Eduard von Keyserling
Seine Liebeserfahrung
Eduard von Keyserling

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In der Villa waren heute die Vorhänge zurückgezogen. Die Fenster und die Glastüren zur Veranda standen offen. Von dem ein wenig tiefer liegenden Garten – aus dem Schatten der mächtigen alten Bäume wehte es kühl und ein wenig feucht in die Zimmer. Claudia kam mir an der Verandatür entgegen. Sie trug ihr blaues Kleid und eine Korallenschnur um den Hals. Die braunroten Augen sahen mich wieder mit dem ruhig wartenden Blick an. »Oh«, sagte sie, »wie hübsch, daß Sie kommen. Mein Mann wird sich freuen. Er ist eben in sein Zimmer gegangen, um etwas an dem Manuskript zu ändern, das wir heute gelesen haben.« Wir lehnten am eisernen Geländer der Veranda und schauten in den Garten hinaus. »Ja«, sagte ich, »ich habe mich den ganzen Tag darauf gefreut.«

Ich wunderte mich, daß das so einfach herauskam, denn ich hatte mir viel kompliziertere Dinge zurechtgelegt.

»Heute wird es hübsch hier«, bemerkte Claudia, »ein wenig Mond ist schon da.« Die Sonne war untergegangen, die Luft wurde blau. Über den zackigen Wipfeln der großen Ahornbäume hing eine schmale, weiße Mondsichel. Wir schwiegen. So an dem Gitter zu stehen, nebeneinander und in das Herabdämmern hineinzublicken – ihre Gegenwart zu fühlen, war wunderbar ruhevoll. Aber endlich mußte doch etwas gesagt werden.

»Wie heimlich dunkel diese Wege sind«, begann ich, »dort unten höre ich auch Frösche.«

Claudia nickte: »Ein kleiner Weiher ist unten. Die Frösche, ja, die höre ich kaum mehr, ich bin sie so gewohnt. Die Wege – ja, sie sind sehr heimlich, später im Jahr etwas unheimlich, wenn so die Blätter rascheln. Mein Mann darf abends nicht heraus dann. Ich gehe gern in der Dunkelheit da umher.« – »Allein?« fragte ich. – »Ja«, sagte sie, »oder nein, Julchen geht hinter mir her.«

»Julchen?«

»Ja – Sie kennen sie nicht – natürlich. Unsere Mamsell. Sie ist schon lange hier.«

»Julchen«, meinte ich, »klingt so gemütlich. Ich glaube nicht, daß es unheimlich sein kann, wenn Julchen hinterhergeht.«

Sie lächelte ein wenig.

»Gott! Ich bin an Julchen so gewöhnt, daß ich sie vergesse. Es ist wie mit den Fröschen.«

»Ich möchte dieses Julchen doch sehen«, meinte ich.

»Ich will sie Ihnen mal zeigen«, sagte Claudia.

Wir schwiegen wieder.

Unten am Weiher begann ein melancholischer Wasservogel immer den gleichen hellen Ton vor sich hin zu singen, und aus den feuchten dunklen Gängen des Parkes wehte uns ich weiß nicht welche Traurigkeit an. Ich hatte plötzlich starkes Mitleid mit der kleinen Frau, die einsam hier durch die raschelnden abendlichen Herbstwege ging – aber Mitleid, das fast körperlich wohltat. Das war mir neu und interessant an mir. Aber das ist wohl immer so, wenn uns ein anderes Leben ganz nahekommt.

»Und dann?« fragte ich. Claudia warf den Kopf ein wenig zurück, um mich anzusehen.

»Wie?«

»Ich meine, was Sie dann tun nach diesem Gange?«

Ich fragte sie aus, wie wir ein kleines Mädchen nach seinem Tage ausfragen. Es war mir, als hätte ich ein Eigentumsrecht auf dieses Leben.

»Dann«, sagte sie und zuckte leicht mit den Schultern, »dann lese ich meinem Manne vor.«

»Wieder das Manuskript?«

»Nein, andere Reisebeschreibungen. Er liebt es, den Fehlern der anderen auf die Spur zu kommen. Er sagt, die anderen lügen.«

»Das mag wohl sein.«

»Ja, das werden sie wohl«, meinte Claudia, unendliche Gleichgültigkeit im Ton. Hinter uns erscholl Daahlens knarrende Stimme. – »Bitte, mein Lieber, versuch doch nur zehn Kilometer auf diesen Steinen zu gehen, ja ja.« Er sprach mit dem Baron Spall – Fred Spall. Sehr lärmend begrüßte er mich: »Ach, das ist schön. Also Sie haben wir auch eingefangen. Das wird gemütlich. Schön hier, was? Das ist'n Garten. Mystisch heiliger Hain.« Lebhaft sprach er auf mich ein.

Ich hörte nicht zu, ich mußte hinübersehen, zu Spall hinübersehen, der sich neben Claudia an das Gitter lehnte, sich vertraulich zu ihr beugte – er war ja ein Vetter – und etwas erzählte und lachte. Claudia blickte gerade vor sich hin, und ihr schöner Mund zuckte so seltsam wie in einer Qual. Natürlich, ich verstand. Spall war verliebt in sie, und sie mochte ihn nicht, den schönen Spall mit dem schmalen Mädchengesicht, den sentimentalen Augen und den blanken, blonden Locken. In dem hübschen Mädchengesicht nahm sich das Monokel im linken Auge und das böse Lächeln der knabenhaft roten Lippen fast gespensterhaft aus.

»Und das Essen, Claudia, Kind«, rief Daahlen, »wie weit ist's denn?« – »Gleich«, sagte Claudia, »Julchen holt den Wein.« Daahlen lachte sehr laut. – »Sehr gut, unsere Vorsehung heißt Julchen. Wir wandeln im heiligen Haine, und Julchen sorgt für den Leib.«

Das Abendessen war sehr gepflegt, und Daahlen lachte und erklärte und sprach von den Speisen aller fünf Weltteile. Er ließ kaum einen anderen zu Wort kommen. Nur Spall unterbrach ihn zuweilen, um eine Stadtnachricht mitzuteilen. Daahlen fragte dann weiter, und sie begannen wild zu klatschen. Ich schwieg soviel wie möglich, es war mir angenehm, mit Claudia zusammen zu schweigen, es war, als verstünde sich unser Schweigen. Claudia, nah auf ihren Teller niedergebeugt, aß aufmerksam die kleinen, guten Sachen, Eier à la Mayerbeer, Hühnersteaks mit Krebssoße.

»Sie essen gern?« fragte ich sie halblaut.

»Ja«, sagte sie ernst, »wenn es etwas Unterhaltendes ist.«

Spall hatte das gehört und lachte: »Das ist echt Claudia, verlangt von dem armen Hühnerkotelett, es soll sich essen lassen und dabei unterhaltend sein.« Er hatte dabei eine Art, sie mit den sentimentalen Augen anzusehen, als gehörte sie ihm. Claudia errötete leicht und schob mißmutig die Unterlippe vor wie ein böses kleines Mädchen: »Na ja, dabei ist doch nichts.«

»Echt weiblich«, dozierte Daahlen. »Die Frauen sagen wie die Römer zu den Gladiatoren: Stirb, aber gefall mir. Mir fallen da die – Neger ein.«

Ich hörte nicht recht, wie es bei den Negern war, ich dachte an Spall. Der konnte mich nicht beunruhigen.

Nein, mein Lieber, so kommst du ihr nicht nah, mit diesen Augen, die keine Distanz halten!

Die Fenster zum Garten hin standen offen. Die tiefe Dunkelheit der großen Bäume schaute herein. Über den schwarzen Wipfeln hatte die Mondsichel jetzt ein starkes weißes Leuchten.

»Hören Sie die Frösche – unsere Tafelmusik«, sagte Daahlen.

Nach dem Essen gingen wir wieder auf die Veranda hinaus, saßen in bequemen Korbstühlen. Der Diener brachte kalte Ente in silbernen Bechern. Die große Ruhe der Nacht machte auch Daahlen eine Weile schweigsam. Dabei wandte er sich an mich und sprach von einer Mondnacht am Kongo. Claudia und Spall saßen etwas abseits. Spall sprach leise. Einmal antwortete Claudia, schnell, hart, wie mir schien. Du arbeitest für mich, mein Lieber, dachte ich. Ich wunderte mich, wie glücklich und sicher ich mich fühlte. Spall erhob sich. – »Komm«, sagte er, »wir wollen ein wenig zu den Fröschen gehen.« – Claudia erhob sich auch, machte einige Schritte, dann wandte sie sich hastig – ja, ich täusche mich nicht, hilfesuchend zu mir. »Ach, Herr von Brühlen, ich wollte Ihnen ja den Weiher zeigen.« Ich stand ein wenig zögernd auf. Konnte ich Daahlen allein lassen? In dem Lichte, das durch die Tür auf die Veranda fiel, sah ich deutlich, wie Spalls hübsches Gesicht sich verzog. Er kehrte kurz um und setzte sich in seinen Stuhl zurück. »Ach so – dann will ich Daahlen nicht allein lassen«, meinte er. »Machen wir ein Ekarté?« Claudia und ich gingen in den Garten hinunter. Es machte mich zuerst ein wenig befangen, so allein mit ihr in die Nacht hineinzugehen. Unter den Bäumen war es kühl wie unter einem Kirchengewölbe und sehr dunkel. Ich hörte nur den leisen Ton ihrer Schritte und der leichten Musselinschleppe auf dem Kies. Dann sprachen wir von dem Garten und von der Hitze und von Lavendel, glaube ich, der von der Terrasse her zu uns herüberduftete. Höflich und ruhig waren unsere Stimmen, aber ich empfand es deutlich, wie die Dunkelheit uns eng verband. Wir waren einander viel näher, als unsere Stimmen einander waren; ich spürte deutlich, als hätte ich sie gefaßt, ihre Hand in der meinen, schmal und kühl wie nächtliche Blumenblätter; ich fühlte, wie ich den Arm um ihre Taille legte, der Skabiosenstrauß an ihrem Gürtel mußte jetzt ein wenig feucht vom Tau sein. Gott, die wirklich äußere Berührung ist doch immer das letzte Symbol, die letzte Hilflosigkeit dieser heimlichen Zwiesprache unserer Körper. Ich weiß nicht, wie das Gespräch darauf kam, aber Claudia sagte: »Sie heißen Magnus?«

»Ja, Magnus!« erwiderte ich. »Ich bedaure das. Man heißt eigentlich nicht Magnus.«

»Ein Familienname?«

»Ja, mit dem Namen geht es wie mit dem Leberflecken, den ein Ahne hat, und dann taucht er immer wieder auf«

»Ich liebe meinen Namen auch nicht«, meinte Claudia sinnend. »Claudia klingt so, wie – wie etwas, das nicht lebt.«

»Claudia«, wiederholte ich und versuchte etwas Musikalisches in den Ton zu legen, das mißlang jedoch. »Früher stellte ich mir dabei eine große römische Gestalt vor, schwere, gerade Gewandfalten.«

»Und jetzt?«

»Jetzt – ich las den Namen gestern im Livius und da, da spürte ich den Duft von dem großen Beet dort vor Ihrer Treppe.«

»Ach, das«, sagte Claudia, »das riecht nach Einsamkeit.«

»Nach Einsamkeit?«

»Ja, finden Sie das nicht? Wenn die Nachmittagssonne grell darauf scheint und die Blumen so warm durcheinander duften, das ist so einsam – so einsam.«

Wir blieben am Weiher stehen, eine grüne Pflanzendecke lag auf dem Wasser. Der Mond legte ein wenig weißes Licht auf die schwarze Fläche.

»Was steht da drin?« fragte ich – denn mitten im Teich stand eine große dunkle Gestalt und schien ihre Arme in die Finsternis hinauszustrecken.

»Das dort«, sagte Claudia, »ist eine Danaide aus Stein, aber ihre Hände und das Sieb sind fortgebrochen.«

»Na, dann hat sie also Ruhe«, bemerkte ich. Claudia lächelte ein wenig. »Ja – ja – nun hat sie Ruhe.«

Langsam gingen wir am Ufer entlang, hörten den Fröschen zu, die unter der Pflanzendecke eifrig plauderten, erzählten, der eine dem anderen das Wort vom Maul nahm. Ich war in ganz unwahrscheinlicher Stimmung, sehr weit von allem, was mir sonst wirklich schien, allein mit Claudia in dieser dämmerigen Welt, über der es wie Schmerz lag, aber wie Schmerz, den ich mit Claudia gemeinsam zu tragen hatte, als gingen wir engverbunden einen gemeinsamen Leidensweg. Das ist, glaube ich, sehr charakteristisch für meinen Zustand. Claudia bog in einen dunklen Laubengang ein, der ein wenig steil hinauf dem Hause zuführte. Die Dunkelheit brachte sie mir wieder ganz nah – mir war es wieder, als nähme ich ihre kleine Gestalt, ja als küßte ich ihren wundervollen kühlen Mund.

»Sie lieben nicht die Einsamkeit, Baronin?« fragte meine Stimme höflich.

»Ach Gott!« erwiderte Claudia. »Ich bin sie so gewohnt – so – so – wie –«

»Julchen«, schlug ich vor.

Sie lächelte. »Ja – wie Julchen.«

»Sind Sie so viel allein gewesen?« fragte ich, was vielleicht zu dreist war.

»Das ist es nicht«, meinte sie. »Einsam – ist man, glaube ich, wenn man wartet – sitzt und wartet. Warten macht einsam.«

»Sehr richtig«, schaltete ich ein – was stillos war.

»So bei uns zu Hause«, fuhr Claudia fort. »Wir waren fünf Schwestern, immer nur ein Jahr zwischen uns – wir waren immer zusammen. Wir kamen wenig hinaus – wir gingen auch ungern ins Dorf. Unsere Kleider saßen so schlecht. Ich glaube, mein Konfirmationskleid war das erste, das nicht zwei Schwestern vor mir getragen hatten, ich war so klein. Es war kein Geld da, und wir mußten sehr sparen.« Sie lachte mit dem harten Unterton des Lachens halberwachsener Mädchen.

»Oh!« sagte ich nur, was ich jetzt bedaure.

»Ein Schusterjunge sagte, wenn wir vorübergingen – ach, die fünf Modejournale. – Beliebt waren wir nicht. Auch zu Hause, wenn was passierte, waren immer die fünf Komteßchen schuld.«

Ich hätte etwas sagen sollen, ich sagte jedoch nichts – ich liebte Claudia nur sehr stark in diesem Augenblicke.

»So trieben wir uns in dem großen Garten umher«, erzählte Claudia weiter, und ich glaubte ihrer Stimme anzuhören, daß sie lächelte. »Viel wurde für diesen Garten nicht getan. Nur Kohl war da gepflanzt, und die Obstbäume waren vermoost. Aber viel Stachelbeeren waren da. Auch die waren zurückgegangen, sie waren klein und haarig geworden. Bei denen lagen wir gern. Wenn die Sonne auf Stachelbeerbüsche scheint, das riecht nach warmer Wolle, nicht wahr?«

»Ja – ich – ich erinnere mich recht –«

»Ja, und das ist einsam, wir lagen da, aßen die kleinen haarigen Beeren – und warteten, daß etwas kommen sollte.« Gott! Wie deutlich ich sie sah, die Mädchen mit den hellroten Haaren und schlechtsitzenden Kleidern und den schönen, wartenden Gesichtern bei den besonnten Stachelbeerbüschen – –

»Und es kommt immer«, sagte ich.

»Ja – natürlich«, erwiderte Claudia.

»Und dann«, fuhr ich fort – ich unterstrich die Worte –, »dann müssen wir gehorchen.« Vielleicht etwas lebhaft kam das heraus.

Claudia blieb stehen. Ihre Stimme wurde jetzt leise vor Erregung: »Nicht wahr, wir müssen – ganz gleich, wir müssen.«

Das war, glaube ich, etwas Entscheidendes, was ich da gesagt hatte.

Wir traten aus dem Dunkel der Bäume auf die Terrasse vor dem Hause hinaus. Auf der Veranda, wie ein gelbes Lichtbildchen in all dem Schwarz, sahen wir die beiden Herren beim Schein zweier Kerzen mit Weingläsern bei den Karten sitzen, die Profile hell beschienen. Um Spalls Kopf legten die blonden Locken ein schwaches goldenes Glänzen. Claudia lachte lustig auf. »Das ist hübsch«, meinte sie. Ich wunderte mich, daß sie nach der Erregung, die wir beide eben gefühlt hatten, so lachen konnte. Als wir auf die Veranda kamen, bemerkte Spall spöttisch: »Nun – in Lyrik gemacht?.« Dabei sah er Claudia wieder mit dem seltsam gierigen Besitzerblick an. Claudia wandte sich ab und trat in den Schatten an das Geländer zurück. Du treibst sie gewaltsam zu mir her, mein Lieber, dachte ich.

»Famos, da unten«, begann Daahlen, »Stimmung, nur zuviel Stimmung. Meine Frau liebt das. Ich nenne das Depression kneipen.«

Bald darauf gingen Spall und ich fort. Unterwegs bemerkte Spall:

»Eine merkwürdige Frau – meine Cousine« –

»Eine charmante Dame«, erwiderte ich. Das war das kälteste, was ich fand, das errichtete gleichsam eine Barriere um Claudia.

So – und jetzt will ich schlafen – nicht denken.

Diese Gefühle dürfen wir nicht jeden Abend sorgsam wie unsere Kleider zusammenfallen und fortlegen. Mir ist's, als säße ich in einem Traum und müßte mit ihm sehr behutsam umgehen, um nicht zu erwachen.

 
8. August

Das kann ich wohl jetzt schon mit Bestimmtheit sagen, die Liebe ist eine Beschäftigung – eine Beschäftigung, welche die Tage ausfüllt.

Bisher in meinem Leben habe ich, glaube ich, wenig für andere getan. Es hat sich so gemacht, daß ich alles nur für mich tat. Jetzt ist es mir, als täte ich alles, auch das Geringfügigste, für einen anderen – für sie. Bisher ließ ich die Menschen nicht nahe an mich herankommen – ich mußte allein sein können. Jetzt ist es mir, als sei ich nie allein – ich spüre immer die Gegenwart eines andern – ihre Gegenwart. Und was tue ich denn all diese Tage voll grellen Sonnenscheins hier hinter meinen gelben Vorhängen im starken, süßen Duft der Erbsenblüten und Edellupinen. Ich übersetze Plato, sehe Korrekturen nach, ordne meine Bibliothek, aber eigentlich tue ich immer etwas anderes – und immer dasselbe. Fühlen ist die Hauptbeschäftigung. Ich verstehe die Feldgrille jetzt, die den langen Sommertag hindurch bis in die Nacht hinein eifrig, leidenschaftlich denselben Ton vor sich hin geigt, als wäre dieser Ton das einzig Wichtige in der Welt. Dieses sind Beobachtungen, die ich gesichert halte. Zu Daahlens wollte ich diesen Abend nicht gehen. Das schien mir richtig zu sein. Claudia sollte wieder einmal allein durch den Park gehen, allein im Mondenschein am Weiher stehen. In solchen Augenblicken des einsamen Fühlens wachsen unsere Empfindungen klarer und stärker, als in den beruhigenden und berauschenden Augenblicken des Zusammenseins. Ich ging aber am Abend zur Allee hinaus, setzte mich auf eine Bank und sah zu, wie die Abendsonne in den Fenstern der Daahlenschen Villa brannte. Dort wollte ich sitzen, bis die Dunkelheit kam. Es würde mir guttun, meinte ich, umgeben zu sein von der flüsternden Gemeinde der Liebespaare.

Zu mir auf die Bank setzte sich ein kleines Ladenfräulein, ein rundliches, blondes Mädchen. Sie legte die Pappschachtel, die sie trug, neben sich auf die Bank. Müde streckte sie die Füße von sich, klappte die Spitzen der gelben Schuhe aneinander. Den kleinen Knabenstrohhut schob sie ein wenig zurück, einige feuchte blonde Löckchen kräuselten sich auf der Stirn. Das Gesicht war rund und rosa, hübsch weich waren die nemophilenblauen Augen zwischen die ein wenig fetten Augenlider gebettet. So ein ruhevoller Friede lag über der Gestalt. Es war ordentlich beruhigend, daß dieses Mädchen neben mir saß. Sie schaute zu mir herüber und dann wieder fort – wie sie das alle tun. Diese Mädchen brauchen alle ruhig und sicher dieselbe Methode – wie beim Bügeln oder Handschuhanziehen. Wenn sie sich bewährt hat, wozu eine neue suchen? So begann ich mit ihr zu sprechen: – Es war heiß. – Ja, es war heiß. – Sie wollte wohl hier warten, bis es kühl wurde. – Freilich, das wollte sie. – Wartete sie sonst noch auf jemanden? – Nein, auf wen denn? – Nun, man ist doch zu zweien an Sommerabenden. – Das wohl – aber sie hatte keinen. – War er fort? – Ja – fort. Ein tiefer Seufzer straffte die rot- und weißgestreifte Bluse.

»Sie heißen Toni?« sagte ich.

»Wie wissen Sie?«

»Sie sehen so aus.«

»Ja, Toni Ledrer, ich bin bei Großmann im Handschuhladen in der Herrnstraße.« – »Oh, ich weiß, das ist der große Laden, in dem es immer so dämmerig und feierlich ist. Eine strenge, ältere Dame mit einer goldenen Brille sitzt an der Kasse, und die jungen Mädchen streichen ganz still und ernst den Kunden die Handschuhe über die Hände.« – »Die Alte ist böse«, beichtete Toni, »und sprechen darf man gar nicht und wenig sitzen.«

»Dann kommen Sie abends hierher, um zu sitzen und zu sprechen?«

»Ja, wenn wer da ist zum Sprechen«, meinte Toni träumerisch. »Ich wohne so hoch, da sind die Nächte so heiß. Man hat keine Lust zu Bett zu gehen.«

»Sie haben wohl so eine kleine Lampe mit gelbem Licht und stehen ganz weiß vor dem Spiegel und heben die Arme hoch, um sich das Haar aufzubinden« – –

Toni sah mich erstaunt an: »Nun ja – wie soll man das anders machen?«

Die Dämmerung war gekommen. Durch die Blätter der Kastanien blitzte der Mond.

»Gehen wir ein wenig«, schlug ich vor.

Toni stand gehorsam auf, strich ihr Kleid glatt und nahm die Pappschachtel. Langsam gingen wir die Allee hinab und bogen in die kleinen, finsteren Nebenwege ein.

»Nehmen Sie nicht meinen Arm?« fragte ich.

»Ich bin so frei«, erwiderte Toni. Sie nahm meinen Arm, wie all diese Mädchen unsere Arme nehmen. Sie hängen sich ein wenig schwer ein, drücken unseren Arm leicht gegen ihre Brust. Zu sagen hatten wir uns nichts. Es war auch genug, so aneinandergelehnt zu spüren, wie unser Blut den gleichen Takt hielt – es tanzte zusammen. Und Tonis hatte einen friedlich-energischen Takt. Wenn an einer Biegung des Weges plötzlich die Mondhälfte in einem hellen, leeren Himmel sichtbar wurde, dann blinzelte Toni hinauf und sagte: »Wie schön. Ach, überhaupt der Mond.«

»Gehen wir zu Bohrer essen«, schlug ich vor.

»Das ist ja nicht nötig«, meinte Toni, »heute am Werktag.«

Wir gingen doch hin. Auf der stillen Veranda erregte unser Erscheinen Aufsehen. Der alte Herr, der Herr mit dem faltigen Gesicht, die kleine, bleiche Kellnerin, alle hoben die Köpfe und sahen uns ernst und vorwurfsvoll an. Der alte Hund, der am Eingang saß und zum Mond emporschaute, knurrte leise.

»Was wünschen Sie?« flüsterte die Kellnerin.

Wir setzten uns in eine Ecke. Die Ebene vor uns war voll eines weißen, nebeligen Lichtes und einsamer denn je. Toni streckte wieder unter dem Tische die Füße von sich und legte die Hände flach auf den Tisch, dann aß sie langsam, sorgfältig, kaute die Bissen, indem sie zum Monde aufsah. Wir tranken einen kleinen, säuerlichen Schaumwein. Toni seufzte zuweilen so tief, daß die weiß- und rotgestreifte Bluse krachte.

»Warum seufzen Sie?« fragte ich.

»Weil es hier so gut – so gut ist«, meinte sie. »Man hat seine Ruh« – und sie gähnte diskret. Ja, mir wurde auch so wohlig und schläfrig zu Sinn. Es war mir, als hätte ich den ganzen Tag über gearbeitet und dürfte nun die Glieder von mir strecken und ruhen. Ich wollte mich ein wenig unterhalten.

»Ist es schwer, den Leuten die Handschuhe anzuziehen?« fragte ich.

»Ach«, sagte Toni, »ich bin daran gewöhnt. Ja, manche halten die Hand schlecht. Aber wollen wir nicht von Handschuhen sprechen.«

Nein – wir wollten nicht von Handschuhen und den Mühsalen des Lebens sprechen. Wozu auch sprechen!

»Es ist spät«, sagte Toni endlich, und wir gingen. In den schmalen Wegen zwischen den Jelängerjelieberbüschen blieb sie stehen, ganz nah vor mir.

»Ich gehe hier hinab«, sagte sie. – Ich küßte sie. Ihre Lippen waren weich und warm, wie die Lippen eines schläfrigen Kindes. »Sonntag bin ich um zwei Uhr schon frei«, bemerkte sie im Fortgehen.

Auf dem Heimwege hielt das angenehme, beruhigte Gefühl an. Aber als ich in mein Zimmer trat, war wieder Claudias erregende Gegenwart da. Ich legte mich gleich zu Bett – ich war müde und habe gut und fest geschlafen.

Aber im Einschlafen dachte ich wieder an Toni, es war mir, als würde ich von dem ruhigen, kräftigen Takt ihres Blutes in Schlaf gewiegt. Für das, was mir mit diesem Mädchen begegnet, muß sich doch auch eine Formel finden lassen. – –

 
10. August

Heute war ein schlechter Tag. Gleich beim Erwachen spürte ich das. Frühmorgens war ein Gewitter niedergegangen, das wirkte wohl noch auf meine Nerven. Die Luft war kaum abgekühlt, die Sonne stach wieder.

Eine unangenehme Nüchternheit war in mir, die allem widersprach, was ich gefühlt hatte, die höhnte und mit allem in mir zankte. Claudia war fern und fremd. An allem war überhaupt nichts. Dazu kam noch, daß Josef beim Frühstück erzählte, er sei heute morgen der Baronin Daahlen begegnet. »Sie ritt. Der Stallknecht ritt hinter ihr. Der Baron Spall war auch dabei.«

Dieser Bericht erregte in mir ein Gefühl unendlichen Widerwillens – so ein körperliches Unbehagen. Ich mußte den Tee und das geröstete Brötchen, das ich eben sorgsam mit Butter bestrichen hatte, stehenlassen. Die eigentlichen Erscheinungen der Eifersucht sind das nicht. Ich bin nicht eifersüchtig auf Spall. Claudia haßt Spall, das habe ich an ihren Blicken, an der müden Art, wie sie sich von ihm abwendet, gesehen. Claudia wird nur einer Liebe gehorchen, die bis zum äußersten mit der Distanz zwischen ihr und dem Geliebten kämpft. Erst wenn beide sagen: Wir können nicht mehr – dann, dann gehorcht sie. Das habe ich verstanden. Aber dennoch... So werde ich mich denn recht elend bis zum Abend hinziehen.

Ein seltsam unwirkliches Leben, das ich führe. Nur dort auf der Veranda wird es wirklich, vor dem dunklen, feuchten Garten, in der Traumbeleuchtung des Mondes, bei dem leisen Ton von Claudias Musselinschleppe auf dem Kies. So fühlen wohl die Fledermäuse, wenn sie am Tage in den finsteren Ecken wie kleine, schwarze Teufel an der Wand hängen und durch eine Spalte in das Tageslicht blinzeln, ob das dumme Licht noch da sei, das allem widerspricht, was sie abends erleben, wenn sie mit dem kleinen, schrillen Jauchzer über die mondbeglänzten Wipfel flattern.


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