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Gottfried Keller. Gemälde von Karl Stauffer-Bern

Gottfried Keller. (1886) Gemälde von Karl Stauffer-Bern
Kunsthaus Zürich
Bildquelle: de. wikipedia.org

Schweizer und Schwaben vor Gottfried Keller

Als sich vor vierzig Jahren am 19. Juli die Züricher Freunde und Verehrer Gottfried Kellers mit dem Dichter zur festlichen Begehung seines sechzigsten Geburtstages in der »Meise« zusammenfanden, da stand die Feier unter dem Zeichen froher, ungebundener Laune und echt Kellerschen Geistes. Es gab, wie Bächtold berichtet, zuerst ein leckeres Festessen, unter anderem Suppe von Schildkrot à la Kammacher, Rebhühnerpastete à la Strapinsky, Rehkeule à la Frau Zendelwald, Erdbeertörtchen (da die Himbeeren noch nicht reif waren) à la Madame Litumlei. »Der kleine Wald von Gläsern, aus welchem der Champagnerkelch wie eine Pappel emporragte«, fehlte auch nicht. Die Flaschenetiketten waren mit Kellerschen Liederstrophen bedruckt. Man hatte ausgemacht, alles Wortgepränge und feierliche Wesen zu vermeiden, so hielt nur der Älteste der Tafelrunde eine kurze Ansprache. Ein anderer der Festgenossen sang das »Jugendgedenken« in der Vertonung von Baumgartner:

»Ich will spiegeln mich in jenen Tagen,
Die wie Lindenwipfelwehn entflohn.«

Ein Freund Kellers sprach ein Gedicht, dann klingelte der Gefeierte ans Glas und »wand in einem originellen Dankspruch jedem der Reihe nach ein Sträußchen mit und ohne Dornen«. Seither wurde nie mehr ein Geburtstag Kellers so frohgemut und so ganz im Sinn des Dichters gefeiert. Auf den siebzigsten, der ihm die reichsten Ehrungen brachte, warf schon das nahende Ende seine dunklen Schatten voraus, und das Jahr 1919, in dem sich der Geburtstag des Meisters zum hundertstenmal jährt, trägt in weiten Gebieten, wo man den Dichter ehrt und liebt, keinerlei Vorbedingungen in sich für frohe Feierstimmung und Festlaune. Aber am Ende ist die beste Art Keller zu ehren eine dankbare Vertiefung in seine Dichtungen und die anderen Urkunden seines persönlichen Wesens. Die Schwaben, denen die Verehrung des Dichters in besonderem Maße Herzenssache ist, gehen bei diesem Anlaß wohl auch gerne den Fäden nach, die Gottfried Keller mit dem geistigen Leben ihres Stammes verbinden und die zahlreicher sind, als eine oberflächliche Betrachtung ahnt.

Schweizer und Schwaben, oder genauer und mit Bezug auf die bestimmte Abgrenzung unseres Gegenstandes gesprochen, die Bewohner der deutschen Schweiz und die Schwaben im Gebiet des heutigen Württemberg sind stammverwandten Geblütes. Grad und Art dieser Verwandtschaft zu ergründen und festzustellen ist die Aufgabe wissenschaftlicher Forschung. Als unbestritten mag die Tatsache naher Berührung und Ähnlichkeit in Sprache, Sitten und Geistesart beider Stämme gelten, wobei sich freilich durch die Verschiedenheit der Wohnsitze, der politischen Schicksale und Verhältnisse, des sonstigen Erlebens hüben und drüben auch starke Unterschiede herausgebildet haben in den Lebensgewohnheiten wie in der Gemüts- und Sinnesart.

Diese Unterschiede wurden von den Nachbarn wohl meist stärker empfunden als das Gemeinsame, und sie gaben auch seit alters mannigfach Anlaß zu allerlei Hänseleien und Neckereien. Besonders wurde dabei den Schweizern ihr altes Wahrzeichen, die Kuh, von ihren Nachbarn, den Schwaben, spöttlich »aufgesalzt«, so häufig, daß auch G. Keller im Jahr 1860 gegenüber diesen Sticheleien mit abwehrender Bestimmtheit bemerkt, Tiere, die leicht und anmutig über Planken setzen und sich, dem Rotwild gleich, mit dem Hinterfuß am Ohr kratzen, seien etwas ganz anderes als die trägen Stallbewohner der Ebene. Auch sonst mag mancher Zug in der Art des deutschen Schweizers, wie seine offene Aufrichtigkeit, von den Schwaben hin und wieder mit weniger freundlichen Bezeichnungen bedacht werden. Aber umgekehrt macht auch der Schweizer kein Hehl aus seinem Befremden über manche Seiten schwäbischer Art. »Du Schwob« ist in der deutschen Schweiz wohl noch immer keine schmeichelhafte und auszeichnende Anrede.

Freilich hat sich gegenüber solchen Anzapfungen das Gefühl einer näheren Zusammengehörigkeit der beiden Stämme doch immer, wenn auch unausgesprochen, behauptet, besonders auf dem Gebiet des geistigen Lebens, der Dichtung und des Schrifttums. Mehr als einmal im Verlauf der deutschen Geistesgeschichte fanden sich Schwaben und Schweizer zusammen in der vereinten Abwehr von Literatur- und Geistesströmungen, die ihrem gemeinsamen süd- und oberdeutschen Stammesinstinkt widerstrebten. Besonders aber kamen in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, als im Schwabenland erstmals ein eigenes literarisches Leben sich zu regen begann, den aufstrebenden jungen Dichtern und Schriftstellern eine Reihe der wertvollsten Anregungen aus der deutschen Schweiz. Die schwäbische Jugend, die die Enge und den Druck der einheimischen Verhältnisse im Hochgefühl ihres kühnen Strebens doppelt peinlich empfand, blickte damals sehnsüchtig hinüber nach dem Lande der Freiheit. Die Begeisterung für die Schweiz und die Schweizer war fast allen begabten Schwaben des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts gemeinsam. »Geh in die Schweiz«, rief Schubart aus, »und dann nach Hamburg, um zu wissen, was Freiheit für Leute macht. Helvetien, zwischen seinen Bergen gesichert, genießt alle Vorteile der Freiheit, wovon vernünftige Religion, Einfalt der Sitten, Genügsamkeit, Leibes- und Seelenstärke die Folgen sind.« Zahlreiche Beziehungen verbanden den hochgeschätzten Albrecht von Haller mit jungen Schwaben jener Tage, wie Gemmingen, Gotthold Stäudlin, sowie manchem Tübinger Magister, der nach dem Brauch der Zeit zur Vollendung seiner Bildung nicht mehr wie bisher nach einer sächsischen Hochschule, sondern nach Bern reiste, um den großen Gelehrten und Dichter der Alpen kennen zu lernen. Wie stark Haller auf die Lyrik des jungen Schiller gewirkt hat, sei nur im Vorübergehen bemerkt. Außer Bern wurde auch Zürich mit seinen geistigen Größen damals von den jungen Schwaben fleißig aufgesucht. In dem Streit, den Bodmer und Breitinger mit den Sachsen ausfochten über das Wesen der Dichtkunst, standen die Schwaben als Oberdeutsche auf seiten der Züricher. »Dem deutschen Homer an der Limmat« hatte Wieland aus Tübingen seine ersten epischen Versuche zur Beurteilung zugesandt, um später auf Bodmers Einladung als würdigerer Nachfolger Klopstocks im Dunstkreis des Patriarchen zu leben. Sehr rege war dann auch der briefliche und persönliche Verkehr zwischen Lavater und den schwäbischen Dichtern und Frommen. So besuchte der berühmte Züricher den gefangenen Schubart auf dem Asperg schon 1778 zusammen mit Ph. M. Hahn. Für alles, was die Schweiz in diesen Zeiten des Sturmes und Dranges dem Schwabenland an geistigen und dichterischen Anregungen gab, bot dann Schiller als goldene Gegengabe den »Wilhelm Tell«. »Was alle früheren Tellspiele, die Versuche ihrer eigenen Landsleute, den Schweizern nicht hatten geben können, ein wahrhaft vaterländisches, künstlerisch durchgebildetes, alle in tiefster Seele bei ihrem gemeinsamen Empfinden packendes Volksdrama, das war ihnen durch den deutschen, den stammverwandten schwäbischen Dichter geworden. Hier fand das Schweizer Volk seine teuerste heimische Überlieferung über alle kritischen Zweifel wissenschaftlicher Forschung emporgehoben zum ewigen Leben der Poesie, hier empfing der Volksgeist sein liebstes Eigentum aus der zartschonenden Hand des Meisters neugestaltet zurück, geläutert und geweiht durch das heilige Feuer der Dichterseele.«

Diese Verherrlichung schweizerischer Volksart durch einen Schwaben bildet den leuchtendsten Gipfel in der Geschichte der geistigen Beziehungen beider Stämme, einen Gipfel, der um so heller strahlt, als die folgenden Jahrzehnte nur einen bescheidenen Austausch geistiger Güter und Werte zwischen den Nachbarn bringen, vor allem auch auf literarischem Gebiete. Fördersamere Beziehungen kamen dann erst wieder durch den größten Dichter in Fluß, den die deutsche Schweiz hervorgebracht hat, durch Gottfried Keller, der, von schwäbischem Schrifttum und schwäbischen Dichtern mannigfach angeregt, hinwiederum durch sein Dichten auf die jüngeren Schwaben mannigfach richtunggebend gewirkt hat.


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