Johannes Kirschweng
Bewahrtes und Verheißendes
Johannes Kirschweng

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Das Reich ist nicht mehr. Wir haben uns lange Jahre aus ehrlichem Herzen zu ihm bekannt. Wir haben geglaubt, daß es die unerläßliche Grundlage unseres äußeren und inneren Lebens sei, und darum haben wir auch noch in jener bitteren Stunde ja zu ihm gesagt, als wir sahen, daß es vom fressenden Krebsschaden des Nationalsozialismus befallen war. Vielleicht weil wir glaubten, daß die gesunden Kräfte des Reiches über das Unheil Herr werden müßten, vielleicht weil uns schien, man müsse das Geliebte bis zum bitteren Ende lieben. Nun, die gesunden Kräfte waren nicht mächtig genug, und das bittere Ende, es ist da.

Jetzt ist unendlich vieles fragwürdig geworden, wovon wir nie gedacht hätten, daß es fragwürdig werden könnte. Die Zugehörigkeit zu einem deutschen National- und Machtstaat, die uns ganz natürlich schien, weil wir in dem Gedanken daran aufgewachsen waren, erweist sich uns mehr und mehr als eine Verfälschung unseres politischen Schicksals, das uns auf Grund unserer Herkunft, unserer Tradition und unserer wirtschaftlichen Situation eher auf eine freie Eingliederung in ein abendländisches Ganzes und auf eine Vermittlung zwischen Kulturen hinweist, von denen wir im Laufe unserer tausendjährigen Geschichte gleichermaßen befruchtet wurden.

Was sollen wir jetzt tun?

Zwar ist unser Leben bis in seine letzten Kammern und Winkel hinein von äußeren Sorgen erfüllt, und mancher mag in dieser bösen und dunklen Stunde glauben, er tue genug und 6 übergenug, wenn er versuche gegen sie anzukämpfen und über sie Herr zu werden. Aber der Mensch lebt nicht allein vom Brote. Die Würde unseres Menschentums verlangt, daß wir auch hungernd und frierend noch den bangen Blick zu dem Bewahrten emporheben, das auch das Rettende ist, damit sein Licht in die Seele fließe und sie stark und tapfer und unverzagt mache.

Wo aber ist das Bewahrte, das auch das Rettende ist?

Das Reich ist zugrunde gegangen. Das ist eine Wahrheit, und sie verliert nicht viel an Bedeutung, wenn wir uns sagen, daß es eigentlich schon längst nicht mehr bestanden hat. Es ist ja wahr: Das bismarcksche Reich der Gewalt und Größe, das den Preußen vollends ausgeliefert war, muß unsern ernüchterten Augen als eine Karikatur des mittelalterlichen Reiches erscheinen, das ein Reich des Geistes und des Glaubens war. Und das Reich Adolf Hitlers, dieses Gefüge aus Lüge und Gewalt, aus Blut und Schmutz, es war doch nichts anderes als eine unsägliche Karikatur der Karikatur noch. Aber hinter allen Verzerrungen haben wir immer noch geglaubt, das unverzerrte Urbild nachwirken zu sehen, immer noch gehofft, man brauche eines Tages nur Schlamm und Blut von diesem großen und ehrwürdigen Antlitz hinwegzuwaschen, um es wieder im Glanz aufstrahlen zu sehen. Aber es ist ein Irrtum gewesen. Was einmal war, ist in Blut und Schlamm gestorben.

Und nun noch einmal: Was lebt denn noch, daß wir leben von seinem Leben, daß wir atmen in seinem kräftigen, unzerstörbaren Atem? 7

Nun: der Geist jenes Reiches der Seele und des Glaubens ist noch nicht völlig untergegangen.

Nicht alle unsere Dome und Münster sind zerstört. Fast will es uns sogar bei einem raschen Überschlag schon scheinen, als wenn der größere Teil gerettet wäre. Und wenn wir in der Vergangenheit einmal gesagt hatten, es wäre weit besser sie gingen alle in Flammen auf, als daß sie zu schrecklich entweihten Stätten verruchter Greuel würden, so dürfen wir die doppelt bewahrten nun doppelt in unser Herz und in unser Leben hineinnehmen.

Was da nach allen unsäglichen Stürmen immer noch in den traurigen Himmel hineinragt, das ist tausendmal mehr als nur gemeißelter Stein und geformter Bau. Das ist Glaube, Hoffnung und Liebe. Das ist Demut und Zuversicht. Das ist Zeit und Ewigkeit, Gott und Mensch. Das ist Kraft und Gnade, schwellendes Gefühl des eigenen Könnens und inbrünstiges Gebet zu Dem, der allein unsere Kraft ist und unserem Wollen das Vollbringen gibt. Das ist ein Ausdruck dessen, was wir sind, gerade wir, auf einmalige, unverwechselbare, unverlierbare Weise, nach dem Willen dessen, der uns geschaffen und der dieses Strafgericht über uns verhängt hat, daß wir uns bekehren und leben.

Es ist aber auch ein Zeugnis dafür, daß wir Söhne des Abendlandes sind, in es eingegliedert und aus ihm lebend aber auch an ihm bauend und es segnend.

Wir und die anderen hätten vielleicht ein Jahrzehnt oder auch ein halbes Jahrhundert hindurch glauben können, daß wir nur aus Geschrei und Fanfarenstößen beständen, aber hier ist der tausendjährige Beweis dafür, daß wir viel mehr als das 8 Gebet und Stille sind. Freilich in einem sehr verschütteten Seelengrund, den wir im Schweiße unseres Angesichts und in der tiefen Trauer unseres Herzens wieder freilegen müssen.

Dies also besteht, und es ist wahrlich kein geringer Reichtum, der uns geblieben ist, ein Reichtum der Seelen, ein Reichtum lebendiger Menschen, ein abendländischer Reichtum, dessen wir uns wieder würdig erweisen müssen.

Münster in Freiburg/Br.

Wenn aber in den Domen Fugen von Bach ertönen, dann öffnen sich hinter ihren schweren Portalen neue Tore in eine neue Welt des Geistes und der Liebe. Ach ja! Diese große und bewegende Offenbarung unserer Seele als einer christlichen, abendländischen Seele ist nicht untergegangen in allem Lärm und in aller Schande. Unsere Ohren, die vom wahnsinnigen Geschrei der Verführer erfüllt waren, haben nie aufgehört, sehnsüchtig danach zu lauschen, und die Ohren unserer Kinder, die mit Marschliedern und Märschen überschwemmt werden sollten, Tag um Tag und Jahr um Jahr, haben trotz allem Zwang die Gewöhnung der Jahrhunderte nicht verlieren können, nach der geheimen, leidvoll errungenen Harmonie des Lebens und der Welt auszuhorchen.

Wir haben Bach und Haydn und Mozart und Beethoven als Zeugnisse unseres Lebens. Und wenn, an diesen Zeugnissen gemessen, die klar und unbestechlich und mächtig sind, auch Jahrzehnte eben dieses unseres Lebens als verkehrt, ja als verworfen erscheinen müssen, so sind darum diese Zeugnisse doch nicht nur Zeugnisse gegen, sondern auch Zeugnisse für uns. Gewiß, in ihrem Lichte erscheinen die Abgründe unseres Wesens doppelt dunkel und schrecklich, aber ihr Licht bleibt 9 doch Licht, und es ist unser Licht, uns zugemessen als unverlierbarer, ewig tröstender Besitz.

Ich habe oft denken müssen: wieviele Tränen der Befreiung, des Leicht- und Gelöstwerdens werden in diesen leidvollen Monaten und Jahren fließen, wenn über dem Grabe ungezählter Hoffnungen, festesten Besitzes, geliebtester Menschen eines der tiefen, in allen Tränen seligen Adagios Beethovens auftönt!

Wie mag da manche Seele, die von unheilbarem Gram verzehrt schien, wieder ganz leise der Freude entgegenwachsen, die ja trotz allem ihr Lebenselement ist. Wie mag da mancher Geist, der sich schon schwermütig damit abgefunden hatte, daß das Chaos das einzige Gesetz des Daseins sei, von neuem und diesmal für immer erkennen, daß das Chaos nichts anderes ist als eine Versuchung, daß die Ordnung das wahrhaft Bestehende ist und daß ihr Bestehen umstrahlt ist von allem Glanz der Schönheit und der Liebe.

Ich bin sicher, viele Menschen sitzen hungrig und frierend in Wohnungen, die sehr wenig mehr von aller früheren Behaglichkeit haben, schweren und kummervollen Herzens sitzen sie da und vermögen kaum mehr zu glauben, daß es noch irgend einen Morgen gibt, der ihnen wieder leuchten könnte, und dann tönt in ihre kalte und kahle Kammer hinein vielleicht ein Schubertlied und erfüllt die Kammer mit allem Trost, der in dieser Welt sein kann. Und es ist nicht Trost von irgendwoher, sondern Trost aus unserem eigenen Herzen, aus unserem innersten Wesen.

Geht es aber auch nicht dem so, der einen in aller Zerstörung heilgebliebenen Goetheband aufschlägt und zu lesen beginnt: 10

Füllest wieder Busch und Tal
Still mit Nebelglanz,
Lösest endlich auch einmal
Meine Seele ganz.

Ist nicht auch da wieder die Ordnung und die aus ihr aufstrahlende Schönheit abendländischen Menschentums voller Würde und Demut? Zwar, es muß immer wieder gesagt werden, hätten wir den Klang dieser Verse nie aus den Ohren verloren, nie das unsterbliche Lied der Seele, Unzähliges, was uns gesagt und geschrieben worden ist, hätte uns in jeder Stunde als ein grauenhafter Mißbrauch mit der Sprache, als eine abscheuliche Entwürdigung und Entleerung der Sprache erscheinen müssen. Ach, es ist uns ja als das erschienen, aber zumindest haben wir unseren Ekel vorsichtig verborgen.

Dies also muß gesagt werden. Aber weil es gesagt werden muß, hat das Große noch nicht aufgehört, groß zu sein und unser zu sein.

Der 79jährige Goethe
Ölgemälde von Stieler

Goethe, von dem André Gide in einem zum hundertsten Todestag erschienenen Aufsatz sagte: »– dieser Genius, dem ich mehr verdanke als irgend einem anderen, ja vielleicht mehr als allen anderen zusammen«, Goethe, den André Suarès »den Universalen«, Ramuz »den Weisen« nennt, Goethe, der ungezählten Menschen aller Zungen als eine der gültigen Gestalten der Menschheitsgeschichte erscheint und als einer ihrer allergrößten Dichter, Goethe ist immer noch lebendig und immer noch unser. Wenn André Gide ihm gegenüber, gleich bei der ersten Begegnung schon, fühlte, wie eine wahre Brüderschaft ihn an ihn binden wolle, so ist er wirklich unser Bruder, dem 11 Geist und dem Blute nach, und er wird es immer bleiben. Seine Vaterstadt ist in Trümmer gesunken und ihre Trümmer klagen mit ungezählten anderen die gotteslästerische Selbstüberhebung an, deren das Volk Goethes sich schuldig gemacht hat, aber sein Werk, dieses so menschliche, abendländische Werk, war einzig durch das Regime gefährdet, das nun gleichfalls in Trümmern liegt, furchtbareren als die irgendeiner Stadt, irreparablen. Es war gefährdet, aber es hat bestanden und es wird uns helfen, unseren schweren Weg zu gehen.

Da ist Hölderlin, mit dem es nicht anders bestellt war. Vielleicht denkt noch der eine und der andere an die Feiern, die sie ihm vor ein paar Jahren widmeten – wollten wir »weihten« sagen, so wäre es schon wieder ein Mißbrauch der Sprache, wie ja schon das Wort »Feier« einer ist. An seinem Grabe lasen wir da unter ingrimmigem Gelächter auf einer Kranzschleife die Inschrift »Dem Sänger die Kreisleitung«. Und wenn es nicht überall so plump war wie hier, so waren es doch überall Versuche, diesen in aller Trauer strahlenden Geist, diese wunderbar reine Stimme dem Gedröhn der Propaganda dienstbar zu machen. Es ist natürlich nicht gelungen, weil es nicht gelingen konnte, aber was für ein Frevel war es doch und was für eine Schande.

Jetzt werden wir diese großen Gedichte wieder lesen können, ohne daß tödlicher Lärm die Stille stört, die ihnen angemessen ist, in der allein sie leben können. Und einmal, einmal wird ein ruhig und ungefährdet heraufsteigender neuer Dichter mit Hölderlins Worten flehen:

Nur einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen,
Und einen Herbst zu reifem Gesange mir, 12
Daß williger mein Herz, vom süßen
Spiele gesättiget, dann mir sterbe.

Die Jünglinge werden durch Hölderlin wieder ins Herz des unsterblichen Griechenland hineingeführt werden und in der Flamme reiner Sehnsucht glühen wie er. In der Macht seiner Worte wird die Sonne Griechenlands uns wieder leuchten und den letzten Rest brauender nordischer Nebel zerstreuen, die die Lügner von gestern uns so gerne als den Hort und Mutterschoß aller Geheimnisse hinstellen wollten.

Was wir geworden sind, sind wir ja mit Griechenland und Rom geworden, und außer der Kirche, die das eine wie das andere bewahrt hat, die Akropolis wie das Kapitol, das was unsterblich ist an ihnen, repräsentieren unsere größten Dichter diese Verbindung und diesen Reichtum.

Hölderlin präsentiert ihn, und wenn das, was hinter uns liegt – läge es doch nur wahrhaft hinter uns –, ein Teil unseres Wesens war – und es ist ja nicht anders möglich –, ein dunkler dämonischer Teil, so ist auch hier unser abendländisches Wesen, das unzerstörbare und uns immer wieder rettende.

Nachdem aber diese beiden großen Namen genannt sind, die immer wieder auch Zeugnisse für die Größe unseres Volkes sein werden, mögen zwei andere noch von der Innigkeit eben dieses Wesens sprechen: Matthias Claudius und Eduard Mörike.

Ich hoffe – das muß ich hier einflechten – jeder wird verstehen, daß es sich jetzt nicht um irgend schöne Dinge am Rande unseres Lebens handelt. Es gibt Namen genug aus der Literaturgeschichte, die mir an sich sehr teuer sind, auf die man nur unter Schmerzen verzichten würde, auf die man 13 aber dennoch verzichten könnte, wie man auf so manchen Glanz des Lebens hat verzichten müssen. Hier aber ist nicht Glanz und Zierat des Lebens, sondern das Leben selber, in seinen gültigen Prägungen, dem Nebel und Gebrodel der niederen Sphären entrückt, Ausdruck und Frucht unseres höheren, geklärten Seins, unserer heiligsten und sehnsüchtigsten Liebe.

Matthias Claudius aber und Eduard Mörike – noch einmal sei es gesagt – sind Zeugen für die Innigkeit und gläubige Demut unseres Lebens.

In den Jahren, die von allen Schrecken und Greueln erfüllt waren, an Abenden, die die Flügel der Todesvögel grausig durchrauschten, hat meine junge Schwester ihr kleines Mädchen auf dem Schoß gehabt und ihm die Angst ausgeredet, Nicht mit eigenen Worten, sondern mit viel gültigeren, zaubermächtigen, die, nachdem sie einmal aufgetönt sind, nicht mehr verklingen können.

Der Mond ist aufgegangen
Die goldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar,
Der Wald steht schwarz und schweiget,
Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Nebel wunderbar,
Wie ist die Welt so stille,
Und in der Dämm'rung Hülle
So traulich und so hold,
Als eine stille Kammer,
Wo ihr des Tages Jammer
Verschlafen und vergessen sollt. 14

Hier, in diesen schönsten Claudiusversen, erweist sich beinahe der demütigste Dichter als der größte Magier. Denn dies sind ja wahrlich nicht nur aussagende Verse, sondern verwandelnde, menschen- und weltverwandelnde. Man kann sie nicht sagen, ohne daß der Lärm ohnmächtiger wird, ohne daß Lügen und Phrasen ihre Masken fallen lassen müssen, um in ihrer Häßlichkeit und Hilflosigkeit deutlich zu werden. Man kann sie nicht sagen, ohne daß das sehr verborgene Licht dieser dunklen Welt aufzuleuchten und unser Herz zu trösten begänne, ohne daß die Herzwärme der unzerstörbaren Zuflucht uns anatmete in der Ungeborgenheit, ohne daß das lebendige Herz sich auf sich selbst besänne als auf den irdischen Mittelpunkt der Welt und die irdische Quelle ihrer wahren Kraft.

Es gibt weite Bereiche der Dichtung, die auch den sogenannten Gebildeten nur durch Kommentare zugänglich gemacht werden können. Es liegt in diesem Sachverhalt eine nicht unbeträchtliche Problematik des Dichterischen, über die ich nicht zu sprechen habe. Ich will nur sagen: wie gut, wie wunderbar, daß es große, unsterbliche Gedichte gibt, die keiner Deutung, keines Kommentares bedürfen, und die auch das Leben des Kindes schon und des Greises noch reich machen und segnen können.

Versuch es doch nur einmal, du Zweifelnder! Lies dir selber einmal das Gedicht vor und dann irgend einem trauernden Menschen, den du lieb hast. Sei so still und so gut, wie du kannst, wenn du es liest, dann wird dir bald genug aufgehen, daß hier lebendiges Leben ist und zaubermächtige Liebe.

Es ist wahrhaftig ein Geschenk Gottes, daß dieses Gedicht übrig geblieben ist als ein Zeugnis und eine Verheißung. 15

Und Eduard Mörike?

Schwermut ist die Signatur unserer Welt geworden, soweit sie noch human ist. – Darüber hinaus ist ihre Signatur Verzweiflung, wenn auch oft im Gewande der Ausgelassenheit. – Die Seelen der Menschen sind voller Schwermut und ihre Gesichter, ihr Gang und ihr ganzes Gehaben, ihre Häuser und ihre Dörfer und Städte und ihr ganzes Land, und ich glaube, daß der Frühling, der jetzt kommt, mit seinen strahlendsten Tagen dieser Schwermut kaum etwas nehmen wird. Je feiner aber eine Seele geschaffen ist, desto mehr wird sie vom Leiden dieser Zeit gequält werden, das eigentlich das Leiden der Zeit überhaupt ist.

Nachdem dies aber gesagt ist, möchte ich über der schwermütigen Welt meiner Leser das schwermütige Antlitz Mörikes aufgehen lassen. Könnte ich es, so wie Gott selber in diesen Tagen seinen melancholischen Mond aufgehen läßt über der melancholischen Erde, was für eine Begegnung wäre das! Wie würde sich da im Anblick dieses großen und guten Gesichtes erweisen, daß die Schwermut zu unserm Menschenleben gehört wie Wind und Wolken, und daß wir ihr so wenig entgehen können wie jenen. Und dann müßte dieser Mund, der von leiser Bitternis umwittert ist und umstrahlt von einem noch leiseren Lächeln, dann müßte dieser Mund also zu singen beginnen, dieser schwermütige Mund und diese schwermütige Seele. Aber er singt ja, dieser Mund, sie singt ja, diese Seele, und wer ihrem Sange lauscht, wird bald verspüren, daß es keine süßeren Lieder gibt als die aus einer trauervollen Seele geborenen. Sie haben etwas 16 Verhaltenes, etwas von verborgenen Tränen, zuweilen etwas von ganz zartem Spott, oft etwas von ganz zartem Lächeln und immer sehr viel von wissender Liebe. Weil aber dies alles zusammen ja bei weitem noch kein Lied ergäbe, sind sie umschimmert vom Geheimnis der Welt, das ja ein Geheimnis der Trauer ist und der Hoffnung.

Aus diesem seltsamen Zwieklang erhebt sich der Humor. Aus der Weisheit dessen, der sein Leben zwischen diesen beiden Polen heimisch gemacht hat, blüht das Idyll auf. Wenn aber etwa beim Anhören dieses Wortes einer meinen sollte, es sei kein Wort, das in diese Zeit hinein gesagt und verteidigt werden könne, dann soll er sich nur zeigen lassen, wie oft auch noch die zerstörten Großstädte Heimat sind für zarte, trostvolle Idylle.

Idylle sind ja nichts anderes als bescheidene Bilder der unzerstörbaren Zuversicht, als stille, lächelnde Akzentuierungen des sieghaften Wortes »Dennoch«.

So soll man denn den »Alten Turmhahn« lesen, und nachdem soviel reale Stubenseligkeit für immer zerstört ist, in dieser poetischen sich ansiedeln, um dann für immer in ihr beheimatet zu bleiben. Nietzsche, aus dessen Geist der Steppe vieles von dem aufgestiegen ist, was uns zum Unheil wurde, hat diese Stubenseligkeit verspottet, die ja nur aus der Bescheidung erwachsen kann, aus dem Sinn für Maß, aus dem Sinn für Stille, aus einer tief menschlichen Resignation, die dies alles und noch viel mehr in sich schließt.

Das aber ist ja, von allem anderen abgesehen, auch schon ein wichtiger pädagogischer, autopädagogischer Grund, sich 17 dazu zu bekennen. Es ist wahrhaftig unter den Umständen, unter denen es geschieht, kein bequemes und gedankenloses Bekenntnis.

Einer der schönsten Mörikeverse heißt:

»Der Sonnenblume gleich
steht mein Gemüte offen.«

Was lebt nicht alles in diesen paar Worten! Sonne und Blume, Garten und Welt, selige Enge und feierliche Weite. Möchte der unsterbliche Geist des schwäbischen Pfarrherrn uns mit all dem segnen!

Goethe, Hölderlin, Claudius, Mörike! Auf diese vier großen und geliebten Namen wollte ich mich beschränken, weil wir ja hier in all unserer Armut einer Fülle begegnen dürfen, der man anders als sich bescheidend überhaupt nicht inne werden kann. Aber da nun wiederholt die Worte Maß, Bescheidung, Resignation, Pädagogik gefallen sind, ist mit ihnen, ohne daß ich es wollte, ein anderer Name noch beschworen, der nun nicht mehr verschwiegen werden kann, der Name Adalbert Stifters. Dieser große Prosaist unserer Sprache ist zugleich einer der großen abendländischen Erzieher, der in jedem seiner streng geformten, lauteren deutschen Sätze die Verbindung des wesentlichen Bestandes unserer Kultur mit der Latinität ausdrückt. Man kann den Nachsommer wirklich nicht lesen, ohne immer mehr gezwungen zu werden, der Maßlosigkeit, der Formlosigkeit, der Unbändigkeit in unserem eigenen Inneren abzusagen und uns wieder einmal dem Gesetz der Form zu unterstellen, welches ja das eigentliche Gesetz des abendländischen Geistes und des abendländischen Lebens ist. 18

Hätte man in unseren Schulen einen geringen Teil der auf nordische Träume und Phantasien gewandten Mühen dazu genutzt, den jungen Menschen den Zugang zu dieser gewiß strengen, aber in aller Strenge wunderbaren Welt zu ermöglichen, was für eine Frucht hätte da gedeihen können!

Hier ist unser Wesen ohne Verzerrung, ohne Uebersteigerung, in allem Glanz und in aller Demut. Die Geschicke unseres Volkes hätten sich anders gestaltet, wenn jene Kräfte, die, innerhalb des Limes Romanus sich entfaltend, die Zucht und Mäßigung des römischen Geistes bewahrten, sich hätten durchsetzen und für das Ganze zur Geltung bringen können. Statt dessen ist Volk und Land den Mächten der Steppe ausgeliefert worden, die es in alle Stürme und Wirbel sarmatischer Maßlosigkeit hineinrissen. Wir haben dafür bezahlt und bezahlen noch. Aber kein Preis ist zu hoch, um den wir uns die Einsicht in unser wahres Wesen erkaufen, in seine Notwendigkeiten und seine alle Untergänge überdauernden Hoffnungen.

Adalbert Stifter ist ein strahlender Ausdruck dieses Wesens. Nachdem wir so vielen unmöglichen Lehrern erlegen und zum Opfer gefallen sind, wäre es an der Zeit, daß wir uns den möglichen, den notwendigen hingäben.

Einer von ihnen ist Stifter.

Bei diesen fünf Namen muß es nun bleiben. Jeder wird verstehen, daß sie den uns bleibenden Reichtum nicht erschöpfen, sondern eher die Bezirke und Landschaften anzeigen sollen, in denen wir zu suchen haben.

Hier ist nicht nur schuldlos gebliebenes deutsches Wesen, sondern unzerstörbares frucht- und segenspendendes. 19

Es ist seltsam, daß die Zeit einen zwingt, ein Fazit zu ziehen wie ein Kaufmann, aus Dingen und Gegebenheiten aber, die sich allem rechnerischen Geist ganz weit entziehen.

Wem etwa wäre es im 18. Jahrhundert eingefallen, ein Gleiches zu tun? Das Fazit wurde gelebt und nicht geschrieben. Was man besaß, war zu selbstverständlich, als daß man es diskutiert hätte. Wenn es aber damals irgend jemand eingefallen wäre, Betrachtungen solcher Art anzustellen, dann hätte er sicher nie daran gedacht, den Kreis seiner Betrachtungen auf ein Land oder eine Sprache zu verengen. Damals war europäischer Geist lebendig, und was dieser Geist gebar, das lebte für alle und war fruchtbar für alle, ganz zu schweigen von der Hoch-Zeit des Mittelalters, für welches das Gleiche in viel großartigerer Weise noch gilt.

Nun: heute haben diejenigen, die von der Einheit des europäischen Geistes durchdrungen sind, anders als im letzten Jahrzehnt, die Freiheit, sich dazu in einer Form zu bekennen, die keine Verzerrung und keine Vergewaltigung bedeutet. So können denn auch wir im Westen mit der Freiheit, die uns lange genug beschränkt war, von unserer Verbundenheit mit dem französischen Wesen und mit der französischen Kultur Zeugnis ablegen. Von dieser Freiheit aber Gebrauch zu machen, sollte wenigstens den, der auch wider den Wind und wider das Wohlgefallen der Mächtigen dieser Liebe treu blieb und ihr Ausdruck verlieh, nicht in den Geruch des Opportunismus bringen dürfen, der ja freilich zu den durchdringendsten Gerüchen der Zeit gehört. 20

Das Fenster, an dem ich jetzt sitze um zu schreiben, geht nach Westen, und es ist für den Knaben schon immer ein Fenster in die Welt und in die Freiheit gewesen. Der Wind, der die Wolken vom großen Meer des Westens her zu unseren durstigen Gärten und Aeckern trägt, hat die Kathedralen Frankreichs umrauscht und trägt die geheimnisvollen Klänge ihrer Orgeln herzu und die Knabenstimmen, die in ihnen die Messe singen wie vor tausend Jahren, das Kyrie, das Gloria und das Credo. Nicht weit vom Fenster und vom Hause entfernt dunkelt der Wald. Wenn die Sonne scheint, morgen früh, werde ich ihn durchwandern, werde die sanfte Höhe ersteigen, die er bedeckt, und dann in dem Licht des Regenwindes, das dämmerig ist und dennoch alles näherrückt und verdeutlicht, die Hügel Lothringens sehen, die Hügel Frankreichs. Ich habe nie verleugnet, daß sie mir nicht räumlich allein immer unendlich näher gewesen sind als der Harz oder der Thüringer Wald oder auch die sandigen Ebenen der Mark Brandenburg. In ihnen ist noch der gleiche geheimnisvolle Rhythmus wie in den Hügeln unseres eigenen Landes, und der Wind, der von ihnen herkommt, trägt sehr vertraute Klänge und brüderliche Ahnungen in unsere stillen Stunden und in unsere schweigenden Nächte hinein. Hier wo ich sitze, war vor fünfzig, sechzig, siebzig Jahren die Schlafkammer meines Großvaters, des guten Jean Mathieu, und wenn er um Mitternacht gerufen wurde, um zur Glashütte hinüberzugehen, wo dann das Glas soweit war, daß die Lehrjungen die Pfeifen hineintauchen und die Meister sich ans Formen geben konnten, dann stand er vielleicht, ja wahrscheinlich, an diesem Fenster und blickte nach dem Wald und nach 21 den Hügeln hinüber, hinter denen seine Heimat lag, hinter denen die Städte lagen, die er vor allem liebte, Metz mit seiner Kathedrale und Nancy mit seinen goldenen Toren.

Ich bin in einer ganz anderen Zeit aufgewachsen als er. Ich habe andere Welten, andere Bezirke des Geistes und des Lebens kennen gelernt als er. Mir ist Goethe aufgegangen und Beethoven, von denen er vielleicht die Namen nie gehört hat, und unzähliges Andere. Ich weiß aber trotz allem, daß uns, wenn wir Jahre meines reiferen Lebens hätten zusammen wandern dürfen, ein sehr verwandtes Lebensgefühl miteinander verbunden hätte. Und zwei Dinge habe ich – unter anderem – von ihm geerbt: eine unerbittliche Abneigung gegen alles preußische Wesen und eine tiefe Liebe zu dem sanften, menschlichen Land im Westen.

Ich habe bis in die Tage der Nazigreuel hinein nie daran gedacht, daß ich etwas anderes sein könnte als ein Deutscher. Aber das Wort, das irgend jemand irgend einmal geschrieben hat, jeder Mensch habe zwei Vaterländer: das eigene und dann Frankreich, dieses Wort hat für mich immer eine besondere Realität gehabt. Und so geht es vielen hier im Westen und zumal in meiner Heimat.

An wie manchem Tage haben wir doch hier gesessen und von Chartres geschwärmt, ja wahrhaftig geschwärmt, wie von einer großen, wie von einem über die Maßen herrlichen Traum. Chartres, Notre-Dame! Das gehört zu unserem Leben, nicht viel anders als zu dem unserer Nachbarn im Westen und nicht viel anders als Freiburg oder Trier zu uns selber gehört. 22

Immer schon, wenn der karge Geist von Potsdam und seine Hörigen dieses Land zwischen den drei Meeren in unseren Augen und in unseren Herzen herabsetzen wollten, ging der Blick unserer Seelen zu den Türmen jener Kathedralen und fand in ihnen das Bild einer freien ausgeglichenen Größe, den Ausdruck einer Seele, die ebenso sehr dem Unendlichen geöffnet ist, wie sie das Endliche umfaßt und meistert. Die Fassade der Kathedrale von Reims war für uns immer eines der erhabensten Bilder des Abendlandes. Hier ist auf keinen Zug aus der unendlichen Fülle des Lebens verzichtet. Hier ist nichts von Enge oder ängstlicher Bescheidung. Aber alles ist geordnet, wie die Welt geordnet ist in den Terzinen der Divina Comedia. Sie ruht so fest und breit auf der Erde, auf dieser guten, fruchtbaren Champagnererde, daß sie mit ihrem Wurzelwerk wahrhaftig die ganze Erde zu umfassen scheint. Mit ihren mächtigen, stumpfen Türmen aber strebt sie nicht wie die Helme der deutschen Münster zu irgend einem einzelnen strahlenden Stern empor, sondern zu dem ganzen unendlichen Sternenhimmel mit all seinen Bildern und Figuren, mit seinem ganzen mythischen Reichtum und mit all seinen aus grauester Vorzeit ins Licht und ins Unzerstörbare geretteten Erinnerungen und Hoffnungen.

Wenn das Angesicht Frankreichs einmal verzerrt wäre, wie es ja jedem Antlitz zu Zeiten geschehen kann, hier ist ein Zauberspiegel, in dem es zu jeder Stunde und auch noch in der dunkelsten Nacht das edle und unverfälschte Bild seines Wesens wiederfinden könnte. Und nicht nur Frankreich könnte es. Hier ist ein Zauberspiegel des Abendlandes, mächtig genug, die 23 Söhne des Abendlandes das Bild ihrer wahren Heimat nicht nur erblicken, sondern auch immer wieder verwirklichen zu lassen.

Chartres! Vor dem Krieg also war das der Name einer großen abendländischen Wallfahrt, die unser Leben und unsere Arbeit segnen sollte. Jetzt ist es der Name einer großen, ohne Erfüllung gebliebenen Hoffnung. Aber nein, das sollte ich nicht sagen, da dieser Name in meinem Leben seit langem soviel Wirklichkeit besitzt, daß eine reale Begegnung ihr zwar noch vieles, aber nicht alles hinzuzufügen hat. Vor mir liegt von einem Fensterausschnitt, der die Legende des hl. Eustachius darstellt, eine jener vollendeten farbigen Abbildungen, die mit ein paar anderen Dingen dartun, welche wahrhaftigen consolations humaines, menschliche Tröstungen, aus der Technik erwachsen können, die doch soviel Unheil geboren hat.

Um etwas Gültiges darüber zu sagen, müßte man im Wort viel mehr Gewalt über die Farbe haben, als man haben kann. Farben sind natürlich Urgegebenheiten und wunderbare, zauberhafte. Wer auch nur einmal einen Fleck tiefblauer Enziane am Rand unendlicher Schneefelder gesehen hat oder das leuchtende helle Gelb der Forsythienfahnen in einem grauverhangenen Märztag, weiß das. Aber Farben vermögen auch Medien des menschlichen Herzens, der unsterblichen Seele zu sein, und wenn sie es sind, dann wachsen sie über ihr natürliches Maß, über ihren natürlichen Reichtum hinaus ins Ungemessene, Mystische. Das ist, wenn irgendwo, in den Fenstern von Chartres geschehen.

Auf dem Ausschnitt vor mir gibt es ein Blau, dessen Anblick genügt, um ein Jahr der Träume mit inbrünstiger Stille 24 und gesättigten Bildern zu erfüllen. Es ist ein Blau der tiefen, strahlenden Nacht, aber was für einer menschlichen Nacht, einer von tausend Leiden und Liedern gesegneten, von den Seufzern der Liebenden und der Sterbenden gleichermaßen durchbebten, einer Nacht, in welche die Städte der Menschen hineinragen, dunkeln und leuchten, und die Burgen Gottes.

Und da gibt es ein Grün, das nicht nur das Grün des Lebens ist, sondern des ewigen Lebens, voll Dunkelheit und Helle, voll Tröstung und Verheißung, aus dem Urgrund der Erde heraufgewachsen und aus dem Urgrund des menschlichen Herzens, dem Frühling des Gartens zugehörig, aber mehr noch dem Frühling des Glaubens und der Liebe. Was für ein Gottes- und Menschenfest von Grün!

Zum Blau und zum Grün aber gesellt sich ein Rot, das wie das Rot gebändigten Blutes ist und gebändigten Feuers. Blutes, das in den Adern alter, vornehmer Geschlechter fließt, voller Kraft und voller Zucht. Feuers, das in den offenen Kaminen der Schlösser brennt, der Klöster und Domschulen, genährt vom Eichen- und Buchenholz der tiefen Wälder. Ein Rot ist es, in dem sich die Frierenden die Hände wärmen können und das Herz, von dem angeschimmert die blassen Tage der Greise blutvoller und farbiger werden, die Nächte der Trauernden von Zuversicht durchleuchtet.

O, ihr Farben von Chartres! Wer euer Loblied singen will, der muß zugleich das Loblied jeder menschlichen Tapferkeit und jedes menschlichen Aufschwungs singen, denn tapfer seid ihr und menschlich und voll von allem Glanz der errungenen 25 Höhe. Man kann ja, wie ungezählte Maler getan haben, die Farben der Erde nehmen, ohne sie im Schmelztiegel des Herzens zu glühen und zu vollenden. Sie sind gewiß sehr wunderbar, so wie sie sind. Aber verwandelt sind sie wunderbarer. Ist nicht überhaupt Chartres ein Fenster der Welt in das Wunderbare? Und dringt nicht durch dieses Fenster herein der Ruf der Unendlichkeit, nicht nur an Frankreich, sondern an die Welt? Wir werden einmal vor den Portalen von Chartres stehen und dann in dem tiefen, farbigen Licht seiner Fenster untergehen und neugeboren werden. Nicht viel mehr trennt uns von diesem Tag als eine Frühlingsfahrt über die geliebten Hügel, die nun dem Frieden und der neuen Zeit entgegenatmen.

Kathedrale »Notre Dame«, Paris

Vor den Toren von Notre-Dame de Paris aber haben wir gestanden mehr als einmal, zuletzt noch wenige Tage bevor der Ruf der Freiheit die Straßen von Paris erfüllte und von den letzten Spuren der fremden Gewalt befreite.

Die Ile de France, die Herzinsel Frankreichs, trägt Paris. Das ganze Land sammelt sich für diese Stadt, die es selber ist. In dieser Stadt wiederum gibt es die Insel, die die Kathedrale trägt, wahrhaftig eine Insel der Stille und des Glaubensfestes, der Zuversicht und der Liebe, das Herz des Herzens Frankreichs.

Die meisten Kathedralenstädte lassen ihre Kathedralen aus dem bunten Gewirre demütiger alter Häuser aufsteigen. Aber Paris ist mächtig genug, um der seinen einen Raum von Stille und Andacht zu schaffen, in der sie atmen und die Flügel regen kann. 26

Ich habe damals, in jenen seltsam brodelnden Julitagen, lange davorgestanden, dankbaren Herzens, weil dies doch nicht untergegangen war in der Welt des Untergangs. Und dann bin ich eingetreten wie ein Pilger aus alten Tagen, wie der ewige Pilger, und habe zu unserer Lieben Frau von Paris gebetet, sie möge ihre Stadt von der gegenwärtigen Knechtschaft befreien und in Zukunft vor jeder anderen bewahren, ihre Stadt und ihr Land, Antlitz und Seele.

Es war aber in dieser Stunde, als ob das gläubige Herz der Stadt und des Landes in dieses Gebet einstimmte. Als wenn Chöre von Mönchen und Nonnen aus allen Jahrhunderten Amen sagten, die Kreuzfahrerheere wie all die Mystiker und Missionare, die aus der Stille ihrer Zelle oder aus der Einsamkeit afrikanischer Wüsten heraus immer wieder ihre liebenden Gedanken an dieses schlagende Herz ihres Landes und ihres Glaubens wandten.

Wir haben lange bei den Kathedralen Frankreichs verweilt. Aber sie sind ja Frankreich selber, wenn überhaupt irgendetwas Frankreich ist. Wer sich in sie versenkt hat, hat sich in das Geheimnis des Landes versenkt, in das Herz dieses Geheimnisses, und ist dann nachher auch den Gedanken seines Hauptes und dem Schlag seiner Pulse nahe.

Um nur ein Beispiel zu nennen: lch bin kein Kunsthistoriker. Aber wenn ich einer wäre, was für einen wunderbaren Ausgangspunkt bedeuteten dann die Farben von Chartres für eine Geschichte der Farbe in der französischen Malerei und in der Welt des französischen Geistes. Es versteht sich, daß die Farbe in der Geschichte jeder Malerei unendlich viel bedeutet. Wir 27 kennen die süßen, reifen Farben der italienischen, die von den Früchten dieser saturnischen Erde genommen sind, von ihren Pfirsichen, Trauben, Feigen und Orangen. Wir kennen auch die ekstatischen der spanischen, die vom Nachglanz langer Meditationen schimmern, die zuweilen als Zeugen der Inbrunst nicht nur, sondern auch des Fanatismus erscheinen könnten. Wir lieben die satte, saftige Farbgebung der Flamen, die gelassenere, kühlere der Holländer und die oft genug träumerische und märchenhafte der Deutschen.

Aber die französische ist, wie wir glauben möchten, die menschlichste. Das heißt: diejenige, die der ganzen Wirklichkeit am meisten gerecht wird, der physischen und der metaphysischen.

Ich will aus der Fülle der Namen, die sich da bieten, nur zwei nennen, zwei sehr gegensätzliche, in deren Gegensätzlichkeit sich sehr viel von der Weite des hier Möglichen und Verwirklichten offenbart: Fragonard und Cézanne.

Fragonard, das ist die Vollendung des 18. Jahrhunderts. Das ist der schimmerndste Glanz seines leichten, zitternden Lichtes, die zarte, lächelnde Farbigkeit einer schönen, aber dem Untergang geweihten Welt, Farbe voll Geist und Witz, voll einer Leidenschaft, die zur spielerischen Galanterie abgewandelt ist.

Wenn man sich in seine Bilder versenkt – es gibt eine schwärmerisch-geistvolle Erzählung, nach der ein Knabe sich so sehr in ein Gemälde verlor, daß er darin unterging und eine seiner Figuren wurde –, dann hört man gewiß die schwebenden Menuette des ancien régime und das silberne Lachen seiner schönen, leichtsinnigen Frauen. Aber man wird auch nicht 28 Irren, wenn man hinter allen klingenden Kaskaden des Leichtsinns den Klang der Melancholie zu vernehmen glaubt, jener ahnungsvollen Melancholie, der die Wirklichkeit der Revolution und des Untergangs antworten sollte.

Fragonard, das ist Frankreich, daran ist kein Zweifel, leichtes, strahlendes, liebenswürdiges und geliebtes Frankreich, und wenn vor den Szenen seiner Bilder auch einmal der blut- und feuerrote Vorhang von 1789 gefallen ist, er hat sich längst wieder gehoben und sie leuchten im Licht der Unvergänglichkeit.

Aber Cézanne ist ebenso Frankreich. Ein ganz anderes Frankreich, wie zuerst scheinen könnte, ein ernstes, strenges gegenüber jenem leichten, schwebenden, ein ländliches gegenüber jenem höfischen. Betrachtet doch nur die Dorfstraße, die er gemalt hat, und ihr werdet in dem dörflichen, bäuerlichen Frankreich sein, in es hineinversetzt durch die Magie des Herzens, die trotz allem die letzte Magie der Kunst ist.

Bäuerliches Frankreich! Aber weiß Gott, kein plumpes, dumpfes, sondern das gleiche, auf dessen Aeckern das wunderbarste Brot der Welt reift und der wunderbarste Wein, Chambertin, Nuits St. Georges und Anjou.

Bäuerliches Frankreich der fruchtbaren Aecker nicht nur, sondern auch der träumenden Gärten, wohlverwahrt hinter festen, aber nicht allzu hohen Mauern, der stillen, traditionsgesättigten Häuser und der uralten Bäume, jener Bäume, die Brüder und Schwestern der Bäume Jeanne d'Arcs sind, aus denen sie ihre Stimmen hörte.

Bäuerliches Frankreich der Dorfkirchen aus allen Jahrhunderten mit eingemauerten römischen Altarsteinen und 29 Fragmenten von Mithrasstätten, mit verschlafenen Manoirs und Schlössern, in denen das 18. Jahrhundert noch nicht gestorben ist.

Das alles ist Cézanne, auch wenn er nur eine Dorfstraße malt. Wie verschieden von dem Frankreich Fragonards! Und doch klafft das nicht auseinander, ist hier jedenfalls keine Kluft, über die nicht eine schwingende Brücke zu bauen wäre.

Es sind zwei Aspekte der gleichen Sache, des gleichen Lebens, der gleichen Seele.

Cézanne ist so gut wie Fragonard im Süden geboren, in Aix der eine, in Grasse der andere, und ihnen beiden ist Paris das Medium des großen, gemeinsamen, einigen Frankreich geworden, sodaß es niemand einfallen könnte, zu fragen, ob der Meister des 18. Jahrhunderts oder der des 19. aus der Auvergne etwa stamme oder aus der Charente. Und wäre nicht Aehnliches zu sagen von Claude Lorrain, von Nicolas Poussin, von Watteau, von Renoir, von Manet?

Frankreich ist seit langem geeint, nicht nur politisch, sondern auch geistig. Wenn einmal mehr die gallischen und einmal mehr die römischen Züge seines Wesens in Erscheinung treten, dann ist doch immer dafür gesorgt, daß der Haushalt seines Geistes im Gleichgewicht bleibt.

Nehmt Rabelais, Gargantua et Pantagruel! Was für ein ungeheuerliches Wagstück gallischen Witzes! Was für eine abenteuerliche Sammlung spätgotischer Wasser- und Weinspeier! Was für barbarische Sauf- und Freßszenen! Was für Derbheiten und ungehobelte Kraftsprüche! Und das alles herausgeschleudert mit einer unvorstellbaren Kraft, mit einem wahrhaft 30 genialischen Ueberschwang, aus einer Fülle heraus, von der man mit Sicherheit spürt, daß sie unerschöpflich ist

Und doch hat Frankreich diese Ungeheuerlichkeit verdaut ohne ernsthafte Beschwerden, ohne Blähungen und ohne Schmerzen. Es hat sich gewissermaßen die gallische Komponente seines Wesens darin deutlich, überdeutlich gemacht, um dann desto sicherer der Gefahr zu entgehen, die in ihr liegt. Anderswo wäre ein solcher Brocken viel unverdaulicher gewesen und hätte in seiner Unverdaulichkeit eben Wirkungen erzielt die für Frankreich ebenso unerwünscht wie unmöglich waren.

Es gibt den Gargantua, aber keine Gargantuaperiode der französischen Literatur und des französichen Geistes. Aber zwanzig Jahre noch in das Leben Rabelais' hinein ragt das von Michel Montaigne, dessen höchste Weisheit équilibre, Gleichgewicht hieß.

Er mußte nicht verdaut werden wie Rabelais. Er ist der authentische Ausdruck jener französischen Kräfte, die immer und überall auch die Assimilierung des Fremdesten noch bewältigen.

Es gibt immer Angriffe auf diese Kräfte. Es gibt immer Gefolgsmänner und Schüler Léon Bloys. Die Worte équilibre, modération und ähnliche werden immer mit der Wut und dem kaum verhohlenen Haß ausgesprochen werden, dessen Akzent sie bei Georges Bernanos etwa haben, aber sie werden doch immer die Ideale des französischen Lebens bleiben und die siegreichen.

Daß es einen Andre Gide gibt, der mit fanatischer Unablässigkeit »partir, rien que partir« verkündigt, daß es all das an 31 Abenteuer und Risiko gibt, was hinter diesem Namen steht, das bewahrt den französischen Geist und das französische Leben vor Stagnation.

Aber darum hört dieses Leben doch nicht auf, wesentlich ›la terre et les morts‹ zu sein, das inbrünstige, alle Tiefen ausschöpfende Daheimbleiben zwischen den Collines inspirées von Maurice Barrès.

Die Vielfältigkeit des französischen literatischen Lebens wird erst dann richtig verstanden, wenn sie aufgenommen wird unter dem Aspekt der geistigen Einheit des Landes.

Wie schon gesagt: man mag, wie es gelegentlich auch von Franzosen geschieht, das gallische Frankreich oder auch das keltische, was wieder eine Nuance ist, dem römischen gegenüberstellen. Aber das ist dann nicht viel anders, als wenn man die beiden Elemente des Wassers, Wasserstoff und Sauerstoff also, einander gegenüberstellt und von ihren Verschiedenheiten und Gegensätzlichkeiten handelt. Das Wasser bleibt doch eine der großen, selbstverständlichen, einheitlich gegebenen Tatsachen unseres Lebens, und keiner, der mit der Quelle, dem Brunnen, dem Bach, dem Fluß, den Wolken und dem Regen zu tun hat, fragt nach H2O und nach Wasserstoff und Sauerstoff!

Stendhal, Flaubert, Balzac, jeder von ihnen ist Frankreich. Ebenso wie Baudelaire, Verlaine, Rimbaud, Bernanos, Mauriac, Giono. Aber jeder von ihnen ist Frankreich nur kraft einer geheimnisvollen, sozusagen unterirdischen Verbundenheit mit den anderen, auch mit den gegensätzlich Gearteten. Und wenn etwa ein Vertreter der action Française es mit Entrüstung von sich wiese, mit irgend einem erklärten Republikaner 32 irgend etwas zu tun zu haben, so wird ein solcher Protest an den Tatsachen so wenig ändern wie der Protest der immer noch vorhandenen Ptolemäer gegen das kopernikanische Weltsytem an der Umdrehung der Erde um die Sonne.

(Historisches Bildarchiv Handke, Berneck)

Man kann auf ein paar Seiten den Reichtum des französischen Geistes ebenso wie den des deutschen nur ahnen lassen. Man kann gewissermaßen nur hungrig und durstig machen auf dieses Brot und diesen Wein, an dem man uns mit dem Kommißbrot und Bier des preußischen Geistes den Geschmack verderben wollte.

Aber dies muß doch noch gesagt werden: Während im Bereich des deutschen Lebens eine unüberbrückbare Kluft sich aufgetan hatte zwischen Geist und Tat, zwischen Kunst und Politik – auf der einen Seite Friedrich II., Bismarck, Hitler, auf der anderen Bach, Hugo Wolf, Hindemith –, blieb Frankreich im Ganzen die Einheit zwischen beiden erhalten.

Stefan George, den Goebbels so gerne zum Dichter des Dritten Reiches gemacht hätte, starb in der Einsamkeit, gegen die aufkommenden Greuel geschirmt durch eine Mauer aus schweigender Verachtung. Er bestand auf einem Grab im Schweigen und in der Fremde. Tod und Begräbnis Paul Valérys ging ganz Frankreich an, Land und Volk und Staat. Ernst Wiechert dokumentierte den Zusammenhang mit dem Leben seines Volkes durch seine Leidenszeit im Konzentrationslager. François Mauriac schreibt politische Leitartikel in den Figaro. Das Zweite ist besser als das Erste. Das ist klar. Aber wir hoffen auf eine Zeit, in der es nicht nur von Wiechert 33 eine neue »Magd des Jürgen Doscocil«, sondern auch von Mauriac einen neuen »Noeud de vipères« geben wird. Wir hoffen auf neue Racine- und Goetheausgaben, auf Musikfeste, bei denen sich der Bogen von Bach bis zu Ravel wölbt.

Wir hoffen auf ein europäisches, auf ein abendländisches Zeitalter, in dem alles Bewahrte lebendig und alles Lebendige fruchtbar sein wird.

Indem wir aber warten und hoffen, wollen wir nichts versäumen, das Eigenste zu realisieren, die Kräfte der Heimat. Gerade das wird unser Beitrag zur neuen Welt sein.

Tausend Jahre und länger hat unsere Heimat eine kontinuierliche und in ihrer Kontinuität sinnvolle Geschichte gehabt. Tausend Jahre hindurch, bis zum Jahre 1815 nämlich, in dem wir preußisch wurden, oder vielmehr das Land, das Gefüge seines äußeren Lebens. Denn wir selber sind nicht preußisch geworden, oder doch nicht allzu viele von uns.

Aber schon daß das Land preußisch werden konnte, seine Verwaltung, seine Einrichtungen, das genügte, um vieles von unserem eigenen Wesen, unserem Leben, unserer Geschichte, unserer Überlieferung zu überdecken.

In dem Roman »Der Neffe des Marschalls« wurde versucht darzustellen, wie Saarlouis und das Saarlouiser Land der dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts sich gegen diese Entwicklung wehrte.

Um zu sehen, wie unser Land war und wie es werden sollte, muß man nebeneinander etwa das Saarlouiser Journal und den Regierungsanzeiger aus jenen Jahren lesen. 34

Saarlouiser Journal: »Der alte Geist der Freiheit, des behaglichen Daheimseins in den Stadtstraßen und in den Feldern und Wäldern vor den Toren. Der Geist des Humors, ja einer leichten schwebenden Ironie. Ein ausgesprochener, inbrünstiger Heimatsinn, dabei eine selbstverständliche, über alle politischen Grenzen sich lustig machende Verbundenheit mit Lothringen und ganz Frankreich. – Immer wieder sind die Modistinnen gerade mit den neuesten Mustern aus Paris gekommen. Immer wieder sind frisch eingetroffene Burgunderweine zu haben –.« Ein Kantönligeist echtester Prägung und zugleich eine europäische Haltung, wie sie uns heute noch als Ideal erscheinen muß.

Das also ist das Saarlouiser Journal, die Stimme unseres bescheidenen, in all seiner Bescheidenheit unendlich geliebten Landes!

Und nun die Stimme des Regierungsanzeigers, die Stimme Preußens!

Da ist die »Spartanersuppe,« die dem hungernden Volk vom Herrn Landrat empfohlen wird und zu der man doppelt soviel Salz wie Fett benötigt und fünfmal soviel Quecken wie Kartoffeln.

Da hat gleichfalls der Herr Landrat überlegt, daß die Armen sich vorteilhafterweise Betten aus Buchenlaub beschaffen sollten, während er der Mittelklasse solche aus Schweineborsten empfiehlt. (Die Reichen haben offenbar nicht verdient, daß er sich mit ihnen beschäftigt.) Es gibt da eine aufdringliche Art von Sorge, hinter der man immer den Stock der Soldatenkönige wittert. Eine Art von Führung, die den Tagelöhnern und den 35 Kätnern des Ostens angemessen sein mochte, aber keineswegs unseren Ahnen, die, auch wenn sie arm waren, frei und selbständig sein wollten und mußten, und die ihre sonntägliche Rindfleischsuppe oder ihre winterliche Boudin ebenso zu einem Fest der Welt und des Lebens zu machen wußten, wie die Herren von Barnewitz oder Bredow oder wie sie sonst hießen, ihre Rehkeulen und Fasanen. Nur daß es bei uns schon Rindfleischsuppe und Boudin gab, als im Land der Barnewitze und Bredowe noch die Pferde gemolken wurden.

Und dann gibt es immer wieder Listen von Deserteuren. Das heißt: von armen Burschen aus einem Gau- oder Hochwalddorf, denen endlich der Drill und die Kaserne und der Unteroffizier und dieses ganze starre und unfruchbare Leben unerträglich geworden war, so daß sie sich in die tiefen Wälder ihres Heimatlandes verzogen, in der Hoffnung, daß es ihnen schließlich gelingen würde, über die Grenze und in die Freiheit zu kommen.

Ihre Steckbriefe sind noch zu lesen auf diesen fleckigen, mehr als hundertjährigen Blättern. Der Zorn, ja der Haß ihrer Herren bebt in diesen bösen, trockenen Zeilen. Aber man sieht auch die Gesichter, gegen die dieser Zorn anwogt, diese demütigen, todtraurigen Gesichter armer, junger Bauern oder Tagelöhner, die lieber Mutter und Liebste nicht mehr wiedersehen wollten, als noch drei oder vier oder fünf Jahre die unerträgliche Luft des preußischen Militarismus zu atmen.

Aber diese Desertionen, die nicht aus einer politischen Haltung, sondern aus rein menschlicher Abwehr heraus geschahen, gehörten auch zu den wenigen Protesten gegen die 36 Verwandlung unseres Landes. Irgend jemand hat um 1820 herum mit Bezug darauf gesagt: »Wir haben in eine arme Familie hinein geheiratet,« und einer antwortete: »Arm ist nicht schlimm. Wenn es nur nicht eine so fremde Familie wäre.« Aber fast niemand erkannte klar, wie sehr die erzwungene Heirat unser innerstes Wesen vergewaltigen wollte. Unseren Vorvätern war es zu natürlich, die Luft der Freiheit zu atmen, in noch so bescheidenem Rahmen ihr eigenes Leben zu führen, als daß sie dafür im Ernst Gefahren hätten befürchten können.

Dabei gab es nicht nur die Landräte, die Spartanersuppen verfügten und über die man lachen konnte, wenn man wollte, sondern auch die Bergräte und die berühmten Bergassessoren, die die wirklichen Herren des Landes waren, die bis in den Suppentopf hinein regierten und ihre Morgenritte bis in die katholischen Prozessionen hinein ausdehnten. Es gab die Gendarmen aus Ostpreußen und aus der Mark Brandenburg, die sich als Vorgesetzte innerhalb und außerhalb des Dienstes fühlten und die legitimsten Vorfahren der Ortsgruppenleiter waren. Sie überzogen das Land mit Netzen des Seelenfangs. Wer sich ergab, wer sich fangen ließ, der hatte eine Art herablassenden Wohlwollens zu erwarten, und wenn es hoch ging, den roten Adlerorden vierter Klasse. Wer sich nicht ergab, der mußte erfahren, wie erfinderisch auch noch ein dürrer Geist in Schikanen sein kann.

Und dann gab es die Schule, in der die Kinder dieses uralten abendländischen Landes singen lernen sollten: Ich bin ein Preuße – –. Ich selber habe es nie gesungen. Aber die meisten sangen es doch und die meisten glaubten 37 was sie sangen. Wie sollte das bei Kindern auch anders sein?

Es gab die Schule, in der man von Albrecht dem Bär bis zu Wilhelm II. jede lächerliche Kleinigkeit der preußischen Geschichte kennen lernen mußte, aber nie etwas über Wadgassen oder Berus, über Saarlouis oder Sankt Wendel, über Trier oder Metz hörte.

Wir waren eingesponnen in fremdes Leben und sollten das eigene vergessen und aufgeben. Wir sollten lernen und uns daran gewöhnen, eine preußische Provinz zu sein, preußische Untertanen, preußische Soldaten, preußische Reservisten, preußische Landwehr- und Landsturmmänner, und darin unser Leben erschöpfen.

Wir sollten das lernen und manche haben es gelernt.

Wenn ich das Bild meines Großvaters, der als Glasmacher ein Bürger, ein Herr, ein freier Mensch jedenfalls war, wenn ich sein Bild also gegen das eines Achtzigjährigen halte, der mir täglich begegnet, der für eine Pfeife Tabak gehorsamst und mit zusammengeschlagenen Hacken dankt, dann sehe ich, wie das Menschenbild unserer Heimat sich doch mancherorts verwandelt hat.

Was bleibt uns übrig, als es zurückzuverwandeln. Wir haben die Freiheit, die dazu erforderlich ist. Wir müssen diese Freiheit fruchtbar machen.

Da aber nur die Liebe fruchtbar ist, ist die Ablehnung und das Abtun preußischer und anderer Verzerrungen unseres Wesens nur ein geringer Teil der zu leistenden Erziehung und Selbsterziehung. Man kann sich dieser Aufgaben 38 entledigen auf eine sachliche Art oder ironisch oder zornig. Das hängt vom Temperament und von der Gelegenheit ab. Ich selber bin zu Zorn und Ironie gleichermaßen geneigt, wenn ich bedenke, was man uns alles angetan hat.

Aber die wesentlichere Aufgabe ist in jedem Fall die Förderung einer neuen Liebe zu unserem Land, zu unserem Stamm, zu unserem Wesen und zu unserer Überlieferung. Diese Liebe wird uns zu wachsenden Erkenntnissen führen, ebenso wie die wachsende Erkenntnis die Liebe tiefer und wesentlicher machen wird.

Und nun, damit wir aus dem Bezirk der allgemeinen Betrachtungen in den der konkreten Anregungen geraten, ein Beispiel: Berus.

Was alles läßt sich doch an diesem Monsalvat des Saarlandes ablesen für die Geologie und Geographie unseres Landes. Das bedeutet aber, daß wir hier am konkretesten Fall das Antlitz sowohl wie auch die Anatomie, den Knochenbau und die Muskelstruktur unseres Landes verstehen lernen. Man muß die Kiesel des Tales in der Hand halten und den Sandstein und den Kalk des Berges prüfen und so versuchen, hinter das Geheimnis des Werdens unserer Heimatlandschaft zu kommen. Das ist eine ganz nüchterne Arbeit, die keinerlei mythischen Dunst und keinerlei mystische Schwärmerei aufkommen läßt, die hingegen demütige Genauigkeit, inbrünstige Konzentration und unermüdliche Ausdauer verlangt. Wer sie leistet und im Geist dieser Tugenden leistet, der wird dann allerdings zuweilen, in besonders gesegneten Stunden, den Atem der Weltschöpfung geheimnisvoll um seine Stirn wehen fühlen. 39

Der wird dann aber auch an andere subtilere Arbeiten herangehen können, ohne daß er Gefahr liefe, Schwärmerei mit Subtilität zu verwechseln.

Da wäre das Problem des Namens von Berus, das bisher noch nirgends befriedigend gelöst oder auch nur ernsthaft in Angriff genommen worden ist. Um die ältesten Namen unseres Landes muß man ringen wie um Rubine, die in Urgestein eingesprengt sind. Es gibt bei den für Forschungen solcher Art so verdienstlichen Gebrüdern Grimm eine Art von antikeltischem Affekt. Damit ist in einer Landschaft von so fraglos keltischer Vergangenheit natürlich nicht weiter zu kommen. Andere hingegen – und ich selber gehöre dazu – neigen eher zu einer Art von Keltomanie. Aber man müßte ohne Affekte und ohne Manien in nüchterner Arbeit weiter zu kommen suchen. Man müßte alle Formen und Abwandlungen des Namens sammeln und vergleichen. Man muß die Namen der ältesten Siedlungen unserer Heimat heranziehen, jene, die weder der römischen Kolonisierung noch der fränkischen Landnahme entstammen, und sie im Zusammenhang mit Flußnamen, die ja zu den allerältesten gehören, zu deuten suchen. Bei einer solchen Bemühung wird Fleiß und Akribie ebenso notwendig sein wie Intuition und Glück. Aber damit man von Intuition und Glück gesegnet werde, muß man sich eben einmal ans Werk machen.

Und da wir schon bei dem Namen sind: was für ein abgründiges und aufregendes Kapitel ist das der Flur- und Gemarkungsnamen! In was für Tiefen unserer Vergangenheit, in was für Geheimnisse unserer Überlieferung führen sie uns 40 hinein. Überall! Und nun an einem Ort, der sicher seit mehr als zweitausend Jahren bewohnt und bebaut und beackert ist. Welche zarte und mächtige Freude, an dem Zipfel eines solchen Namens das ganze verschollene Gewand nicht nur unserer fränkischen, sondern auch unserer keltischen Vergangenheit zu fassen! Es wird gewiß solche Namen geben. Die unermüdliche Heimarbeit, der wir uns verschwören, muß sie zutage fördern. Und wenn es durchaus keine gäbe, weil sie gleichfalls verschollen wären, dann gäbe es um so sicherer eine Sage, eine Legende, die Geschlechter um Geschlechter in stiller Treue bewahrt und weitergegeben haben. Auf dem Grund ihrer vielleicht verschnörkelten Züge aber würde man das lange gesuchte Bild unseres Wesens und unserer Seele finden.

Wie die alten Lieder gesammelt worden sind, müßte man auch noch die bescheidensten Andeutungen der Volksüberlieferung sammeln, von Schlacken und Zutaten läutern und in große Zusammenhänge bringen.

Die Industrialisierung unseres Landes in den letzten hundert Jahren hat die Struktur seiner Bevölkerung verändert. Aber die Abgelegenheit des heiligen Berges von Berus ist der Erhaltung des Eigenen und Bodenständigen günstig gewesen und so ist gerade hier ein Ansatzpunkt auch für die Erforschung der Familiennamen. Sie müssen etymologisch untersucht werden und darauf hin, in was für Zusammenhänge regionaler, stammesmäßiger, wirtschafts- und kriegsgeschichtlicher Art sie hineinweisen. Wenn einer Leidinger oder Biringer heißt, ist das Rätsel natürlich rasch gelöst. Aber es gibt Namen, die 41 wirklich Nüsse zu knacken geben und die dann auch viel weiter und tiefer führen.

Man muß weiter das Bild der alten lothringischen Stadt, des jetzigen Dorfes, bis in seine letzten Züge hinein kennenlernen. Die sinnvolle Annahme, daß es sich auf diesem geschützten, weit ins Land hineinragenden Berg um eine der ältesten Siedlungen des Landes überhaupt handelt, muß das forschende Auge und die grabende Hand leiten und inspirieren, damit sie instand gesetzt werden, darzutun, wie hier ein Organismus eigener Art und eigenen Gesetzes die Jahrtausende überdauert hat und was für eine Art und was für ein Gesetz da wirksam gewesen ist.

Daß aber dieses bescheidene Dorf in seiner bescheidenen, aber unendlich bewegenden Kirche die Gebeine einer Heiligen der Frühzeit birgt – die unverbrüchliche Überlieferung des Volkes ist Zeuge dafür –, das führt diese Untersuchung in die letzte Tiefe der Weltanschauung und des Glaubens. Das mußte ihr Antrieb werden, eine gewisse relative Kontinuität des Lebens auch für diese metaphysischen Bezirke nachzuweisen oder doch als wahrscheinlich darzutun.

Wer einmal, eine Viertelstunde vor den Toren von Berus, in der geweihten Einsamkeit von Sankt Oranna gestanden und gebetet hat, dort wo die Heilige wirkte und mehr als ein Jahrtausend ihre Ruhestätte hatte, der muß geheimnisvoll gespürt haben, daß hier einer jener lothringischen collines inspirées, eine jener ewigen Stätten des Geistes und des Gebetes zu verehren ist, wie sie Barrès geschildert hat.

Da wir aber hier angekommen sind, begegnen wir wieder einmal einem jener tragikomischen Kontraste, die sich zwischen 42 den legitimen Bekundungen der Seele unseres Landes und den verkrampften Bemühungen der fremden Herren ergaben.

Ein strahlender Sommertag des Jahres 1719.

Die Glocken klingen landauf landab durch den Gau der heiligen Oranna,

Ihre Stadt ist mit Rosen und Lilien geschmückt.

Die engen Straßen wogen von festlich gekleideten Menschen.

Der heilige Berg hebt Glauben, Hoffnung und Liebe des Landes und seine innerste Herzensfreude hoch in den Himmel Gottes hinein.

Und dann gibt es Posaunenstöße und den Klang silberner Trompeten.

Von Sankt Oranna her naht der feierliche Zug, der die Gebeine der Heiligen von der allzu einsam gewordenen Kapelle zur Kirche des heiligen Martinus bringt.

Festlich gewandete Priester tragen den Schrein, umgeben von Rittern und Amtmännern des Herzogs von Lothringen.

Der Abt von Wadgassen und der Weihbischof von Metz sind in ihrem Gefolge und alles, was es von Welt- und Ordensklerus, von Adel und Bürgertum in Stadt und Landschaft gibt.

Es ist einer der großen Tage unserer Heimat.

Die Melancholie, die meist ihr Antlitz ein wenig verschattet, ist dem Glanz der wahren Freude gewichen.

Ihre Straßen und Häuser sind summende Waben, goldene Waben im Bienenkorb Gottes, Waben, die sich mit unerschöpflichem Honig füllen. 43

Dieses Land feiert Gott und seine Heiligen.

Aber es feiert auch sich selber, weil es sich erkennt und besitzt und sein Dasein erfüllt.

Und irgend ein Tag aus den Jahren der Kreisleiter und Ortsgruppenleiter zwischen 1935 und dem Krieg. Er ist vom großen Sturm ins Nichts verweht, aus dem er kam.

Da haben sie auf unserem heiligen Berg einen babylonischen Turm errichtet, einen Turm aus Anmaßung und Übermut, und wollen ihn einweihen.

Sie haben ihm den Namen eines Mannes gegeben, der sich rühmte, nie einen Roman gelesen zu haben und der dem Geist unserer abendländischen Landschaft fremder war als der letzte Knecht oder Tagelöhner, der sie durchwandert.

Da wogt es denn auch von Menschen auf und ab.

Aber die Seele des Landes verhüllt sich vor diesem Treiben.

Das Land selber schweigt zu dem, was da geschieht.

Die Schutzgeister des Landes lächeln voll leisem Spott, und in dem Lerchenlied, das alle Kämpfe und alle Leiden dieser alten Erde übertönt, ist ein prophetischer Klang, darin dem Fremden der Untergang und dem Eigenen Auferstehung und neues Leben verkündet werden.

Kaum fünf Jahre später war dieser babylonische Turm, der auch ein Zwingturm gegen den wahren Geist unseres Landes sein sollte, zerstört und mehr als zerstört: vergessen.

Das demütige Heiligtum Sankt Orannens aber bestand, und wenige Monate nach dem Ausgang des Krieges sammelten sich um es Tausende von Betern, um sich zu ihrem Gott und zu ihrer Heimat zu bekennen. 44

Wäre ich für die Bildung der jungen Menschen verantwortlich, die sich darauf vorbereiten, im nächsten Jahr oder irgendwann unsere Kinder zu erziehen, ich würde ihnen Berus als Aufgabe stellen, den Berg aus Sandstein und Kalk, mit seinen Äpfeln und Zwetschen, mit seinen Ministerialen des Herzogs von Lothringen und der Bildschnitzerfamilie Guldner, mit seinen schon verdämmernden keltischen Erinnerungen und seiner heiligen Oranna, die sich zu neuer Herrlichkeit erhebt.

Ich würde ihnen das als Aufgabe stellen und keine Ruhe geben, bis ihnen das Herz darüber warm und glücklich würde. An diesem Glück aber würde sich das Verlangen entzünden, auch Wadgassen etwa oder Saarlouis oder Tholey oder Mettlach oder Merzig auf die gleiche Weise zu erforschen, zu deuten und darzustellen. Und so müßten wir dazu kommen, endlich, endlich! uns selber zu erkennen, damit wir dann auch endlich uns selber leben können, das Leben einer Provinz des Abendlandes, die gesegnet ist vom schattenlosen, durch Blut und Schmach hindurchgeretteten Genius des deutschen Volkes wie von dem edlen und großmütigen des französischen, und die langsam zu dem verschütteten Schatz ihrer eigenen Tiefe zurückfindet.

 


 


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