du hast doch nicht etwa – ei, ei« über den Teppich drehten.

Nina spürte in der Frage die Neugier. »Mein Verlobter? O bewahre, das ist mein Bruder.«

»Bruder? Und der paßt so auf gnädiges Fräulein auf?«

»Ja, mein Mann hat mich ihm auf die Seele gebunden. Mein Mann ist gräßlich eifersüchtig.«

»Gnädigste sind verheiratet?«

»Seit vier Jahren. Ja, man hält mich immer für viel jünger, als ich bin. Wissen Sie, wir hellblonden Frauen –«

»Gewiß, gewiß. Meine Frau ist allerdings dunkel. Sie konnte nicht mit mir reisen, wir haben ein Kleines von einem halben Jahr. Das Kind wollte sie nicht allein lassen.« Und wieder fragend: »Gnädige Frau haben sicher keine Kinder?«

»O doch. Zwei. Einen Jungen und ein Mädchen.«

»Und wenn ich fragen darf, wie alt sind die Kinderchen?«

Na, wenn es dir gleich ist, mir kann es ja auch gleich sein, was ich dir vorlüg', dachte das Mädchen. »Der Junge – ja, der Junge ist fünf.« Sich schnell korrigierend: »Was red' ich! Drei ist der Junge. Und das Mädchen ein Jahr.«

»Sie halten mich gewiß für sehr neugierig, aber wann haben Ihre Kinderchen wohl Zähne bekommen?«

»Wann meine –« So, das konnte ja nett werden. Nina hatte im Leben nichts mit kleinen Kindern zu tun gehabt. Sie stammelte: »Sie bekommen doch nicht alle Zähne auf einmal.«

»Nein, nein, ich meine, wann es wohl angefangen hat. Meine Frau schrieb mir gestern, die Kleine wäre gar nicht recht wohl. Kann das wohl von den Zähnen kommen?« Er sah sie so ernsthaft an, so ganz von Vatersorgen erfüllt – sie mußte sich zu gleichem Ernst zwingen. »Sicher kommt das von den Zähnen.«

»Was tut man denn dabei? Meine Frau schrieb, ob sie wohl einen Arzt kommen lassen sollte.«

»Ja, natürlich muß sie einen Arzt kommen lassen.«

»Kann denn das bedenklich werden?«

Lieber Himmel, was sagte sie nun? Ein Glück, die Musik setzte aus. Aber statt mit an den Fliegertisch zu treten, blieb der Herr noch an der Treppe stehen. »Sagen Sie doch, Gnädigste, haben denn Ihre Kinder auch gefiebert? Waren sie sehr krank?«

»Ja, die haben auch gefiebert. Ja – wissen Sie, darum brauch ich mich nicht so zu sorgen, mein Mann ist Arzt.« So, nun würde er sie wohl in Ruhe lassen.

»Arzt? Aber dann können Sie mir gewiß sagen –«

»Ich glaube, wir stehen hier im Wege.« Sie ging zwischen den Tischen hin zum eigenen Platz. Der Hamburger folgte, machte seine tiefste Verneigung und wandte sich an Peter. »Ich habe Ihre Frau Schwester ungebührlich aufgehalten. Entschuldigen Sie. Aber da sie auch kleine Kinder hat –« Peter bekam einen Fußtritt von Nina, der ihn seinen verdutzt aufgerissenen Mund hastig schließen ließ – »Eltern finden sich ja immer in ihren Sorgen, nicht wahr?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Pet sehr höflich. »Ich bin noch nicht Familienvater,« worauf der Dicke sich zurückzog.

»Nina, bist du unklug? Was hast du da wieder angegeben?«

»Gar nichts. Warum sind die Menschen immer so zudringlich? Kaum tanzt man mit einem, da will er wissen, woher man kommt der Fahrt und wes mein Nam' und Art. Aber das sag' ich euch,« sie sah die ganze Gesellschaft beschwörend an, »sowie jetzt die Musik anfängt, springt ihr auf wie die Schießhunde und tanzt mit mir. Sonst fall ich dem Mann noch einmal in die Hände. Und ich kann doch meine Kinder nicht andauernd Zähne kriegen lassen.« –

Sie hatte noch nicht ausgesprochen, da begann die Kapelle wieder.

»Lebewohl, Marie, lebewohl, Marie,
Träume süß heut nacht von mir.
Morgen früh, Marie, morgen früh, Marie,
Bin ich längst schon nicht mehr hier.«

Und eh einer der Flieger aufspringen konnte, stand wie aus dem Boden gestiegen ein schlanker, schwarzhaariger, braunhäutiger Überseer vor Nina. Er fragte nicht erst, ob Pet einverstanden sei, er legte ohne weiteres ihre Hand in seinen Arm und führte sie hinunter.

Pet wurde wütend. Dieser verdammte Amerikaner! Immer war der Kerl um Nina herum. Ihre silbrige Blondheit hatte es ihm angetan. Und ihn, Peter Brodersen, der doch glaubte, ein ganzer Kerl zu sein, ihn behandelte er wie eine Nebensächlichkeit, die nicht die kleinste Beachtung verdiente.

Als Nina zurückkam, nachdem Marie abgetan war, sprach er nicht mit ihr, und ihre größte Liebenswürdigkeit glitt an ihm ab. »Du Ekel,« sagte sie, »benimmst du dich gleich mal als Kavalier! Sonst tanz ich den ganzen Abend mit dem Schwarzen.«

»Meinetwegen.« Sie erschrak, als sie ihn ansah. Aus seinem Gesicht sprach Haß. Da wurde sie warm und herzlich.

»Lieber Himmel, Petteken, was ist denn nur? Komm, ich tanz überhaupt nicht mehr. Und ich glaub, die letzte Fähre geht auch bald, und mit der müssen wir doch hinüber.«

»Ich ja. Du kannst dich ja bis morgen früh mit deinem Argentinier amüsieren.«

»Peter, nimm dich zusammen. Mach hier keinen Klamauk. Was sollen denn deine Kameraden denken?«

Er riß sich zusammen. »Also wollen wir gehen? Dann will ich deinen Mantel aus der Garderobe holen.« Er ging aus dem Saal. Nina setzte sich nachlässig auf einen etwas abseits stehenden Stuhl. Gamm trat zu ihr. »Nina, laß den Peter in Ruhe. Der ist jetzt ganz verwirrt beim Fliegen. Nix hat ihn heute morgen bös ausgelümmelt. Da würd' er grob. – So was geht nicht.«

»Soll er ihn doch auslümmeln. Was kann ich dafür? Ihr Männer steckt alle unter einer Decke. Wenn ihr etwas von uns wollt, dann ist alles Zucker, was ihr sagt. Und wenn euch etwas nicht paßt, dann – Cherchez la femme. – Dann sind wir die Schuldigen. Ich kann keinen Mann leiden.«

»Na, wenn ich über die Brücke gehen sollte –«

»Ich hab dich nicht drum gebeten. – Wer war das aber gestern, der mir auf dem Platz erzählte, ich wäre eine Heiderose? Ich hätte dem ostpreußischen Bären gar nicht solch ausnehmend originelles Kompliment zugetraut.«

»Ich hab schon eingesehen, daß es nicht stimmt. Du bist eine Distel. Paß nur auf, daß nicht einmal ein Esel kommt und dich abfrißt.«

»Wenn du damit den Argentinier meinst, auf den ihr ja immer alle spitzt – der hat mehr Benehmen gegen Damen als der ganze Flugplatz in seinen sämtlichen männlichen Vertretern.« Sie stand auf; denn Peter kam mit dem Mantel. »Guten Abend und viel Vergnügen noch.«

Kurz umgedreht und hinaus.

Sie war schlechter Laune, solange sie auf dem Heimweg waren. Erst als die Häuser am Waldrand nahrückten, begann sie – denn Peter war ganz stumm geblieben – »Wenn ich nur wüßte, was sie alle davon haben, mir immer zu sagen, ich sollte dich in Ruhe lassen? Davon wird man dann komisch.«

»Mich? In Ruhe? – Wer sagt das?«

»Die ganze Bande. Else und Adolf und eben Gamm. Sogar Nix sagte vorgestern auf dem Platz zu mir: ›Gnädiges Fräulein, Sie richten mir zuviel Unheil unter meinen jungen Herren an. Wäre das nicht zu vermeiden?‹ Er meinte natürlich nur dich.«

»Ach nee! Das hab ich nicht geahnt, daß die Leute sich so für mein Wohlergehen interessieren.«

»Du nimmst dich ja auch nicht ein bißchen in acht. Immer meinst du, ich soll nur mit dir tanzen, mit dir sprechen, nur dich ansehen. Das muß doch jeder merken. Und dann machst du deine wütenden Augen. Und was ich für Unannehmlichkeiten davon hab', daran denkst du mit keinem Gedanken. Wenn Nix mir nun geradezu den Platz verbietet? Der ist imstande dazu.«

Sie hatte mit einemmal solch Mitleid mit sich selber, daß sie wieder zu weinen begann. Und wie am ersten Abend vor Monaten, als Peter sich von diesen Tränen rühren ließ, bestachen sie ihn auch jetzt wieder. »Ich mein' es doch nicht böse, mein liebes Mädchen. Ich kann doch nicht anders. Ich hab dich zu lieb. Ich hab dich so lieb – so lieb –« er fand keinen Vergleich, der alles ausschöpfte, und endete endlich leise: »Ich hab dich noch viel lieber, als ich meine Mutter gehabt hätte.«

Nina blieb stehen. »So? Als du deine Mutter – Na. – Ja. –«

»Das ist doch keine Beleidigung.«

»Nein, ich weiß, für dich ist deine Mutter eine Madonna gewesen. Aber wenn sie nun keine Madonna war, sondern ein Mensch von Fleisch und Blut – wie – meinetwegen, wie ich.«

»Ach Nina, wenn sie so gewesen wäre wie du, dann hätte ich sie doch erst recht liebgehabt.«

»Du verdrehter Junge.« Sie ging weiter. Und nach einer kleinen Pause fing sie wieder an: »Warum holst du mich nie aus meinen Gesangstunden ab? Du könntest doch mal zuhören, wenn ich singe. Nachmittags brauchst du doch nicht immer am Platz zu sein.«

»Wenn dir so viel daran liegt, kann ich es tun. Aber es ist viel netter, wir sind hier in der Heide zusammen als da in den Rostocker Straßen.«

»Na, wir reden noch drüber.« Sie standen an ihrem Hause.

»Komm,« sagte Peter, »gib mir wenigstens einen Kuß noch. Wir wollen uns doch wieder vertragen.«

Sie wutschte ihm unter dem Arm durch und davon. »Ein andermal, wenn du dich besser benommen hast.«

Er wartete noch eine ganze Weile, daß ihr Fenster hell werden sollte, aber Nina stand hinter der Gardine im Dunkel und freute sich, wie er vergebens wartete und endlich mit vorgeschobenen Schultern durch die helle Nacht davonging.

Bisweilen wünschte sie jetzt selbst, diese Liebe, die unbequem wurde, möchte ein Ende haben. Dann reizte es sie wieder, allen Mahnern zum Trotz den großen Jungen ganz und gar einzuwickeln.

*

»Also Brodersen – drei Runden über dem Platz. Hinüber bis Markgrafenheide, nach der anderen Seite bis zur Kirche. Fliegen Sie dann zwei Achten und landen Sie am ausgelegten Kreuz. Sie müssen demnächst die Ziellandungen für die Prüfung machen. Los!«

Die gute, alte B. 3, die alles tat, was man von ihr verlangte, und sich – wie die Schüler behaupteten – selbständig beim Landen hinsetzte, stieg in den klaren Sommerhimmel auf.

Pet saß in Kniehose und weißem Sporthemd am Steuer und freute sich des wundervollen Tages. Stieg, flog über den Ort, machte seine drei Runden, drehte seine zwei Achten, sah aus vierhundert Meter Höhe, ein freier Vogel, weithin über Land und See und fühlte sich, nach Fliegerwort, »sauwohl«.

Wie es nur jemand geben konnte, der Angst hatte beim Fliegen. Wie ein Falke war ihm, so stolz und frei. Daß er einmal im Nebel verirrt und abgestürzt war, das war schon halb vergessen. Der ›Graf‹ freilich, der hatte einen bösen Nervenknacks bekommen und war abgesprungen. Hatte es vorgezogen, auf den väterlichen Kontorschemel zu steigen und Zahlen zu schreiben. Sooft er versucht hatte, wieder aufzusteigen, jedesmal hatte ihn Schwindel und Übelkeit überfallen.

»Immer hab ich's gesagt,« erklärte Kriesch, »der hat gar kein Fliegerblut. Man sah's ja, wenn er 'ne schlechte Landung gemacht hatte, da stand ihm der Schweiß auf der Stirn.«

Sang- und klanglos war er aus dem Leben der Genossen geschieden, niemand hatte ihm nachgetrauert. Nur manch kleines Mädchen, das auf dem Platz herumständerte, fragte: »Ist der Herr Graf eigentlich nicht mehr hier? Und kommt auch nicht wieder? Ach!« Das war der ganze Nachruhm.

Pet dachte ganz flüchtig an ihn, als er fern über der Heide leichte Nebel sah. Gerade wollte er niedergehen, suchte drunten das ausgelegte weiße Landekreuz, warf noch einen Blick nach allen Seiten, innerlich jammernd, daß der Flug schon wieder zu Ende war, da sah er abermals den fernen Nebel, und es fuhr ihm durch den Sinn: »Was in aller Welt tut da Nebel mitten im Wald? Und wie bräunlich sieht der aus.« Dann kam die Wahrheit jäh über ihn, wurde noch einmal zum Zweifel – er drehte eine Kurve, wandte sich ostwärts und jagte mit Vollgas hin zu den grünen Wipfeln.

Panthenius, der mit Kriesch auf dem Platz stand und den Flug beobachtet hatte, sagte ärgerlich: »Was fällt denn Brodersen ein? Er soll doch wieder herunterkommen, wenn er seine beiden Achten hinter sich hat. Der bekommt auch nie genug.«

»Verdenk' ich ihm gar nicht. Wenn ich bei solchem Wetter in der Luft bin, käme ich auch am liebsten stundenlang nicht wieder 'runter.«

Nix kam vom Schuppen her und fragte schon von weitem: »Wo ist er denn? Man sieht und hört ihn ja nicht. Zum Donnerwetter, was hat er denn da über der Heide zu suchen? Will er in die Bäume 'runter? Dem jungen Mann muß ich wohl mal deutlich werden.«

Bei seinen letzten Worten hörte man schon das ferne Brummen des Motors, und nun sahen sie den roten Flieger heransausen. Ohne sich um das ausgelegte Landekreuz zu kümmern, ging Pet im steilen Gleitflug nieder, so nah wie möglich an die wartenden Herren heran, rollte über den grünen Plan, hörte Nix sich entgegendröhnen: »Halten Sie mich eigentlich zum Narren, Sie, Herr, Sie?«, brachte zehn Schritt vor ihm die Maschine zum Stehen und schrie: »Feuer in der Heide! Es brennt ganz gehörig.« Damit war er auch schon heraus aus dem Flugzeug.

»Ich sah den Rauch über dem Wald – darum. Es ist südlicher als Markgrafenheide. Da irgendwo an der Wiethager und Torfbrücker Schneise muß es sein.«

Keiner schalt mehr. Sie rannten nur, um nach allen Windrichtungen zu telephonieren. In Warnemünde und Rostock wurde Militär und Feuerwehr mobil gemacht, Autos jagten, Spritzen rasselten, Nixens Steiger stand fünf Minuten später fertig zur Abfahrt auf der Ablaufbahn, Nix selber, Panthenius, Gamm, Baden, Kriesch und Peter hingen und saßen im Gefährt, hatten Beile bei sich, Spaten, eiserne Rechen, alles, was in solchem Fall zum Angriff gegen das Element zu benutzen war. So waren sie noch nie gefahren!

Vor dem Forsthaus in Markgrafenheide hielten Landfuhrwerke. Sie wurden angerufen: »Feuer im Wald! Hinten, wo die Schneisen von Wiethagen und Torfbrück zusammenstoßen.«

»Da in der Ecke gibt's kein Wasser«, sagte Peter, der die Heide bis in den letzten Winkel kannte. »Und die letzten heißen Wochen haben die Tannen ordentlich ausgedörrt.«

Der Wind stand aus Süden. Er war weich und lind, trug ihnen Harzgeruch zu und jetzt noch etwas anderes, etwas, was kein Rauch war, aber doch ein Geruch von brennendem Kienholz. Sie rochen das Feuer, ehe sie es sahen.

Nix schonte den Wagen nicht. Hin durch alte, zerfahrene Schneisen, über Tannenwurzeln hinweg, über weichen Moorboden zwang er ihn mit immer gleicher Schnelligkeit. Und plötzlich schrie Gamm, der hinten an der Karosserie lehnte und mit seiner Größe alle übersah, auf: »Da, da!«

Da sahen sie es zu ihrer Linken glutrot durch die Stämme funkeln. Irgendwo, noch Hunderte von Metern entfernt, aber schon schimmernd und knatternd, wand es sich über den Boden, fraß die Millionen Tannennadeln, kletterte an dürrem Unterholz empor, spielte um die Riesen des Waldes, die wie auf das Gehaben eines Kindes machtvoll rauschend aus ihrer Höhe niedersahen.

Kein Mensch weit und breit. Nur die sechs Männer, die mit ihren geringen Mitteln kaum an einen energischen Angriff denken durften.

Aber Nix hatte im Krieg ähnliche Situationen kennengelernt. Er ließ seine Leute aussteigen, führte den Wagen ein Ende zurück, beorderte alle an eine kleine Lichtung, neben der sich Jungholz aufbaute und wo der Wind mit seinem sanften Sausen die ersten Funken hintrieb, und befahl: »Alles dürre Holz ausreißen! Die Stämmchen niederschlagen! Wir müssen hier einen Gürtel hinlegen. Wenn es hier 'rüberkommt, nach drüben in den Hochwald, dann kriegt es keiner zum Stehen!« Drinnen im Walde hörten sie ein dröhnendes Krachen. Irgendein alter Riese brach im Sturz zusammen. Aus den rauschenden Kronen ging ein Funkenregen nieder, vom Südwind herangetragen.

Spürten sie nicht schon die Hitze? Sie warfen die Jacken ab, streiften die Hemdärmel auf, griffen zum Werkzeug, begannen, eine Bresche zu schlagen.

»Brodersen,« rief Nix, »Sie wissen hier ja Bescheid, laufen Sie mal und sehen Sie, wie weit die Geschichte schon geht.«

Peter setzte hinein in den Wald, rannte ostwärts und sah immer – bald näher, bald ferner – den roten Schein zwischen den Stämmen, wie wenn das Abendrot die Tannen malt und auf dem Moospolster Feuerinseln entzündet.

Und immer das andauernde Knicken und Knacken, ein unaufhörliches feines Maschinengewehrfeuer, das waren die Hunderttausende von grünen Nadeln, die in der Glut explodierten, den weißen Dampf ausströmten und die ganze Luft mit betäubendem Duft erfüllten, Weihnachtsgeruch mitten im Sommer. Das Knacken wurde zum hellen Knattern, Sausen klang hinein, hoch über seinem Haupte flog eine Flamme durch die Lüfte. Im gleichen Augenblick war sie verschwunden, und da sah er hinter dicker Tannenwand eine Feuersäule lohen, die stieg gleich einem Fanal zum Himmel auf, breitete sich wie ein wehendes, wallendes Tuch, fiel hinein in die Nachbarwipfel, warf lange goldrote Schlingen nach allen Seiten. Das Feuer hatte sich in einen alten Tannenbestand hineingefressen. Fichten, die Jahrhunderte überdauert hatten, die der Sturm vergebens gerüttelt und gebeugt, waren vom roten Tod gepackt worden. Funkengarben gingen nieder aus der Höhe. Sie fielen in Schwärmen auf das niedere Dickicht, dessen eng zusammengedrängte Stämmchen voll waren von dürrem Reisig. Drunten, einen Meter über dem Boden, saßen die abgestorbenen Äste, die sich aneinander rieben und allmählich vergingen, drüberhin wiegten sich die jungen Wipfel. Zehn oder fünfzehn Jahre war es her, daß sie gepflanzt wurden, eine frohe Zukunft des alten Waldes, schon fuhr der Brand mit glühendem Atem hinein in ihren Bestand. Zwischen den Wipfeln und Zweigen fiel es nieder, wieder, immer wieder, erst nur in leichten, verlöschenden Fünkchen, dann in scharfen Flocken, jetzt schon mit brennenden Nadeln, mit glühenden Holzteilen. Und dürres Gras, vorjähriges Heidekraut, alte, verdorrte Nadeln warteten auf die Feuerboten, flirrten für Sekunden in rötlichem Schein, standen in der nächsten halben Minute in heller Flamme. Da schwankten die zierlichen Kronen und knisterten in Angst. Die Rinde riß an den schlanken Stämmen, ein lodernder Mantel hüllte hier einen ein und dort einen, und wie gehetzt flog die Flamme schwatzend, singend, tanzend hin durch die ganze, junge Zauberwelt.

Der dicke, weißgraue Qualm fiel über Peter her, er stand gerade in der Windrichtung. Ausweichend rannte er weiter nach Osten, rannte mehrere Minuten, und in dem immer stärker werdenden Brandgeruch, in dem schwer sich heranwälzenden Qualm spürte er, daß er sich immer mehr dem Hauptherd des Feuers näherte. Jetzt – nicht mehr nur zur Seite, auch vor ihm Prasseln und glutende Hitze. Er war in einen Winkel hineingerannt und mußte eilen, um nicht abgeschnitten zu werden.

Zurück zu den Gefährten. Schon war es ihm, als wäre die ganze Luft voll Feuerflocken, schon spürte er am Hals, auf den Händen, jetzt an der Wange einen kurzen, leichten Schmerz, schlug zu, wie man nach einer Mücke schlägt, wußte selber nicht, daß er es tat, und dachte immerwährend: »Mein Gott, wo sind sie denn? Ich hab sie doch nicht verfehlt?«

Da kam über Knattern und Prasseln her Nixens Stimme: »Hierher, Brodersen, hier sind wir!« Er hatte das weiße Hemd durch die Stämme gesehen.

»Da hinüber ist nichts zu wollen,« sagte Peter und wischte den rinnenden Schweiß, »das brennt wie die Hölle. Das löschen wir nicht. Aber da kommt nachher ein Eichenbestand, den frißt es nicht so schnell. Wir müssen hier die ganze junge Schonung fortreißen, daß es nicht 'rüberkommen kann. Da! Sehen Sie, Herr Nix, da brennt es auch schon in den Kronen.«

»Wir bekommen Hilfe. Sehen Sie, da ist der Meister mit den Monteuren, sie kamen mit dem Platzauto. Seeflug schickt auch gleich alle seine Leute, und die Warnemünder Wehr wird bald da sein.«

Dann hielt sich keiner mehr mit Reden auf. Sie zerrten Heidekraut aus, sie zerstörten den jungen Bestand, sie sahen den Förster aus Markgrafenheide plötzlich zwischen sich, der mit geballten Fäusten für einen Augenblick in das brennende Holz sah und auf all die ausgerissenen jungen Stämme, die ihm durch Jahre lieb geworden waren, – und während ihre Hände den Wald verwüsteten, um den Flammen die Nahrung zu entziehen, begann es rechts und links im Fichtenbestand zu krachen, und dröhnende Axthiebe zeigten, daß neuer Sukkurs von Holzarbeitern und Warnemünder Jungen Breschen schlug, das Gefährlichste, das Wipfelfeuer, zum Stehen zu bringen.

Der heiße Tag, die stechende Sonne, das Feuer und die Arbeit – sie sahen selber aus wie die Feuerteufel. Einmal hörte Peter neben sich sagen: »Na, unser Wassergott scheint mir zum Feuergott geworden zu sein. Sehen Sie ihn mal an.« Es war Kriesch, der neben ihm arbeitete, und drei Schritt entfernt stand Nix, riß mit seinen Bärenkräften Bäumchen um Bäumchen aus dem Grund und warf sie zur Seite, worauf sie von Warnemünder Jungen hastig weggeschleppt wurden. Sein Gesicht war braunrot von der Hitze, die Ärmel weit aufgestreift, zeigte er die muskulösen Arme, der helle Schweiß rann ihm über Gesicht und Nacken.

»Wo kommst du her?« fragte Peter, da sah er seinen Bruder Heino. Der war nicht rot wie die anderen, sondern auffallend blaß. Aber der Schweiß perlte auch ihm über die Stirn, und in seiner Hand hielt er eine blitzende Axt, mit der er einer einzelnen hohen Eberesche den Stamm zerschmetterte. Mitten in der Schonung stand sie als Merkzeichen, aber mitten in der offenen Weite war sie wie geschaffen, dem Feuerteufel zu einem Sprungbrett zu werden.

Heino hatte eine Vorliebe für diesen Baum gehabt, der schon weither sichtbar über alle Schneisen sah, der im Herbst von goldenem Laub und Millionen roter Beeren eine Königskrone trug und im Winter einen schimmernden Kranz von Reifkristallen. War es diese heimliche Liebe, die ihn zwang, seine Axt dem schönen Sohn des Waldes in das Mark zu schlagen? War in jedem Schlag, von der Notwendigkeit erzwungen, eine tiefe Zärtlichkeit?

Die Eberesche fiel. Fiel mit einem langen, klagenden Laut nieder in das Jungvolk von Fichten und Buchen, in das zierliche Spielzeug von Farren, Glockenblumen, Heide und Brombeergerank, und für einen Augenblick sahen alle die arbeitenden Männer auf die tote Waldkönigin. Nur für einen Augenblick; denn jetzt war das Feuer an der Grenze, hatte alles, was jenseits Holz und Blattwerk hieß, gepackt, blies glühenden Atem ungehemmt über die offene Weite, schickte dicken Rauch hinterher, jagte auch die Tapfersten fort von diesem Kampfplatz.

Der Wald wimmelte von Menschen. Mit Autos, mit Wagen, zu Fuß kamen sie heran, packten zu, gruben tiefe Gräben hinter der verlassenen Lichtung; denn der tückische Brand glomm heimlich im Boden fort, fraß Wurzeln, setzte den alten Moorboden in stilles Glimmen und schlug dort, wo er am wenigsten erwartet wurde, jählings wieder an niederem Gestrüpp in die Höhe.

Der Wind wandte sich nach Osten. Er warf die Flammen über die Torfbrücker Schneise fort in den westlichen Teil des Waldes hinein. Kaum hatte man dem Feuer an dieser Stelle einen Damm gesetzt, fraß es schon gierig an einer anderen dem alten Walde tief hinein in das Mark.

Wieder lohte es in den Wipfeln. Hoch da droben über Menschenmühen und Menschenlärm redeten die Elemente miteinander. Flamme und Wind schwatzten und lachten, und die tanzenden Feuergeister sahen von ihrer Höhe aus hinüber zum grünblauen Wassergürtel, zum feindlichen Bruder, der mit seinen Wogen so schnell der Schwester den Tod bringen konnte, wenn die Wogen nicht gefesselt gewesen wären in ihrem tausendjährigen Bett.

»Aber wir,« sangen die Flammen, »wir sind frei. Der Wind trägt uns auf seinen Schwingen, die Bäume sind unsere Knechte, die uns heben müssen, bis sie brechen unter uns. Das elende Gewürm da unten kann uns nicht bannen. Wir fliegen mit leuchtenden Fahnen über sein jämmerliches Wirken fort, wir hassen diese Zwerge, wir wollen nicht länger Knecht spielen, wo wir Herr sind.«

Die Windgeister fegten über den Himmel. Ihre Schleier waren leicht und fein wie Federn, sie drehten sich, sprangen nieder in den Wald, umschlangen mit weißen Luftarmen die glühendroten Schwestern, wirbelten in wilder Umarmung über alles Erdenleben hin, fraßen die herbe, stille Schönheit der Buchenhallen, zerrissen die hohen Fichtenbestände, sangen dazu von Tod und Vernichtung.

Einmal hörte man es murren in weiter Ferne. Über all das Rauschen und Prasseln hinweg kam eine harte Stimme. Dunkel wurde es über dem Lande, aus der See herauf, dem Wind entgegen zogen Wetterwolken. Blitze flogen, einzelne Tropfen fielen schwer in den heißen Wald, – dann war es verflogen, wie es gekommen.

Abend war in der Welt. In den Dörfern und Städten gingen müde Menschen nach schwerem Tagewerk zum erlösenden Schlaf. Die dort im Walde mit immer gleicher Zähigkeit, mit immer gleicher, vergeblicher Mühe gegen den Brand rangen, die dachten nicht an Schlaf. Kaum daß einmal der eine und der andere sich Zeit nahm, an einen Wasserwagen zu treten und einen hastigen Schluck zu tun, wenn die Kehle wund war vom beizenden Qualm.

In Warnemünde sahen sie den ziehenden Rauch als braunrote Brandwolke über dem dunklen Wald hängen. Frauen und Kinder saßen und warteten auf Väter und Brüder, sorgenvoll, wenn sie da hinten jähe Glut aufschwelen sahen und wußten, nun war es in einen neuen Bestand eingefallen.

Waren es Stunden, daß sie so schufteten in dieser Hölle? Waren es nicht Tage? Nicht Wochen? Würde es jemals gelingen, die gräßlichen Geister zu zwingen? Flogen sie nicht schon wieder über alle Köpfe hinweg und schrien und prasselten mit ihren knatternden Hieben jenseits der Löschenden in einem neuen Revier? – Schrie nicht schon wieder jemand: Zurück! Zurück! – Und wo war man denn eigentlich in diesem verhexten Wald, wo man sonst Schritt und Tritt kannte? Nun war es ein fremdes Land voll Grausen und Mord.

Dort drüben die alte Eiche, die seit Jahrzehnten allen Fremden als der Stolz des alten Waldes gezeigt wurde, diese Eiche, unter der Rostocker Ratsherren mit dänischen Königen gebechert hatten, die wehrte sich lange. Hart und trotzig stand sie mitten in der Lohe, die blitzzerrissene Krone stolz gegen den Himmel gestreckt. Bis es in der Rinde glomm, bis Bast und Splint riß, bis das zähe Holz mit kurzen, harten Schreien auseinanderbarst, bis die Flammen Blatt und Zweig, Ast und Stamm in Kohle wandelten. Aber immer noch stand der Baum und wollte nicht fallen. Langsam starb er, Fiber für Fiber, Span für Span. Aber er starb wie ein alter Kämpfer, aufrecht in seinen Schuhen.

Als er tot war, als nur das schwarze Gerippe noch, von schmutzigem Brandrot überleuchtet, aus der verdorbenen Lichtung ragte, kam zum zweitenmal der harte, drohende Ton vom Meer herüber. Das Gewitter kam zurück mit dem nahenden Tag. Schwer schob es seine Wolkenballen empor aus der Flut, schob sie über die Wogen, den Strand, die stillen Dünen, – stand über dem Wald – riß das ganze Wettergewölk in Fetzen und jagte einen Blitz in die Nacht, der verwandelte alle Feuersflammen mit seiner Blendung in ein Nichts.

Es krachte schmetternd nach, krachte, als stürzten die Tausende von gemordeten Bäumen noch einmal alle zugleich in sich zusammen, und dann war das Wetter jäh über dem ganzen Land, blitzte in Nord und Süd, in Ost und West, rollte dröhnend von Norden heran, widerhallte von der fernen Stadt her, zeigte für eine Sekunde Warnemünde als dunkle Silhouette gegen einen blauen Lichtgrund und hob in der nächsten Sekunde den Breitling und die Hallen und Schuppen des Flugplatzes aus der Finsternis.

Und endlich stürzender Regen.

Wo er einfiel in den glutheißen Wald, da stiegen ungeheure Dampfsäulen auf, wurden zu neuen Wolken, prasselten nieder mit den himmlischen Schwestern. Die See, gefesselt in ihrem Bett, hatte ihre Wolkenkinder gegen die gehaßte Schwester ausgesandt, und die See blieb Sieger. War sie den Menschen hier an der Küste nicht Schicksal und Leben? Hundertmal ihre Ernährerin, hundertmal ihre Mörderin, aber immer ihnen allen unentbehrlich, das eigenste Element dieser Küstenmenschen.

Der Wald wurde still. Über die Weiden und über die Straße hin, einer neben dem andern hintrottend, schoben sich die Scharen zurück zu bergenden Dächern. Viele blieben unter den Veranden von Markgrafenheide hocken, dort den schlimmsten Wetterguß abzuwarten, die Tapfersten aber zogen weiter dem Fischerort entgegen. Nixens Steiger sauste an ihnen vorbei, seine hellen Lichteraugen sandten lange Strahlen über die glänzende Straße, über die die Blitze unablässig hinlohten, der Donner ohne Ermatten brüllte. Als sie in das Tor des Flugplatzes einfuhren, kam es Peter plötzlich zum Bewußtsein, daß er Heino seit Stunden nicht mehr gesehen hatte. Um Mitternacht waren sie noch einmal zusammengetroffen, und Peter hatte trotz des schwärzenden Rußes gesehen, daß der Bruder entsetzlich leidend aussah. »Geh heim, Alter«, hatte er gesagt. »Wie siehst du aus!«

»So? Das ist nur äußerlich. Ich fühle mich sehr wohl«, und Heino war wieder an seinen Posten gegangen.

Ja, in solchen Stunden vergißt man alles andere. Auch Nina – er hatte in dieser ganzen Nacht nicht einmal an Nina gedacht. Das war richtig. Nicht mit einem Gedanken an die, die ihm doch sonst nicht fünf Minuten aus den Gedanken kam. – Und nun war er müde, so todmüde – plötzlich hatte er Mühe, sich auf den Füßen zu halten, als er vom Auto abstieg. Irgendwo im Schuppen warf er sich auf einen Haufen Putzwolle und schlief ein.

*

Heino wachte auf.

Er schauerte und fror, hatte das Gefühl eines wahnsinnigen Schmerzes und erkannte langsam, daß das, was so schmerzte, sein Kopf war. Naß war es um ihn her. Über ihm bewegte sich etwas, das ließ Licht auf seine Augen fallen, und die Augen taten weh davon. Trotzdem zwang er sie zum Umschauen.

Er lag irgendwo im Walde.

Wie war es doch gekommen? Flammen und Krachen und Bersten, und stürzende Stämme, Funkenstieben, ätzender Qualm – endlich Regen. Schritt für Schritt rollte er das Gestern auf. Bis in die Nacht hinein. Ja, es war so, bis in die Nacht hinein. Und bis an den grauenden Morgen, wo das Wetter kam. Und nicht einmal hatte ihn der Schwindel gefaßt, der leise ziehende Schwindel, der Bote, daß das übermüdete Gehirn seine Ruhepause haben wollte. Die Aufregung hatte seine Nerven gespannt bis zum völligen Selbstvergessen. Auf dem Heimweg mußte er dann hier zusammengebrochen sein. In Schlaf? In Ohnmacht? Er hatte von diesem Heimweg nicht die kleinste Erinnerung. Der Regen hatte ihn durchnäßt, die frische Morgenluft, der Wind, der Seegeschmack mit sich trug, die hatten ihn durchfroren – aber das war nichts. Nur der Kopf! Als müßte er zerspringen.

Heino kam hoch. Mit steifen Knien, mit zerschlagenem Rücken. Aber das war so wenig, so sehr wenig! Nur der Kopf. Mit beiden Händen faßte er ihn. So bleischwer schien ihm der Schädel, als könnte der Hals ihn nicht emporhalten.

Nun erkannte er auch, wo er war. Nur ein paar hundert Schritt von seinem Haus.

Alles war noch morgenstill. Dunst hing über der See, die durch die Stämme schimmerte. Dunst von niedergegangenen Himmelswassern hing im Wald, alle Blätter und Äste schimmerten im grauen Tropfensilber. Ein Rotschwänzchen saß auf einem Baumstubben und pickte an etwas, was wahrscheinlich ein Insekt war. Droben in der Krone schrie ein Häher. »Mensch im Wald! Mensch im Wald!« Sein häßlicher, kreischender Warnungsruf zerriß die tiefe Stille.

Ein Fuß vor den andern. Ein Fuß vor den andern. – Kam denn seine Klause nicht? Da bewegte sich etwas. Ein Tier? Ein Mensch? Trottende Schritte, lange schlenkernde Arme, gebogene Knie – Apenjule kam auf ihn zu.

»Gott sei Dank, Herr. Ich hab' so'n Angst gehabt, Herr –« Er stockte, riß die Augen vor Entsetzen auf, trat einen Schritt zurück. War das sein Herr? War das nicht ein Gespenst?

Heino las in diesen verstörten Augen wie in einem Spiegel. »Es ist mir ein bißchen viel gewesen, Jule. Ich bin vor Ermüdung eingeschlafen im Wald. Ja, ich muß mich hinlegen.« Er biß die Zähne zusammen, mühte sich, die letzten dreißig Schritte fest und sicher zu gehen, kam hinein in seine kleine Schlafkoje und sank erschöpft zusammen. Zum erstenmal litt er es, daß der treue alte Kerl ihm die Schuhe auszog, die Kleidung abstreifte, ihn wie ein Kind zudeckte, nach Kaffee lief. Aber als er mit dem Kaffee kam, lag Heino in tiefem Schlaf. Erst am Nachmittag wurde er wach. Der Kopfschmerz war geringer, die Glieder freier. Er stand auf, noch sehr blaß, doch wieder in Ausdruck und Wesen der alte Heino Brodersen.

Er setzte sich auch an den Schreibtisch und sah die Abschrift seines Romans durch, der in diesem Sommer geschrieben war. Eines Buches, in dem er alles, was ihn hier umgab an Schönheit, Freiheit, Jugend, Freude, Kraft und Willen, zusammengefaßt hatte, und hatte ihm den Namen gegeben: Licht über dem Lande.

Bald ermüdete ihn die Arbeit, er setzte sie zur Seite und legte sich in den sonnenwarmen Dünensand. Da dämmerte er vor sich hin. Sah Bilder ziehen, hörte Stimmen, fühlte heimliches Schaffen in seinem Innern, jenes heimliche, selige Schaffen des Künstlers, das ungerufen kommt und, trotz aller Versuche, es zu halten, ebenso eigenwillig wieder geht, hatte dazwischen das Empfinden, für Augenblicke ganz in Schlaf gesunken zu sein, war aber im ganzen in wunschlosem Behagen.

Bis gegen Abend wieder der Kopfschmerz heftiger wurde. Er tröstete sich: Wenn die regelmäßige Ohnmacht kommt, dann werde ich den Schmerz verlieren. Aber die Ohnmacht, sonst immer zur Zeit da, kam an diesem Abend nicht. Sie kam auch nie wieder.

Sonntagmorgen.

In Warnemünde spielte die Kurkapelle. Am Strande war ein Trubel, daß man den Fuß nicht setzen konnte, ohne einen anderen Fuß zu treten. Die Rostocker Züge quollen über von Menschen, die See war voll badender Gestalten, und die Meerjungfrauen mußten feststellen, daß die Zeit griechischer Körperharmonie hier nicht vorhanden sei. Aber draußen am Heiderand war es friedlich. Die Chaussee war zwar in Staubwolken gehüllt von Autos und rasenden Radlern, doch die grauen Wolken waren niedergesunken, eh sie die Dünen erreichten. In Heinos Klause hatten die vier Brüder zusammen die Nacht verbracht. Adolf hatte seinen Urlaub, und Jon war am Sonntag herübergekommen.

Heino hatte die vergnügten Stimmen schon gehört, als er noch lag.

Er lag morgens lange, denn die Nächte waren schlecht.

Jetzt waren sie vor seinem Fenster, wo Apenjule mehr schlecht als recht den Kaffeetisch gerichtet hatte.

Jons Stimme kam erregt hinein in die Schlafkammer. »Pet, also ich sag' doch! Pet! Stell' sofort die Kaffeekanne hin. Du gießt dir schon die dritte Tasse ein. Immer denkst du nur an dich.«

»Darum geht's mir auch so gut!« Eine helle Fanfare, die Stimme des Jüngsten. Weiß Gott, dem ging es gut. Heino sah ihn ordentlich in seiner strahlenden Jugend mit den klaren Augen und dem sorglosen Lachen.

»Adolf! Adolf! Wenn du noch Kaffee haben willst, eil' dich. Pet richtet hier grausige Verwüstungen an. Ah–h–h –! Mann, hast du dich fein gemacht. Dich ansehen in deiner Gepflegtheit ist direkt ein ästhetischer Genuß.«

»Soll es auch sein. – Sogar der Peter scheint sich zur Feier des Tages geschrubbt und rasiert zu haben.«

»Feier des Tages? Ach ja, es ist ja Sonntag. Da muß ich mir wohl auch noch ein reines Taschentuch spendieren. Mehr kann man nicht von einem Taschentuch verlangen, als daß es acht Tage hält, was, Jule?« Jule murrte vor sich hin. Der Bengel uzte auch immer. Was brauchte solch alter Erdgeist wie er ein Taschentuch? Unnützer Kram.

Ein Kläffen vom Walde her, Peters kleine Spanielhündin hatte eine surrende Hummel entdeckt und sprang aufgeregt hinter dem Insekt drein. »Peggy! Komm sofort her! Peggy! Infame Töle! Ob du hörst?«

»Gib dir keine Mühe, sie hört nicht.«

Vom Strande her ein zweiter Kläfflaut. Kriesch und Gamm kamen heran, Krieschens Jackie rannte, sich kugelnd und wälzend, springend und blaffend, um sie herum. Von oben, vom Kaffeetisch her, lebhafter Zuruf: »Immer 'ran! Immer 'ran! Grobbrot und Butter, Käse, Wurst, Schinken, Eier –« Begeisterte Zustimmung von unten her. Schon arbeiteten sich die beiden Flieger durch den losen Sand herauf.

Apenjule gab einen murrenden Laut von sich und verzog sich in das Haus. Heino hörte ihn drinnen grollen und grummeln. Er wollte nichts für sich selbst, der gute Kerl, aber daß da so fünf Mann saßen und sich auf Kosten seines Herrn satt aßen – »Rein tau dull!«

Es blieb nicht bei fünfen. Else und Nina kamen mit ihren Badepacken und benutzten die Gelegenheit, gleich noch einmal Kaffee zu trinken. Man rief nach Jule. Aber Jule kroch in seinen Schmollwinkel, den Geräteschuppen, hing von innen den Haken ein und war nicht zu sprechen. Da ging Else und kochte einen zweiten Kaffee, und wie sie drinnen hantierte, ging Adolf ihr nach. Nina beobachtete es, und es lag Spott in ihrem Gesicht.

Und als sie alle auf Stühlen, Baumstubben und einem alten Korb Platz gefunden hatten, erschien der Herr des Hauses als Letzter. Man schob ihn an die Wand, gerade zwischen die beiden Mädchen, was er sich mit ruhiger Liebenswürdigkeit gefallen ließ. »Haben Sie den gestrigen Tanzabend schon ausgeschlafen, Fräulein Moll?«

»Ganz und gar, Herr Brodersen. Ich muß ja immer mit der letzten Fähre zurück.«

Else fragte von der anderen Seite leise: »Hast du keine gute Nacht gehabt? Du siehst jetzt immer so entsetzlich blaß aus.«

»Ich bin ja immer blaß gewesen.«

»So nicht.«

Er spürte die sorgende Liebe in dem Ton und machte sich hart. Wenn sein Weg schon in das Dunkel hineinging, sollte nicht noch ein anderer Mensch mitgezogen werden.

»Quäl' dich nicht unnütz. Es ist kein Grund zu irgendeiner Sorge.«

Das war so ablehnend gesagt, daß sie schwieg.

Pet rannte in das Haus und kam wieder mit einem Badebündel. »Wer geht mit? Ich muß jetzt hinein in das Wasser! Alle? Ist recht so. Du nicht, Else? Aber Nina doch? Na, dann los!«

Fünf Minuten später waren sie unten an der Düne in Kuhlen und Strandkorb beim Auskleiden. Else und Heino folgten langsamer, und Heino, dem seine kurze Antwort leid tat, sagte: »Du mußt mich entschuldigen. Adolf hat mich die letzten Tage auch schon gepeinigt mit einer überflüssigen Besorgtheit. Ich habe einfach ein bißchen viel gearbeitet in den letzten Wochen. Nun ist der Roman aber fertig, geht in den nächsten Tagen ab und wird Peter hoffentlich die nötige Grundlage für seine Zukunft bringen. Jetzt will ich mich auch ausruhen und erholen.« Er warf sich in den Sand, fuhr unwillkürlich mit der Hand zum Kopf, dehnte sich und lächelte freundlich. »Leg' dich nur hierher. Da können wir die ganze Meute auf der Brücke beobachten. Adolf ausgenommen, sind es doch alles Jungens. – Sage mal, hast du Jons Bild gesehen, ehe es abging nach Berlin? Tante Lite war neulich hier und in großer moralischer Entrüstung.« Da hatte er das Gespräch von sich abgelenkt, und als Jons und seine Arbeiten erledigt waren, kam er auf Adolf. »Er will sich in den nächsten Monaten als Spezialarzt für Chirurgie niederlassen, wie er mir gestern sagte. Und er hat dabei noch besondere Wünsche – die muß ich dir wohl nicht erst erklären. – Mach kein solch abweisendes Gesicht. Ich spreche nicht als Vormund in seinem Auftrag. Ich spreche für dich, Else. Du bist mir wie eine liebe Schwester. Du würdest uns allen so viel Glück in das Haus bringen, wenn wir wüßten, daß du künftig ganz zu uns gehörst.«

»Dazu braucht es das nicht, Heino. Ich will überhaupt nicht heiraten. Ich glaube, ich tauge nicht zur Ehe.«

»Das sind solche modernen Ideen. Wenn die kleine Nina das sagt –« Er stockte unwillkürlich. Else sah ihn an. Sie verstanden sich. »Ja, ja. Also dir haben sie es auch zugetragen. Oder hat Adolf selber –«

»Du hast es selbst einmal erwähnt, Else.«

»Aber nicht so. – Also wirklich, er hat darüber mit dir gesprochen. Ich dachte, es wäre nicht kavaliermäßig, den Namen einer Dame in solchen Dingen zu nennen. Diskretion gibt es wohl nicht mehr.«

»Dame? Nennst du die kleine Ledertochter so?«

»Sie möchte es doch sein.«

»Sie möchte es sein, wenn es kein Opfer kostete. Aber darum auch leben wie eine Dame, vornehm, tadellos – da verzichtet sie lieber. Ein kleines Mädchen wie tausende. Mehr nicht. Immerhin eins, was allerliebst und geschmackvoll ist. Leicht wie eine Eintagsfliege. Wenn ich noch einen Roman schreiben sollte, ich würde die ›Eintagsfliege‹ schreiben. Das kleine, leichte, glitzernde Geschöpf, aus dem Sumpf aufsteigend, im Licht tanzend, immer heiter, immer so wie es sein muß. Man soll sie nicht zu sehr verdammen, man soll sie aber auch nicht zu sehr bedauern oder sie ernst nehmen. Und im Leben eines Mannes bedeuten sie auch nicht mehr als ein bißchen Glitzerwerk in einer flüchtigen Stunde.«

»Du meinst, ich soll sie auch so ansehen im Leben deines Bruders, oder richtiger: deiner Brüder?«

»Wenigstens Adolf diese kleine Episode nicht anrechnen. Wäre eine andere weniger kühl gewesen –«

»Vielleicht. Ich will die Schuld auf mich nehmen. Übrigens wird es ihm gar keine so unangenehme Unterbrechung seines geregelten Daseins gewesen sein. Und was für ein Recht hätte ich auch, ihn deshalb irgendwie zu verurteilen?«

»Wir drehen uns im Kreise, Else.«

Sie antwortete nicht. Ihr war traurig zu Sinn. Zu gut verstand sie diese Stunde, zu gut verstand sie die Absicht des Vetters. Verstimmt war sie nicht, ach nein, aber brennend weh tat ihr das Herz. Sie wollte doch gar nichts von ihm. Sie wußte, daß er nicht heiraten würde, der Vater hatte es ihr offen gesagt. Aber konnte er sie nicht dulden als seinen Freund, als seinen besten Kameraden? Warum wies er sie so von sich fort zum Bruder hin? War sie ihm lästig? Sie drängte sich doch gewiß nicht auf. Ihre herbe Natur gab gewiß keine überflüssigen Blicke und Zärtlichkeiten. Ihre ruhigen, beherrschten Hände zitterten nie, wenn er sie berührte. Ein herzliches Wort von seinen Lippen wäre nie falsch gedeutet worden.

Das ahnte sie nicht, daß der Mann alle Kraft aufbieten mußte, diese Ruhe zu bewahren. Einmal noch hatte das Leben ihm ein Glück an den Weg gestellt. Einmal noch lockte es da drinnen, so brennend heiß: Sei jung, sei glücklich! Genieße diese letzten Stunden! Reiß an dich, was deiner wartet! Nimm dir dein Menschenrecht! Und wenn es ein paar Tage oder Wochen eher endet, – du warst glücklich. Und wenn sie dann einsam zurückbleibt – denk nicht an sie! Wenn du sie fragst, wenn du ihr alles sagst, wird sie nicht bereit sein, ein kurzes jauchzendes Glück mit einer langen Einsamkeit zu bezahlen?

Seit dem Brand im Walde, vier Wochen lag der zurück, hatten sich die Ohnmachten nicht wieder gezeigt, Schwindelanfälle, zu den verschiedensten Zeiten und mit unberechenbaren Pausen, waren an ihre Stelle getreten, dazu ein nagender Schmerz im Nacken, der hoch hinaufgriff auf den Wirbel. Aber das wäre nicht das Schlimmste gewesen. Das Schlimmste waren die Stimmen, die immer einmal plötzlich – sei es im Haus, sei es zwischen Dünen und Wald – ihn anriefen. Wirre Worte nur, zusammenhanglos, kurze, erregte Töne – er hatte sich in den ersten Tagen täuschen lassen, bis er erkannte, was das war. Und vor zwei Tagen hatte, als er in das Haus trat, jemand am Tisch gestanden. Nur sekundenlang – aber doch – Und heute früh, als er aufwachte, sah er im einfallenden Sonnenlicht deutlich Elses Gesicht, das ihn anlachte.

»Blutleere im Gehirn, nichts weiter«, sagte Onkel Trummer. »Erhole dich, so vergeht das von selber.«

Er glaubte ihm nicht. Vielleicht, daß es wieder verging. Vielleicht auch, daß der ernste Engel schon an seiner Seite stand, ihn einmal schnell und schmerzlos hinwegzuführen. Wenn es aber anders war? Wenn ihm statt ruhiger Erlösung eine lange, dunkle Haft bevorstand? Und das Mädchen, das Mädchen, das ihn liebte, einmal seine Züge nicht mehr mit Liebe, sondern nur noch mit Mitleid und endlich vielleicht mit Grauen anschaute?

Alles, nur das nicht! Er, der immer das Leben bejaht hatte, auch in den dunkelsten Stunden wenigstens um diese Bejahung rang, er sollte einem andern, geliebten Menschen das Leben zerbrechen?

Stärker, tausendmal stärker als alles männliche Begehren war sein Mannesstolz, war der feste Wille, durchzuhalten bis zum letzten. Hatte er Minuten geschwiegen oder nur Sekunden? Waren die Gedanken blitzartig durch ihn hingeflogen? Als er Else ansah, hingen ihre Augen immer noch mit der gleichen, stillen Güte an ihm. Da konnte er lächeln. Nicht gezwungen, sondern ganz aus tiefem Herzen heraus.

»Wollen wir nicht auch ein bißchen auf die Brücke gehen? Der Lärm lockt ordentlich. Als wenn er dazu gehört zur Sonne, zur See, zum Feiertag, so voll Leben ist er, so voll Kraft, so voll Freude.«

Die beiden Hunde tobten eben wie die Wilden mit etwas Rotem davon, das anscheinend ein Badeanzug war. Gamms lange Beine setzten sich in Schwung, turnten nieder von der Brücke, jagten den Unholden nach. Die anderen droben lachten. Plötzlich schrie Nina hellauf: »Wer fängt mich? Wer fängt mich?« Und damit sauste sie zum Brückenkopf und war mit einem Satz in der hochaufspritzenden Flut. Hinter ihr das ganze Rudel. Die Wellen kamen ordentlich ins Schäumen, wirbelten, kreisten, wurden von schlagenden Händen und Füßen zu Schaum gewandelt, platzten gegen die Tragbalken, gluckerten wie angesteckt vom Lachen der Menschen, liefen gegen den Strand und kicherten noch im Vergehen. Als Heino und Else unten auf der Brücke ankamen, tauchten verschiedene nasse Köpfe und winkende Arme auf. Stimmen riefen: »Ist das heute herrlich! Ist das heute himmlisch schön! Ihr alten Vernunftskasten, holt euch auch Badezeug und kommt herunter!«

Die beiden setzten sich auf die Bretter des Stegs und sahen in die Tiefe. Irgendwo fernab waren jetzt zwei Köpfe. Da draußen schwammen Peter und Gamm. Gamm mit den ruhigen, langen Stößen des sicheren Schwimmers, Peter hastiger, unruhiger, voll von überschäumender Lebenskraft.

Jetzt ein Dröhnen von der anderen Seite der Landbrücke. Nix kam auf seiner Wassermaschine herüber vom Breitling, sah unter sich das lustige Leben, ging nieder auf See und rollte heran. Hart an der Brücke machte er halt. Sofort hockte Kriesch auf einem der Schwimmer und stangelte mit den Beinen.

»Nehmen Sie sich in acht,« rief Nix, der Unrat merkte. »Wenn ich hoch geh', ist die Luftfahrt kein Vergnügen für Sie. Das zieht dann verdammt kalt an Ihre nassen Glieder.« Er saß vorn am Steuer, die Kabine war leer. »Mich lockte der herrliche Tag«, sagte er. »Wollen Sie einen Flug mit mir machen, Herr Brodersen?«

Wie es in Heinos Augen aufleuchtete. Nichts Besseres hätte ihm geschenkt werden können. »Mit tausend Freuden. Ich hole eben mein Lederzeug aus dem Hause.« In fünf Minuten war er zurück und stieg neben Nix. Es waren Jahre vergangen, seit er zuletzt geflogen hatte. Seine dicke, alte Lederjacke, vielfach geflickt, hatte im Schrank gehangen, als sei sie vergessen. Und Brille und Kappe – er hatte nicht gedacht, daß er sie noch einmal tragen würde. Es wäre ja ein Leichtes gewesen, einmal als zahlender Gast auf dem Platz aufzusteigen, aber das hatte keinen Reiz gehabt.

Die Zurückbleibenden sahen dem Riesenvogel nach, wie er emporstieg in die blaue Sonnenluft, weite Kreise zog, höher und höher kletterte und den Kurs nach Norden nahm.

Über die See heran kam die Fähre von Gjedser, schwer und plump wie ein vorsintflutliches Ungeheuer. Das Flugzeug glitt droben über sie hin wie eine wiegende Möwe über einen Fischerkahn.

Baden hatte ein kleines Fernrohr bei sich. Er stellte es ein und berichtete: »Alle Decks voll Menschen. Was da jetzt jeden Tag herüberkommt! Und das Gewimmel auf der Mole! Sehen Sie mal durch, Peter. Wohin du trittst, du wirst auf Menschen treten. Gott sei Dank, daß man da nicht baden muß. Das Gewimmel im Wasser! Nix ist wild, weil sie ihm überall auf dem Platz herumlaufen und ihre Nase in alles stecken. Er sagt schon, das Gedonner der Großstadt wäre selbst seinen robusten Nerven zu viel.«

»Soll er doch den Flugplatz verlegen! Kyritz-Pyritz an der Knatter oder Pütt an der Schütt sind auch ein paar schöne Gegenden.«

Sie waren einmal wieder herausgeklettert aus dem Wasser und ließen sich von der strahlenden Sonne trocknen. Peggy und Jackie tobten auf dem Steg und machten fidele Angriffe auf die große Zehe ihrer Herren. Abgeschleudert flogen sie in die Wellen, schwammen an das Land und stürzten sich mit freudigem Gekläff von neuem auf ihre Opfer.

Nina war still in der lebhaften Schar. Irgend etwas war nicht so, wie sie wünschte. Sie spürte, daß die jungen Männer ihr hier fremder waren als im Tanzsaal oder im dämmernden Abend zwischen Dünen und Hecken. Das Heiße, Drängende, Triebhafte, was ihr den Sieg über solch starkes Jungvolk gewann, das war hier untergegangen in lauter gesunder Frische. Herber Salzwind und peitschender Wellenschlag standen gegen den schwülen Drang, der als Feuer im Blut umgeht. Hier war sie nur ein Kamerad, und Kameradschaft war etwas, was sie nicht verstand. Kameradschaft war langweilig und reizlos.

Sie war keine schlechte Schwimmerin, aber sie ermüdete zu schnell, und die jungen Männer, auch Jon trotz seiner schiefen Schulter, fühlten sich im Wasser wie zu Hause. Immer wieder heraus und auf dem Steg gerungen und geboxt, immer wieder hinunter und getost wie losgelassene Wassermänner. Eins nur ging über diesen Sport, das war das Hinfliegen über Wasser und Land, das war das selige Losgelöstsein von aller Erdenschwere. Und wenn die Böen das Flugzeug hoben und stürzten, wenn alle Fibern sich spannten, jeder Gedanke, jedes Empfinden nur noch ganz eins war mit den tragenden Planken – und wenn es dann im Gleitflug niederging, der Motor verstummte, die Erde heranwuchs, die Maschine aufsetzte auf den Rasen und hinrollte in fliegender Fahrt – wieder einmal trotz Wetter und Wind sicher niedergelenkt – war das nicht das Allerschönste?

Was wußten die zwei, die da mit ihnen schwammen und boxten, dieser Medizinmann und der Farbenkleckser, von solcher Herrlichkeit? Es ist gut, mit beiden Beinen auf der wohlgegründeten Erde zu stehen – aber es ist tausendmal besser, hoch über der kleinen Erde hinzufliegen wie ein seliger Geist.

So wie in dieser Stunde Heino hinflog über die See.

»Wohin?« hatte Nix gefragt, als sie aufstiegen. Er mußte seinen Mund hart an das Ohr des Nachbars bringen. Und Heino hatte ebenso geantwortet: »Ich möchte noch einmal die dänischen Inseln sehen.«

Da nahmen sie den Kurs nach Norden. Und wie zehn Minuten vergangen waren, wuchs unter ihnen Land heran. Küsten, leicht geschwungen, im Licht schimmernd und von Meeresbläue umsponnen. Gjedser war da mit seinem Hafen und seinen wenigen Häusern, das Hafenbassin für die Trajekte, nicht mehr als ein Kinderspielzeug, Falster zeigte sich – jetzt, lichtgrün und goldfarben von Wäldern und reifen Kornbreiten, dehnte sich die Krone des dänischen Reiches, Seeland.

Ein weiter Kreis über die wundervolle Insel, heimwärts ging es. Im flimmernden Sonnendunst wieder die deutsche Küste. Da mußte Heino an einen Tag denken, wo er auch so der deutschen Küste entgegengeflogen war, drüben an der anderen Seite, wo die Nordsee braust, und hatte sie schon gesehen, dunkel und ernst aus Nebelschwaden auftauchend, während um ihn sechs Engländer surrten, und die Schüsse ihrer Maschinengewehre Tragflächen und Rumpf mit leisem klackenden Ton zeichneten. Dann ein Sinken des Manometers, der Propeller verlangsamte die Tourenzahl, der wunde Vogel legte sich auf die Seite – im Benzintank mußte ein Riß sein. Nieder! Nieder! Die See wuchs ihm entgegen, er setzte auf, um ihn her war Dunst, der wurde stärker fast mit jedem Meter, den er vorwärts wollte, hüllte ihn ein, verbarg ihn dem Feinde. Und darauf lange, schwere Stunden.

Wind wurde wach aus Südosten, der trieb ihn, er wußte nicht wohin. Wogen wachten auf, hoben ihn, schoben ihn, schlugen klatschend gegen den Rumpf, stiegen höhnend auf die Tragflächen, nahmen die Maschine wie ein Stück Treibholz und warfen sie eine der anderen in die nassen Arme.

Die brave Maschine ließ sich heben und senken, stieg und fiel, trieb durch Wogenschwall und Windesbrausen, war für Augenblicke untergetaucht in dem wilden Treiben, hob sich wieder hoch auf einen Wasserrücken, knarrte in allen Fugen, knackte in allen Gelenken, aber sie ergab sich nicht.

Nacht ging auf, Dunkel lagerte sich um ihn her, aus Hügeln und Tälern wurden Schluchten und Berge, die Glieder starben ab im eisigen Wasser, die Augen starrten, wund und entzündet, hinein in das lichtlose Chaos, die Ohren waren taub von dem Dröhnen der Flut – aber die Hand lag unentwegt am Steuerknüppel, immer bereit, die anrennenden Wassermengen abzufangen, Gleichgewicht zu schaffen, Kurs zu halten.

Einen ganzen Tag und eine endlose Nacht trieb er so im Oktobersturm, dann kam ein deutsches Torpedoboot und fischte ihn auf. Zwei Tage später saß er in einem neuen Flugzeug.

Das alles stand wieder vor ihm, als läge es nicht neun Jahre, sondern kaum so viele Tage zurück. Tief sog er die Luft ein, die ihm in scharfem Strom über das Gesicht strich. Er wußte, es war das letztemal, daß er so hinglitt im uferlosen, im grundlosen Blau. Er dankte dem Leben, das ihm diese große, herrliche Stunde schenkte, er genoß sie mit seiner tiefsten Seele.

Als sie auf dem Breitling aufgesetzt hatten und beide ausstiegen, sah Nix in den Augen seines Fluggastes ein so helles Leuchten, daß er erstaunt sagte: »Fliegen Sie mit solcher Begeisterung, Herr Brodersen? Warum sind Sie dann nicht dabei geblieben?«

»Es konnte nicht sein. Aber ich danke Ihnen von Herzen für diese Stunde.«

Langsam ging er heim.

Als er sich dem Fußsteig näherte, der zu den drei Häusern am Wald führte, kam es ihm mit Hallo entgegen, Jon, Adolf, Peter, Kriesch, Gamm und Baden alle zu Rad, und vorn an Peters und Gamms Rad, eingebündelt in Badeanzüge, die zwei kleinen Hunde, die noch nicht so rasch mitlaufen konnten. Mit wehenden Ohren, mit blitzblanken Augen sahen die Tiere ihm entgegen und belferten vor Vergnügen. Sausend jagte alles vorüber, Staub stand sonnenvergoldet in der Luft, von fernher hörte er noch aufklingendes Lachen – das war Pets Stimme –, dann ging er weiter.

Und eine große Müdigkeit fiel über ihn her.

*

Gewitter waren niedergegangen und hatten einen Wettersturz mitgebracht. Es war kalt und grau. Die Badegäste begannen abzureisen. Frau Moll, die vergebens einen ganzen Sommer lang gehofft hatte, der leichtsinnige Ehegemahl werde reuig und bittend erscheinen, beschloß, bald die Zelte abzubrechen. Man wußte ja gar nicht, was sonst inzwischen in Berlin geschehen konnte. Nina war einverstanden. Pet wurde unbequem. Er sah sie als sein selbstverständliches Eigentum an. Er verbot einfach jeden Tanz und jedes Wort mit dem Argentinier, der immer noch im Ort und auf dem Flugplatz herumständerte, und als er erfuhr, daß sie mit dem ›Graf‹, den er nie sonderlich geliebt hatte, in einem eifrigen Briefwechsel stand, machte er ihr eine Szene.

Er war ein netter Junge. Aber Jungens müssen erst eine ganze Weile dressiert werden, eh sie die Kunst des leichten, amüsanten Flirts verstehen. Es ging bei ihnen immer gleich um Ewigkeitswerte. Und was hatte für Nina Ewigkeitswert?

Ewige Liebe! – Sie mußte lachen, wenn sie das Wort nur hörte.

Aber vorher hatte sie noch eine Sache zu ordnen, die sie übernommen hatte. Sie errang sich also von Peter das Versprechen, daß er sie todsicher am Mittwoch aus der Gesangstunde in Rostock abholen würde. »Bei diesem Wetter könnt ihr doch nicht fliegen. Selbst wenn es aufklart. Der Platz ist ja so überschwemmt, daß keine Maschine starten kann.«

Also versprach er.

Else war in diesen regnichten Tagen in Rostock geblieben. Adolf kam in aller Frühe in das Krankenhaus und fuhr auch abends selten einmal hinunter an die See. Alles lag in Regen und Schmutz und einem trüben, häßlichen Licht. Nur Heino ging stundenlang durch die Dünen und über die dunstverhangenen Waldschneisen und sog die feuchte Luft tief in die heißen Lungen. Immer war ihm so heiß, so unruhig. Das Herz flog, leises Fieber pochte in allen Adern. Und der müde Kopf schmerzte mit jedem Tage mehr.

Nina kam an jenem verhängnisvollen Mittwoch schon mit dem Zug um zehn in der Stadt an und hatte noch mehr als eine Stunde Zeit bis zum Beginn des Unterrichts. Sie beschloß, Adolf einmal wieder aufzusuchen. Ihr Flirt – sie nannte diese Dinge immer nur mit einem leichten Namen, der sehr harmlos klang – war schnell zu Ende gegangen. Eigentlich hatte sie es gar nicht anders erwartet. Adolf war im Gegensatz zu Peter sehr leicht im Aufgeben gewesen. Sie nehmen und sie lassen war eins gewesen. Ein kurzer Sinnenrausch und damit – holla. Außerdem war er nicht einmal amüsant wie Jon, der Witz hatte und so entzückende Komplimente zu sagen wußte. Jetzt hatte er ihr ein paar Worte geschrieben. Sein Bild hing in der Großen Berliner Kunstausstellung und war schon verkauft. Und als kleinen Dank für die reizende Mitarbeiterin hatte er eine lange Kette von ganz, ganz zartrosa Korallen geschickt. Korallen waren in diesem Herbst die große Mode.

Nina trug die Kette über einem silbergrauen Tuchkleid, als sie nach Rostock fuhr. Der Chauffeur mußte sie im Auto hinbringen, und sie stieg vor dem Krankenhause ab wie eine kleine Fürstin. Konnte es trotzdem nicht hindern, daß der Portier grinste, als sie fragte, ob Doktor Brodersen da sei. »Ist seit um sieben Uhr schon im Dienst. Den treffen Sie nicht, meine Dame.«

Sie ging durch die langen, kahlen, nach tausend Medikamenten riechenden Gänge und klopfte an Adolfs Tür. Keine Antwort, und als sie öffnete, war das Zimmer leer.

So suchte sie Else im Bakteriologischen Institut auf.

Die war etwas erstaunt über den seltenen Gast. Und Nina dachte: So schlag' ich zwei Fliegen mit einer Klappe, denn sie fand den, den sie gesucht, bei der Kusine.

Beide waren mit einem großen Glashafen beschäftigt, in dem sie zwei weiße Mäuse hatten. Eine dicke Platte vom gleichen Material war darübergelegt, nur ein kleines Luftloch war in dem Glas, zierlich hineingeschliffen.

»Was habt ihr denn da?« fragte Nina, warf Mantel und Autokappe auf den nächsten Stuhl und kam heran an den Tisch.

»Nichts für kleine Mädchen«, sagte der junge Arzt ziemlich kurz. »Das sind Mäuse.«

»Ach? Das sind Mäuse?! Denk' mal, das hab' ich mir gar nicht denken können! – Was macht ihr denn mit den Mäusen? Die eine ist ja wohl tot?«

»Stimmt. Die eine ist tot. Ob die andere ihr folgen wird, ist die brennende Frage. Sie sind beide mit Milzbrand infiziert.«

»Milzbrand? Was ist das? Irgendwas Greuliches, nicht?«

»Wünsch' es dir nicht, nähere Bekanntschaft damit zu machen. – Sie sind geimpft mit Milzbrandbazillen, und Else hat sie zu betreuen gehabt. Futter wird von oben hineingeworfen, Wasser mit einer kleinen Spritze eingefüllt. Soll eine besichtigt werden von den Herren Professoren, so wird sie mit einer Zange herausgeholt. Sehr vorsichtig, daß sie niemand beißen kann.«

»Seit wann beißen Mäuse?«

»In der Angst hat schon manche Maus ihren Feind gebissen. – Na, und was führt dich eigentlich in diese geheiligten Räume?«

»Keine Sehnsucht nach dir. Lediglich der Wunsch, Else zu sehen. Wir reisen in den nächsten Tagen ab. Warnemünde wird leer, und dies Wetter ist zum Auswachsen. Else, mach' ein paar Wege mit mir! Nachher muß ich zur Gesangstunde.«

»Sitzt die Dame immer noch hier in Rostock? Es ist doch sonst nicht die Gewohnheit solcher Damen, sich so lange an einem Ort aufzuhalten.«

»Wenn ich nur wüßte, was ihr gegen sie habt, du und Jon. Der fragt auch immer: ›Ist die Diva nicht endlich im Aufbruch begriffen?‹« Sie sah Adolf ganz harmlos an; wie er aber einen Augenblick länger in ihre Augen blickte, spürte er da in der Tiefe etwas, das lauerte, das war wie ein geheimes Wissen um Dinge, die doch keiner wissen sollte.

»Du weißt also Bescheid, Nina«, sagte er kurz und hart. »Sei stille! Ich seh' es dir an. Die Dame hat nicht schweigen können. Da wäre es gut, du deutetest ihr an, daß sie auf nichts zu rechnen hat, hörst du, auf nichts! In keiner Hinsicht.«

»Hab' dich doch nicht so! Adrienne Moreau braucht eure paar jämmerlichen Groschen wirklich nicht. Sie hat Einnahmen, die ihr ein glänzendes Leben gestatten.«

»Also einen reichen Freund. Denn ihr Gesang ist in keiner Weise mehr auf der Höhe.«

»Von wem sprecht ihr eigentlich?« fragte Else. »Du siehst ja ganz rot aus, Adolf.« Sie war bei ihren Mäusen beschäftigt gewesen, hatte die tote vorsichtig aus dem Glas entfernt und in einen Behälter gelegt und schob die deckende Platte wieder über.

»Das erkläre ich dir ein andermal. Jetzt darf ich dir vielleicht wieder in den Mantel helfen, Nina. Hier ist eigentlich kein Platz für Besucher.«

Ninas Augen funkelten ihn an. »Bitte! Ich kann mir auch allein helfen. Mach' dir keine Mühe um mich. Du kannst sicher sein, daß ich zum letztenmal hier war.« Sie riß ihm den Mantel heftig aus der Hand, so heftig, daß er über den Tisch hinschlug und das Glas umwarf. Ein Schrei von Adolf, ein zweiter von Else – da sprang die schon hinter der entfliehenden Maus her.

Das Tier war mit einem Satz vom Tisch heruntergesprungen, dann – krank durch die Impfung, zu matt, eilig zu entweichen, – lief es unter den Fenstervorhang und klammerte sich zitternd in das Gewebe.

»Nicht anrühren, Else, nicht anrühren«, rief der Arzt.

Es war zu spät. In der Angst, das Tierchen könnte entweichen und den schweren Krankheitskeim verschleppen, hatte Else hastig in den Vorhang gefaßt, die Maus ergriffen, schon ließ sie sie wieder in das Glas fallen. Dabei tropfte ein roter Fleck von ihrem Zeigefinger auf den Tisch.

»Sie hat dich gebissen! Um Gottes willen, sie hat dich gebissen!«

»Es ist nicht der Rede wert.« Aber sie wußte ebensogut, was solch ein Biß bedeutete, suchte die Hand auf den Rücken zu legen, fühlte, wie sie mit eisernem Griff gefaßt wurde, nun lagen Adolfs Lippen auf der Stelle und sogen scharf an der kleinen Wunde. Dann riß er einen Gummiring aus der Instrumententasche, legte ihn um das Handgelenk und befahl: »Komm sofort mit, wir müssen die Stelle ausbrennen!« Gehorsam ging sie mit ihm. Sie hatten beide Nina so vollständig in diesem Augenblick vergessen, daß sie erst viel später daran dachten, wie noch ein Dritter zugegen gewesen sei. Aber Nina hatte in jenen Sekunden eine Angst in den Augen des Arztes gesehen, eine Liebesangst, die ihr nur zu scharf zeigte, wie wenig sie ihm gewesen.

Verbittert ging sie hinaus auf die Straße und hin zu Madame Moreau, jetzt ganz fest entschlossen, diesen tugendsamen Philistern, die auch ihre Sünden so schnell von sich stießen, das Skelett zu zeigen, das auch in ihrem Hause verborgen war.

Else hielt sich sehr tapfer, als sie ihr die kleine Stelle ausbrannten. Sie lächelte Adolf zu und fragte den Professor, den er in seiner Erregung herbeigerufen hatte: »Sollte man es glauben, daß mein Vetter so leicht seine Ruhe verliert?«

»Es ist nicht zu spaßen mit dieser Sache, Fräulein Trummer. Und ich verstehe vollkommen, daß Doktor Brodersen sich um Sie sorgt. So, nun binden wir die Hand hoch, und Sie halten sie ein paar Tage möglichst ruhig.« Er nickte ihr zu und wandte sich neuen Patienten zu.

Die beiden jungen Menschen gingen durch den langen, hallenden Flur, und als sie an die Tür zu Adolfs Zimmer kamen, sagte er: »Jetzt legst du dich auf mein Sofa und wartest, bis mein Dienst zu Ende ist. Dann bring' ich dich nach Warnemünde hinunter.«

Er öffnete, und da kam es wunderlich über Else. In dem Augenblick, wo sie dies Zimmer sah, das sie früher oft genug betreten hatte, war ein Widerstand in ihr, der ließ sie nicht über die Schwelle. Dachte sie an Nina? Es war kein bewußtes Denken, es war ein unwillkürliches Empfinden, das sie zurücktreten und sagen ließ: »Ich lege mich lieber hinten in meine Bude. Entschuldige bitte.«

Wortlos schloß er die Stube wieder, wortlos gingen sie miteinander in Elses Arbeitsraum zurück, und als sie dort neben dem Tisch standen, wo die kleine Maus, die alles Unheil angerichtet hatte, durch ihre Glaswand spähte, packte es den Mann mit solcher Leidenschaft, daß er sich selbst vergaß, das Mädchen in die Arme riß und ihr Gesicht, ihren Mund, ihre Augen, den schlanken, weißen Hals mit Küssen überschüttete. »Du, du, du!« Kein anderes Wort brachte er hervor.

Else bäumte sich gegen ihn. »Bist du irrsinnig? Was fällt dir ein? Sofort läßt du mich los.«

Er ließ sie nicht los, er drückte sie nur leidenschaftlicher an sich. »Es hilft dir nichts, ich lasse dich nicht mehr. Süße, du Süße! Herrgott, wie wahnsinnig lieb hab' ich dich.« Und wieder die rasenden Küsse.

Ganz matt und lahm wurde ihr. Nie hatte der Mund eines Mannes ihre Lippen berührt. Leidenschaftslos war sie durch ihre Jugend gegangen, einzig die tiefe Wärme für Heino hatte als starkes Empfinden in ihr geruht, und nie war diese verehrende Liebe in sinnliches Sehnen hineingerissen worden. Nun dies! – Als schlügen Flammen über sie hin. – Als zündeten Funken, aus einem andern Sein übersprühend, in ihrem Blut gleiche Glut. Schon drängte es sie, sich an ihn zu schmiegen, die Arme um seinen Hals zu werfen, – schon war statt des Widerstandes ein aufquellender Jubel in ihr – und ihre Jugend, ihre gesunde Kraft, das starke Lebensgefühl, das nur auf einen Kontakt gewartet hatte – obgleich sie es selbst nie gewußt und, hätte man es ihr gesagt, geleugnet hätte – das alles verbündete sich mit dem Manne gegen ihren Willen.

Aber noch einmal zwang sie sich. »Du weißt nicht, was du tust. Ich lasse mich nicht so nehmen. Laß mich los, oder –«

Er lockerte den Griff, los ließ er sie nicht. Da sah sie in sein Gesicht, sah in diesen Augen, die immer beherrscht und ruhig blickten, das Brennen und schloß angstvoll die eigenen.

»Ich geb' dich nicht her, Else. Es nützt dir alles nichts. Du weißt es ja lange, daß ich dich liebe; aber wie ich dich liebe, das ahnst du nicht. Das hab' ich selbst nicht gewußt bis – bis vor kurzem.« Er konnte ihr doch nicht sagen, daß Ninas Spiel ihm erst gezeigt, was sein großes Begehren war.

»Ich habe dich auch lieb, Adolf, aber wie einen Bruder.«

»Das gibt es ja gar nicht. – Laß, red' jetzt nicht weiter. Ich weiß, was dich von mir trennt, aber Else, süße, blonde Jungfer Else – es ist eine hoffnungslose Liebe, der du anhängst. So eine: So wie dort an jenem Himmel hell und herrlich jener Stern –«

»Davon sollst du nicht sprechen.«

»Ich spreche erst recht davon. Ich brenne es dir aus, wie ich dir das Gift aus der Hand gebrannt hab'. Verehre ihn, hab' ihn gern, stelle ihn meinetwegen himmelhoch über mich – aber sei mein. Denn du bist viel zu stark und gesund, um einem unerwiderten Gefühl dein Leben lang anzuhängen. Heb' ihn in den Himmel, aber leb' mit mir auf der Erde.«

»Und das würde dir genügen?«

»Ach, Else, die Erde ist ja so wunderschön, wenn man sie nur richtig liebt und richtig drauf lebt. Du bist ein Erdenmensch. Du wurzelst im festen Boden und hebst dein Haupt froh hinein in Luft und Sonne. Und wir sind von einem Stamm und werden zusammenwachsen zu einem einzigen Stamm. Ich hätte es längst zum Schluß bringen sollen, aber ich hatte den Mut nicht. Bis ich eben die Todesangst um dich ausstehen mußte. Jetzt geb' ich dich nicht wieder her.«

Ich kann es nicht, ich kann es nicht, wollte sie rufen. Statt dessen sagte sie leise: »Gib mir Zeit. – Nur einige Tage gib mir. Ich kann mich nicht so von heut auf morgen umstellen in meinem Empfinden.«

»Du sollst dich gar nicht umstellen. Wenn du dir einmal ganz ruhig und klar Rechenschaft ablegen wirst über dein Fühlen, wenn du einsehen wirst, wieviel Schwärmerei dabei ist und schwesterliche Neigung und jene Verehrung, die wir alle für Heino haben, und wenn du dich dann ehrlich fragen wirst, ob du für mich nicht ein ebenso großes, wenn auch anderes Gefühl hast – Else, meine liebe, herzliebe Else – dann glaube ich sicher, du wirst wissen, zu wem du gehörst. Oder –« er flüsterte es ganz leise in ihr Ohr, »antwortet nichts in dir auf meine Zärtlichkeit?«

Heiß und rot stieg es ihr in die Schläfen. Über ihre Worte war sie Herr, über ihre Züge, aber nicht über das verräterische Blut. Hastig wehrte sie ab: »Sollen denn meine Sinne mich bestimmen?«

»Ja, mein Lieb, das sollen sie. Tausend Frauen mögen sich irren bei diesen Führern, du nicht. Du meine herbe, stolze, keusche –« er brach ab und drückte seinen Mund auf ihre Augen.

»Laß mir Zeit, Adolf. Laß mir nur ein bißchen Zeit. Es ist alles in mir in einem Wirbel.«

»Gut. Ich lasse dir Zeit. Jetzt weiß ich, daß du mir gehören wirst.«

*

Peter hatte wenig Lust, seinen Besuch bei Madame Adrienne Moreau zu machen, um Nina abzuholen und vorher ihre Gesangstudien zu bewundern. Er hatte nicht viel musikalisches Verständnis, und die neuesten Schlager waren ihm ebenso lieb wie ein Schubertsches Lied. »Es ist da eine Lücke in meiner seelischen Bildung«, sagte er. »Die besten Lieder singt mir der Motor, und dann kommen gleich der Sturm und die See.« Immerhin war das nicht der schlechteste Geschmack und einem Flieger durchaus angemessen.

Als er in der Lloydstraße vor dem bezeichneten Hause stand, versuchte er darum, mit einigen sanften Flötentönen Nina zu verständigen. Sie kam nicht. Die Töne wurden schärfer und lauter. Da sah jemand hinter den Vorhängen nach ihm aus, eine Balkontür öffnete sich, und die Diva schaute vor. »Also das ist doch keine Sache, Herr Brodersen, daß Sie da draußen warten. Bitte kommen Sie doch herauf.«

Wohl oder übel mußte er mit beglücktem Gesicht eintreten und sich an einen zierlichen Teetisch setzen, der für drei gedeckt war, also entschieden auf ihn gewartet hatte.

»Es ist heute das letztemal, daß meine junge Freundin bei mir ist«, sagte Frau Moreau. »Und da wollen wir uns noch eine nette Viertelstunde gönnen. Nehmen Sie Arrak zum Tee, Herr Brodersen? Bitte, sich nicht zu genieren. – Sie sind mir ja gar nicht fremd. Fräulein Moll hat so oft von Ihnen gesprochen, und ich interessiere mich so sehr für alles, was mit der Fliegerei zusammenhängt –« Eine kleine Pause, sie maß ihn mit nachdenklichem Lächeln. – »Damals auf dem Platz waren Sie allerdings so sehr ablehnend, – ist das immer Ihre Art? Oder waren Sie gerade an jenem Tag nicht bei Laune?«

Während sie sprach, hatte sie ihm die Tasse gefüllt, Zucker, Arrak, Keks herangeschoben, jetzt bot sie auch eine silberne Zigarettendose mit der Marke, die ihren Namen durch das Land trug. »Sie rauchen doch sicher?«

Peter wußte gar nicht, wie er so viel Liebenswürdigkeit gegenüber genügend dienern und lächeln sollte. »Wenn ich mit dem Rauchen warten darf bis nach dem Tee – Bitte, danke – nein, Arrak nehme ich nicht. Zitrone, ja, danke, wenn ich darum bitten darf. – Sie sind zu gütig, gnädige Frau. – Ich dachte, ich sollte Nina nur abholen.«

»Sie werden noch Zeit genug für Fräulein Nina behalten. Wir sind heute beide sehr glücklich gewesen, wie, Ninettchen? Das Kind hat so glänzende Fortschritte gemacht, und heute morgen hat mir mein Agent geschrieben, es würde ihm eine Freude sein, wenn Ninettchen ihm einmal vorsingen wollte. Nun denke ich, wir reisen zusammen übermorgen nach Berlin und – was dann weiterkommt, müssen wir abwarten.«

Peters Gesicht wurde ganz blaß. »Du willst doch nicht – Nina, was willst du bei einem Agenten?«

»Vorsingen, mein Junge. Du hörst es ja eben.«

»Aber in aller Welt – zu welchem Zweck?«

»Mein Gott, man möchte doch ein kompetentes Urteil haben. Der Herr ist früher selber beim Bau gewesen. Und die gnädige Frau meint, wenn ich noch ein oder zwei Jahre daran wenden will, wird sich mir als Soubrette eine glänzende Zukunft auftun.«

»Du als Soubrette? Das hast du doch nicht nötig.«

»Nötig!« Die Damen lachten beide. »O du Hinterwäldler, du Philister.«

»Sehen Sie es als traurige Notwendigkeit an, wenn eine Frau Künstlerin ist, Herr Brodersen?«

»Bitte, nein, mißverstehen Sie mich doch nicht. Ich denke nur, wenn – Nina wird doch sicher heiraten, was soll sie dann damit?«

»Heiraten! – Ich war auch einmal verheiratet – Es kommen Konflikte, Lebensnöte – Wer weiß, was ihm einmal notwendig ist.«

»Gibt dein Vater das denn zu?«

»Vater vielleicht. Aber Mutter wird Himmel und Hölle in Bewegung setzen, mich zu hindern.«

»Na also. Wovon willst du denn die Ausbildung bezahlen, wenn deine Eltern dagegen sind?«

Nina sah die Brettldiva an, die lächelte verständnisvoll. »Es gibt immer Mäzene.«

Da fuhr Pet Brodersen wild in die Höhe. »Das ist ein abscheuliches Wort.«

»Warum denn? Kann nicht jemand reines Interesse an einem aufstrebenden Genie nehmen?«

»Ein Genie ist Nina nicht.«

»Was du schon davon weißt.«

»Hat sich vielleicht der Mann aus Argentinien erboten, die Kosten zu tragen?«

Nina zuckte hochmütig die Achseln. »Du hast mir jedenfalls nichts zu verbieten.«

»Und wenn ich es doch tue?«

»Mit welchem Recht, bitte?«

»Mit – welchem – Recht –« Er fragte es ganz langsam und verstört. Dann, sich plötzlich besinnend, daß sie einen Zeugen hatten, riß er sich zusammen. »Ja, das mußt du allerdings selbst am besten wissen. Ich – ich hab' mir unsere – ich meine deine Zukunft etwas anders gedacht.«

»Gott, Pet –« Sie sah sich um, Frau Moreau hatte diskret das Zimmer verlassen. Die seidenen Vorhänge zum Nebenraum schlugen eben leise übereinander. Sie würde da nebenan auch alles hören können, aber das war Nina sehr gleichgültig. Einmal mußte dieser große dumme Junge doch die Wahrheit erfahren.

»Was du dir gedacht hast, das kann ich mir ja denken, Petteken. Myrte und Schleier, Orgelklang und gerührte Verwandtschaft – wie? Junge, und wann sollte dieser harmonische Abschluß unserer Sommerliebe stattfinden? Wann kannst du daran denken, dich zu verheiraten? Flieger dürfen überhaupt nicht heiraten. – Aber wenn schon – Pet, bis dahin bin ich verblüht.«

»Schweig' still.«

»Nein, jetzt wollen wir mal klar sehen, mein Junge. Mein lieber Junge. Gewiß hab' ich dich gern. Du bist ein feiner, netter Kerl. Aber –«

»Ich weiß schon. Aber solche wie ich gehen zwölf aufs Dutzend. Jetzt darf ich mich wohl empfehlen.«

»Wenn du den Beleidigten spielen willst – dazu ist wahrhaftig kein Grund. Du solltest mir danken für die vielen schönen Stunden, die wir zusammen verlebt haben. Was hätte mancher dafür gegeben, wenn ich so nett gegen ihn gewesen wäre.«

»Ach wirklich? Wer denn alles? Der famose Jraf? Der schreibt dir ja wohl dreimal in der Woche, was? Und in Berlin ist er auch, da werdet ihr wohl Wiedersehen feiern und über den dummen Peter lachen, der gedacht hat, die Nina wäre ein anständiges Mädchen, und ihre Küsse wären nur für einen einzigen, was? Ich dummer, ich schafsdummer Mensch.«

Nina bekam böse Augen. »Du tust, als wenn du mir etwas zu verzeihen hast. Ich will dir mal sagen, die Männer leben alle nicht anders. Heute diese und morgen jene, und wenn sie nachher heiraten, sind sie durchaus tadellose Ehrenmänner. Das ist immer so gewesen. Und wenn sie nachher in der Ehe über die Stränge schlagen, – Gott, Männer sind mal so. Aber wenn wir Mädchen unsere Jugend genießen, wenn wir auch die paar Jahre vergnügt sein wollen, eh wir verblühen – o der Lärm! Ich mach' mir aber nichts aus dem Lärm! – Ich bin so angelegt, daß ich mich ausleben muß. Das steckt mir im Blut. Dagegen gibt es kein Mittel. Und Vorwürfe lass' ich mir nicht machen, am wenigsten von dir. Du hast doch wirklich keinen Grund, so erhaben zu tun. Wenn du auch immer so sprichst, als wüßtest du nichts davon. Ja, sieh mich nur an, ich weiß es lange. Und deine Brüder, Jon und Adolf, die wissen es auch. Die haben auch schon immer gepatert, ich sollte nicht hierher gehen. Gerad' bin ich hergegangen. Und du solltest dich freuen, daß ich es getan hab', und hab' dich auch hergeholt, 'ne Sünde und 'ne Schande ist es, daß sie einem die eigene Mutter vorenthalten und verleugnen.«

»Bist du verrückt? Was redest du da für Zeug?«

»Was soll ich reden? Ich sag' nur, was sie alle wissen, daß deine Mutter gar nicht tot ist. Geschieden sind deine Eltern, weil dein Vater gerade so ein Philister war wie du und deine Brüder. Und dir haben sie ein Märchen aufgebunden von der Heiligen, die segnend über dir schwebt –« sie floh drei Schritte zurück, Peter stand vor ihr mit einem Gesicht, entstellt, verzerrt, – mit funkelnden Augen, – die Fäuste geballt –

Im gleichen Augenblick tat er dem Mädchen leid. Sie war ja nicht schlecht, sie war nur leichtsinnig und oberflächlich, jedem Empfinden im guten wie im schlechten gedankenlos nachgebend.

»Pet – nimm es doch nicht so schlimm. Sei doch lieber froh, daß du noch eine Mutter hast. Eine Mutter, die dich lieben möchte und verhätscheln und bei dir ein bißchen Liebe finden. Eine Mutter –«

»Es ist nicht wahr.«

»Es ist wohl wahr.«

»Woher weißt du das? Wo lebt denn die Frau, die das behauptet?«

»Das sagt sie dir am besten selber. Nimm dich zusammen, mach' es ihr nicht so schwer, Pet.« Und dann hatte sie die Türklinke gefaßt, war draußen im Flur, man hörte die Wohnungstür klappen, – Peter Brodersen stand und griff sich mit der Hand nach dem Kopf, hatte ein dumpfes Ahnen der Wahrheit, das er nicht Gewißheit werden lassen wollte, und wunderte sich schon nicht mehr, als neben ihm eine weiche Hand nach der seinen griff, eine Frau sich an seine Schulter lehnte und eine sanfte Stimme flehte: »Mein Sohn! Mein einziger geliebter Sohn! Sieh doch deine Mutter an.«

Er sah sie an. Kalt, musternd, gleichgültig. Eine Stimme tief drinnen, irgendein Ich, das sonst nie sprach, sagte: Die reine Komödie. – Alles gelogen! dachte er.

Und wieder die andere Stimme aus dem Untergrund: »Es wird schon wahr sein.«

»Peter,« bat die Frau, es war ein Herzenston in ihrer Stimme, »sei nicht so abweisend. O Gott, sie haben es verstanden, dich gegen mich zu hetzen. Sie haben dein Herz gegen mich verhärtet. Wer weiß, was sie von mir erzählt haben.«

»Es hat mir niemand etwas Schlechtes von Ihnen erzählt. Nur ich selber – ja, ich bin selbst schuld. Ich dachte, eine Mutter –« Er schluckte. Jetzt nur nicht weich werden. »Ja, ich dachte, es wäre natürlich wahr, daß meine Mutter tot sei, denn sonst geht eine Mutter ja nicht von ihrem Kind.«

»Ich bin nicht von dir gegangen. Ich hab' um dich gefochten. Ich wollte dich haben, dich wenigstens sehen, – alles haben sie mir verweigert. Peter, dein Vater war ein harter Mann. Und die liebe Kusine Lite, die er da bei sich hatte, die hatte das Feuer noch geschürt. Die konnte es wohl nicht begreifen, daß eine Frau, die heißes Blut hat, einmal eine Stunde haben kann –«

»Schweigen Sie still. Das wenigstens will ich nicht wissen.«

»Nina sagte es mir: Er ist noch ganz unreif. Er kennt das Leben noch gar nicht. Er denkt, bei anderen mag es so sein und so, aber bei uns, bei uns geht alles nach der Schnur. Er bildet sich ein, wer Brodersen heißt, der steht über allen anderen Menschen.«

Peter schwieg. Aber seine Blicke suchten in dem Gesicht der Frau nach irgendeinem Zug, der ihm sagte: Das ist wirklich deine Mutter, und er fand keinen.

Er suchte in sich nach irgendeinem Gefühl, das für die bittende Frau sprach, und er fand keins.

Da sagte er sich wieder: Es ist alles gelogen. Nur die erste Überrumpelung ließ mich glauben, es könnte wahr sein.

»Mein Kind, mein geliebtes Kind, wenn du wüßtest, wie ich mich von einem Tag zum andern gesehnt hab', daß du die Wahrheit erfahren möchtest, und wie ich mich fürchtete – O Gott, seit drei Monaten lebe ich hier, nur um dich kennenzulernen – auf euren Flugplatz bin ich nur gegangen, um dich zu sehen – die kleine Nina nahm ich nur zur Schülerin, um von dir zu hören. – Und dann fehlte mir immer wieder der Mut, mit dir zu reden. Peter, erinnerst du denn gar nichts von deiner Mutter?«

»Doch«, sagte er hart. »Ich habe ein Bild, das hat mein Vater gemalt, als ich noch ganz klein war. Meine Mutter als Madonna und mich auf ihrem Arm. Das Bild hat bisher über meinem Bett gehangen.«

»Also doch! Also hast du doch an mich gedacht und dich nach mir gesehnt! Liebes Kind, mein geliebter Sohn!« Sie legte den Arm um seine Schulter. Er richtete sich bolzengerade zu seiner ganzen Länge auf. Der Arm sank herab.

»Ich dachte, meine Mutter sei so gewesen, wie Vater sie malte. Er hat das Bild in einer Bodenkammer verborgen, ich hab' es mir heimlich geholt. – Ja, dann kann ich es jetzt ja wieder rauftragen.« Er wußte, daß er erbarmungslos war, aber er konnte keine guten Worte finden. Diese Frau da, in einem kurzen, lichten Seidenkleid, gepudert, geschminkt, parfümiert, blitzende Steine an den Händen, lange, birnförmige Perlen in den Ohren, – diese Frau war so ganz das, was er in seiner jungenhaften Selbstherrlichkeit immer als Vergnügungsobjekt der Männer angesehen hatte, die hatte gar nichts gemein mit dem Heiligenbild in seinem Herzen. Er haßte sie, weil sie wagte, seinen Weg zu kreuzen. Er haßte sie, weil sie ihn verlassen hatte. Er verachtete sie, die eine Frau Brodersen sein konnte und eine Brettldiva wurde.

Seine Knabenzüge wurden hart und scharf. »Warum ist eigentlich diese ganze Sache in Szene gesetzt worden? Sie haben es doch achtzehn Jahre lang ohne mich ausgehalten.« Sie will Geld von dir, dachte er. Sie wird alt und braucht jetzt den Sohn, den sie so lange gut genug entbehren konnte. Aber das brachte er doch nicht über die Lippen.

Adrienne Moreau begann zu weinen. Vorsichtig, leise die Lider tupfend, aber die Tränen waren echt. So ganz anders hatte sie sich diese Stunde gedacht. »Ist denn gar nichts in dir, was für mich spricht? Kannst du mir nicht einmal das Du geben? Nicht ein einziges Mal den Namen Mutter?«

Peter schwieg. Er schwieg nicht einmal verstockt, er konnte einfach kein gutes Wort finden, und harte wollte er nicht mehr sagen. Und wie er so stand und ein trostloses Schweigen zwischen ihnen wurde, klang von der Straße her ein Klirren, irgend jemand hatte eine Flasche zerbrochen oder ein Fenster. Da wußte er, gerade so war jetzt in ihm etwas in Scherben gegangen, das kittete keine Kunst wieder zusammen.

Sein Glaube an die reine, hohe Frau war zertrümmert.

Nina und die Mutter!

Vor einem Tag war er noch ein reicher Mensch gewesen in diesem großen Glauben, jetzt konnte er bettelarm heimgehen.

Ekel schüttelte ihn.

Nicht einen Augenblick versuchte er, gerecht gegen die zwei Frauen zu sein. Nicht einen Augenblick überlegte er, ob denn die Frau, die ihn als Kind verlassen, und das Mädchen, das ihn jetzt verließ, nicht irgendein Recht hatten, an sich zu denken, statt nur an ihn, Peter Brodersen, – er fühlte nur das ungeheure Unrecht, das sie ihm angetan hatten, und stieß beide aus seinem Leben.

»Peter,« begann die Frau noch einmal zärtlich, »laß mich doch nicht so fortgehen. Ich muß reisen. Morgen schon. Bis zum letzten Tag hab' ich gewartet, ich wagte es nicht, dir alles zu sagen. Weil Nina sagte, du hieltest mich für tot und duldetest auch nicht die kleinste Andeutung, es könnte anders sein. Peter, du bist doch mein Kind. Du bist doch mein Sohn. Muß denn ein Sohn nicht etwas für die Mutter fühlen? Sieh mich doch an!«

Er sah sie an, und er konstatierte, daß sich kein einziges warmes Gefühl in ihm regte.

»Es ist besser für uns beide, wenn ich jetzt fortgehe«, sagte er. »Vielleicht denke ich einmal anders –« obgleich er wußte, er würde nie anders denken. »Aber wenn wir zwanzig Jahre ohne einander leben konnten, wird es auch künftig wohl gehen. Oder –« er zögerte, dann fragte er es doch: »Sind Sie in Not?«

»Ich bin nicht in Not!« Die Frau flammte auf. »Ich werbe nicht um meinen Sohn aus solchen gemeinen Gründen. Eher hungerte ich. – Aber ich spüre, wie einsam ich bin. Nichts macht mir mehr Freude. Ich muß mir nicht nur das Gesicht schminken, sondern auch die Seele. Mein Lachen ist so falsch wie meine roten Wangen. Ich sehne mich nach dem einzigen Menschen, der zu mir gehört. Ich will ein bißchen Liebe haben. Liebe, nicht – nicht – das andere.«

Sie wartete.

»Wo soll ich die Liebe hernehmen?« fragte der junge Mensch. »Wir sind uns fremd. Soll ich Ihnen etwas vorlügen? Das hab' ich nicht gelernt.« Er griff nach seinem Hut und wandte sich zum Gehen.

Die Frau warf sich vor die Tür. »Geh nicht so, geh nicht so. Einmal nur nenne mich Mutter. Einmal nur laß dich küssen. Einmal nur –«

Er trat zurück. »Bitte, lassen Sie mich fort Ich kann nicht. Ich kann keine geschminkten Lippen –« Sie wurde blaß unter Rouge und Puder. Wortlos gab sie die Tür frei. Zwischen der Lebedame des Brettls und dem Sohn des alten strengen Bürgerhauses gab es keine Gemeinschaft. Das Blut, das allein hätte sprechen können, hatte versagt.

Langsam ging Peter die Treppe hinunter, ging aus dem Haus, ging zur Bahn, stieg in ein Abteil, sah es nicht, daß Kriesch und Gamm ihm aus einem anderen zuwinkten.

»Was ist denn ins Peterken gefahren?« fragte Kriesch. »Der sah ja aus wie sein eigenes Gespenst.«

»Vielleicht ist ihm eins erschienen«, antwortete Gamm, gähnte, streckte seine langen Beine und meinte: »Heute abend bei Tante Paula wird er sich wohl wieder besinnen.«

Er hatte zur eigenen Geburtstagsfeier eingeladen.

Als sie nach einer Viertelstunde in Warnemünde aus dem Zug stiegen, ging Peter vor ihnen durch die Sperre, noch immer mit dem verbissenen Gesicht, und ohne jemand zu bemerken.

»Muß ein dolles Gespenst gewesen sein«, murrte Kriesch.

*

»Ist recht, daß du kommst, lütt Jung«, sagte Tante Paula, als Peter in die Veranda trat. »Die anderen sitzen schon seit 'ner Stunde da. Ja, hinten im Fliegerzimmer. Müßt euch en bißchen klemmen, dann geht's. Was, kommt die Peggi auch mit?«

Die kleine Spanielhündin wirbelte ihr schweifwedelnd um die Füße.

»Daß mir das Vieh aber keine Schmutzerei macht.«

»Peggi ist stubenrein.«

»Na, wenn man.«

»Absolut. Darin ist sie zuverlässig, obgleich sie weiblichen Geschlechts ist, wo man sonst nur das zuverlässig weiß, daß sie in keiner Hinsicht zuverlässig sind.«

»Gott, was tünen Sie da für'n Unsinn! Man merkt, daß Sie weder Mutter noch Schwestern haben, Herr Brodersen. Wer sich nur mit kleinen Mädchen 'rumzieht – Na, gehen Sie nur hinein, Herr Gamm will gerad' 'ne Rede halten.«

Peter ging hinein und klemmte sich neben Kriesch hinter den runden Tisch, der so manche Fliegerrunde um sich versammelt hatte. Er sah blaß und verdrossen aus, mühte sich zu lachen und so zu tun, als sei alles in bester Ordnung, und hatte doch so wenig Selbstbeherrschung bisher gelernt, daß jeder auf den ersten Blick sah: mit dem Peter war etwas nicht in Ordnung.

Sie regten sich nicht drum auf. Es lief jedem mal eine Laus über die Leber. Dagegen war gute Kameradschaft, ein Glas Bowle und eine Handvoll derber Witze ein ausgezeichnetes Mittel.

Außerdem auch ein Gespräch über den Beruf.

Berufssimpelei ist allemal trocken, nur die Flieger behaupten das Gegenteil. Zuviel Leben ist in ihrem Beruf, zuviel Gefahr und Freude, Sturm und Sonne.

In drei Tagen stieg der große Seeflugwettbewerb, der seinen Ausgang vom Warnemünder Flughafen nahm. Schon lagen auf dem Breitling die Flugboote von Dornier-Wal und Rohrbach, und in den Hallen waren neben Junkers die kleineren Firmen mit ihren Himmelsstürmern vertreten, während Heinkel sich mit seinen Flugzeugen hinter hohen Planken hielt, um niemand in sie hineinsehen zu lassen.

Hin und her gingen die Meinungen über die Aussichten der einzelnen Typen, und neben den Dorniers waren es die großen Flugboote von Rohrbach, die mit ihren Motoren droben auf den Tragflächen eine ganz neue Art repräsentierten und viel besprochen wurden. Daß man da nicht mitmachen konnte! Daß man noch nicht zu den Erprobten und Auserwählten gehörte, die diesen ersten großen Seeflug über Nord- und Ostsee ausführten.

Sturm war angekündigt, am Strande hoben und schoben sich die Wogen, sie murrten gegen die Molen und bäumten sich auf an den Sandbänken, weißen Gischt in die Nacht werfend. Aber mochte das Wetter sein, wie es wollte, solange der Windmesser nicht die Windstärke elf anzeigte, würde geflogen werden. Sie aber würden auf dem Platz stehen und den stolzen Luftpiraten nachschauen, in leuchtendes Blau hinein oder in dunkles Grau.

»Na, Kinder, laßt gut sein, übers Jahr, übers Jahr, wenn ma Träubele schneidt – nachher sind wir auch bald so weit.«

»Übers Jahr noch nicht, Kriesch. Da können Sie froh sein, wenn Sie als zweiter Führer bei der Luft-Hansa fliegen.«

»Darauf wollen wir einen heben. Prosit Gamm! Brodersen, Sie dösen ja!«

»Wachen Sie auf, Mann, und stoßen Sie mit an!«

»Ja, ja. Sofort!« Peter stürzte sein Glas hastig hinunter und hielt es Gamm zu neuer Füllung hin. Trinken, trinken, sich betäuben, nichts mehr denken. – Ihm war wüst im Kopf und leer im Magen, denn er hatte sich seit der Rückkehr aus Rostock in den Dünen herumgetrieben und war erst bei der Heimkehr von Tante Lite gemahnt worden, daß er für den Abend eingeladen sei. Ohne Abendbrot zu essen, war er da wieder gegangen. Es standen Butterbrote auf dem Tisch, aber er mochte sie nicht. Nur die kalte Pfirsichbowle goß er hinunter, daß Kriesch warnend sagte: »Mann, der Abend ist noch lang. Wollen Sie durchaus unter den Tisch?«

»Unter den Tisch? Ich? Ich kann viel vertragen.«

»Na, denn man los! Ich hab' nichts dagegen.«

Baden erhob sich und hielt eine Rede auf die Frauen. – Er sprach immer auf die Frauen, denn er hatte eine sehr hochgehaltene Mutter, zwei schöne Schwestern und eine reizende Braut aus alter, vornehmer Familie, und er sang das Lob der Frauen aus tiefster Überzeugung. Zum erstenmal klang es Peter wie ein Spottlied in die Ohren.

»Die edlen, besten, schönsten Geschöpfe auf dieser sonst so unvollkommenen Erde –«

Da lachte der Junge plötzlich gell auf.

Baden riß das Wort ab, er sah ihn erstaunt an, durchaus im Glauben, irgendetwas, was seiner Aufmerksamkeit entgangen war, hätte diesen Ausbruch hervorgerufen.

Aber Peter sah ihn, nur ihn an, und sein Mund war noch immer verzerrt von Hohn.

»Was ist denn mit dir los?« fragte Baden. »Bist du krank?«

»Ich? Nein, ich bin durchaus gesund. Ausnehmend gesund. Nach einer glücklich verlaufenen Operation am heutigen Nachmittag. Bitte, sprich weiter. Laß dich nicht stören.«

Er hat zuviel getrunken, dachte der Kamerad und brachte seine Rede zu Ende.

Alle standen auf, stießen an und sangen: »Hoch soll'n sie leben –«, nur Peter blieb sitzen und lachte wieder, wenn auch nicht so laut, vor sich hin. Der Wein war ihm in das Hirn gegangen. Er war nicht betrunken, aber er hatte die Herrschaft über sich und seine Worte verloren. Als sich die anderen wieder gesetzt hatten und zum Fachsimpeln zurückgekehrt waren, sagte er plötzlich: »Glaubst du eigentlich all das Blech, das du da eben geschwatzt hast, Baden?«

»Ob ich –« Ein kurzes Abbrechen. »Du bist nicht mehr ganz zurechnungsfähig.« Er wandte sich an Gamm und sah Peter nicht weiter an.

»Wenn du es nämlich für Ernst nimmst, will ich dir nur sagen, die Weiber sind nicht so viel wert wie dieser Scherben.« Er nahm sein Glas und warf es gegen die Wand. »Ob sich das Mutter nennt oder Schwester oder Herzliebste – äh! Zum Ausspucken sind sie mir.«

Baden fuhr herum. Sein Gesicht wurde rot, seine Stimme scharf. »Du unterstehst dich nicht und sagst noch ein einziges Wort.«

»Ich red', was ich will. Aber die Wahrheit mag keiner hören.« Seine Stimme war so aufgeregt, so schreiend, daß man ihn im ganzen Lokal verstand. »Ich sag' es dir ins Gesicht, die ganze Weiblichkeit ist keinen Schuß Pulver wert. Nietzsche hat recht, mit der Peitsche soll man zu ihnen gehen. Zu dieser, dieser Bande –«

Kriesch faßte ihn am Ärmel und wollte ihn auf den Sitz zurückziehen. »Sei stad, Peterken! Bist doch sonst so'n guter Kerl. Wie kannst denn mit einemmal so unklug werden!«

»Mit einemmal! Ja, mit einemmal! Das geht wie der Blitz, sag' ich dir. Wie der Blitz. Denn bist nicht blind geworden, dann bist sehend.«

»Ich muß dich bitten« – gegen Peters heftige Worte kam Badens Stimme ganz klar und ruhig – »deine Worte zurückzunehmen. So, wie du sie aussprichst, scheinen sie direkt auf mich gemünzt zu sein, vielmehr auf meine Angehörigen.«

Jetzt begann auch Gamm sich einzumischen. Während Kriesch an Peter herumstrich und herumredete, setzte er Baden zu. »Mann, er weiß doch nicht, was er sagt. Dem ist irgendwas verkehrt gegangen. Das hat doch mit dir und deiner Familie gar nichts zu tun. Sieh ihn doch an, wie er aussieht.«

Kriesch kam eine Erleuchtung. Hatten sie nicht alle immer untereinander gesagt: »Wenn der Junge mal dahinterkommt, was die Nina für ein leichter Hase ist, gibt's ne Katastrophe!« – Es sah sehr danach aus, als sei die Katastrophe eingetreten.

»Peterken, setz' dich endlich mal hin und nimm Vernunft an. Ich bitt' dich, Tante Paula und die Kellner sehen schon rein. Was sollen die denken! Ja, Tante Paula, kochen Sie doch bitte diesem rabiaten jungen Mann eine Tasse von Ihrem allerbesten Kaffee.« Und als Frau Martin und – auf ihren Wink – die Bedienung sich zurückgezogen hatten, fuhr er halblaut fort: »Peter, hat's was mit der Nina gegeben? Jung', laß sie laufen, die ist es gar nicht wert, daß sich ein Kerl wie du um sie grämt.«

»Was geht dich die Nina an? Bin ich ein Wickelkind, daß du mich hier betun und begöschen mußt? Denkst du, ich hab' zuviel, daß du mir Kaffee bestellst? Willst du mich vielleicht lächerlich machen vor dem ganzen Lokal?« Er streifte plötzlich die Ärmel auf und boxte Kriesch mit starkem Stoß vor die Brust. »Ich werd' dir beweisen, daß ich mit Wein und Weibern noch ohne dich fertig werden kann.«

Kriesch, um einen halben Kopf kleiner und ganz unvorbereitet, taumelte von dem Stoß, warf seinen Stuhl um und fiel selber auf die Erde. Nun wurden alle ungemütlich. Es gab Lärm und Geschrei. Tante Paula lief nach vorn und rief nach Nix, der dort mit Jon und Doktor Schmid beim Bier saß.

»Nu mötens mal mitkamen, Herr Nix. Das geht doch waraftigen Gott nich, daß sich Ihre jungen Leute da bei mir das Hauen kriegen.«

»Meine Flugschüler? Der Deubel soll sie holen. Das könnte ihnen passen«, und Nixens Hünengestalt schob sich eilig durch das Lokal. Aber schneller noch als er war Jon hinten. Er hatte von Tante Lite erfahren, Peter sei am Hause gewesen, habe nichts gegessen, wäre sehr aufgeregt gewesen und hätte auf ihre betulichen Fragen: »Pet, mein lieber Junge, was ist denn nur mit dir?« heftig geantwortet: »Das ist mit mir, daß die Wahrheit doch mal an den Tag kommt. Ich muß mich nur wundern, daß ich nicht längst klug gemacht bin«; darauf wäre er wieder fortgegangen.

Jon hatte eine böse Ahnung, und es war nicht ohne Absicht, daß er zu Tante Paula ging, wo er den Bruder wußte.

Kaum kam er in die Hinterstube, die so eng war, daß die Streitenden halb im Lokal standen, da sah er an Peters dunkelrotem Kopf und den funkelnden Augen, wer der Störenfried war. Ohne weiteres packte er den Bruder und schrie: »Gibst du hier auf der Stelle Ruhe, oder soll vielleicht die Polizei kommen? Ein Brodersen macht so was nicht.«

»Du hast mir gar nichts zu sagen. Du bist ja mit drin gewesen im Komplott. Das habt ihr mal fein ausgetüftelt! Laß mich los, sag' ich dir. Ich lass' mich nicht länger von euch regieren.«

Da faßte ihn von hinten Nixens Arm, legte sich ihm um die Brust, daß sein rechter Arm festgeklammert war, und Nix sagte, nicht besonders laut, aber sehr deutlich: »Wenn Sie sich jetzt nicht auf der Stelle ruhig benehmen, Brodersen, fliegen Sie nicht nur hier heraus, sondern auch bei mir. Mir geht es um den Ruf meiner Schule, daß Sie es wissen.«

Es war etwas in der Stimme, was auf Peter wirkte. Er atmete ein paarmal tief auf, schluckte, als säße ihm etwas in der Kehle, wurde plötzlich nüchtern und sagte: »Es ist schon gut, Herr Nix. Ich bin schon wieder ganz vernünftig. Tante Paula hat wohl Arrak in die Bowle getan, das kann ich nicht vertragen.«

»Na, nun soll ich noch das Karnickel sein«, lachte Tante Paula, aber sie war doch froh, als alles sich beruhigte, die Jungflieger wieder niedersaßen am Tisch und Jon sich ohne weiteres zu ihnen gesellte. Der war mit seinen Dreißig immerhin schon in gesetzten Jahren, der würde jetzt aufpassen.

Eine Stunde später standen die beiden Brüder auf und gingen heim. Sie gingen wortlos nebeneinander am Strom hin, und erst, als sie an der Brücke waren, fragte Jon: »Willst du noch hinüber mit der Fähre, oder bleibst du die Nacht hier im Hause?«

»Ich bleib' hier. Ich will noch mal mit dir reden.«

»Dann komm mit rauf ins Atelier.«

Wie er oben Licht angedreht hatte, sah er auf dem großen Mitteltisch einen Haufen Photographien liegen, die waren am gleichen Tag aus Berlin gekommen. Wiedergaben des letzten Bildes, das ja bereits verkauft war. Er hatte es so eingerichtet, daß jenes Bild fortgekommen war, eh' Peter es gesehen. Nun lagen da die dummen Dinger – Daß er nicht dran gedacht hatte!

Schon stand Peter und hatte eins in der Hand. Er hatte, mit seinen Gedanken ganz woanders, mechanisch danach gegriffen; wie aber das Licht so grell auf das Blatt fiel, stutzte er. Nina! – Unverkennbar! Beinah nackend! Die dünnen Schleierchen waren nur ein Reiz mehr, um die feinen Glieder ins rechte Licht zu setzen.

Langsam drehte er sich um zum Bruder. »Also du auch? Und dir scheint sie ja recht weit entgegengekommen zu sein« –

»Kunst hat Rechte, die allen anderen vorgehen.«

»Ach! Wie schön gesagt! Was hattest du denn sonst noch für Rechte! Pfui Teufel!« schrie er wütend auf, riß das Blatt durch und warf es auf den Boden. »Die Dirne! Und ich hätte es nie gewagt, sie anders zu berühren, als wie man seine Braut anrührt. – Na, laß. Sie hat's mir heut ja selber gesagt, was für ein dummer, erzdummer Peter ich noch bin.«

Du armer Kerl! Du armer, lieber Kerl! dachte Jon, aber er wagte nicht, das zu sagen.

»Wolltest du deshalb mit mir heraufgehen?«

»Nein, es ist da noch etwas anderes. Ist das wahr, daß die Adrienne Moreau, daß die – na, dein Gesicht sagt genug. Also hat sie nicht gelogen. Sage mal, warum habt ihr mir immer was vorgemacht? He?«

»Vater wollte es so. Sie hatte sich jeden Rechtes auf dich begeben. Eigentlich konnte sie ja verlangen, dich einmal im Jahr zu sehen. Um das zu verhindern, zahlte Vater ihr freiwillig zehntausend Mark. Damit konnte sie nach Paris gehen und sich ausbilden lassen.«

»Ging sie deswegen fort, oder war da noch ein anderer?«

»Es war da ein anderer.«

Peter saß auf der Tischecke und sah gleichgültig vor sich hin. Es war ihm, als lese er irgendeine Geschichte, die ihn bis zu einem gewissen Grade interessierte, nicht, als erlebe er sein eigenes Schicksal. Sein Kopf war schwer und konnte nicht mehr fühlen. So erlebt man Dinge im Traum, ohne sich zu erregen, die bei wachen Sinnen uns durch und durch schütteln.

»Und nun will sie also nach zwanzig Jahren die zärtliche Mutter spielen. Jon, es hat jeder sein Skelett im Schrank, was? Und ich war so stolz. Und ich war so sicher, wir Brodersens, wir hätten nichts zu verbergen. – Ich weiß nicht, ich müßte doch eigentlich irgendetwas für die Frau empfinden, die meine Mutter ist. Aber wenn ich an sie denke, seh' ich immer das kurze, enge Kleidchen und die durchbrochenen Strümpfchen und rieche das süße Parfüm.«

»Es ist ein bißchen happig gekommen, Junge«, sagte Jon. »Nimm es nicht zu hart. Sie geht wieder raus in die Welt auf ihre eigenen Wege, und du brauchst nicht an sie zu denken. Sie hat ja auch lange genug nicht an dich gedacht.«

»Ja – ja. Na, dann will ich schlafen gehen.« – –

Am andern Tag war wehender Wind, aber leidlich klarer Himmel. Als Peter auf den Platz kam, war Kriesch schon in der Luft, und Nix rief ihn an: »Hat der junge Herr seinen Rausch glücklich verschlafen? Ich darf wohl bitten, daß man ein andermal etwas pünktlicher ist. Wir schulen schon seit einer Stunde.«

Peter antwortete nur mit undeutlichem Murren, was Nixens Laune nicht besserte. »Also, da steigen Sie mal rein in die Klamotte. Kriesch raus! Brodersen will aufsteigen.«

Peter kletterte in die Maschine und startete. Er startete schlecht. Er flog schlecht. Er drehte Kurven, deren er sich bei seinen ersten Flügen geschämt hätte, und als er im Gleitflug niederging, wäre er um ein Haar auf dem Dach der Flugwache gelandet. Nixens Baß dröhnte ihm entgegen. »Verdammte Schweinerei. Herr, sind Sie von allen guten Geistern verlassen? Was ist Ihnen in die Knochen gefahren? Weibergeschichten im Kopf und keinen Verstand, was?«

Peter stieg aus, sah finster auf den Rasenden und keuchte: »Mit dem Geschrei ändern Sie auch nichts. Davon wird man nur erst recht nervös.«

Eine Bombenstille folgte. Die umstehenden Jungflieger erwarteten einen Wutausbruch ihres Chefs, wie noch keiner erfolgt war. Aber Nix sah sich den rabiaten Jüngling nur lange an, dann sagte er langsam: »Wenn einer verrückt wird, soll es meist im Kopf anfangen. Und Sie scheinen mir ziemlich nah daran zu sein. Wenn Sie krank sind, gehen Sie nach Hause. Wenn Sie aber Launen haben – die verbitte ich mir –« hier schwoll die Stimme an, »die verbitte ich mir hier auf dem Platz ein für allemal.«

Peter biß die Zähne zusammen und schwieg. Konnte er sagen, daß ihm im Augenblick des Starts das Bild gekommen war, wie Frau Moreau am Flugzeug lehnte, die zierlichen Zigarettendosen in der Hand, mit ihrem süßesten Lächeln den jüngsten Flieger anschauend? Da war alles, was gestern abend zuletzt wie unter einem dicken Schleier gelegen hatte, grell wieder aufgeleuchtet und hatte ihn um und um gerissen. Er hatte keine Gewalt über sich, das spürte er, aber sich in dieser Stunde mit Nix zu verfeinden, davon hielt ihn ein letzter Rest Besonnenheit ab.

»Ich fühle mich schlecht. Ich glaube selbst, es ist besser, ich geh' für heute nach Hause.«

Er ging aber zur hohen Düne, da setzte er sich verdrossen in einen umbuschten Winkel, ließ sich Bier geben und trank hastig, ohne zu essen.

Nachher ging er in den Ort. Als aber Kriesch nachmittags kam, ihn abzuholen, sagte Tante Lite sehr erstaunt, der Peter sei seit dem Morgen nicht daheim gewesen, der wäre wohl zu Heino gegangen, da hätte er ja sein angestammtes Nest.

Von dem Tage an ging es keinen guten Tag mit dem großen Jungen. Zu Heino kam er gar nicht mehr hinaus. Jon kam einmal zum Bruder, berichtete und sagte: »Hierher will er natürlich nicht, Ninas wegen. Solange er befürchten muß, die zu sehen, kommt er nicht herüber. Na, Apenjule hat mir schon anvertraut, die Lederschen führen morgen wieder nach Berlin, es wäre ihnen hier jetzt zu langweilig. Da wird er sich wohl besinnen.«

»Es ist also doch gekommen. Zu erwarten war es ja, wenn die Frau nicht im Ausland blieb. Daß sie so lange in Rostock saß, gab mir längst zu denken. Und nun muß der Junge durch. Es ist eine böse Krise, aber ich hoffe, das Brodersensche Blut steht ihm bei.«

»Im Augenblick sieht es sich übel an. Er sumpft herum, und hat er kein Geld, so läßt er anschreiben. Hier im Ort hat er natürlich überall Kredit. Das Schlimmste aber ist, daß er jetzt mit Mädels herumläuft, die unseres Vaters Sohn wirklich nicht kennen sollte. Am hellen Tag rennt er mit ihnen am Strom lang oder nimmt sie mit zum Tanz. Das bringt uns alle in Mißkredit.«

»Warum nimmst du ihn nicht mal vor?«

»Hab' ich ja getan, bester Mann. Er sieht mich dann mit solchem höhnischen Seitenblick an und sagt: ›Du hast es gerade dazu, mir die Leviten zu lesen.‹ – Er hat nämlich das Bild mit der Nina zwischen den alten Weiden gesehen. Das vergibt er mir nicht. – Und dabei soll er in diesen Tagen die Prüfungsflüge machen. Gestern sah ich Nix – na, Liebesnamen waren es nicht, mit denen er unsern Herrn Bruder beehrte.«

»Schaff' ihn mir mal her.«

»Wo soll ich ihn fassen? Der ist überall und nirgends. Rein verbummelt. Morgens auf dem Platz, mittags irgendwo in einem Restaurant, nachmittags und abends beim Tanz. Soll ich alle Hotels und Dielen nach ihm durchsuchen?«

»Wenn mir das Gehen jetzt nicht so sauer würde –«

»Ja, du armer Kerl, du siehst gar nicht gut aus. Ist es wieder der gemeine Kopfschmerz, der dich quält? Fahr doch mal nach Berlin und red' mit einem Spezialisten. Vielleicht läßt sich doch mit 'ner Operation was machen. Meinst nicht? – Ja, du mußt es ja wissen. Na, wenn ich den Bengel zu fassen krieg', jag' ich ihn dir her. Aber nimm ihn stramm. Jetzt geht's nicht mehr anders.« Er machte sich auf den Rückweg, voll von Sorge um den großen und den kleinen Bruder. Die Sorge um Heino war die größere, der sah wirklich aus wie einer, dem nachts Geister erscheinen. Ganz seltsame Augen hatte er bekommen. Und in den Zügen etwas so Durchleuchtendes, so Wunderliches – »Verklärt«, schoß es ihm durch den Sinn. Fertig mit aller Not des Lebens, hoch über ihr stehend, und wenn sie ihn auch noch mit allen Krallen gepackt hielt.

Heino ging hinaus vor das Haus und sah über Sand und See. Apenjule wirkte am Hang der Düne, zog eine Hecke von Stranddorn und schimpfte vor sich hin über all das Papier, das die Badegäste am Strande verstreuten und der Wind über Garten und Wald hetzte.

»Ach, Jule, ich geh' noch mal ein bißchen am Strand lang. Wenn Peter kommt, soll er warten. Ich hätt' ihn gern hier zum Abendessen.«

»Peter? Der is vorhin in'n Wald gegangen. Gleich hier die erste Schneise. Der kann nich weit sein. Er hatte eine bei sich mit son hohen Hacken, die nich laufen mögen.«

Da ging Heino die Schneise hin und sah schon bald dort, wo die letzten hohen Kiefern um eine farnumwucherte Sandkuhle standen, einen japanischen Sonnenschirm leuchten. Und dann, als er noch zehn Schritte getan hatte, schoß ihm das Blut jäh ins Gesicht.

Die betreffende Dame saß auf einer Baumwurzel, Peters Kopf lag in ihrem Schoß, und sie amüsierte sich damit, ihm eine Ponyfrisur mit einem Taschenkamm zu machen. Dabei haschte er nach ihrer Hand und biß sie in die Finger, was mit leisem Kreischen quittiert wurde. Plötzlich sah er Heino zwischen den Stämmen am anderen Rand der Kuhle. Wie ein zorniger Geist stand er da, den großen Jungen scharf fixierend.

Peter kam unsicher in die Höhe. Der große Bruder war doch zu sehr Respektsperson. Und dem konnte er nicht wie Jon eigene Sünden vorwerfen.

»Steh auf«, murrte er dem Frauenzimmer zu. »Ich muß jetzt gehen. Geh allein nach Warnemünde zurück.«

Sie tat gehorsam, was ihr befohlen wurde. Sie gehörte zu denen, auf die niemand mehr Rücksicht nimmt.

Peter kam hin zum Bruder, sah ihm unsicher und doch trotzig in das Gesicht und fragte: »Ist das Zufall? Oder hast du auf Jons Befehl nachspioniert?«

»Komm mit mir. Wir gehen in den Wald. Da hört es niemand, was ich dir zu sagen hab'.«

»Gott, ist das so wichtig und geheimnisvoll?«

Aber er ging hinter Heino her, einen schmalen Wiesenpfad hin, und als sie tief drinnen waren in der grünen Wildnis, an einer Stelle, wo nur die Buchenkronen rauschten und lauschten, wandte sich Heino um.

»Es hat dich bös geworfen, mein Junge. Wie kann ein Brodersen sich mit dieser Person abgeben? Meinst du, ich weiß nicht, wie sie genannt wird im Ort? Der Nachtschatten. Der Name allein hätte dich vor ihr bewahren sollen.«

Peter steckte die Hände in die Taschen und schwieg verbockt.

»Ich wollte, ich hätte eher gesprochen. Es muß dich zu unvermutet getroffen haben.«

»Das stimmt. Ich hab' nicht gedacht, daß sich Tante Lite und meine Brüder zu einem Betrug hergeben könnten. Daß der Vater nicht davon reden wollte – das kann ja jeder begreifen. Aber seit drei Jahren ist er tot, und ich war alt genug, die Wahrheit von euch zu bekommen.«

»Er nahm uns auf dem Totenbett das Versprechen ab, dich nicht aus allen Himmeln zu reißen. – Du warst in seinem Leben das Beste und Hellste, Pet. Wir anderen drei – er war uns immer ein guter, liebevoller Vater, aber du allein warst ihm von der Frau geboren worden, die er geliebt hatte, wenn er nachher auch behauptete, sie nicht mehr zu kennen. Du warst sein Benjamin. In dir sah er alles, was er selber sich vom Leben erhofft hatte: Freudigkeit, Lachen, Sonne, Reinheit – Er wollte, daß dir aller Schmutz fernbleiben sollte.«

»Dafür steck' ich jetzt um so tiefer drin. Die Frau da in Rostock – und Nina –«

»Peter, kam dir denn nie der Gedanke, was für ein kleiner, leichter Vogel Nina war?«

»Ich war zu dumm. Ich glaubte ihr, daß sie sich nur äußerlich so gebe, weil es ihr Spaß machte, alle Männer zappeln zu lassen und sich um so fester mit mir verbunden zu fühlen. – Ihr habt ja dafür gesorgt, daß ich mit meiner Dummheit die Frauen ganz anders sah, als sie sind. Nun weiß ich, wie wenig sie taugen. Meinst du, daß ein großer Unterschied ist zwischen dem Nachtschatten und – und –«, er suchte nach einem Namen.

»Zum Beispiel Else?« fragte Heino dagegen. »Willst du die in einem Namen nennen, die zwei?«

Peter schwieg.

»Siehst du. Du weißt ganz genau, daß es da keinen Vergleich gibt.«

»Na ja, Else ist eine Ausnahme.«

»Gott sei Dank, sie ist keine. Es gibt noch viele gesunde Frauen und Mädchen, gesund an Körper und Geist. Sie laufen dir nur nicht auf der Straße nach und werfen sich dir nicht an den Hals.«

»Gesund – gewiß. Aber dann haben sie kein Temperament. Oder sie sind häßlich. Oder spießig. Oder – Ach, es ist ja ganz gleich. Mir ist alles zum Ekel, alles.«

»Und dein Beruf, Peter?«

»Mein Beruf! Na, was weiter? Meinst, die Flieger leben wie die Heiligen? Die schon gar nicht. Da sind genug drunter, die alles nehmen, was ihnen über den Weg läuft. Soll man doch! – Wie lange hat unsereiner denn vielleicht? Laß uns doch leben, wie wir mögen.«

»Peter, du magst es im Grunde gar nicht. Aber weil dir ein Phantasiebild zerschlagen ist, wirfst du gleich alles über den Haufen.«

»Phantasiebild! Daß ich nicht lach' – Und wenn – Mich hat es über Wasser gehalten, dies Phantasiebild, das mir vorschwebte. Wie ein ganz kleiner, dummer Junge hab' ich oft gemeint, wenn ich einschlief: Nun ist meine Mutter bei mir und wacht über mich. – Wenn das die anderen wüßten, sie lachten schön über mich. Und nun alles in Scherben.« Er schluckte, ließ aber das Weinen, das ihm seit Tagen in der Kehle saß, nicht heraus. »Weißt du vielleicht, was mich härter treffen könnte als dies? Siehst du, du weißt es auch nicht. Also dann laß die billigen Reden von Phantasie und dergleichen. Mir waren diese Phantasien verdammt lebendig.«

Es war lange still zwischen den Brüdern. Peter hatte sich ins Waldmoos geworfen, seine Schultern zuckten, aber er krampfte die Fäuste und würgte seine Not in sich hinein. Heino lehnte an einer Buche, sah zwischen den Stämmen hindurch in die tiefe, grüne Waldeinsamkeit und ließ seine Seele voll werden von ihrem ewigen Frieden.

Als er endlich wieder zu sprechen begann, war ein fremder Ton in seiner Stimme, ein großer, starker Klang, der machte, daß Peter sich aufrichtete und ihn ansah.

»Du mußt drüber fortkommen, mein Junge. Wir haben an dir gefehlt, ich will die ganze Schuld auf mich nehmen, ich war der Älteste, ich hatte oft eine Ahnung, es könnte schlimm werden. Aber du warst uns allen die Verkörperung unserer Jugend, wie sie früher gewesen, so voll Glauben und Zuversicht. Wir hatten nicht den Mut, dir deine Illusion zu zerstören; wir hatten noch weniger den Mut, uns selber deine unverdorbene Gläubigkeit zu rauben.

Aber daran zugrunde gehen, das darfst du nicht. Und du bist auf dem besten Wege, wenn du so den Weibern und dem Wein in die Arme fällst. Eine einzige böse Stunde kann dich für immer verderben. Dich kann nur eins retten, mein Junge – ein wirkliches, schweres Leid.«

»Du redest!«

»Und dies Leid, das dich treffen wird, ist auf dem Weg zu dir, viel näher, als du ahnst. Es kann schon morgen kommen, es kann noch Tage, vielleicht noch ein paar Wochen warten – obgleich ich das nicht glaube. Kommen tut es. Und durchhalten mußt du es. Tust du das nicht, bist du nicht der, für den ich dich immer genommen hab'.«

»Na, da wäre ich doch –« ›neugierig‹ konnte er nicht herausbringen. Ein so schwerer Ernst stand in den Zügen des Bruders, ihm kam das höhnische Wort nicht über die Lippen.

»Du hast mich doch lieb, Pet. Bitte, das soll keine Frage sein, und du brauchst mir nichts zu versichern. Ich weiß, du hast mich lieb. So etwas ist ja nie zwischen uns Brüdern beredet worden, so etwas fühlt sich ohne Worte.

Ich gehe von dir, mein Junge.«

»Du gehst fort? Wieso? Willst du ins Ausland? Oder was soll das?«

Nur Heinos Augen antworteten. Und Peter verstand die Antwort. Ganz starr wurden seine Züge. Sein Mund bewegte sich, er brachte kein Wort heraus. Langsam kam er in die Höhe, kam heran an den Bruder, stand vor ihm, ganz hart vor ihm, fragte tonlos: »Du – du willst von uns gehen?«

»Ich will nicht, mein Junge. Ich muß. Ich wäre gern gegangen ohne viele Worte. Aber es hätte dich in deiner jetzigen Stimmung zu unvermutet getroffen. Du mußt erst wieder fest auf den Füßen stehen.«

»Warum? Um Gotteswillen, warum?«

»Ich bin sehr krank, Peter. Der Kopf will nicht mehr. Die Gedanken sind oft ganz wirr, ich muß sie zwingen, daß sie nicht in die Irre laufen.«

»Heino! Lieber Gott, Heino! Geh doch zu einem großen Arzt. Geh' nach Berlin oder Hamburg, wenn die Rostocker es nicht verstehen.«

»Ich bin dort gewesen. Ich weiß Bescheid. Die Ohnmachten kommen nicht mehr. Das Gehirn kommt nicht zur Ruhe, Schlaf kommt nur noch durch die allerschärfsten Mittel, und dann nur für ganz kurze Viertelstunden. Das kranke Gehirn muß früher oder später versagen. Es darf aber nicht eher versagen, eh' ich nicht weiß, daß ich meine Pflicht an dir erfüllt hab'. Ich hab' dich übernommen wie mein Kind, ich bin ja auch soviel älter als du. Und du sollst mir nicht vor die Hunde gehen. Peter, sieh mich nicht so verzweifelt an. Reiß dich zusammen. Wir wollen uns setzen, ich bin schon wieder so todmüde.«

»Ich geb' dich nicht her! Ich geb' dich nicht her! – Nein, nein, nein, das kann das Schicksal nicht wollen. Das ist schlimmer, das ist viel schlimmer als all das andere.«

»Ich weiß, es ist schlimmer für dich. Es reißt dir ein wirkliches Stück Liebe und Sicherheit aus deinem Leben. Aber du sollst nicht daran verzagen, du sollst daran reifen.«

»Und das sagst du alles so – so – Hast du denn kein Grauen vor dem Tod, Heino? Das Leben ist doch so schön. Wie du ruhig bist. Es ist sicher nicht wahr.«

»Ich habe lange Zeit gehabt, mich zur Ruhe zu bringen. Das Leben, das ich seit sieben Jahren führe, ist ja nur ein Warten auf diese letzten Tage gewesen. Du, Kind, was hast du geahnt, was das für mich gewesen ist. Nie eine Stunde vergessen zu dürfen, daß ich ein kranker Mensch war. Immer zurückstehen, wenn die Freude lockte. Nie an Liebe denken dürfen. Nicht einen Tag einmal ausgelassen froh und frei sein dürfen. Aber, mein Junge, ich wollte durchhalten. Du warst angewiesen auf mich. Ich hatte es Vater versprochen, für dich zu sorgen in jeder Hinsicht. Hab ich es getan, Pet?«

Nur die Hand des Bruders faßte der junge Mensch und preßte sie in der seinen.

»Siehst du, und nun – wo ich dachte, ich hätte ausgesorgt, wo ich die Mittel zusammen hab, daß du deinen Beruf durchführen kannst, wo ich denke: Der Bengel, das ist ein feiner Kerl geworden, der geht für seine Arbeit durch dick und dünn, und geht mal ebenso für sein Land und Volk in jede Not und Gefahr hinaus, – jetzt, wo ich denk', ich kann der dunklen Stunde ruhig entgegengehen, jetzt wirfst du mir alles vor die Füße. Und dich wirfst du in den Dreck.«

»Nein, Heino, nein! Geh nicht von uns, tu mir das doch nicht an. Ich will mich ganz gewiß zusammenreißen. Das ist schon mit einemmal wie ganz fern und dunkel. Das soll mich nicht unterkriegen. Ich komm' wieder hoch. Es gibt doch noch feine Menschen. Solche wie du! – Ich will dir ähnlich werden. Ich will mich nicht unter die Räder kriegen lassen. Nie wieder, nach diesem nie wieder. Aber geh nicht fort, geh nicht fort!«

Was er doch noch für ein Kind ist, dachte der Mann, strich dem Aufgeregten über das Haar und konnte lächeln. »Ich bleibe gewiß, solange es mir gesetzt ist. Und bis dahin wirst du ein energischer Mensch sein und mir beweisen, daß Verlaß auf dich ist. Daß du dich nicht von jedem Wind werfen läßt. Wie kannst du im Sturm dein Flugzeug steuern, wenn du dich selbst nicht in der Gewalt hast?«

»Ich will diese Stunde immer in mir tragen, Heino. Dann kann mich nichts mehr unterkriegen.« Jetzt legte er mit einem harten Aufweinen den Kopf an die Schulter des andern, und es rüttelte und schüttelte ihn durch und durch. Heino Brodersen saß ganz still. Er fühlte im Kopf das Kreisen und Schwanken, das jetzt fast in jeder Stunde kam, sah dunkle Schatten vor den Augen, wußte, irgendwo ganz in seiner Nähe stand der dunkle Engel, der ihn in ein fremdes Reich führen wollte, aber dabei strich seine Hand immer noch sanft und gütig über das heiße, junge Gesicht, bis Peter sich zur Ruhe zwang, die letzte Träne hastig fortschleuderte, in knabenhafter Scham vor dem eigenen Gefühlsausbruch, und leise bat: »Sag mir doch wenigstens ein gutes Wort, Heino. Daß du mich nicht ganz verachtest, weil du mich mit der – der – du weißt schon, getroffen hast.«

»Pet, was redest du! Ich wäre der letzte, dich zu verachten. Ich habe selbst durch viele dunkle Stunden gehen müssen, ich hab selbst manches Mal gewünscht, mich hinzuwerfen und allen Kampf aufzugeben. Und ich war so viel älter als du.« Er stand auf. Langsam wich der Schwindel, aber es war nicht nur eine liebevolle Form, als er sich auf den Arm des Bruders stützte. Ihm wurde der Heimweg wirklich schwer.

»So,« sagte er, als sie an der Klause standen, die, ganz von rotem Herbstlaub übersponnen, wie ein Märchen droben auf ihrer Dünenhöhe lag, »jetzt geh zurück nach Warnemünde und bleib die Nacht dort. Und sei morgen zur rechten Zeit auf dem Platz. Jon sagt, du sollst die Prüfungsflüge machen. Freut es dich nicht?«

»Wenn das Wetter danach ist, mach ich morgen meinen Höhenflug. Mindestens zweitausend Meter und eine Stunde oben bleiben. Dann 'runter im Gleitflug mit Ziellandung auf dem ausgelegten Kreuz. – Ich will dafür sorgen, daß ich dir Ehre mach', Heino.«

Sie schüttelten sich die Hände. »Auf Wiedersehen, Pet. Alles Gute für morgen.« Und wie der Jüngere gegangen war und vom Wegrand her noch einmal winkte, wiederholte Heino für sich: »Alles Gute, du mein heller Junge, für morgen und für immer.«

Apenjule kam heran, sagte nur kurz: »Sie sind wieder viel zu weit gegangen, Herr. Jetzt pack' ich Ihnen aber erst mal aufs Bett« und wunderte sich, wie widerstandslos sein Herr das geschehen ließ.

*

Leuchtender Herbstmorgen.

Die Luft ist herbe, aber von wunderbarer Reinheit. Nur wenige zarte Federwolken ziehen schimmernde Streifchen über den Himmel. In allen Spinnennetzen funkeln graue Tauperlen. Der Waldsaum hat sich ein purpurnes Königskleid angezogen, damit will er zum letzten Reigen gehen. Der Sturm wird kommen, bald genug, und ihn wiegen. Weiße Sommerfäden fliegen durch die Luft. Wie Peter Brodersen zum Flugplatz geht, heftet sich solch kleiner Glücksbringer an seinen Arm. Sorgfältig löst er ihn und birgt ihn in der Brusttasche seiner Lederjacke. Flieger und Seeleute haben ihren Aberglauben. Seine Augen suchen über Land und Himmel hin, alles günstige Zeichen. Seine Brust dehnt sich.

Trotz des Bitteren, Drohenden, was er am Tag vorher erfahren hat, hat er die Nacht zum erstenmal wieder ganz tief und ruhig geschlafen. Der schwere Ernst in der Mitteilung des Bruders hat das Widerwärtige, Niedrige ausgelöscht.

Nun geht er dem Prüfungsflug entgegen. –

Heino hat eine schlimme Nacht hinter sich. Einmal kam der Schlaf, aber mit dem Schlaf kamen würgende Angstträume, und als er mühsam erwachte, waren alle Glieder lahm, das Blut dröhnte wie lauter Glockenschlag in den Ohren, und die Schädeldecke schmerzte, als wollte sie springen. Seine Zähne preßten sich im Krampf, er stöhnte vor Qual. Apenjules altes, faltiges Gesicht tauchte auf im Schein einer Taschenlampe. »Ich will mal 'n nassen Umschlag machen, Herr.«

Aber die Umschläge halfen wenig, würgender Schmerz hielt an bis zum Morgen, da erst fiel der Leidende in einen kurzen, aber tiefen Schlaf. Dann wachte er auf wie erlöst. Der Schmerz pochte nur noch leise, wie mahnend im Hinterkopf, die Glieder waren noch schwer, aber er konnte sie bewegen, und nach einem kurzen Besinnen stand er auf, kleidete sich an, langsam genug, ging vor das Haus.

Wie war die Welt schön! Barmherzig sandte ihm das Schicksal noch ein paar goldene Herbsttage, daß er sich freuen konnte an dem Zauber dieses Erdenwinkels. Er war dankbar dafür.

Apenjule kam und fragte, ob er nicht den Herrn Geheimrat holen sollte. Herr Heino sehe gar zu elend aus. Aber Heino lehnte ab. Er war so weit, daß ihm das Alleinsein keine Qual bedeutete, sondern Frieden. Und er wußte, wenn er jetzt ging, würde er auch im Hause der Verwandten keine unausfüllbare Lücke zurücklassen. Adolf hatte geschrieben und von seinen Hoffnungen gesprochen. Für einen Augenblick hatte es weh getan, er war doch noch nicht so ganz fertig gewesen mit dem eigenen Leben. Jetzt war er froh, daß es so kam. Die zwei tüchtigen, klaren Menschen würden ihren geraden Weg gehen. Ein bißchen nüchtern vielleicht, aber sind es nicht oft die Nüchternsten, Pflichtgetreuen, Klaren, die Segen zu anderen tragen? Er hatte ihm einige herzliche Worte geschrieben, die waren für Else mitbestimmt.

Nun war auch das in der Reihe. Er konnte und durfte wohl jetzt gehen. Denn der Junge – – heute würde er wohl aufsteigen, das Wetter war ja wie geschaffen zum Höhenflug.

In seine Gedanken hinein dröhnte das Knattern eines Motors, über dem Platz stieg die rote B. 3 mit den grauen Tragflächen in die Höhe, stieg schnell und sieghaft gegen den Himmel empor, ging in einer weiten Kurve hin über den Ort, wandte, kam auf den Waldsaum zu, war jetzt gerade über ihm und ließ den Propeller wirbeln wie einen Silberstreifen.

Höher und höher schraubte sie sich hinein in das blaue Gewölbe. Der Mann schaute ihr nach, lag im Gras und Sand der Düne und sah empor, bis alles vor seinen Augen flirrte und flammte.

Steig auf, kleiner Bruder! Steig sieghaft auf zum Licht! Bade dich rein in der heiligen Himmelsluft! Laß allen Staub und Brodem der Erde hinter dir, geh in deinen Beruf wie in ein tägliches reines Bad für Leib und Seele!

Da sah er sich selber, wie auch er einmal aufstieg vor Jahren. Fühlte das Schweben, sah den Himmel sich näher kommen und immer näher, verlor alle Schwere in Leib und Gliedern, vergaß allen Schmerz, glitt hinein in lauter Licht, vernahm noch einmal das Dröhnen der Maschine wie eine große, herrliche Musik –

Da hatte ihm der dunkle Herrscher leise die Hand auf das Herz gelegt – legte sie ihm auf die Augen – die schlossen sich – –

Und über der Welt lag heiliger Frieden.

*

Hoch droben im Blau kreiste die Maschine, Peter hatte die Hand am Steuerknüppel, die Blicke bald auf den Instrumenten, bald in die strahlende Ferne hinaus.

Nun war er auf 1500 Metern, nun auf 2000, nun noch 400 – wie klein die Welt wurde! Wälder waren grüne Flecken, der Strom ein schmales Silberband, die Orte kleines Spielzeug. Und er selbst, wenn die von unten aufschauten, er war nicht mehr als ein Vogel im Blau. Alles war klein, wenn man es fernher sah, alles war gering, wenn man sich darüber emporhob.

Seine junge Lebenslust und Lebenskraft breitete wieder die Schwingen. Er sah Nina in dieser Stunde nur wie einen allerliebsten Falter, der keinen Honig sammeln kann, der nur hin und wieder flattert, bis ihn ein Unwetter irgendwo in den Staub wirft. Und die Frau, die sich seine Mutter nannte – was war sie anderes? – Sie lebte nach ihrer Art, sie konnte wohl nicht anders. Spürte er nicht bisweilen in sich selber einen Tropfen ihres Bluts?

Er wollte ihn unter dem Fuß halten. Er wollte sich selber an die Kandare nehmen. Er wollte sein Leben steuern, sieghaft zur Höhe wie das Flugzeug.

Und Heino! – Er konnte nicht glauben, was er gehört. Unmöglich war es, ganz unmöglich. Wie kann ein Zwanzigjähriger an den Tod glauben, wenn das Leben in seinem herrlichsten Kleide neben ihm steht. Ganz gewiß irrten sich die Professoren. Ganz gewiß würde die Liebe und Fürsorge der Brüder ihm helfen. Es war eigentlich unerhört, wie wenig sich alle um ihn gekümmert hatten, immer nur von ihm genommen und genommen. Aber nun sollte es anders werden. Noch nie war er so hoch emporgestiegen, noch nie war er so lange so ganz allein in dieser ungeheuren Einsamkeit gewesen. Kein Ton der Welt drang hier herauf. Nur der Motor sang sein ehernes Lied.

Arbeit! Kraft! Freude! Sieg! –

Weit dehnte sich Peters Herz. Tief unten ein kleiner, grüner Punkt der Platz, eine winzige, weiße Blume darauf: das Landekreuz. Da stellte er den Motor ab und ging in langem Gleitflug nieder zum Ziel.

*


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