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Dreizehntes Kapitel.
Drei Schwestern zusammen

Ja, der Duvenhof hatte ein andres Kleid angelegt als das weißsilberne, das ihm so gut gestanden. Es rieselte von allen Dächern, es patschte vor allen Fenstern, es heulte in den Schornsteinen, der ganze Hof war voll Nässe und Schmutz. Wohin die Füße traten, da sanken sie bis an die Knöchel ein, und wenn man die Haustür öffnete, drang eine ganze Wolke von nassem Dunst in den Flur.

Ovedine focht es wenig an. Sie nannte das ihr »Einsperrwetter«. Wenn Einsperrwetter war, verzog sie sich ganz in die große Eßstube, nahm die Geige in den Arm und vergaß bei dem Singen der Saiten Dunkelheit, Kälte und Unbehagen.

Hansine aber mußte alle Tage an die frische Luft. Das war ihrer tatkräftigen Natur so nötig wie das tägliche Brot. Als sie nun morgens erwachte, das Tropfen und Rieseln vernahm und es gar nicht hell werden wollte hinter den Vorhängen, packte sie der Zorn. »Nun fährt man nach Hause, und dann kommt das so! Schmutzwetter kann man auch in Hamburg haben, mehr als genug. Dies ist geradezu eine Tücke des Schicksals. Was lachst du da in deinem Bett, Dina?«

»Ärger ist gesund, Hans. Dieser Regen wird dir gut bekommen.«

Aber Hansine brummte. Ihre dicken, krausen Haare, die wie Goldbronze funkelten, wenn das Licht über ihnen spielte, waren nach Art echter Kraushaare an diesem Morgen gar nicht zu kämmen; sie wirrten sich um den Kamm. Hansine riß und zerrte, und als sie fertig war, murrte sie: »So viel Haar hab' ich mir ausgerissen; man könnte ein Roßhaarkissen damit stopfen. Kommt alles von dem abscheulichen Wetter. Kommst du nachher mit nach Brarup, Dine?«

»Für kein Geld. Man kommt ja wie eine gebadete Katze zurück!«

»Dann geh' ich allein. Irgendwo müssen noch meine alten Schaftstiefel stehen.«

»Willst du in denen gehen?«

»Selbstredend. Luft muß ich haben, und in Hamburg hab' ich nachher viel zu wenig.«

So zog Hansine Möwke nach dem Kaffeetrinken die hohen Schaftstiefel an, die ihr der Vater vor drei Jahren von Schuster Pägelow auf ihren dringenden Wunsch hatte machen lassen. Einen kurzen blauen Rock trug sie dazu, unter dem Rock dicke blaue Reformbeinkleider und über der weißen Wollbluse einen alten Wettermantel. Auf dem Kopf saß die Sealmütze, die mit Recht singen konnte: »Hab' manchen Sturm erlebt«. So ging das Kind des Duvenhofes hinaus in das Wetter.

Als es zurückkam, waren die Haare noch einmal so kraus, von Mantel und Mütze tropfte es herab, die Stiefel sahen aus, als hätte der schwere Kleiboden sie festzuhalten versucht, aber die Augen waren blank und lachten in den Tag.

»Na, das sieht ja nett aus auf den Feldern! Alles Wasser, Wasser, Wasser. Der Kanal hat gar keine Ufer mehr. Soweit man blicken kann, ist er auf die Wiesen übergegangen. Der Bahndamm sieht nur noch einen Fuß hoch aus der Flut heraus. Das wird ein fruchtbares Jahr werden. Solche Schneeschmelze schon um Weihnachten! – Du, Dina, wir müssen bald fahren. Wenn der Westwind bleibt, kann das Wasser über die Schienen gehen, und der Zugverkehr hört auf.«

»Wird schon nicht.« Ovedine regte sich nicht leicht auf. »Schlimmstenfalles fahren wir wieder von Lilebüll mit der ›Nikoline‹. Harms und Teten sagten, sie seien gestern schon wieder dagewesen. Sauerbier habe seinen Hexenschuß endlich erledigt.«

»Fahr du mit der ›Nikoline‹! Ich hab' vom letztenmal noch genug.«

»Aber der nette Herr, Hans!«

»Der nette Herr will uns hier unsre besten Schätze fortkaufen. Für solche Leute habe ich gar keine Sympathie.«

Es wehte noch drei Tage aus Westen, und wenn auch bei jeder Ebbe die schweren Schleusentore sich öffneten und das strömende Wasser aus den Gräben und Kanälen brausend hinausschoß in die See, und wenn es auch keinen Sturm gab, der den Deich bedrohte, es blieb immer noch zuviel Nässe im Lande zurück, und die dicken Wolken, die unaufhörlich über die See heranrückten, schickten so viele platschende Güsse nieder, daß alles Ebbwasser nicht genügte, das Land zu entlasten.

Zoll für Zoll stieg das Wasser auf den Wiesen, und eines Abends hieß es: »Wenn ihr morgen nicht fahrt, müßt ihr vielleicht noch lange bleiben. Es kommt eine Abordnung, um den Bahndamm zu untersuchen. Ist er unterwaschen, so wird der Zugverkehr umgeleitet. Dann muß man drei Stunden fahren, um Anschluß zu erhalten.«

Drei Stunden bei solchen Wegen – wer mutet das seinen Pferden zu!

Da packten die beiden Duvenhofmädchen ihre Siebensachen, und am andern Mittag saßen Günter und Sina Möwke wieder allein auf ihrem großen Hof, und es war sehr leer in den Stuben. Sie tranken nachmittags ihren Kaffee, ohne zu reden; jeder lauschte noch nach den jungen Stimmen, die zwischen diesen Wänden erklungen waren. Zuletzt sagte der Mann: »Dazu hat man die Kinder, daß sie hinausgehen und fremden Menschen ihr junges Leben bringen. Ich wünsche auch von Herzen, uns würde noch einmal ein Kind beschert. Dies sind die drei Kinder unsrer Jugend; wenn wir doch auch noch ein Kind für unser Alter hätten!«

»Ach du alter Mann! Wenn man dich reden hört! Als du bei ihnen in Hamburg warst, haben nachher Mitschülerinnen Hansine gefragt: ›Der Herr, mit dem Sie im Theater waren, war das Ihr Bruder oder Ihr Verlobter?‹ Als Vater hat dich niemand nehmen wollen.« –

Inzwischen fuhren Hansine und Dina Hamburg entgegen, sahen auf dem Bahnhof nach Engel aus, fanden sie aber natürlich nicht. »Schwestern kommen ja nie, wenn man denkt, sie kommen,« bemerkte Dina. Dann fuhren sie zu Frau Sagebiel, die ein Pensionat für junge Damen hielt, und als Engel gegen neun Uhr noch auf einen Augenblick zu ihnen in die Kirchstraße kam, war Dina bereits beim eifrigen Geigenüben. »Ich hab' doch gleich morgen früh Unterricht, Engel!«

Hansine aber saß vor dem Zeichenbrett und mühte sich, eine gewirkte Borte zu entwerfen. »Weißt du, Engel, das geht alles. Aber der Faltenwurf! Ich weiß nicht, da ist ein Loch in meinem Verstand oder in meinen Fingern; der Faltenwurf, der will nie. Und bei den modernen Kleidern sind die Linien doch alles. ›Akt zeichnen!‹ sagt der Professor. Ich kann keinen Akt zeichnen. Ach, setz dich doch mal da gegen die Tapete! Zieh deine Bluse aus und leg den Arm über deinen Kopf gegen die Wand! Schulter und Arm, wir haben sie vor dem Fest zum Krankwerden geübt, und mir sitzt es noch nicht.«

»Ich denk' ja gar nicht daran!« sagte Engel gelassen. »Ich hab' mich so müde geschuftet heute, daß ich froh bin, wenn ich keine Hand mehr zu heben brauche. Mach uns lieber eine Tasse Tee! Mich friert. Bei meinen Säuglingen gewöhnt man sich an solch ungewöhnliche Temperaturverhältnisse; ich friere immer, wenn ich da herauskomme.« Sie setzte sich in die Ofenecke, und Hansine ging nach einigem Murren und bereitete Tee. Sie fand in dem Handkoffer noch Duvenhofer Gebäck, deckte eine bunte Decke über den kleinen Tisch in der Mitte der Stube und rief: »So, nun also heran!«

»Ach, Hans, ich mag wirklich nicht mehr aufstehen! Gib mir doch 'ne Tasse hier in den Ofenwinkel!«

»Sag' ich es nicht! Du wirst alle Tag bequemer. Keks essen und Tee trinken und am Ofen sitzen und nichts tun! Wir sind in all dem Unwetter durch das Land gefahren. Schön war anders; sie hatten so schlecht geheizt im Zug! Alle Augenblicke krochen wir wie die Schnecken, weil sie dem Bahndamm nicht mehr trauten. Und wenn man hinausblickte und die Elbe so gelb und angeschwollen wie einen ungeheuren Drachen durch das Land gehen sah, und die schwarzen Wolkenmassen …«

»Hans, Pathos steht dir nicht. Gib mir meinen Tee und einen braunen Kuchen! Kannst mir glauben, ich hab' keinen leichten Tag hinter mir. Heute morgen kamen sechs Aufnahmen. Drei waren Säuglinge unter drei Monaten, wahre Jammerwesen. Das eine starb schon nach zwei Stunden. Und ein kleiner Junge starb heute mittag. Das war ein Jammer! Wir hatten den Jungen schon acht Tage. Denk' dir, die Eltern hatten neun Jahre ohne Kinder gelebt, da kam er. Die Freude! Der Vater ist Buchbinder; sie leben in guten Verhältnissen. Und nun bekommt das Kind mit sieben Monaten Lungenentzündung. Es sah gleich böse aus, als er zu uns kam. Das kleine Herz konnte nicht durchhalten. Ich mag gar nicht dran denken, wie es war, als die Eltern kamen. Doktor Olbrich hatte ihnen telephoniert. Was hat er nicht noch alles angegeben! Kochsalz und Kampfer und Wein, aber es half alles nichts. Ach, Kinder, wie ohnmächtig stehen wir oft da!«

Hansine trat neben Engel und strich ihr liebevoll über das Haar.

»Ja, und die kleine Scholle, die macht es auch nicht mehr lange. Wir dachten, sie sei ganz lebensfähig geworden, aber heute morgen mochte sie nicht trinken, mochte gar nicht mehr Lärm machen, liegt so weg. Doktor Olbrich scheint es sich gedacht zu haben, daß da im Gehirn etwas nicht in Ordnung ist. Ich meine, das wußten wir ja, daß sie geistig schwach war, aber es muß wohl noch etwas sein, sonst wäre sie nicht so verändert.«

»Du, Engel, wenn sie doch aber solch kleines Jammerding war, ist es so das beste für sie.«

»Ja, Dina, das ist es. Das hab' ich selber oft gedacht. Und nun es kommt – sie hat mir in den letzten Wochen das Leben oft bitter sauer gemacht –, nun wünsch' ich nur, ich wäre viel liebevoller und geduldiger gewesen. Zuerst schien sie gar keinen Unterschied zu machen, ob man sie schalt oder gut mit ihr sprach, aber in den letzten Tagen war es wie ein Schein von Verständnis auf dem Gesicht. Wenn ich kam, hielt sie mir die Hand hin, und ich mußte sie streicheln.« Engel schluckte kurz. »Schwester Anna sagte neulich: ›Auch in solchem elenden Körper ist die unsterbliche Seele, aber sie ist wie ein Gefangener im Kerker.‹ Ich spürte es in den letzten Tagen, daß sie da ist, wenn sie sich auch nicht selber kennt.«

»Dein Herz ist zu weich für deinen Beruf, Engel. Wenn das nicht anders wird, wirst du immer mitleiden müssen.«

»Ich hoffe, daß es nicht anders wird, mein alter Hans. Ich weiß, meine Kranken haben mich lieb, nicht nur die Kinder, auch die alten Frauen, bei denen ich vorher war, und die Augenkranken – ja, bei denen war es eigentlich am traurigsten. Was ich da sah!« Sie riß sich zusammen. – »So, nun erzählt von Zuhause! Wie geht es den Eltern? Hat Cervantes« – das war ein höchst genialer Kater – »sich endlich mit Rike befreundet?«

Rike war eine junge Schaferhündin.

»Ach bewahre, der befreundet sich doch nicht mit einem Hund, und wenn der Hund noch so preisgekrönt ist! Der ist viel zu sehr Aristokrat. Er verachtet Rike völlig. Kommt sie ihm zu nahe, hebt er nur die Pfote und faucht verächtlich. Cervantes hat Charakter. Hunde sind für ihn Plebejer; er will nichts mit ihnen zu tun haben.«

Sie versuchten alle, sich mit den heimatlichen Bildern über das Heimweh wegzureden, das in ihnen aufwachte, und so langsam wurden sie heiter. Als es zehn Uhr schlug, stand Engel auf und sagte: »Daß ich euch hier habe in Hamburg, das ist ein Segen. Sonst hielte ich es am Ende doch manchmal nicht aus. So, nun muß ich gehen.« Sie warf den Regenmantel über, setzte die Sturmkappe auf und gab den Schwestern einen Kuß. Das kam selten vor. Die Duvenhofkinder waren nicht sehr für weiche Gefühlsäußerungen; das entsprach nicht ihrer Art. Wenn es so zum Durchbruch kam, mußte schon das Herz ein bißchen stark aufgerührt sein.

»Leb' wohl, Engel! Halt den Kopf oben! Ostern machst du dein Examen, dann bekommst du es auch leichter. Auf Wiedersehen!« Sie sahen, über das Treppengeländer gebeugt, ihr nach, wie sie leichtfüßig hinunterlief. Nun fiel die Haustür in das Schloß.

»Wir haben das leichtere Teil erwählt,« sagte Dina nachdenklich. »Aber ob auch das bessere?«

»Jeder muß so verbraucht werden, wie die Natur ihn zurechtgeschnitten hat,« murmelte Hansine.

Dann kehrten sie in ihr Zimmer zurück, tranken den Rest des Tees und gingen schlafen.

Der Wind, der über das Land strich, ging nach Norden herum, trug Grüße vom Duvenhof in die Weltstadt und sang um das Haus. Aber sie verstanden ihn nicht.


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