Rudyard Kipling
Das neue Dschungelbuch
Rudyard Kipling

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Quiquern

Das Volk vom östlichen Eise,
es schmilzt wie der Schnee vom Dach,
Sie betteln um Kaffee und Zucker,
sie zieh'n dem weißen Mann nach.
Das Volk vom westlichen Eise,
es lernte schon fechten und stehlen,
Er verkauft seine Felle den Händlern,
dem weißen Mann seine Seelen.

Das Volk von dem südlichen Eise
mit den Walfischfängern es hält,
Ihr Weibvolk schmückt sich mit Bändern,
aber nackt und zerfetzt ist das Zelt.
Doch das Volk vom ältesten Eise
– der weiße Mann sah es nie –
Von Narwalhorn sind ihre Speere,
und die letzten Männer sind sie.

»Sieh doch, er hat die Augen geöffnet!«

»Zurück wieder ins Fell mit ihm. Ein starker Hund wird es einmal werden. Im vierten Monat werden wir ihm einen Namen geben.«

»Welchen?« fragte Amoraq.

Kadlu schaute in dem fellgefütterten Schneehaus umher, bis sein Blick auf den vierzehnjährigen Kotuko fiel, der auf der Schlafpritsche hockte und einen Knopf aus Walroßzahn schnitzte.

»Nenne ihn nach mir«, sagte Kotuko grinsend; »ich werde ihn eines Tages brauchen können.«

Auch Kadlu grinste, bis seine Augen beinahe im Fett der flachen Backen verschwanden, und nickte Amoraq zu. Die scharfe Hundemutter winselte beleidigt, weil sie ihr Junges nicht erreichen konnte, das hoch über dem warmen Hauch der Tranlampe in einem kleinen Sack aus Seehundfell baumelte. Kotuko nahm wieder seine Schnitzarbeit auf; Kadlu warf ein zusammengerolltes Bündel lederner Hundegeschirre in einen kleinen Nebenraum, der an der Seite des Hauses lag, zog sich den schweren Renjagdanzug vom Leib, legte ihn in ein Fischbeinnetz, das über der zweiten Tranlampe hing, ließ sich auf der Pritsche nieder und begann an einem Stück gefrorenen Seehundfleischs zu kauen, bis Amoraq, sein Weib, das übliche Mittagsmahl aus gekochtem Fleisch und Blutsuppe auftrug. Schon seit Morgengrauen war er draußen gewesen bei den Seehundslöchern, acht Meilen entfernt, und hatte drei starke Seehunde mit zurückgebracht. Halbwegs in dem niedrigen Schneegang oder Tunnel, der zur Innentür des Hauses führte, hörte man das Bellen, Schnappen und Winseln eines Schlittengespanns, das sich nach vollbrachtem Tagewerk um die warmen Plätze balgte.

Als das Gejaule zu laut wurde, rollte sich Kotuko träge von der Schlafpritsche herunter und griff sich eine Peitsche mit achtzehn Zoll langem elastischem Walfischbeinschaft und fünfundzwanzig Fuß langem hartgeflochtenem Riemen. Er verschwand in dem dunklen Schneegang, und von dort erhob sich ein Getobe, als ob die Hunde ihn bei lebendigem Leibe auffressen wollten; aber es war nur ihr tägliches Tischgebet. Am anderen Ende des Ganges kroch Kotuko ins Freie, und ein halb Dutzend zottiger Köpfe folgte ihm mit den Augen, während er einem Gestell aus Walfischkinnladenknochen zuschritt, an dem das Fleisch für die Hunde hing. Mit einem breitblattigen Speer schnitt er große Klumpen des gefrorenen Fleisches ab und stellte sich dann bereit, die Peitsche in der einen, das Fleisch in der anderen Hand. Jedes Tier rief er bei Namen, das schwächste zuerst. Und wehe dem Hunde, der sich vorzudrängen wagte! Sofort fuhr die Peitschenschnur wie ein züngelnder Blitz auf ihn nieder und zwickte ihm etwa einen Zoll Haut und Haar aus dem Fell. Jedes Tier schnappte knurrend nach seiner Portion, würgte sie hastig hinunter und flüchtete dann eilends wieder in die schützende Wärme des Ganges, während der Knabe im Schnee unter dem funkelnden Nordlicht stand und Gerechtigkeit austeilte. Als letzter kam der große schwarze Leithund des Gespanns an die Reihe, der Ordnung hielt, wenn die Hunde im Geschirr liefen, ihm gab Kotuko eine doppelte Ration Fleisch und einen Extraschmitz mit der Peitsche.

»Ja, ja«, sagte Kotuko, die Peitsche einrollend, »da drinnen habe ich noch ein Kleines über der Lampe hängen, das großmächtiges Gejaule anstellen wird. Marsch, hinein, Sarbok!«

Über das Gewudel der Hunde hinweg kroch er wieder in das Haus zurück, staubte sich den trockenen Schnee aus dem Pelzwams mit dem Fischbeinklopfer, den Amoraq hinter der Tür aufbewahrte, klopfte dann von dem tierhautüberzogenen Dach des Hauses die Eiszapfen herunter, die von dem Schneedom oben niedergefallen waren, und kroch wieder auf die Schlafbank. Draußen im Schneegang schnarchten die Hunde und winselten im Traum; der jüngste der Familie, eingehüllt in Annoraqs dicke Pelzjacke, strampelte, lutschte und gurgelte; die Mutter des jungen Hundes lag an Kotukos Seite, die Augen fest auf das Bündel aus Seehundsfell gerichtet, das über der breiten gelben Flamme der Lampe warm und sicher hing.

Das alles ereignete sich weit weg in den weißen Fernen des Nordens, hinter Labrador und noch hinter der Hudsonstraße, wo die gewaltigen Sturmfluten das Packeis knirschend schieben und türmen; nördlich der Halbinsel Melville – weiter nach Norden noch, nördlich sogar von den schmalen Meerengen von Fury und Hecla – an der Nordküste von Baffinland, wo die Insel Beylot über dem Eis des Lancastersunds steht gleich einer umgestülpten Puddingform. Vom Lancastersund nordwärts dehnt sich ein Land, unerforscht, wenig wissen wir davon – außer von Norddevon und Ellesmereland; aber auch dort hausen nur dünn verstreut einige Menschenkinder Tür an Tür gleichsam mit dem Nordpol.

Kadlu war Inuit-Eskimo – und sein Stamm, dreißig Seelen insgesamt, gehörte zu Tununirmiut, »dem Lande, das hinter irgend etwas liegt«. Auf den Landkarten ist diese öde Küste als Navy-Board-Bucht bezeichnet; aber der Name Inuit paßt besser dafür, weil diese Gegend hinter dem Rücken aller Länder liegt – wirklich am Ende der Welt. Dort ist neun Monate im Jahre Schnee und Eis; Sturmwind auf Sturmwind fährt fauchend daher mit einer Kälte, von der man sich kaum eine Vorstellung machen kann. Sechs von den neun Monaten herrscht tiefe Nacht, und das macht das Land so schauerlich. In den drei Sommermonaten friert es nur einen um den anderen Tag und jede Nacht. Dann beginnt von den südlichen Hängen der Schnee hinwegzutränen, ärmliche Krüppelweiden treiben wollige Knospen, und hier und da versucht dünnes Fetthennenkraut Blüten anzusetzen. Strandflächen mit feinem Kies und rundgeschliffenen Steinen sind plötzlich freigelegt und führen hinab zum offenen Meer, glatte Blöcke und streifige Felsen treten aus der körnigen Schneedecke hervor. Aber das alles ist in wenigen Wochen wieder verschwunden, und von neuem umklammert der wilde Winter mit ehernen Banden das Land, wieder kracht und stößt auf dem offenen Meer das Treibeis, stampft und rammt und stößt und splittert, bis es zuletzt zur festen Fläche zusammenfriert, zehn Fuß dick über die Küste hin und hinaus in die tieferen Gewässer.

Im Winter pflegte Kadlu den Robben bis an die Grenze des Küsteneises zu folgen und spießte sie, wenn sie zu den Luftlöchern aufgestiegen kamen, um Atem zu holen. Der Seehund bedarf des offenen Wassers, um Fische zu fangen; im tiefen Winter aber erstreckt sich mitunter das Eis von der Küste aus über achtzig Meilen weit ohne Spalt oder Loch.

Im Frühling zog sich Kadlu mit seiner Sippe vor dem tauenden Eise zurück nach dem felsigen Festland; dort errichteten sie Hütten aus Tierfellen, legten Schlingen für Seevögel oder stachen junge Robben, die sich am Gestade sonnten. Später zogen sie wohl südlich nach Baffinland, dem Ren nach und ergänzten ihren jährlichen Vorrat an Lachs aus den Hunderten von Strömen und Seen des Innern. Im September oder Oktober wanderten sie wieder nordwärts, um Moschusochsen zu jagen und den jährlichen Winterseehundfang zu betreiben. Sie reisten dabei mit Hundeschlitten, oft zwanzig und dreißig Meilen am Tag; manchmal fuhren sie auch an der Küste entlang in geräumigen Fellbooten – Frauenboote genannt. Die kleinen Kinder und Hunde stimmten die alten Gesänge an, indes sie dahinglitten in den bauchigen Booten von Kap zu Kap in den gläsernen, eisigen Fluten.

Aller Luxus, von dem der Tununirmiut wußte, kam aus dem Süden – Treibholz für Schlittenkufen, Stabeisen für Harpunenspitzen, stählerne Messer, Blechtöpfe, in denen sich weit besser kochen ließ als mit den alten Specksteingeräten. Feuerstein, Stahl, sogar Streichhölzer kamen vom Süden, farbige Bänder zum Kopfputz für die Frauen, billige kleine Spiegel und rotes Tuch zum Einfassen von Staatsjacken aus Rentierhaut. Kadlu handelte mit dem kostbaren gewundenen Narwalhorn und Moschusochsenzähnen, die höher im Werte stehen als Perlen. Seine Abnehmer waren die Inuits des Südens, und diese wieder handelten mit den Walfischfängern und Missionsstationen von Exeter- und Cumberlandsund. So greift die Kette ineinander, und wohl denkbar wäre es, daß ein Schiffskoch in Bhendy-Basar sich einen Wasserkessel erstände, der dann seine Laufbahn über einer blakenden Tranlampe irgendwo jenseits des Polarkreises beendet.

Kadlu war ein großer Jäger und reich an Eisenharpunen, Schneemessern, Vogelpfeifen und all den Dingen, die das Leben da droben in den gewaltigen Kälten erleichtern. Er war das Haupt seines Stammes oder, wie sie dort sagen, »Der Mann, der alles aus Erfahrung kennt«; das aber gab ihm weiter keine Autorität, außer daß er mitunter seinen Genossen raten konnte, ihre Jagdgründe zu verlegen. Kotuko jedoch benutzte gern die Stellung des Vaters, um in der fetten, faulen Inuitart über die anderen Knaben zu herrschen, wenn sie sich nachts im Mondlicht zusammenfanden, um Ball zu spielen oder ihre Kinderlieder dem Nordlicht vorzusingen.

Ein Inuit fühlt sich mit dem vierzehnten Jahr seines Lebens als Mann; und Kotuko hatte es gründlich satt, immer nur Schlingen für Wildhühner und Blaufüchse anzufertigen oder – was ihm noch mehr zuwider war – mit den Frauen tagaus, tagein Seehunds- und Rentierhäute zu kauen, um sie geschmeidig zu machen, während draußen die Männer jagten. Es zog ihn in das Quaggi, das Singhaus, allwo die Männer zusammenkamen zu ihren Mysterien und der Angekok (der Zauberer) sie in höchst angenehmen Gruselzustand versetzte, wenn er die Lampe gelöscht hatte und sie dann das gespenstische Ren auf dem Dache herumtappen hörten; oder wenn der Angekok einen Speer in die gähnende schwarze Nacht hinausschleuderte, der dann aus dem Nichts mit blutdampfender Spitze zurückgeflogen kam. Gern hätte er mit der großartig müden Geste des Familienhaupts seine dicken Stiefel ins Netz geworfen; gern wäre er dabei gewesen, wenn die Jäger sich abends zusammenfanden und eine Art hausgemachtes Roulette spielten, hergestellt aus einem Blechtopf und einem Nagel. Hunderterlei hätte er gern getan, aber die Männer lachten über ihn und sagten: »Warte, Kotuko, bis du einmal die Hunde geführt hast. Jagen allein macht noch nicht den Fang.«

Nun aber hatte ihm der Vater einen jungen Rüden zugesprochen, und die Dinge standen für ihn hoffnungsvoller. Kein Inuit verschwendet einen guten Hund an seinen Sohn, bis der Knabe etwas vom Hundefahren versteht; Kotuko aber war überzeugt, daß er alles und noch viel mehr verstünde.

Hätte der junge Hund nicht eine eiserne Konstitution gehabt, so wäre er bald an Überfütterung und allzu rauher Behandlung eingegangen. Kotuko machte ihm ein kleines Geschirr mit einer Leine daran und trieb und hetzte ihn durch den Hausgang mit den Rufen: »aua! ja aua!« (Gehe rechts!) »Choi-achoi! Ja choi-achoi!« (Gehe links!) »Ohaha!« (Halt!) Der junge Rüde schätzte das sehr wenig, doch war das alles nur Kinderspiel gegen das erste Einspannen vor den richtigen Schlitten. Nichts Böses ahnend, setzte er sich in den Schnee und spielte mit der Trosse aus Seehundshaut, die sein Geschirr mit dem Pitu, dem schweren Leitseil am vorderen Ende des Schlittens, verband. Die Meute zog an, und der schwere, zehn Fuß lange Schlitten ging über ihn hinweg und zerrte ihn hinter sich her, wobei Kotuko lachte, daß ihm die Tränen über die Backen liefen. Dann kam Tag für Tag die grausame Peitsche an die Reihe, die zischt und pfeift wie der Nordwind über dem Eis, die anderen Schlittenhunde bissen und schnappten nach ihm, weil er sich auf die Arbeit noch nicht verstand, das harte Geschirr scheuerte ihn wund, auch durfte er nicht mehr mit Kotuko schlafen und mußte sich mit dem kältesten Platz im Hausgang begnügen – wahrlich eine harte Lehrzeit für den jungen Hund.

Der Knabe lernte ebenso schnell wie der Rüde, obwohl es herzbrechend schwer ist, einen Hundeschlitten zu lenken. Jedes Tier, das schwächste dem Lenker zunächst, wird angeschirrt mit einer besonderen Leine, die unter dem linken Vorderlauf durchführend nach der Hauptleine läuft, an der sie mit einer Art Knopf oder Schlinge befestigt ist. Von da kann sie mit einer Drehung des Handgelenks losgestreift werden, wenn der einzelne Hund frei gemacht werden soll. Das ist oft notwendig, weil dem jungen Hunde leicht die Halteleine zwischen die Hinterläufe gerät und dann bis auf den Knochen einschneidet. Alle aber, wie sie da sind, wollen durchaus beim Laufen ihren näheren Freunden einen Besuch abstatten und springen dabei ein und aus zwischen den Leinen. Dann geht ein Gebalge los, und das Ergebnis ist ein Verheddern, schlimmer als nasse Fischleinen am Morgen nach dem Fang. Viel Unheil wird vermieden durch weisen Gebrauch der langen Peitsche, und es ist der Stolz jedes Inuitjungen, Meister in deren Handhabung zu sein. Leicht ist es wohl, ein festes Ziel am Boden zu treffen, aber äußerst schwer ist es, bei voller Fahrt des Schlittens einem der Hunde, der seinen Platz verlassen will, genau zwischen den Schultern eins zu versetzen. Straft man einen Hund wegen Ungehorsams und trifft aus Versehen mit der Peitsche einen anderen, dann fallen die beiden sofort übereinander her, und alle anderen müssen halten. Fährt man zum Beispiel allein und singt sich eins zum Zeitvertreib oder hat einen Freund neben sich und unterhält sich mit ihm, so halten die Hunde plötzlich, drehen sich um und setzen sich, um zu hören, was da gesprochen wird. Mehrmals waren Kotuko die Hunde davongegangen, weil er vergessen hatte, beim Halten den Schlitten anzublocken; manche Peitsche zerbrach er, zerriß eine Anzahl Riemen, bevor man ihm ein volles Gespann von acht Hunden mit dem leichten Schlitten anvertrauen konnte. Dann aber fühlte er sich als ein Mann von Bedeutung. Mit kühlem Herzen und ruhiger Hand glitt er über die dunklen Eisflächen dahin, schnell wie eine Meute in vollem Geläut. Zehn Meilen weit stürmte er dahin bis zu den Seehundslöchern; auf dem Jagdgrund angelangt, warf er die Leine des großen schwarzen Leithundes, des klügsten im Gespann, von dem Pitu los. Sobald der Hund ein Atemloch im Eis witterte, stürzte Kotuko den Schlitten um und trieb ein gekapptes Geweih in den Schnee, um daran das Gespann zu verankern. Dann kroch er Zoll um Zoll an das Luftloch heran und lauerte, bis der Seehund zum Atemholen aufstieg; rasch stieß er den Speer mit der Laufleine daran in die Tiefe und zog wenig später den Seehund zur Eiskante hinauf; dort stand der Leithund bereit und half, den toten Körper über das Eis nach dem Schlitten zu schleppen. Die angeschirrten Hunde begannen nun vor Aufregung zu heulen und zu schäumen; aber Kotuko brachte sie mit einem rotheißen Peitschenhieb quer über die Schnauzen zur Ruhe und wartete, bis der tote Körper des Seehunds steif gefroren war. Schwere Arbeit war die Heimfahrt. Der beladene Schlitten mußte mühsam über das holprige Eis bugsiert werden, die Hunde aber, anstatt zu ziehen, setzten sich alle Augenblicke nieder und blickten hungrig nach dem Seehund hin. Endlich aber kamen sie auf den ausgefahrenen Schlittenpfad, der nach dem Dorfe führte, und zockelten, die Köpfe gesenkt, die Ruten hochgerichtet, über das klingende Eis dahin; Kotuko aber stimmte glücklich das Lied des heimkehrenden Jägers an: »Anguti–vaun tai–na tau–na–ne taina« – und von Haus zu Haus grüßten ihn Stimmen, als er dahinfuhr unter dem dunklen, mit fahlen Sternen besäten Himmel der Arktis.

Als Kotuko, der Hund, seine volle Größe erreichte, packte ihn der Ehrgeiz. Stetig kämpfte er seinen Weg im Gespann aufwärts, focht Kampf um Kampf aus, bis er eines schönen Abends beim Futtern über den großen schwarzen Leithund herfiel und ihn, wie man das nennt, zum zweiten Hund degradierte. So wurde Kotuko, der Hund, zum langen Riemen des Leithundes befördert und lief fünf Fuß vor allen anderen im Gespann; seine Pflicht war von jetzt ab, allen Streit zu schlichten, in wie außer dem Geschirr, und stolz trug er nun das schwere dicke Halsband aus Kupferdraht. Bei besonderen Gelegenheiten bekam er drinnen im Hause gekochtes Futter und durfte zuweilen neben Kotuko auf der Bank schlafen. Er wurde ein guter Robbenjagdhund und stellte den Moschusochsen, indem er ihn umkreiste und ihm nach den Läufen schnappte. Er nahm es selbst – und das ist für einen Schlittenhund der größte Beweis von Tapferkeit – mit dem hageren Polarwolf auf, den die Hunde im Norden in der Regel mehr fürchten als alles, was sonst über den Schnee läuft. Er und sein Herr – die übrigen Hunde des Gespanns sahen sie nicht als ebenbürtige Gesellschaft an – jagten zusammen Tag um Tag, Nacht um Nacht: der in Pelze gehüllte Knabe und das wilde, langhaarige, schmaläugige, weißzahnige, gelbe Tier.

Der Inuit hat Nahrung und Felle für sich und seine Familie zu schaffen, das ist seine Hauptarbeit. Die Frauen nähen aus den Fellen die Kleidung und helfen gelegentlich, kleines Wild in Fallen zu fangen. Aber die Masse der Nahrung – und die Inuits verzehren außerordentlich viel – müssen die Männer beschaffen. Gehen ihnen die Vorräte aus, so haben sie dort oben keinen, bei dem sie kaufen, borgen oder betteln können, dann müssen sie sterben.

Aber daran denkt der Inuit nicht, bis ihn die Gefahr dazu zwingt. Glücklich und sorglos lebten Kadlu, Kotuko, Amoraq und das Knäblein, das in Mutters warmem Pelzrock strampelte und den ganzen Tag an einem Stückchen Fischlunge lutschte. Sie stammten von einem sanftmütigen Geschlecht – selten verliert der Inuit die Geduld und schlägt fast nie ein Kind –, wußten kaum, was lügen hieß, und stehlen war ihnen fremd. Sie waren es zufrieden, ihr tägliches Brot der bitteren, hoffnungslosen Kälte abzuringen; sie lächelten ölig, erzählten sich an den Abenden seltsame Märchen und Geistergeschichten, aßen, bis sie nicht mehr konnten, und sangen den endlosen Frauengesang: »Amna aya, aya amna, ah! ah!« den ganzen lampenerhellten Tag durch beim Flicken ihrer Kleider und Jagdgeräte.

Aber dann kam ein besonders schrecklicher Winter, und alles ließ sie im Stich. Die Tununirmiuten kehrten von dem jährlichen Lachsfang heim und bauten ihre Häuser auf dem frühen Eis nördlich der Insel Beylot, um den Seehunden nachzustellen, sobald das Meer zugefroren war. Doch ein früher und wilder Herbst brach herein. Den ganzen September hindurch heulten ununterbrochen heftige Stürme, rissen das glatte Robbeneis auf, als es erst vier oder fünf Fuß stark war, schoben die treibenden Massen auf das Festland und türmten einen mächtigen Wall auf von klumpigem, zerrissenem und nadelspitzem Eis, über den kein Hundeschlitten hinweg konnte. Die Eiskante, an der im Winter die Seehunde die Fische jagten, lag vielleicht zwanzig Meilen jenseits dieser Eisbarriere – unerreichbar für die Tununirmiuten.

Dennoch wären sie wohl über den Winter hinweggekommen mit dem Vorrat an gefrorenem Lachs, angesammeltem Tran und dem, was die Fallen hergaben. Aber im Dezember stieß einer ihrer Jäger auf ein Tupik (Felljurte), in dem Sterbende lagen – drei Frauen und ein Mädchen. Ihre Männer waren in den Fellbooten durch die auflaufenden Massen des Packeises zermalmt worden, als sie vom hohen Norden herabgekommen waren, um den langgehörnten Narwal zu jagen. Kadlu mußte wohl oder übel die Frauen in die Hütten des Winterdorfes verteilen, denn kein Inuit wagt, einem Fremdling den Herd zu versagen, weiß er doch niemals, wie bald an ihn selbst die Reihe, Hilfe zu erbitten, kommen mag. Amoraq nahm das etwa vierzehnjährige Mädchen in ihrem Hause als eine Art Dienerin auf. Nach dem Schnitt der spitzen Haube und dem Rautenmuster auf ihren Rentierhosen hielt man sie für eine aus Ellesmereland. Noch nie zuvor hatte sie Blechkochtöpfe gesehen oder Schlitten mit hölzernen Kufen – aber Kotuko, der Knabe, und Kotuko, der Hund, hatten das Mädchen gern.

Bald verschwanden alle Füchse südwärts, und selbst der Vielfraß, der knurrende, stumpfnasige kleine Dieb des Schneegebiets, gab sich nicht mehr die Mühe, die leeren Fallen abzusuchen, die Kotuko gestellt hatte. Der Stamm verlor einige seiner besten Jäger, die im Kampf mit dem Moschusochsen schwer verwundet wurden; und dadurch lastete auf den übrigen noch mehr Arbeit. Tag für Tag zog Kotuko aus mit leichtem Jagdschlitten und sechs bis sieben der stärksten Hunde und spähte und spähte, bis ihm die Augen übergingen, nach einem Fleckchen klaren Eises, wo vielleicht ein Seehund ein Luftloch gekratzt haben könnte. Kotuko, der Hund, schweifte umher durch die tote Stille der Arktis, und Kotuko, der Knabe, vernahm das vor Erregung halberstickte Gewinsel des Tieres beim Verbellen eines gefundenen Seehundloches – vernahm es so deutlich über drei Meilen hin, als wäre der Hund ihm zur Seite. Neben dem aufgespürten Loch richtete der Knabe eine kleine Schneewand auf, um den schärfsten Wind abzuhalten, und dann lauerte er, zehn, zwölf und oft zwanzig Stunden hintereinander, auf den Augenblick, da der Seehund zum Luftschöpfen hochsteigen würde, starrte unausgesetzt nach dem Zeichen hin, das er sich über dem Loch eingeritzt hatte, um den Tiefenstoß seiner Harpune sicher führen zu können. Unter den Füßen hatte er eine kleine Seehundsfellmatte ausgebreitet, und die Beine steckten zusammengebunden in dem Tutareang, dem Sack, von dem die alten Jäger gesprochen. Der soll verhindern, daß die Beine ausrutschen bei dem endlosen Warten und Warten auf den hellhörigen Seehund. Aufregung ist wohl mit der Sache nicht verbunden; aber man kann sich vorstellen, daß dieses regungslose Stillsitzen im Sack bei vielleicht vierzig Grad unter Null für den Inuit die härteste Arbeit ist, die er kennt. Gelang es, einen Seehund zu spießen, dann sprang Kotuko, der Hund, vor und half, den Körper nach dem Schlitten hinzuziehen, wo die hungrigen müden Hunde, hinter ragenden Blöcken grün schimmernden Eises vom Winde geschützt, trübselig beieinanderlagen.

Aber so ein Seehund reicht nicht weit, da jeder Mund im kleinen Dorfe das Recht hatte, gefüllt zu werden; weder Knochen, Haut noch Sehnen wurden verschwendet. Das für die Hunde bestimmte Fleisch mußte für die Menschen bleiben. Amoraq fütterte die Meute mit Stücken alter Sommerfellzelte, die sie unter der Schlafbank hervorklaubte, die Tiere aber heulten, heulten im Schlaf und erwachten, um abermals hungrig zu heulen. An den Specksteinlampen in den Hütten konnte man erkennen, daß die Hungersnot herannahte. In guten Jahren, wenn Tran reichlich vorhanden war, brannte das Licht in den schiffsförmigen Lampen oft sechs Fuß hoch, fröhlich, ölig und gelb. Jetzt aber flackerte es kaum sechs Zoll hoch, und sorgsam drückte Amoraq den Moosdocht wieder hinunter, wenn etwa das Licht heller aufflammen wollte, wobei die Blicke der ganzen Familie besorgt ihrer Hand folgten. Schrecklich ist der Hungertod dort oben; aber das Schrecklichste für den Inuit ist es, im trostlosen arktischen Dunkel dahinscheiden zu müssen. Er fürchtet die Nacht, die jedes Jahr sechs Monate ununterbrochen auf ihm lastet; und wenn die Lampen in den Hütten niedrig zu brennen anfangen, dann werden die Gemüter der Menschen wirr und erschüttert.

Aber noch Schlimmeres war im Anzug.

Die unterernährten Hunde schnappten und heulten wilder und wilder im Schneegang der Hütten, glotzten nach den frostigen Sternen und schnüffelten nächtens in den schneidenden Wind. Verstummte ihr Klagegeheul, dann fiel das gewaltige Schweigen wieder herab, so wuchtig und schwer wie der Druck einer Schneewehe gegen das Haustor – dann hörten die Menschen das Brausen des eigenen Bluts in den dünnen Adern der Ohren und das Pochen ihrer Herzen so laut wie das Dröhnen von Zaubertrommeln über der Eisfläche.

Schon seit Tagen war Kotuko, der Hund, ungewöhnlich schlecht im Geschirr gegangen. Eines Abends nun sprang er hoch und stieß mit dem Kopf gegen Kotukos Knie. Dieser streichelte ihn, aber der Hund stieß und drängte immer weiter, wie von einer Unruhe befallen. Davon erwachte Kadlu, packte den schweren, wohlfsähnlichen Kopf und starrte in die glasigen Augen. Der Hund winselte und schauderte zwischen Kadlus Knien. Das Nackenhaar sträubte sich, und er knurrte, als stände ein Fremder vor der Tür; dann wieder bellte er freudig auf, wälzte sich auf dem Boden und schnappte nach Kotukos Stiefeln, wie junge Hunde es machen.

»Was ist mit ihm?« fragte Kotuko in aufsteigender Angst.

»Die Krankheit ist es, die Hundekrankheit«, erwiderte Kadlu. Kotuko, der Hund, hob die Schnauze, heulte und heulte.

»Das habe ich noch nie gesehen. Was wird mit ihm?« fragte Kotuko.

Kadlu zuckte ein wenig mit der Schulter, ging quer durch die Hütte und suchte seine kurze Stoßharpune. Der große Hund blickte ihm aus irren Lichtern nach, heulte auf und schlich davon, in den Schneegang, wo sich die anderen Hunde rechts und links zur Seite drückten, um ihm Platz zu machen. Als er draußen im Schnee war, schlug er wütend an, als wäre er einem Moschusochsen auf der Spur, sprang in die Luft und verschwand in der Dunkelheit. Nicht Tollwut war seine Krankheit, sondern einfach Wahnsinn. Kälte, Hunger und vor allem die Nacht hatten ihm die Sinne verwirrt. Wenn aber die furchtbare Hundekrankheit in einem Gespann ausbricht, dann frißt sie wie Wildfeuer um sich. Am nächsten Jagdtage erkrankte wieder ein Hund, biß wütend um sich, zerrte in den Trossen und wurde von Kotuko auf der Stelle getötet. Der schwarze zweite Hund, einst der Führer des Gespanns, war der nächste; er begann wie rasend zu bellen, als wäre er auf einer Renfährte, und als man ihn schnell von dem Leitseil frei machte, rannte er davon, wie sein Vorgänger, mit dem Geschirr noch auf dem Rücken. Von da ab wollte keiner mehr mit den Hunden fahren; man brauchte sie auch zu etwas anderem – und die Hunde wußten es. Fest angepflockt lagen sie, wurden aus der Hand gefüttert, dennoch sprachen Verzweiflung und Angst aus ihren Augen. Um die Sache noch schlimmer zu machen, begannen die alten Weiber Geistergeschichten zu erzählen und sagten, daß ihnen die Geister der im letzten Herbst umgekommenen Jäger erschienen wären und alles erdenkliche Unheil prophezeit hätten.

Kotuko grämte sich mehr um den Verlust seines Hundes als um die bittere Not. Obwohl ein Inuit ungeheuer stark ißt und essen muß, kann er doch auch Hunger ertragen. Aber Kälte, Nacht und Entbehrung zehrten an Kotukos Kräften, und er begann, in seinem Innern Stimmen zu hören und Erscheinungen zu haben. In einer Nacht, nachdem er zehn Stunden lang über einem »blinden« Seehundloch gesessen hatte, kam er schwach und schwindlig dem Dorfe zugewankt. Um auszuruhen, lehnte er sich gegen einen Eisblock, der zufällig nur locker auflag; der Block kam aus dem Gleichgewicht und überschlug sich polternd. Kotuko sprang zur Seite, um ihm zu entgehen, aber der Block kam zischend und raschelnd den Hang hinab hinter ihm her gerollt.

Das war genug für Kotuko! Er war aufgewachsen in dem Glauben an Geister; in jedem Fels, in jedem Eisblock lebte ein Bewohner (Inua), den man sich gewöhnlich als eine Art einäugigen weiblichen Wesens, Tornaq genannt, vorstellte. Wollte eine Tornaq dem Menschen beistehen, so rollte sie, glaubte man, hinter einem her im Innern ihres Steinhauses und bot sich als Schutzgeist an. (Eisumschlossene Felsen beginnen im Sommer, wenn die Hülle taut, über das Land dahinzurollen und zu tanzen – daher der Glaube an lebendige Steine.) Wie an allen Tagen hörte auch jetzt Kotuko das Blut in den Ohren pulsen und rauschen; aber nun meinte er, daß es die Stimme der Tornaq im Stein war, die zu ihm redete. Als er sein Haus erreicht hatte, stand für ihn fest, daß der Steingeist geheimnisvoll zu ihm gesprochen hatte, die anderen glaubten ihm ebenfalls, und keiner widersprach ihm.

»Die Tornaq raunte mir zu: ›Ich springe herab, ich springe herab von meinem Platz im Schnee‹«, rief Kotuko, der vorgebeugt, mit hohlen brennenden Augen in der schwach erhellten Hütte stand. »Sie sagte: ›Ich will dir Führer sein‹; sie sagte: ›Zu den großen Robbenlöchern führe ich dich, folge mir‹; und morgen ziehe ich aus, denn die Tornaq wird mich führen.«

Der Angekok, der Dorfzauberer, trat nun herbei; und Kotuko erzählte zum zweitenmal die Geschichte. »Folge den Tornait, den Geistern der Steine«, sagte der Zauberer, »sie werden uns wieder Nahrung zuwenden.«

Schon seit Tagen hatte das Mädchen aus dem Norden in der Nähe der Lampe gelegen, wenig gegessen und noch weniger gesprochen. Als aber am nächsten Morgen Amoraq und Kadlu einen kleinen Handschlitten hervorzogen, ihn mit Kotuks Jagdgerät und mit so viel gefrorenem Seehundfleisch und Tran beluden, als sie entbehren konnten, da ergriff das Mädchen aus Ellesmereland wacker die Zugleine und stellte sich an die Seite des Knaben.

»Dein Haus ist mein Haus«, sagte sie, indes der kleine knochenkufige Schlitten hinter ihnen knirschte und stieß durch die grauenvolle Dunkelheit der Polarnacht.

»Mein Haus, dein Haus«, sagte Kotuko. »Wir beide zusammen, scheint mir, sind auf dem Wege zu Sedna.«

Sedna ist die Herrin der Unterwelt; und der Inuit glaubt, daß jeder nach seinem Tode ein Jahr in ihrem finsteren Reiche wohnen muß, bis er nach Quadliparmiut eingehen kann, dem glückseligen Land, wo es niemals friert und fette Rens auf Anruf angetrottet kommen.

Im Dorf aber riefen die Leute: »Die Tornait haben zu Kotuko gesprochen. Offenes Eis werden sie ihm weisen. Seehunde wird er uns heimbringen zu den Hütten.« Die Stimmen waren aber bald von der kalten, leeren Finsternis aufgeschluckt; und Kotuko und das Mädchen zogen Schulter an Schulter an dem Zugstrick oder schoben den Schlitten durch das Eis in Richtung auf das Polarmeer. Kotuko bestand darauf, die Tornaq im Stein habe ihm befohlen, nordwärts zu ziehen, und so wanderten sie nach Norden unter Tuktuqdjung, dem Ren – jenem Sternbild, das wir den großen Bären nennen.

Ein Europäer hätte über den Eisschutt und das scharfkantige Geschiebe kaum fünf Meilen am Tag zurücklegen können; diese zwei aber kannten aus alter Erfahrung jede Drehung des Handgelenks, mit der man den Schlitten über den Eishügel hinwegbringt, jeden geschickten Ruck, der ihn aus einer Eisspalte herauszerrt, kannten, wenn der Weg hoffnungslos blockiert schien, das Maß der einzusetzenden Kraft, um mit ein paar Speerschlägen einen Pfad zu bahnen.

Das Mädchen sprach kein Wort, hielt den Kopf gesenkt, und die langen Fransen aus Vielfraßfell an ihrer Hermelinkapuze wehten über ihr breites dunkles Gesicht. Der Himmel über ihnen war wie tiefschwarzer Samt, erhellt gegen den Horizont hin von düsterroten Streifen – dort, wo die mächtigen Sterne glommen wie Straßenlaternen. Zuweilen zuckten grünliche Wogen des Nordlichts über das Gewölbe des hohen Firmaments wie flatternde Fahnen und erloschen wieder; oder ein Meteor zog sprühend vorüber auf seiner Bahn aus der Nacht in die Nacht und zog einen Schauer glühender Funken hinter sich her. Später erstrahlten vor den Wandernden die Rippen und Furchen der Oberfläche des Eisfeldes in seltsamen Farben – verbrämt und betupft in Rot, Kupfer und Blau; bald aber wandelte das Sternenlicht alles wieder in froststarres Grau. Die Eisdecke war durch die Herbststürme zerspalten und zerpflügt worden und glich nun im Frost des Winters einem erstarrten Erdbeben. Risse, Spalten und Löcher klafften im Eis wie tiefe Schründe; Klumpen und Bruchstücke klebten festgefroren auf dem ursprünglichen Boden der Eisfläche; alte schwarze Eispusteln, vom Sturm unter die Eisdecke getrieben, stiegen wie Blasen wieder empor; große Blöcke ragten auf mit scharfen Kanten und Graten, vom Schnee geschliffen, der vor dem Winde her fliegt; eingesunkene Gründe erstreckten sich dreißig und vierzig Morgen weit, tief unter der Ebene der Eisfelder.

Aus der Entfernung konnte man die Klumpen und Blöcke für Seehunde oder Walrosse halten, für umgekippte Schlitten oder Menschen auf der Jagd; ja, selbst der weiße Gespensterbär, mit den zehn Läufen, erstand aus den Umrissen eines gewaltigen Eisblocks. Aber wenn auch die phantastischen Formen wie von spukhaftem Leben erfüllt schienen, so war doch kein Laut, nicht der leiseste Widerhall eines Geräusches zu vernehmen. Und durch dieses allgegenwärtige Schweigen, durch diese Einöde, wo fahle Lichter flackernd aufzuckten und dahinstarben, kroch der winzige Schlitten mit den beiden dahin, die ihn zogen. Nachtalben schienen sie zu sein, die den Menschen im Schlafe schrecken – Phantome vom Ende der Welt, am Ende der Welt.

Wenn sie müde wurden, machte Kotuko ein Halbhaus, wie die Jäger es nennen, eine kleine Schneehütte, in die sie krochen, und wo sie über der Reiselampe das gefrorene Seehundsfleisch aufzutauen versuchten. Wenn sie geschlafen hatten, begannen sie wieder ihre Wanderung – dreißig Meilen Marsch am Tage, um fünf Meilen nordwärts zu gelangen. Das Mädchen war immer sehr schweigsam; Kotuko aber führte Selbstgespräche oder stimmte Gesänge an, die er im Singhause gelernt hatte, Sommerlieder, Ren- und Lachslieder – alle in schreiendem Widerspruch zu ihrer Lage. Dann glaubte er wieder die Tornaq zu ihm reden zu hören, und er rannte wild und wirr einen Eishügel hinan, fuchtelte mit den Armen und sprach in lautem, drohendem Ton. In Wahrheit war Kotuko zu jener Zeit dem Wahnsinn nahe; das Mädchen aber glaubte sicher, daß ein Schutzgott ihn führte und alles gut werden würde. So erstaunte sie nicht, als am Ende des vierten Tagesmarsches Kotuko ihr mit glühenden Augen erzählte, daß seine Tornaq ihm über den Schnee folge in Gestalt eines zweiköpfigen Hundes. Das Mädchen wandte sich um, wohin Kotuko zeigte, und irgend etwas schien in einer Eisspalte zu verschwinden. Es war gewiß nichts Menschliches, aber jedem war es bekannt, daß die Tornaq gern Gestalten von Bären, Robben und dergleichen annahmen.

Es mochte ebensogut der weiße, zehnbeinige Gespensterbär als sonst irgend etwas sein; denn Kotuko und das Mädchen waren so ausgehungert, daß ihre Augen versagten. Seitdem sie das Dorf verließen, hatten sie nichts gefangen, noch auch nur eine einzige Wildfährte gesehen. Ihr Vorrat reichte noch knapp eine Woche, und ein Sturm war im Anzug. Zehn Tage hintereinander tobt manchmal der Polarsturm, ohne nachzulassen, und jedem bringt er sicheren Tod, der sich während der Zeit im Freien befindet. Kotuko baute ein Schneehaus, groß genug, um auch den Schlitten mit hineinzunehmen (denn niemals soll man sich von seinem Fleischvorrat trennen), und als er den letzten Eisblock zurechthackte, der den Schlußstein des Daches bilden sollte, sah er auf einer niedrigen Eisklippe eine halbe Meile entfernt etwas kauern, das zu ihm herüberblickte. Diesig war die Luft; das, was dort kauerte, schien vierzig Fuß lang zu sein und zehn Fuß hoch, mit einem zwanzig Fuß langen Schwanz hinter sich, und die Umrisse der Gestalt schienen sich fortwährend zu ändern. Auch das Mädchen sah das Phantom, aber anstatt vor Schreck aufzuschreien, sagte sie gelassen: »Das ist Quiquern. Was wird nun kommen?«

»Es wird zu mir reden«, erwiderte Kotuko; aber das Schneemesser zitterte in seiner Hand, als er sprach, denn so gern auch ein Mann glauben mag, mit fremdartigen häßlichen Geistern gut Freund zu sein, so ungern läßt er sich beim Worte nehmen. Quiquern nun gar ist das Gespenst eines gigantischen zahnlosen Hundes ohne ein Haar. Hoch im Norden soll er leben und erscheint immer im Lande am Vortage großer Ereignisse, seien sie nun froher oder trauriger Art. Aber selbst der Zauberer hütete sich, von Quiquern zu sprechen, der die Hunde toll macht. Gleich dem Gespensterbären hat er eine große Anzahl von Beinpaaren – sechs oder acht –, und das Etwas, das da in der diesigen Luft hin und her sprang, besaß entschieden mehr Beine, als ein wirklicher Hund bestenfalls brauchen könnte.

Kotuko und das Mädchen verkrochen sich schnell in die schützende Hütte. Natürlich konnte der Quiquern, wenn er die beiden haben wollte, das Haus über ihren Köpfen zusammenschlagen, aber es war doch ein tröstlicher Gedanke, durch einen fußdicken Schneewall von der tückischen Dunkelheit draußen getrennt zu sein. Der Sturm brach los mit einem Schrei des Windes wie der gellende Pfiff einer Lokomotive und hielt drei Tage und drei Nächte mit gleicher Stärke an, ohne auch nur einen Augenblick nachzulassen. Sie hielten die steinerne Lampe zwischen den Knien, gossen Tran nach, nagten an halbwarmem Robbenfleisch und sahen den schwarzen Ruß sich an der Decke festsetzen – zweiundsiebzig lange Stunden. Das Mädchen überprüfte den Fleischvorrat im Schlitten, er reichte gerade noch für zwei Tage; Kotuko untersuchte die eiserne Spitze und die Tiersehnenleine seiner Harpune, seine Seehundlanze und seine Vogelpfeife. Nichts weiter gab es zu tun.

»Bald werden wir bei Sedna sein – sehr bald«, flüsterte das Mädchen. »Drei Tage noch, dann legen wir uns nieder und gehen von dannen. Schweigt deine Tornaq? Singe ihr doch ein starkes Zauberlied und locke sie her.«

Er hob zu singen an, heulte im scharfen Diskant der Zaubergesänge und – der Sturm ließ allmählich nach. Mitten im Gesang stutzte das Mädchen plötzlich, legte ihre im Fausthandschuh steckende Hand und dann ihren Kopf auf den Eisboden der Hütte. Kotuko folgte ihrem Beispiel, und die beiden knieten nebeneinander, starrten sich an und horchten mit jeder Fiber ihres Leibes. Kotuko schnitt einen Span vom Fischbeinrand einer Vogelschlinge ab, bog ihn zurecht und steckte ihn aufrecht ins Eis. So fein wie die Kompaßnadel steckte die dünne Rute im Eise; und sie horchten nicht mehr, sondern beobachteten sie. Leise zitterte die Rute ein wenig, kaum bemerkbar; nun vibrierte sie gleichmäßig sekundenlang, kam zur Ruhe und vibrierte wieder, dieses Mal nach einer anderen Richtung der Windrose.

»Zu früh!« sagte Kotuko. »Irgendeine große Eisdecke brach auf, weit draußen.«

Das Mädchen zeigte auf die Rute und schüttelte den Kopf. »Der große Eisbruch ist es«, sagte sie, »höre, wie das Grundeis pocht.«

Wieder knieten sie hin, und nun vernahmen sie seltsames Stöhnen und Pochen, scheinbar unter ihren Füßen. Zuweilen klang es, als ob ein neugeborenes Hündchen über der Lampe hängend quiekte; dann als ob ein Stein auf hartem Eis geschoben würde und dann wieder wie dumpfer Trommelwirbel. Aber alles klang langgezogen und gedämpft, als ob die Laute wie durch ein Horn von weit, weit her aus der Ferne herüberdrangen.

»Liegend werden wir nicht zu Sedna gehen«, sagte Kotuko. »Der Eisbruch ist es! Die Tornaq betrog uns. Sterben müssen wir.«

Das mag seltsam genug klingen, aber die beiden standen unmittelbar vor einer ernsten Gefahr. Der dreitägige Sturm hatte das tiefe Wasser an der Baffinbucht südwärts getrieben und an der Grenze des weitreichenden Landeises, das von der Insel Beylot nach Westen sich erstreckt, aufgestaut. Die starke Strömung außerdem, die von Lancester-Sund ausgeht, führte Meile auf Meile von Packeis mit sich, rauhes, welliges Eis, das nicht zu Feldern zusammenfror. Und dieses schwimmende Packeis bombardierte die Kante der mächtigen Eisfelder, während das Schwellen und Wogen der sturmgepeitschten See sie gleichzeitig untergrub. Was Kotuko und das Mädchen gehört, war das matte Echo des Kampfes, der dreißig oder vierzig Meilen entfernt raste; und die kleine verräterische Rute hatte gebebt unter den Stößen.

Aber, wie der Inuit sagt, wenn das Eis einmal erwacht nach langem Winterschlaf, weiß niemand, was geschehen mag, denn die schwere Eisdecke ändert ihre Gestalt fast so schnell wie Gewölk. Vorzeitiger Frühlingssturm war augenscheinlich über die Eisnacht gekommen, und alles mögliche konnte daraus entstehen.

Dennoch fühlten sich die beiden jetzt ruhiger und zuversichtlicher. Brach die Eisdecke, dann gab es kein Warten mehr und kein Leiden. Geister, Kobolde und Hexenvolk trieben sich umher auf dem krachenden Eise, und sie würden vielleicht, fiebernd vor Erregung, Seite an Seite mit all dem wilden Gezücht eingehen in Sednas unterirdisches Reich. Als sie nach Abflauen des Sturms aus der Hütte traten, wuchs das Gedonner am Horizont noch ständig, und um sie her ächzte und stöhnte das See-Eis.

»Es lauert immer noch«, sagte Kotuko.

Auf dem Gipfel eines Hügels kauerte oder saß noch das achtbeinige Ding, das sie drei Tage zuvor gesehen hatten, und heulte fürchterlich.

»Folgen wir«, sagte das Mädchen. »Vielleicht kennt es einen Weg, der nicht zu Sedna führt.« Aber sie taumelte vor Schwäche, als sie die Zugleine des Schlittens ergriff.

Das gespenstische Wesen bewegte sich langsam und schwerfällig über die Spalten, immer westwärts, dem Land zu; und sie folgten ihm, indes der grollende Donner von der Eisgrenze näher und näher rollte.

Gespalten lag das Feld, geplatzt nach allen Richtungen hin, bis zu vier Meilen landeinwärts! Mächtige Schollen, zehn Fuß dick, von wenigen bis zu vielen Ellen Durchmesser, rüttelten und stießen und prallten gegen die noch ungebrochene Eisdecke, getrieben von der schweren Dünung des Meeres. Dieser Sturmbock war sozusagen die Vorhut der Heere, die der Ozean gegen die Eisfläche schleuderte. Das ununterbrochene Reiben und Krachen der schweren Schollen übertönte fast den Lärm der Packeisschichten, die unter die Eisdecke geschoben wurden, wie man Spielkarten rasch unter das Tischtuch schiebt. An seichten Stellen des Wassers türmten die Schichten sich übereinander, bis die unterste Schicht fünfzig Fuß tief auf Schlamm stieß und die verfärbte See hinter dem Eis eingedämmt wurde; erst der wachsende Druck trieb zuletzt das Ganze wieder vorwärts. Zu alledem brachten Sturm und Strömung noch die wirklichen Eisberge heran, segelnde Gebirge zackigen Geklüfts, losgelöst von der Grönländer Seite des Wassers oder der Nordküste von der Melvillebucht. Feierlich kamen sie herangezogen, umspült und umzischt von weißschäumenden Wellen, und rückten gegen die Eisdecke vor wie eine altertümliche Flotte unter vollen Segeln. Da kam ein Eisberg an, so hoch und gewaltig, als könnte er eine Welt vor sich hertreiben; plötzlich aber neigte er sich, kippte über, sank hilflos in die Tiefe und wälzte sich in einem Gischt von Schlamm und hochaufspritzendem Wasser. Ein viel kleinerer Berg hingegen schlitzte die Eisdecke auf, ganze Tonnen von Eis nach beiden Seiten werfend, und schnitt eine kilometerlange Spalte, bevor er zum Stillstand kam. Manche fielen wie ein Schwert nieder und hieben rauhkantige Kanäle; andere wieder zersplitterten in Schauern von Blöcken, die weit dahinrollten. Wieder andere standen buchstäblich aus dem Wasser auf, kollerten und wanden sich wie in Schmerzen, plumpsten schwer auf die Seite, und die See raste über sie hinweg. Das Schieben und Drängen, Treiben und Stoßen der Eismassen in allen denkbaren Formen und Gestalten erstreckte sich längs der Nordseite der Eisdecke, so weit das Auge reichte. Von der Stelle aus, wo Kotuko und das Mädchen standen, erschien der Eisbruch nur wie eine unruhige, schiebende, kriechende Bewegung am Horizont; aber sie kam ihnen mit jedem Augenblick näher und näher. Vom Lande her vernahmen sie schweres Dröhnen aus weiter Ferne, wie das Donnern von Artillerie im Nebel. Das zeigte an, daß die Eisdecke an die erzenen Klippen der Insel Beylot und das Land hinter ihnen gerammt wurde.

»So war es noch niemals«, sagte Kotuko mit blödem Stieren. »Es ist nicht die Zeit. Wie kann das Eis jetzt schon brechen.«

»Folge dem!« rief das Mädchen, auf das halb hinkende, halb laufende Wesen weisend, das sich vor ihnen bewegte. Sie gingen ihm nach, den Handschlitten hinter sich herziehend, indes der brüllende Eisgang näher und näher kam. Zuletzt krachten und klafften die Eisfelder rings um sie her; Spalten taten sich auf und schnappten wie Zähne der Wölfe. Das unheimliche Wesen aber lagerte nun auf einem wohl fünfzig Fuß hohen Damm von verstreuten Eisblöcken, dort war keinerlei Bewegung. Kotuko sprang rasch vorwärts, zog das Mädchen hinter sich her und kroch bis an den Fuß des Dammes. Lauter und lauter wurde das Toben des Eises, aber der Damm stand fest. Das Mädchen blickte zu Kotuko auf und sah, wie er den rechten Ellbogen erhob und ihn auswärts streckte: er gab das Inuitzeichen für Inselland. Und Land war es, wohin das achtbeinige hinkende Wesen sie geführt hatte – eine kleine Küsteninsel mit Granitfelsen und sandigem Gestade, ganz von Eis umpanzert, so daß man sie nicht von der übrigen Eisdecke unterscheiden konnte; doch auf dem Grunde war fester Boden, kein trügerisches Eisgeschiebe. Der An- und Rückprall der Eisfelder, die auf den festen Grund stießen und splitterten, zeichnete die Umrisse der Insel; nordwärts lief eine freundliche Untiefe und trieb das schlimmste Eisgeschiebe beiseite wie eine Pflugschar, die Schollen teilt. Noch immer bestand Gefahr, denn leicht konnte sich ein Eisfeld unter starkem Druck über den Rand der Insel schieben und den Gipfel des Dammes kappen. Aber das kümmerte Kotuko und das Mädchen nicht. Sie bauten ein Schneehaus und begannen zu essen, indes sie draußen über den kleinen Strand das Eis hämmern und toben hörten. Das seltsame Wesen war verschwunden; bei der Lampe kauernd, redete Kotuko lebhaft erregt von seiner großen Macht über die Geister. Unaufhaltsam floß der Strom seiner wilden Rede – da aber hub das Mädchen zu lachen an und begann sich in den Hüften zu wiegen.

Hinter ihr, Schritt für Schritt sich vorschiebend, erschienen zwei Köpfe in der engen Öffnung des Schneehauses, ein gelber und ein schwarzer, die zu zwei überaus verschämten und betrübten Hunden gehörten, offenbar mit einem sehr schlechten Gewissen: Kotuko, der Hund, und der schwarze Führer. Beide, fett geworden, in gutem Futterzustand und von dem Irrsinn geheilt, standen sie da, in der seltsamsten Art und Weise aneinandergekoppelt. Der schwarze Führer war, wie man sich erinnern wird, mit dem Geschirr auf dem Rücken davongeflüchtet. Bald darauf muß er auf Kotuko, den Hund, gestoßen sein, hatte mit ihm gespielt oder vielleicht auch gekämpft, denn seine Schulterlasche war in Kotukos kupferdrahtenem Halsband festgehakt, so daß keiner den Riemen durchbeißen konnte, der ihn mit dem Halse des Nachbarn verband. Dieser Zustand und dazu die Freiheit, nach Belieben zu jagen, hatte wohl ihre Tollheit geheilt. Jetzt waren beide sehr ernst und vernünftig.

Das Mädchen schob die zwei verschämten Geschöpfe zu Kotuko hin und rief unter Tränen lachend: »Das ist Quiquern; Quiquern, der uns auf feste Erde rettete. Sieh, er hat acht Beine und einen doppelten Kopf!«

Kotuko durchschnitt die Fesseln; beide Hunde, gelb und schwarz, stürzten sich in seine weitgeöffneten Arme, jaulten, maunzten und winselten, um zu erzählen, wie sie wieder zu Verstand gekommen. Kotuko befühlte ihnen die Rippen und fand, daß sie rund und gut gepolstert waren. »Sie haben Futter gefunden«, sagte er grinsend. »Ich glaube nicht, daß wir so rasch zu Sedna gehen werden. Meine Tornaq hat sie uns gesendet. Der Wahnsinn ist von ihnen gewichen.«

Nachdem Kotuko sie begrüßt hatte, fuhren sich die beiden, die zwei Wochen lang miteinander fressen, jagen und schlafen mußten, an die Kehlen, und in dem Schneehaus entwickelte sich die prächtigste Balgerei. »Hungrige Hunde kämpfen nicht«, sagte Kotuko. »Sie haben die Robben gefunden. Laß uns schlafen. Auch uns wird es nicht an Nahrung fehlen.«

Als sie erwachten, war am Nordstrand der Insel offenes Wasser, und all das gelockerte Eis war von den Fluten landwärts getrieben. Das erste Aufrauschen der Brandung ist der herrlichste Klang, den der Inuit kennt, denn er verkündet den nahenden Frühling. Kotuko und das Mädchen hielten sich bei der Hand und lächelten versonnen; bei dem vollen Rauschen und Brausen der Brandung dachten sie an die Lachs- und Renzeiten und den Duft blühender Zwergweiden. Aber so scharf biß noch die Kälte, daß die See zwischen den Schollen zu frieren begann; doch am Horizont zeigte sich ein breites rotes Glühen, und das war das Licht der gesunkenen Sonne. Mehr einem Gähnen des schlummernden Sonnengottes schien der rosige Schimmer zu gleichen, und auch nur wenige Minuten blieb das Leuchten am Himmel sichtbar. Aber das war die Jahreswende! Sie wußten es, und nichts mehr war daran zu ändern.

Vor der Hütte fand Kotuko die Hunde im Kampf um einen frisch gerissenen Seehund, der den vom Sturm angetriebenen Fischen gefolgt war. Er war der erste von einer Herde von zwanzig oder dreißig Seehunden; und solange die See noch offen war, spielten Hunderte eifriger, schwarzglänzender Köpfe in dem freien seichten Gewässer, schwammen und tauchten zwischen den treibenden Eisschollen.

Eine gute Sache war es, wieder Seehundleber zu essen, die Lampe üppig mit Tran zu füllen und zu sehen, wie die Flamme drei Fuß hoch in die Luft schlug. Aber sobald das Neueis fest genug war, beluden Kotuko und das Mädchen den Schlitten und ließen die Hunde ziehen, wie sie noch nie gezogen hatten, denn sie besorgten, daß dem Dorf ein Unglück zugestoßen sein könnte. Das Wetter war so unbarmherzig wie immer; aber leichter ist es, einen gut mit Vorrat beladenen Schlitten zu lenken, als verschmachtend des Weges zu ziehen. Sie ließen fünfundzwanzig Robbenleiber gebrauchsfertig zurück, vergraben im Eise des Strandes. Dann brachen sie eilig auf, um schnell zur hungernden Sippe zu gelangen. Die Hunde wiesen ihnen den Weg, sobald Kotuko ihnen erklärt hatte, was man von ihnen erwartete. Kein Grenzstein weit und breit bezeichnete die Richtung, aber schon nach zwei Tagen bellten die Hunde in Kadlus Dorf. Nur drei Hunde antworteten ihnen, die anderen hatte man verzehrt, und fast völlig finster lagen die Hütten. Kotuko aber rief: »Ojo!« (gekochtes Fleisch); da antworteten schwache Stimmen; und als er mit dem Weckruf des Dorfes Namen nach Namen aufrief, blieb keine Lücke.

Eine Stunde danach brannten die Lampen hell in Kadlus Haus, Schneewasser wurde heiß gemacht, in den Töpfen begann es zu brodeln, und der Schnee tropfte vom Dach, als Amoraq das Mahl für das ganze Dorf bereitete. Das Knäblein in der Felljacke lutschte an einem Streifen nußsüßen fetten Transpecks, und die Jäger füllten sich langsam und sorgsam bis zum Rand mit Robbenfleisch. Kotuko und das Mädchen erzählten ihre Geschichte. Zwischen ihnen saßen die beiden Hunde, und jedesmal, wenn ihre Namen genannt wurden, spitzten sie jäh ein Ohr und sahen höchst beschämt drein. Ein Hund, der einmal toll und wieder gesund geworden, ist, wie der Inuit sagt, vor weiteren Anfällen sicher.

»Also hat uns die Tornaq nicht vergessen«, endete Kotuko seine Erzählung. »Der Sturm blies, das Eis brach, und der Seehund schwamm hinter den Fischen drein, die vor dem Sturme her trieben. Die neuen Seehundlöcher sind nicht zwei Tagesreisen von hier entfernt. Morgen sollen die guten Jäger ausziehen und die Robben holen, die ich spießte – fünfundzwanzig Leiber im Eis vergraben. Wenn wir diese aufgezehrt haben, dann wollen wir alle dem Seehund nachstellen an der Kante des Eises.«

»Was wirst du tun?« wandte sich der Zauberer an Kadlu in dem Ton, in dem er immer den reichsten der Tununirmiuten anredete.

Kadlu blickte auf das Mädchen aus dem Norden und sagte ruhig: »Wir bauen ein Haus.« Dabei wies er auf die Nordwestseite seines Hauses, denn das ist die Seite, wo der verheiratete Sohn oder die verheiratete Tochter wohnt.

Das Mädchen schüttelte traurig den dunklen Kopf und kehrte die Innenflächen ihrer Hände nach oben. Eine Fremde war sie, halb verhungert hatte man sie aufgelesen, nichts konnte sie mitbringen in den Haushalt.

Da aber sprang Amoraq auf von der Schlafbank und begann allerlei Gegenstände in den Schoß des Mädchens zu werfen – Steinlampen, eiserne Hautkratzer, Blechkessel, Rehhäute, mit Moschusochsenzähnen verziert, und echte Segeltuchnadeln, wie die Seeleute sie gebrauchen. Das war die reichste Aussteuer, die man jemals an der fernen Grenze des Polarkreises mit in die Ehe gebracht hatte; und das Mädchen aus dem Norden senkte den Kopf bis zur Erde.

»Diese auch«, rief Kotuka lachend und deutete auf die beiden Hunde, die ihre kalten Schnauzen an des Mädchens Gesicht legten.

»Ahem«, machte der Angekok mit bedeutsamem Hüsteln, als ob er allein das alles bedacht hätte. »Sobald Kotuko das Dorf verlassen hatte, ging ich in das Singhaus und sang dort Zauberlieder. Die langen einsamen Nächte hindurch sang ich und beschwor den Geist des Rens. Mein Gesang aber erregte den Sturm, der das Eis aufbrach, und zog die zwei Hunde in Kotukos Nähe, sonst hätte das Eis seine Knochen zermalmt. Weiter sang ich, bis die Seehunde, vom Gesang gelockt, herzogen hinter dem geborstenen Eis. Still lag mein Leib im Quaggi, doch mein Geist schweifte umher auf dem Eise, führte Kotuko und leitete die Hunde. Ich tat alles.«

Jeder hatte sich vollgegessen und war schläfrig, so widersprach ihm keiner. Kraft seines Amtes verhalf sich der Angekok noch zu einem fetten Stück gekochten Fleisches, sank dann zurück und schlief mit den anderen in der warmen, wohlerleuchteten, trandurchdufteten Stube.

Kotuko war ein Meister der Zeichenkunst nach Inuitart, und er ritzte Bilder der überstandenen Abenteuer in ein flaches Stück Narwalhorn, mit einem Loch am Ende. Als er dann mit dem Mädchen nordwärts wanderte, in dem Jahre des wunderbaren offenen Winters, ließ er die Bildergeschichte bei Kadlu zurück; dieser aber verlor sie im Steingeröll am Strande des Netillingsees zu Nikosiring, als sein Hundeschlitten zusammenbrach. Ein Seeinuit fand das Stück Narwalhorn im nächsten Frühjahr und verkaufte es einem Manne zu Imigen, der Dolmetscher war an Bord eines Walfischfängers in Cumberland-Sund. Dieser wieder überließ es Hans Olsen, der später Quartiermeister wurde auf einem großen Dampfer, mit dem die Touristen zum Nordkap in Norwegen fuhren. Nach Schluß der Touristensaison verkehrte der Dampfer zwischen Australien und London. Unterwegs legte er in Ceylon an, und dort verkaufte Olsen das Narwalhorn an einen singalesischen Goldschmied und erhielt dafür zwei unechte Saphire.

Ich selbst fand das Stück in einem Hause in Colombo unter altem Gerümpel und habe Kotukos Bericht von Anfang bis Ende übertragen.


 << zurück weiter >>