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Gleichnisse

 

Versuchung

Eines Tages gedachte Seth, Li zu versuchen. Er trat mit bescheidener Geste und zurückhaltendem Wesen vor ihn. Li war beschäftigt, Reisig für den Winter in einem Gehölz zusammenzusuchen. Der Schweiß rann ihm von der Stirn, und er atmete schwer vom Sichbücken, denn er war schon ein alter Herr. Seth wartete, bis Li ihn anredete.

Li sprach: »Was will der Herr?« Seth sprach: »Welche Steine sind aus Holz?« Li antwortete, ohne vom Reisigsammeln aufzublicken: »Die Steine des Damespieles.«

Seth fragte: »Wenn man sieht, sieht man sie nicht, wenn man aber nicht sieht, sieht man sie – darf ich den Herrn fragen, was das ist?« Li antwortete, ohne aufzublicken: »Die Finsternis.« Seht wurde unruhig. Er faßte sich jedoch und fragte weiter: »Wieviel Erbsen gehen in einen Topf?«

Li erwiderte, ohne aufzublicken: »Keine. Denn die Erbsen können nicht gehen.«

Seth zitterte vor Aufregung: »Ein Huhn frißt eher einen Scheffel Hafer als ein Pferd. Ist das wahr?«

Li erhob sich und wischte sich den Schweiß von der Stirn: »Natürlich, denn die Hühner fressen keine Pferde. Ei, du Narr, jetzt ist es aber genug deiner Narreteien. Hätte ich nicht meine Zeit gut und nützlich mit Reisigsammeln ausgefüllt, ich hätte dir keine Antwort gegeben. So machte es mir Vergnügen, nebenher ein wenig mit dir zu spielen, wie ein großer Bruder mit dem kleinen spielt. Jetzt bin ich mit dem Reisigsammeln fertig und habe keine Zeit mehr für dich, du Schwätzer. Hebe dich von hinnen.«

Da fiel Seth in den Staub und berührte mit der Stirn dreimal vor Li den Boden. Dann stand er auf: »Möge der Herr meinen niedrigen Hochmut verzeihen! Kann ich dem Herrn irgendwie behilflich sein? Darf ich die Reisigbündel nach Hause tragen?«

Li schalt: »Ei, du Nichtsnutz! Hättest deine törichten Fragen bei dir behalten und mir beim Reisigsammeln helfen sollen. Scher dich nur jetzt und denke über die Nützlichkeit des Reisigsammelns und die Unnützheit deiner Gedanken nach.«

Seth schlich von dannen wie ein geprügelter Hund und trat sieben Tage nicht vor das Angesicht des Meisters.

 

Anschauung der Dinge

Seth sprach: »Wie ist es mit der Anschauung der Dinge?«

Li sprach: »Ich sitze am Fenster, und ein Reiter reitet über den Platz. Wenn ich jetzt die Augen schließe, reitet der Reiter weiter. Wenn ich die Augen öffne, reitet der Reiter ebenfalls weiter. Wenn ich die Augen schließe, so beraube ich mich des Reiters und bin ohne den Reiter. Aber auch der Reiter ist ohne mich. Nur: daß der Reiter nicht weiß, daß ich weiß, daß er reitet. So ist es mit der Anschauung der Dinge.« Seth bewegte nachdenklich seinen Kürbiskopf und ging ein wenig verwirrt von dannen.

 

Schwarz und weiß

Seth fragte: »Welches ist der Unterschied zwischen schwarz und weiß?« Li schwieg.

Sie gingen über eine Wiese.

Es begegnete ihnen ein schwarzes Schaf.

Li fragte: »Darf ich den Herrn fragen, welches die Farbe dieses Schafes ist?«

Seth erwiderte: »Schwarz.«

Danach begegnete ihnen ein weißes Lamm.

Li sprach: »Darf ich den Herrn fragen, welches die Farbe dieses Lammes ist?«

Seth erwiderte: »Weiß.«

Danach begegnete ihnen ein schwarz und weiß gesprenkeltes Kalb.

Li sprach: »Du bist wie dieses schwarz und weiß gesprenkelte Kalb. Es ist schwarz, und es ist weiß, aber es weiß nicht den Unterschied zwischen schwarz und weiß. Das heißt: es begreift sich selber nicht«

Seth errötete und zog sich mit einer ehrerbietigen Verbeugung zurück.

 

  Die Idee

Seth sprach: »Ich hörte Meister Kong, daß er dem Meister Li vorwarf, er hätte keine Idee vom Leben...« Li lächelte: »Gewiß nicht. Denn es kommt nicht darauf an, eine Idee zu haben, als vielmehr eine Idee zu sein.«

 

  Kleinschreiben

Seth sagte: »Es gibt Leute, die, wenn sie schreiben, nur kleine Buchstaben verwenden. Ist dies nur eine neue Mode oder irgendwie wesentlich begründet? Man könnte sich vorstellen, daß jemand aus Demut alles klein schreibt, weil er sich an das Große nicht wagt. Es könnte aber auch sein, daß jemand aus Stolz alles klein schreibt, weil ihm, an seiner eigenen Größe gemessen, alles andere klein und nichtig erscheint.«

Li sagte: »Sie schreiben Kleines groß und Großes klein. Die, welche weiter und weiser sind, schreiben Großes groß und Kleines klein. Beide aber schreiben sie ‹Ich› groß, so groß, daß man es nicht übersehen kann. Das höchste Wesen schreibt sich selber klein, so klein, daß man es übersieht und es nur zwischen den Zeilen lesen kann. In den heiligen Büchern der Altvordern spricht Gott durch des Menschen Mund. Er selber aber schweigt. Er ragt wie ein Fels in einem tosenden Wasserfall. Die Wasser gischten und rauschen, weil sie sich am Felsen brechen. Sein Schweigen ist die Ursache ihrer Beredsamkeit.«

 

  Der schwarze Vogel

Seth fragte: »Glaubt der Herr an die Gewalt der Sünde?«

Li sprach: »Wenn man zu einem kleinen Kinde sagt: ‹Sieh dich vor, dort fliegt ein riesiger schwarzer Vogel, er wird dich gleich in seine Klauen packen und von dannen fliegen› – so wird das Kind jämmerlich weinen und sich in der Schürze der Mutter zu verbergen und zu schützen suchen. Warum dies? Weil es den schwarzen Vogel sieht. Und warum sieht es den schwarzen Vogel? Weil es deinen Worten glaubt. So ist es mit der Sünde. Wer den schwarzen Vogel sieht, der ist ihm schon verfallen.«

 

  Edelsteine im Sarg

Seth fragte: »Was hält der Herr von der Sitte, den Toten Perlen und Edelsteine mit in den Sarg zu geben?«

Li sprach: »Das ist eine überaus verderbliche Sitte. Mit der Sitte erst kam die Sittenlosigkeit in die Welt. Die Tugend zeugte das Laster. Das Gesetz der Waage erhält die Welt. Seitdem man den Toten Perlen und Edelsteine in den Sarg mitgibt, ist die Sippe der Grabschänder und Friedhofsräuber entstanden. Der wahrhaft Weise verführt nicht zu Diebstahl und Raub. Er kriecht wie das Tier in die Einsamkeit, wenn er sich sterben fühlt. Er verführt nicht zur Trauer, denn niemand weiß, wann er stirbt. Er bietet seinen Leib den Würmern und wilden Tieren, und sie essen davon und nehmen ihr Abendmahl davon und werden geheiligt. Er aber reitet schon auf dem Winde.«

 

  Auf dem Winde reiten

Seth sprach: »Man liest in den alten Schriften, wer den letzten Grad der Vollkommenheit erreichte, vermag auf dem Winde zu reiten.«

Li schwieg.

Seth zog sich zurück und ging pfeifend von dannen.

Einige Tage später hörte er, daß Dau gestorben, sein Leichnam verbrannt und daß man die Asche, seinem Wunsche gemäß, in alle Winde gestreut habe.

Li sprach: »Man liest in den alten Schriften, wer den letzten Grad der Vollkommenheit erreichte, vermag auf dem Winde zu reiten. Dau ist nicht nur auf einem, er ist auf vielen Winden von dannen geritten. Welch ein Grad von Vollkommenheit! Welch ein Heiliger!«

Seth schwieg.

Er zog sich ehrerbietig zurück, indem er es vermied, in Lis Schatten zu treten.

 

  Die Waage

Als Seth und Li durch die Straßen spazierten, begegneten sie einem Menschen in Handfesseln, der mit seiner Tochter Blutschande begangen und sie danach aus Eifersucht mit einem Beil erschlagen hatte. Allerlei Volk spuckte dem Verbrecher ins Gesicht, der mit gesenktem Haupt dahinschritt. Seth wollte ihm ein Gleiches tun wie die Menge, da riß ihn Li zurück und sprach: »Dem Verbrecher gebührt unsere unauslöschliche Dankbarkeit. Er übernimmt es, unsere bösen Taten zu tun, die wir nur träumen. Du, Seth, hast im Traum schon alle Schandtaten begangen, die man nur begehen kann. Du hast gelogen, betrogen, geraubt, gemordet, mit deiner Mutter Blutschande getrieben. Der Verbrecher hat deiner Laster Last von deinen Schultern genommen, so daß du frei schreiten kannst. Er ist böse, damit du gut sein kannst. Denn das Böse, es muß so gut getan werden wie das Gute. Durch das Gesetz der Waage erhält sich die Welt. – Willst du es auf dich nehmen, böse zu sein?«

Seth schüttelte betreten den Kopf und schwieg wohl über eine Stunde gänzlich still.

 

  Mörder

Seth sprach: »Gestern war ich auf dem Richtplatz. Ein Mörder wurde hingerichtet. Viel Volk war erschienen, um seiner Rede zu lauschen, die er der Tradition gemäß halten darf, ehe sein Haupt in den Sand rollt. Der Mörder war ein junger Literat, der seinen Vater umgebracht hatte. Er sprach vom Richtblock wie ein Prediger von der Kanzel, und zwar über das Thema: ‹Darf eine Gesellschaft, die den Mord als unethische Tat verdammt, einen Mörder morden ?› Das Ergebnis seiner geistvoll vorgetragenen Maximen und Reflexionen war: nein, die Gesellschaft darf den Mörder nicht morden, wenn sie sich selbst nicht aufheben will. Tut sie es aber doch, wie bedauerlicherweise in seinem Falle, ist der Mörder ihr gegenüber in jeder Hinsicht frei. Er ist so frei zu morden, weil sie so unfrei ist zu morden.

Das Volk hörte aufmerksam zu und klatschte seiner Rede Beifall. Auch der Mandarin schien, wenn nicht von seiner Argumentation, so doch von seinem eleganten Stil entzückt. Er befahl, daß man dem Mörder als besondere Gnade den Kopf mit in die Grube lege. – Was hält der Herr von diesem kuriosen Mörder?«

Li sprach: »Dieser Mörder hatte nicht so unrecht, weniger unrecht zum mindesten als das Gesetz, sein Henker.«

 

  Nesseln

Seth sprach: »Hat ein Vater recht, dem heranwachsenden Sohne den Umgang mit Frauen zu verbieten: sei es aus moralischen oder sonstwelchen Gründen?«

Li sprach: »Die Mainacht leuchtet voll Glühwürmer, die einander suchen und finden. Die Liebe von Mann und Frau ist etwas Blinkendes, Glänzendes, Strahlendes. Der Vater soll zu seinem Sohne dieses sagen: »Unter den Blumen, die im Garten der Lust stehen, sind einige giftige Brennesseln, die einen gefährlichen Ausschlag erzeugen, wenn man sie pflückt. Begnüge dich, Hahnenklee, Winde, Veilchen, Nelke und Rose zu pflücken. Aber hüte dich vor den Nesseln! Sie vergiften!«

 

  Widernatürliche Liebe

Seth sprach: »Die Leute reden viel von widernatürlicher Liebe. Von Homosexualität, Perversitäten und wie man das sonst nennt. Was hält der Herr davon?« Li zog die Stirne kraus: »Der Affe, der allein im Käfig sitzt, onaniert. Die männlichen Hunde bespringen einander. Der brünstige Frosch bespringt Karpfen. Was in der Natur ist, ist nicht wider die Natur. Der Herr verschone mich mit seinen albernen Fragen.«

 

  Nächstenliebe

Seth sprach: »Ich besuchte gestern eine Garküche. Sie war dicht gefüllt mit allerlei zweifelhaftem Volk. Da bemerkte ich, wie ein Taschendieb einem Bakkalaureus die Geldtasche stahl, ohne daß er es bemerkte. Ich bewunderte die Geschicklichkeit des Diebes, wenngleich mir sein Handwerk Abscheu einflößte.«

Li sprach: »Der Dieb war sehr ungeschickt. Er stahl dem Bakkalaureus die Geldkatze, ohne daß er es bemerkte. Aber er konnte es nicht verhindern, daß du es bemerktest.«

Seth sprach: »Der Herr hat recht. Ich bin beschämt. Ich winkte einem Polizeisoldaten und ließ den Dieb verhaften, der durch mein Zeugnis überführt war. Er wird der Gerechtigkeit zugeführt werden.«

Li sprach: »Du nützest der Allgemeinheit. Aber dir selbst hast du geschadet.«

Seth sprach: »Woher weiß der Herr das?«

Li sprach: »Ich weiß es, ohne es zu wissen.«

Seth sprach: »In der Tat hat der Herr recht. Während ich nämlich den einen Dieb beobachtete, stahl mir ein anderer – meine Tasche ...«

Li lachte.

»Da hast du die Probe aufs Exempel deiner Nächstenliebe. Um ein Nahes hast du das Nächste nicht beachtet und bist also mit Recht zu Schaden gekommen.«

 

  Die grüne Fliege

Seth fragte: »Wie schütze ich mich vor meinen Feinden?«

Li sprach: »In meinem Zimmer trieb sich eine grüne Fliege herum, die mich abends, wenn ich die Lampe entzündet hatte, empfindlich störte. Sie brummte und summte unaufhörlich gegen das Licht. Am Tage verhielt sie sich still. Am Tage wußte ich von ihr gar nichts und wußte gar nicht, daß eine grüne Fliege in meinem Zimmer sei. Nachts aber brummte und summte sie immer unerträglicher und störte mich in meinen Meditationen. Da tötete ich sie. Sie brachte mich um meine Gedanken, und so brachte ich sie um die ihren.«

Seth zog sich leise auf den Zehenspitzen zurück.

Li rief ihn zurück.

»Du tust recht, leise zu gehen und deine Schuhe draußen vor der Matte abzulegen. Hätte sich die Fliege durch ihr vorlautes Benehmen nicht immer wieder bemerkbar gemacht, sie wäre noch am Leben.

Wer Feinde hat, suche sich in Vergessenheit zu bringen.«

 

  Der Stärkere

Seth sprach: »Wer ist stärker, die Mücke oder der Elefant?«

Li sprach: »Das kommt auf den Standpunkt an. Wenn der Elefant die Mücke zertritt, ist der Elefant stärker. Wenn die Mücke den Elefanten sticht, ist die Mücke stärker.«

Seth sprach: »Der Elefant vermag die Mücke zu töten, aber die Mücke nicht den Elefanten. Also ist der Elefant stärker.«

Li sprach: »Du Tor! Woher weißt du, ob der scheinbar unbeträchtliche Mückenstich nicht das erste Glied einer Kette ist, deren letztes den Elefanten ins Verderben und in den Tod schickt? So daß, wenn die Mücke ihn nicht gestochen hätte, er auch nicht elend zugrunde gegangen wäre? Als Kaiser Tschu auszog, die Tataren zu bekriegen, ritt er auf einem prächtig aufgeschirrten Schimmel. War guter Dinge, und der Sieg schien ihm sicher. Ein kleiner Vogel flog über ihn in den Lüften, den niemand beachtete. Dieser Vogel k .... und ließ etwas fallen, das unglücklicherweise dem Kaiser ins Auge fiel und ihn für einen Moment blind machte. Er ließ die Zügel los, um sich die Augen zu reiben. Diesen Moment benutzte sein Pferd, um durchzugehen, er konnte seiner nicht mächtig werden, wurde aus dem Sattel geschleudert und schlug mit dem Kopf auf einen Stein, daß er tot liegenblieb. Die Tataren brachen ins Land ein, wüsteten und verwüsteten alles. Jener kleine Vogel war die Ursache, daß unser Land jahrhundertelang unter der Gewaltherrschaft der Tataren seufzte.«

Seth zog sich mit einer ehrerbietigen Verbeugung zurück.

 

  Kämpfen

Seth sprach: »Von Yu geht das Gerücht, daß er ein gewaltiger Krieger sei. Er hat aber noch nie einen Kampf bestanden: wie kann man ihn also einen gewaltigen Krieger nennen? Mir scheint das logisch gerade so unrichtig, als wolle man eine Jungfrau Mutter und einen Kapaun Hahn nennen.«

Li sprach: »Yu hat schreckliche Waffen erfunden, gegen die es keinen Schutz gibt. Man muß sich hüten, ihn zu reizen, daß er sie anwendet. Er kann mit Blicken schießen und mit Gedanken töten. Seine Feinde legen die Waffen nieder, wenn er nur die Nasenflügel bewegt und die Wimpern bewegt. Der wahrhafte Held kämpft nicht. Er hat es nicht nötig zu kämpfen. Es genügt zu wissen, daß er ein Held ist. So wird er waffenlos auf dem Felde pflügen, und niemand wird es wagen, das Schwert gegen ihn zu richten.«

 

  Der Stein der Weisen und das Wasser des Lebens

Seth traf Li, wie er mit nackten Füßen am Flußufer spazierenging.

Der Weise ließ sich am Strand nieder, ließ die Beine ins treibende Wasser hängen und spielte mit Kieseln. Er nahm einen Kieselstein, den die Wogen glatt und glänzend geschliffen, und hielt ihn ins Licht: »Dies ist der Stein der Weisen«, sprach er, »nach dem die Narren überall suchen – nur nicht dort, wo er offen daliegt. Dies ist das Wasser des Lebens«, und er zeigte auf den Fluß zu seinen Füßen. – Die Wellen spielten um seine verkrüppelten Zehen, Algen blieben darin hängen. – Und der Weise nahm ein Algenbüschel, hielt es einen Augenblick ins Licht: »Dies ist unser aller Ahn. Man hat seiner beim Ahnenkult vergessen. Seine Mutter war das Meer, sein Vater der Sonnenherr. Wir haben keine andern Eltern.«

 

  Ruhm

Seth fragte: »Soll der Weise nach Ruhm streben? Wenn man seinen Kindern sonst nichts vermacht, ist es nicht wünschenswert, ihnen einen großen Namen zu hinterlassen?«

Li sprach: »Kung ordnete den Staat und sammelte die Ideen der Vorzeit in den heiligen fünf Büchern: ‹Liederbuch›, ‹Buch der Urkunden›, ‹Buch der Wandlungen›, ‹Buch der Herbst- und Frühlingsannalen›, ‹Buch der Riten›. Woher datiert nun sein Ruhm, und wie wurden diese Bücher befolgt? Auf einem gewissen Ort, der zur Regelung der Verdauung dient, hängen seine Schriften, man reißt sich die Blätter ab und, ehe man sich den A... damit wischt, liest man den einen oder ändern Spruch. So ist Kung, so sind die alten Schriften berühmt geworden. Der Weise verschmäht diese Art Ruhm, die nach Kot stinkt. Er zieht es vor, verborgen zu bleiben wie Re, der fünfzehn Jahre unter den Menschen lebte, ehe man durch einen Zufall dahinterkam, daß er der Verfasser der ‹Frühlingsmusik› sei. Als seine Matte nicht leer wurde von den Schuhen der bewundernden Besucher, rollte er sie eines Tages ein und ging in die Einöde. Da waren es nur die Jahreszeiten noch, die ihm einen Besuch abstatteten, und der Frühling selbst spielte ihm seine ‹Frühlingsmusik›.«

 

  Geistererscheinungen

Seth sprach: »Man hört in letzter Zeit viel von Geistererscheinungen.«

Li sprach: »Es schweben niedere Geister zwischen Himmel und Erde. Sie können sich aber nur dem mitteilen, der selber niederen Geistes ist. Mit diesem treiben sie allerhand Schabernack. Sie blasen sich wie Ochsenfrösche auf und entblöden sich nicht, über ihre armseligen Gerippe den erlauchten Namen des Herrn der gelben Erde wie ein weißes Tempelgewand zu hängen. Was geht es den Weisen an, ob sie in den Wänden klopfen, mit Tischen rücken, wie weiße Schleier wallen oder ob die Hand des sogenannten Mediums konfuses Zeug schreibt, was ihr ein Windstoß eingeblasen. Diese Geister benehmen sich wie Kinder von fünf Jahren, die mit Papierdrachen spielen. Aber der Drache Ling, er läßt nicht mit sich spielen. Er erscheint dem Weisen, wenn er in sich versunken ist, um Mitternacht oder am hellen Tage. Man sieht ihn nicht, man hört ihn nicht. Man weiß nicht seinen Weg und seine Stätte. Man ist eins mit ihm und reitet mit ihm auf den Winden über die vier Meere und durch die fünf Himmel. Also erscheint der Geist Gottes den Weisen, der nicht mit Geist und Geistern spielt, sondern Geist ist.«

 

  Die Zukunft

Seth sprach: »Wie vermag ich die Zukunft zu sehen?«

Li ballte seine Hand zur Faust: »Was siehst du?«

Seth erwiderte: »Eine Hand, die sich zur Faust gekrümmt hat.«

Li sprach: »Gut!«

Nun öffnete Li seine Hand und schlug ihm mit der offenen Hand ins Gesicht. »Was siehst du nun?«

Seth rieb sich seine Wangen, seine Augen schmerzten von dem Schlag, er vermochte sie kaum zu öffnen, er schwieg.

Li lachte.

»Du siehst nichts. So ist es mit der Zukunft. Was man fühlt, kann man nicht sehen. Man erkennt die Zukunft, wenn sie Gegenwart geworden ist. Dann ist sie aber keine Zukunft mehr. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: das sind nur Anschauungsformen der Zeit. Der Weise kümmert sich nicht um sie. Er ist immer in seiner Zeit. Er tut, was ihm und also auch ihr angemessen. Wenn du den ersten Grad der Vollkommenheit erreicht hättest, würdest du dir jetzt mit Borwasser die Augen kühlen, anstatt noch immer über die Zukunft nachzudenken.«

Seth errötete und zog sich mit einer ehrerbietigen Verbeugung zurück.

 

  Kunst und Leben

Seth sprach: »Heute sah ich dem Maler Ma zu, der mit fünf schwarzen Pinselstrichen in fünf Sekunden die Illusion eines binsenbestandenen Seeufers, über das ein Reiher zieht, auf Papier zauberte. Ich gestehe, daß mir sein Bild gefiel. Aber was für eine oberflächliche, unernste, leicht-sinnige und leicht-fertige Kunst, die im zehnten Teil einer Minute schon ihr Resultat gibt und vergibt.« Li schwieg.

Er führte Seth in Mas Atelier. Seth erstaunte auf das höchste.

Im Atelier lagen Tausende von Blättern herum, und alle zeigten ein binsenbestandenes Seeufer, über das ein Reiher zieht.

Li sprach: »Ma hat fünf Jahre lang nichts gemalt als das binsenbestandene Seeufer, über das ein Reiher zieht. Er hat fünf Jahre gebraucht, um in fünf Sekunden mit ein paar Pinselstrichen ein Bild der Vollkommenheit zu geben, wie es das binsenbestandene Seeufer zeigt, über das ein Reiher zieht.

Wer weiß, wieviel Äonen das höchste Wesen brauchte, um in einer Sekunde das zu schaffen, was wir das Leben nennen?«

Seth zog sich beschämt mit einer ehrerbietigen Verbeugung zurück.

 

  Namenlos

Seth sprach: »Welchen Namen pflegt der Meister dem höchsten Wesen zu verleihen, mit welchem Zauberwort es zu rufen?«

Li sprach: »Der, den ich nicht nennen will: er schweigt ewig. Die Fische sind seine tiefsten Gedanken.

Der, den ich nicht nennen will: er leuchtet ewig. Die Sonne ist sein flammendstes Herz.

Der, den ich nicht nennen will: er ragt ewig. Ein Schneegipfel ist sein liebster Traum.

Der, den ich nicht nennen will: er stürmt ewig durch die Welt. Die Winde sind sein Atem.

Er ist herzlos, also schmerzlos. Er ist neidlos, also mitleidlos. Er ist da, also dort. Er ist nah, also fort. Er hat hunderttausend Namen und ist namenlos.

Nenne ihn bei dem Namen, mit dem du deine Mutter oder dein Kind, dein Leben oder deinen Tod rufst.«

Seth zog sich mit einer ehrerbietigen Verneigung zurück.

 

  Musik

Li spielte die Laute.

Seth hörte ihm zu.

Dachte Li beim Greifen der Töne an die Sonne, so rief Seth: »Wie strahlend, wie glänzend!«

Dachte Li an das Meer, so rief Seth: »Wie rauschend! Berauschend!«

Sie gingen in den Wald, und ein Unwetter überfiel sie.

Sie traten in einen verlassenen Tempel.

Li spielte die Laute, das Wetter zu besänftigen.

Aber der Blitz hörte nicht auf zu blitzen, der Donner nicht auf zu donnern, der Regen nicht auf zu regnen.

»Wahrhaftig«, sprach Li, »ich bin noch sehr weit von der Vollkommenheit der Musik entfernt. Ich bat den Blitz mit meinen Tönen, sich zu besänftigen, den Donner innezuhalten, den Regen zu versiegen. Blitz, Donner und Regen begriffen mich nicht. Was habe ich erreicht, wenn die Menschen mich begreifen und Gott schweigt?«

Der Blitz blitzte, der Donner grollte, der Regen rann.

Li hatte die Laute sinken lassen.

Er schwieg – und siehe – da hörte er auch Gott schweigen.

 

  Tod und Leben

Seth ging in den Wald, wo der Alte vor seiner Baumhöhle saß, und fragte ihn: »Meister, wie verhält es sich mit Himmel und Erde, Tod und Leben?«

Da saß der Einsiedler. Der weiße Bart wallte ihm bis zur Erde. Ameisen krochen vorüber. Der Mistkäfer rollte seine Kugel und beschmutzte ihn. Er aber sah nicht den Mistkäfer, nicht die Ameise, nicht Seth, nicht Himmel und Erde.

Er schwieg.

Nach sieben Tagen trat Seth wieder vor ihn. Er saß noch immer vor dem Baum. Der Regen rauschte durch sein Haar. Der Wind zauste seinen Bart. Der Himmel ergoß sich über ihn, die Erde klebte feucht an seinen Sohlen.

Und Seth fragte: »Meister, wie verhält es sich mit Himmel und Erde, Tod und Leben?«

Er aber spürte nicht den Regen, nicht den Wind, nicht Himmel und Erde und hörte nicht die Stimme, die durch Windeswehn und Regensang zu ihm drang.

Er schwieg.

Nach sieben Monaten trat Seth wiederum vor den Alten. Er saß noch immer vor seinem Baum. Tiefe Stille herrschte im Wald. Kein Vogel zwitscherte, kein Quell rieselte, kein Laub säuselte.

Schweigend verneigte sich Seth dreimal und trat schweigend auf den Zehenspitzen näher.

Da bemerkte er, daß Li tot war. Denn kein Leben war in ihm. Aber er sah, daß auch kein Tod in ihm sei. Der Weise hatte seinen eigenen Tod nicht bemerkt.

Da begriff Seth, daß Li über Tod und Leben hinaus sei. Da wußte Seth, wie es mit Himmel und Erde, Tod und Leben bestellt sei. Er fiel auf die Erde nieder und küßte die schmutzigen Enden von Lis Bart, die schon im Moos Wurzel faßten.

Und mit einer ehrerbietigen Verbeugung zog er sich zurück.


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