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Als Billy erwachte, war das Zimmer rot von Abendlicht, vom Garten tönten Stimmen herauf, sie hörte die Zwillinge lachen, und auf der Veranda hielt der Vater dem Professor einen Vortrag. Eine neue Lebensunruhe erfaßte Billy, sie stand auf, um aus dem Fenster zu schauen. Ja, dort ging Lisa in ihrem hellen Musselinkleide und sprach eifrig auf den Leutnant ein, der ein wenig steifbeinig neben ihr herging. Die Arme, dachte Billy, will auch ihre Liebesgeschichte haben. Aber es schien Billy, als gäbe es nur eine Liebesgeschichte in der Welt, und das war ihre eigene, alles andere war nur Pfuscherei. Mißmutig kehrte sie zu ihrem Bett zurück, dort zu den anderen konnte sie noch nicht hinunter. Wo nur Marion blieb!

Als Marion kam, mußte sie erzählen. Wie sah er aus, als er fortfuhr? Wie nahm er vom Vater Abschied? Marion hatte natürlich das, worauf es ankam, nicht gesehn, aber eine Botschaft überbrachte sie. »Aber, bitte, ganz wörtlich«, ermahnte Billy. »Ja, gewiß, so sagte er«, berichtete Marion: »Kommen Sie morgen um zwölf Uhr Mittag zu der Linde, die am Ende des Parks außerhalb des Zauns sieht. Dort soll Billy Nachricht haben. Sagen Sie Billy, nur sie hat zu entscheiden.« »Ach«, jammerte Billy, »wieder dieses entsetzliche Entscheiden! Was ist das? was wird dort an der Linde sein?« Und die beiden Mädchen saßen beieinander und flüsterten über dieses Rätsel, über das sie immer sprechen mußten. Im Zimmer wurde es dämmerig und das Rätsel wurde immer drohender. Billy ertrug es nicht länger, sie schickte Marion fort: »Geh', du sagst ja immer dasselbe. Schick' die alte Lohmann zu mir. Die ist die einzige, die ich von Euch ertragen kann. Sie soll ihre alten Geschichten erzählen.« Die Lohmann kam mit ihrem kleinen gelben Gesicht unter der schwarzen Haube und den von Gicht zusammengezogenen Händen. Sie war eine alte Kinderfrau, die jetzt in einem Stübchen des Untergeschosses ihr Alter damit verbrachte, hinter den Geranienstöcken am Fenster zu sitzen und das Gnadenbrot zu essen. Die Alte kauerte an Billys Bett nieder und begann mit klagender Stimme: »Unser Komteßchen hat es auch schwer, alle haben es schwer, anders ist es nicht«; aber Billy unterbrach sie gereizt: »Aber Lohmann, habe ich dich dazu kommen lassen. Deine alten Geschichten sollst du erzählen, bemitleiden kann ich mich schon selbst.« Und Lohmann erzählte die so oft schon erzählten Geschichten, wie sie als kleines Mädchen mit ihrer Mutter ganz früh im Morgengrauen Milch und Käse zur Stadt brachte. Im Winter war es sehr kalt, in einer kleinen Schänke wärmten sie sich, da saßen auch die anderen Marktfrauen in dicke Tücher gehüllt wie große graue Kugeln, und die kleine Lohmann bekam Warmbier, das war heißes Bier mit Milch und Zucker. Billy sah das alles, das wollte sie sehen, die kleine Schänke voll der grauen Kugeln, es roch nach feuchter Wolle und dem überheizten Ofen, und vor den Fenstern die blaue kalte Dämmerung des Wintermorgens. Das war traurig und friedlich und so weit, weit fort von allen rätselhaften Entscheidungen. »Du, Lohmann«, fuhr Billy auf, »Warmbier wäre noch das einzige, was ich jetzt nehmen könnte, geh', mache mir Warmbier.«

Mühsam ging der Abend zu Ende. Die Lohmann hatte Warmbier gekocht, es schmeckte jedoch so schlecht, daß Billy es nicht trinken konnte. Komtesse Betty und Madame Bonnechose kamen und saßen an Billys Bett, sahen sie teilnahmevoll an, sprachen über Billys Husten, über Arzneimittel, sprachen vorsichtig über gleichgültige Dinge, besorgt, nicht etwas Gefährliches zu berühren; Billy war froh, als sie alle fort waren und die Nacht begann. Sie wollte versuchen, zu schlafen, allein in der Stille und Dunkelheit wurde das Leben wieder sehr bedrohlich und dazu nüchtern wie Zahlen, die zusammengerechnet werden sollten. Als sie ein wenig einschlief, dauerte dieses Rechnen und Raten fort, und dann hatte sie bei alledem immer etwas zu entscheiden, und sie wußte nicht was und wie. Es mochte ein Uhr sein, als sie erwachte; nein, schlafen wollte sie nicht, das war kein Vergnügen. Durch die Fenstervorhänge drang ein wenig weißes Licht. Sie sprang aus dem Bett, um zum Fenster hinauszuschauen, der Mond schien sehr hell. Still und wach standen die Obstbäume auf den Rasenplätzen und die Stockrosen in den Beeten, und die Helligkeit legte etwas Festliches über den schweigenden Garten. Da wollte Billy dabei sein. Sie kleidete sich eilig an und ging zu Marion hinüber, um sie zu wecken: »Marion, du kannst schlafen? ich habe nicht ein Auge zugetan, komm, steh' auf.« »Ich bin eben ein wenig eingeschlafen«, sagte Marion entschuldigend, »was ist geschehen? wohin müssen wir?« »Wir müssen in den Garten hinunter zu den Johannisbeeren«, sagte Billy. Gehorsam stand Marion auf und kleidete sich an. über die kleine Hintertreppe gelangten die beiden Mädchen in den Garten. Billy atmete tief auf; das war es, der feuchte, süße Atem der Blumen, dieses unwahrscheinliche Licht, das den Himmel, den Garten, die Wiese mit den weißen Nebeln alles so unendlich weit erscheinen ließ, das gab ihr wieder den Rausch, ohne den sie jetzt nicht leben konnte. Hier vermochte sie wieder »Boris! Boris!« zu denken und jenes wunderliche Brennen im Blute zu fühlen, das ihr Mut zu allem gab. Im Obstgarten waren die Erdbeerbeete, die Stachel- und Johannisbeerbüsche grau und glitzernd von Tau, vom Gemüsegarten dufteten die Suppenkräuter gewaltsam herüber, und auf den Kieswegen saßen versonnene Kröten. Die Mädchen stellten sich an einen Johannisbeerbusch und begannen schweigend die kühlen, feuchten Trauben zu essen.

»Ja, jetzt ist es anders«, bemerkte Billy endlich. »Wie das?« fragte Marion geschäftlich.

»Mir ist«, sagte Billy, »als wäre wieder alles ganz leicht, als könnte ich über alles entscheiden. Ich fürchte mich garnicht, und wenn es noch so tragisch ist.« »Tragisch«, bemerkte Marion ein wenig undeutlich, denn sie hatte den Mund voll von Johannisbeeren, »tragisch ist so, wie auf dem Theater.« Von der anderen Seite des Busches ertönte Billys unterdrücktes Lachen: »Aber Marion!« Dann richtete Billy sich auf, hielt eine Traube in die Höhe gegen den Mondschein, sah sie an und sagte feierlich: »Tragisch ist traurig, aber traurig wie seine Augen, traurig, aber doch wunderschön, schöner als alles, was lustig ist.« Dann bog sie den Kopf zurück und ließ die Traube langsam in ihren geöffneten Mund gleiten, und sie fühlte sich in dieser Bewegung ganz festlich, ganz schön, ganz der Mondnacht zugehörig.

Allmählich verlor der Mondschein an Glanz, eine graue Helligkeit mischte sich in ihn und verdrängte ihn, ein Licht, das durch verstaubte Fensterscheiben zu dringen schien.

»Der Morgen kommt«, sagte Billy ernst, »komm, gehen wir.« »Wohin gehen wir?« fragte Marion. »Wir warten auf die Sonne«, bestimmte Billy.

Die beiden Mädchen gingen an das Ende des Gartens, dort, wo die Wiese beginnt, und setzten sich auf eine Bank. Ein wenig bleich und fröstelnd drückten sie sich aneinander, aber Billy saß dennoch ganz aufrecht, die Augen groß und wach, die Lippen wie bereit zu einem erregten Lächeln. Noch fühlte sie die ganze angenehme Festlichkeit jenes Traurigen, das doch wunderschön war. Die Nebel auf der Wiese wurden durchsichtig, der Himmel fast weiß, im Busch begann eine Elster zu plaudern und eine Krähe flog sehr schwarz und schwer in der glasigen Dämmerung. Eine Traumwelt, und Billy empfand auch jene Ergebung, die wir im Traume haben, denn der Traum gibt uns alle Wunder auch ohne unser Zutun. Dann kam Farbe, ein Zug rosenroter Wölkchen legte sich auf den Himmel, über den schwarzen Waldwipfeln sprühte es rot und dann plötzlich war alles voll von der Aufregung eines purpurnen und goldenen Lichtes. »Ah, da ist sie,« sagte Billy, und die beiden Mädchen starrten regungslos wie betäubt auf die aufgehende Sonne. Aber, als die Sonne höherstieg und die Farben alle in dem gleichmäßigen gelben Licht ertranken, da wurde Billys Gesicht wieder ernst und sorgenvoll, da war der Tag wieder mit seinen Verantwortungen und Entscheidungen. »Komm,« sagte Billy zu Marion, und sie schlichen wieder in das Haus in ihr Zimmer hinauf. »Werden wir jetzt schlafen?« fragte Marion. »Wie kannst du daran denken,« erwiderte Billy, »um zwölf mußt du bei der Linde sein, »komm, setze dich hierher.« Sie rückte einen Sessel für Marion heran, sie selbst stieg in ihr Bett, aber sie lehnte aufrecht in den Kissen. So saßen die beiden Kinder beieinander, die Augen fielen ihnen zuweilen zu, dann schlummerten sie, aber wie wir auf der Reise im Eisenbahnwagen schlummern und immer wieder auffahren, in der Angst etwas zu versäumen. Im Laufe des Morgens klopfte Komtesse Betty zweimal an die Tür, aber sie wurde nicht eingelassen. »Nein, nein, wir schlafen,« hieß es. Als Lina, die Kammerjungfer, kam, wurde ihr das Frühstück bestellt. »Sehr viel,« sagte Billy, »Tee und Eier, Schinken, Brot, sehr viel, hören Sie.« Sie fühlte einen wahren Reisehunger.

Bald wurde Billy sehr unruhig, sie fragte Marion immer wieder, ob es nicht Zeit sei, und es war erst elf Uhr, als Marion schon zur Linde hinabgehen mußte. Billy saß still in ihrem Bett mit brennenden Wangen, die Hände gefaltet und lauschte in sich hinein auf die seltsame Spannung ihres Wesens. Ja, es war alles da, das starke Verlangen nach Boris, die schmerzhafte Rührung bei dem Gedanken an ihn, der Mut zu allen Möglichkeiten und die Angst vor dem, was nun kommen mußte. Aber immer wieder empfand sie eine wunderliche Fremdheit jener Billy gegenüber, die all dieses fühlte und all dieses erlebte. Die bekannten Töne des Hauses drangen zu ihr, unten im Garten lachten die Zwillinge, im Korridor schalt Madame Bonnechose ein Dienstmädchen und am offenen Fenster des unteren Geschosses sang die Lohmann einen Gesangbuchvers. Allein die Billy, die unglücklich liebte, die entschlossen war, ihrem Vater nicht zu gehorchen, die entscheiden mußte, sie gehörte nicht mehr zu diesem altgewohnten Leben. Wo blieb jedoch Marion? Billy hob die nackten Arme hoch über den Kopf empor, rang die Hände ineinander und stöhnte: »Ach, ach! warum kommt sie nicht!« Endlich lief es leise auf dem Korridor hinunter und Marion erschien erhitzt und atemlos. Die beiden Mädchen sprachen nichts, Marion reichte Billy stumm einen Brief, setzte sich und starrte sie angstvoll an. Billy war ganz ruhig geworden, sie hielt den Brief in der Hand, ohne ihn zu öffnen. »Wie war es?« fragte sie.

»Dort an der Linde,« berichtete Marion leise, »dort stand ein kleiner Judenjunge. Er hatte sehr große schwarze Augen, über den Ohren hingen ihm zwei fest zusammengedrehte schwarze Locken und er trug einen langen Rock wie ein Erwachsener, der brachte den Brief. Es war recht unheimlich.«

»Natürlich war es unheimlich,« bemerkte Billy, lehnte sich in die Kissen zurück und schickte sich an, ihren Brief zu öffnen und zu lesen.

Boris schrieb. Eine Überschrift fehlte. »Heute Nacht,« hieß es dann, »gegen Mitternacht, bin ich bei der Linde unten am Park und warte. Niemand darf davon wissen. Auf der einen Seite steht alles, was du bisher für dein Leben gehalten hast, auf der andern stehe ich – entscheide. Willst du mich, dann komme. Kommst du nicht, dann verzeihe ich dir und gehe wieder einsam meinen dunkeln Weg. Wir sehen uns nie wieder. Einem so großen Glücke nahe zu kommen und dann wieder von ihm fort zu müssen, ist tödlich.« Auch die Unterschrift fehlte. Billy ließ den Brief sinken, sie brauchte nicht zu entscheiden, sie wußte, daß sie zu ihm gehen würde. Es schien ihr, als habe sie hier kaum mitzusprechen, die andere, die fremde Billy, handelte, und die mußte bei Nacht zu der Linde hinabgehen. Billys Blicke fielen auf Marion, deren Augen unendlich erwartungsvoll an ihr hingen. Billy lächelte und schüttelte ein wenig den Kopf und sagte: »Nein, ich kann dir nichts sagen.« Marion antwortete nicht, aber ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie erhob sich und schlich leise aus dem Zimmer; sie war sehr unglücklich. Die ganze Zeit über war es ihr gewesen, als sei Billys Liebesgeschichte auch die ihre, die Liebe zu Boris, die Aufregungen und Schmerzen hatte sie geteilt, in Billy hatte sie sich geliebt gefühlt, und nun plötzlich wurde sie beiseite geschoben und war wieder nur die Marion Bonnechose, die von allen Komtessenschicksalen ausgeschlossen wurde.

In Billy aber fuhr reges Leben. Sie klingelte nach Lina, sie wollte ihr neues Musselinkleid mit dem rosa Nelkenmuster anziehen, sie rief nach ihrem Korallenhalsband; dabei war sie freundlich und gesprächig mit der Kammerjungfer. Lina mußte von dem Förster erzählen, mit dem sie zeitweilig verlobt war.

Der Tag war sehr schwül geworden, im Westen türmten sich graublaue Wolken. »Wir bekommen ein Gewitter,« sagte Graf Hamilkar, als er auf der Gartentreppe stand und in den heißen Duft des Gartens hineinroch. Komtesse Betty stand neben ihm, neigte den Kopf zur Seite und blinzelte zu den Wolken auf. Über die Gartenwege jagten sich Bob und Billy. Der Graf folgte ihnen mit den Blicken, dann wandte er sich zu seiner Schwester: »Die Gefühlskrise scheint einen guten Verlauf zu nehmen,« bemerkte er. Komtesse Betty jedoch machte ein erschrockenes Gesicht. »Ach, Hamilkar, ich weiß nicht, diese Heiterkeit ist nicht natürlich, ich ängstige mich so um das Kind. Madame Bonnechose meint auch ...«

»Ängstige dich nicht, liebe Betty,« unterbrach sie der Graf, »was auch Madame Bonnechose meint. Die Liebe wird von den jungen Leuten gern als eine Macht angesehn, die elementar, unvernünftig, aber unwiderstehlich ist, gut, dann muß dieser Macht eben eine andere Macht entgegengesetzt werden, die auch für elementar, für unvernünftig und unwiderstehlich gilt. Nun, liebe Betty, diese Macht darzustellen, das ist jetzt meine Rolle.« Er lächelte sein schiefes, spöttisches Lächeln und ging in das Haus, um seine Nachmittagsruhe zu halten. Billy war müde vom Laufen. »Es ist genug,« rief sie Bob zu. Sie strich sich das Haar aus dem heißen Gesicht und sann einen Augenblick vor sich hin. Was sollte sie jetzt tun? denn tun, tun mußte sie etwas, nur nicht stille sein und hineinschaun in das Dunkele, das hinter diesem Tage lag. Als das kleine Fräulein Demme an ihr vorüberging, nahm sie ihren Arm und sagte: »Kommen Sie, Fräulein, wir wollen Pflaumen essen und von Herrn Post sprechen.« Allein in diesen Nachmittagsstunden, in denen die Sonne wie eine schwere goldene Schläfrigkeit über dem Garten lag, war es schwer, das Fieber wach zu erhalten, dessen Billy jetzt bedurfte. Schließlich suchte sie Moritz auf, er sollte sie auf dem Gartenteich hin und her rudern. »Wie, du und ich?« fragte Moritz ein wenig erstaunt und errötete. – »Natürlich, du und ich,« sagte Billy.

Das schien das Rechte zu sein. Es tat Billy wohl, sich halbliegend im Bug des Bootes auszustrecken, vor sich Moritz' erhitztes, friedliches Gesicht, die blauen Augen, die sie mit behaglicher Andacht unverwandt anschauten. Das Wasser war sehr schwarz, hie und da lag eine grüne Pflanzendecke darauf, die unter dem Kiel des Bootes leise rauschte. Wie müde beugten sich die alten Weiden über das Wasser und eine sichere, befriedigte Ereignislosigkeit wohnte hier, eine Ereignislosigkeit, die Billy schwach und feige machte. Warum kann es nicht so bleiben, dachte sie. Wie die kleinen Karauschen regungslos an der Oberfläche des Wassers im Sonnenschein liegen, nur zuweilen ein wenig die Flossen regend, um zu spüren, daß sie leben, das mußte gut tun. Aber plötzlich fiel es sie wie Gewissensbiß an. Es war ihr, als versäumte sie, als verriete sie etwas. Sie fuhr auf. »Fahr' ans Land,« befahl sie. Verwundert schaute Moritz auf. »Ja, ja, ans Land,« wiederholte Billy ungeduldig. Und am Lande, als Moritz sie aus dem Boote hob, fühlte Billy, daß sie etwas tun müsse, was der vornehmen Gelassenheit dieses stillen Teiches, der kleinen Karauschen, der alten Weiden widersprach, ihr in das Gesicht schlug, und sie beugte sich vor und küßte Moritz. »Aber Billy, ich verstehe nicht,« stammelte Moritz und wurde dunkelrot, aber Billy war schon fort.

Der Abend kam mit dem Tee auf der Veranda. Da der Mond spät aufging, lag der Garten in tiefer Dunkelheit da, die Wolkenwand war am Himmel höher hinaufgestiegen, während der westliche Himmel noch voller Sterne hing. Zuweilen huschte das blaue Licht eines Wetterleuchtens über den Garten und ein plötzliches Wehen schüttelte an den Bäumen, so daß man allerort das Obst in den Rasen fallen hörte. Auf der Veranda waren nur die roten Spitzen der brennenden Zigarren sichtbar und die Stimmen der Sprechenden nahmen etwas Weiches, Beruhigtes an, als wollten sie zu den verhallenden Tönen stimmen, die durch die Nacht irrten. Lisa saß neben dem Leutnant und sprach von Griechenland. »Sehen Sie, Marathon, was war mir früher Marathon? eine Jahreszahl, vierhundertneunzig, glaube ich, aber an jenem Abend, so im Abendrot über der Ebene, es klingt unwahrscheinlich, aber ich sagte zu – zu Katakasianopulos, ich sagte Katakasianopulos, ich fühle Miltiades.«

»Allerdings, sehr merkwürdig,« meinte der Leutnant. Er war jetzt so passioniert für die Jagd, daß er täglich auf Rebhühner ging, abends sehr müde war und nur matt der Unterhaltung folgen konnte.

Der Professor sprach mit Graf Hamilkar wieder über Träume. »Der Traum ist für uns eine Wirklichkeit wie jede andere,« meinte er. »Ja,« versetzte der Graf ein wenig undeutlich, denn er nahm die Zigarre beim Sprechen nicht aus dem Munde, »nur eine Wirklichkeit, die wir beim Erwachen immer wieder durchstreichen. Das sind so Erlebnisse, die wir immer wieder in den Papierkorb werfen.«

»Schön, sehr schön,« fuhr der Professor eifrig fort, »aber das tun wir in dem sogenannten wachen Leben auch. Wenn ich erwache, so sehe ich den Traum mit meinen wachen Augen an und dann erscheint er mir unwirklich; aber diese wachen Augen sind eben nicht auf den Traum eingestellt. Und dann, mit allen Erlebnissen geht es so, was ich in einem Augenblicke erlebe, daran glaube ich fest, und im nächsten Augenblicke sehe ich darauf zurück und es erscheint mir unwirklich und falsch und ich streiche es aus. Also bitte, der Himmel, der ist jetzt für mich die große schöne Halle, in der die vielen blanken Lichtchen beieinander stehen in der hübschen Sommernacht und sich einander zublinzeln. Das ist wirklich, was geht das mich an, ob ich morgen vielleicht ihn durch ein Teleskop ansehe, also durch ein Auge, das nicht für mich berechnet ist, und er dann ganz anders ausschaut. Sehen Sie, eine Sternschnuppe. Die Litauer sagen, wenn sie eine Sternschnuppe sehen: da geht einer zu seinem Mädchen. Gewiß, jetzt ist für mich diese Sternschnuppe einer, der zu seinem Mädchen geht. Das ist mein Erlebnis. Bitte, morgen streiche ich es wahrlich aus und denke dabei an Asteroiden oder solche Sachen, deshalb ist es für mich doch heute einer, der zu seinem Mädchen geht, bitte.« Alle hatten zum Himmel aufgeblickt und den Stern gesehn, der eilig durch das Dunkel glitt, in weitem Bogen an den anderen Sternen vorüber, als wollte er ihnen ausweichen, hastig und heimlich. »Dieses Ausstreichen,« meinte Graf Hamilkar, »wenn wir's nur auch dann könnten, wann wir wollen.«

Billy sah noch immer zu den Sternen auf. Dieses mit dem Stern, der zu seinem Mädchen geht, hatte ihr plötzlich die ganze freudige Ungeduld ihrer Liebesgeschichte wiedergegeben und sie fühlte sich wie zugehörig zu jener großen heimlichen Gemeinde derer, die unten auf Erden still und hastig durch die Nacht ihrer Liebe entgegeneilen.

Oben in ihrem Zimmer küßte Billy Marion und sagte: »Diese Nacht wollen wir schlafen, ganz tief schlafen. Aber Marion, sieh mich doch nicht so an, als ob ich gestorben wäre.« Marion wollte etwas sagen, schlich aber dann ängstlich und schweigend hinaus.

»Lina,« befahl Billy der Kammerjungfer, »morgen wünsche ich lange zu schlafen und keiner, hören Sie, keiner soll mich stören.«

Allein geblieben, begann sie leise und geschäftig hin und her zu gehen. Sie kleidete sich um, zog ein braunes Tuchkleid an, setzte ihren Hut auf, hüllte sich in ihren Regenmantel, nahm ihren Regenschirm in die Hand, schrieb auf einen Zettel »Ich bin bei ihm« und legte ihn auf die Toilette und saß dann da wie eine Reisende, die im Wartesaal auf den Zug wartet. Draußen donnerte es zuweilen. Unten im schlafenden Hause riefen durch die stillen Zimmer die altbekannten Stimmen der Uhren einander zu.

Billy stieg über die Hintertreppe leise in den Garten hinab. Am Himmel hing schweres Gewölk. Die Nacht war heute ganz voll Stimmen und Tönen, ein Windstoß fuhr in die Bäume und ließ sie erregt aufrauschen. Welke Blätter liefen auf dem Wege raschelnd vor Billy her. Irgendwo knarrte ein Fensterladen, ächzte ein Zweig. Es war, als irrte ein Ereignis durch die Dunkelheit und weckte den schlafenden Garten. Billy ging sehr schnell, so schnell wie als Kind, wenn sie durch das dunkele Wohnzimmer in die helle Kinderstube kommen wollte. Ein Blitz fuhr über den Himmel und riß die Dunkelheit wie eine schwarze Decke von dem Teich, von den nachdenklich über das Schilf gebogenen Weiden, von den still in all dem Schwarz liegenden Wasserrosen, aber all das schien so fremd, als hätte es Billy nie gesehen. Sie hastete weiter, sie dachte und fühlte nur eins, dort an der Linde bei ihm sein, dort war Sicherheit, dort war alles überstanden. Als sie aus dem Park hinaustrat, erhellte wieder ein Blitz das Land und sie sah eine schwarze Gestalt, die spitze Kapuze des Regenmantels über den Kopf gezogen, am Stamm der Linde lehnen. »Boris!« rief Billy aus. »Still!« erwiderte Boris »komm.« Er legte ihren Arm in den seinen und zog sie mit sich fort. Sie gingen über eine feuchte Wiese, dann an einem Gerstenfelde entlang, in dem ein Wachtelkönig aufgeregt schnarrte, als gäbe er ein Signal. »Wohin gehen wir?« fragte Billy leise. Boris blieb stehen. »Du fragst?« sagte er, »wenn du dich fürchtest, führe ich dich zurück. Ich führe dich bis an das Haus, ganz sicher, noch ist es Zeit.«

»Und du?« fragte Billy zögernd.

»Ach ich!« erwiderte Boris und das klang so kummervoll, so unendlich einsam, daß Billy wieder von jenem schmerzvollen bewundernden Mitleid geschüttelt wurde, das sie Boris gegenüber ganz wehrlos machte. »Nein, nein«, rief sie, »gehen wir.« Sie überschritten nun ein Stück Sumpfland, das weiß von Wollgras war und unter ihren Schritten leise schnalzte.

»Das klingt so«, bemerkte Billy, »wie Küsse, von denen Kammerjungfern sprechen«, und sie lachte dabei. Sie hatte das starke Bedürfnis zu lachen, etwas Lustiges zu sagen. Hinter dem Sumpf begann der Wald. Boris blieb ab und zu stehen, um sich in der Finsternis zurechtzufinden, pfiff einmal leise und ein Pfiff antwortete. Endlich gelangten sie auf dem Waldwege an einen Wagen; ein Mann stand dort, Billy sah das im Schein eines Blitzes für einen Augenblick, dann wieder tiefes Dunkel. Boris sprach leise mit jemand, es war von Gewitter und schlechtem Wege die Rede. Sie hörte, wie Pferde ihre Geschirre schüttelten, dann schob Boris sie in den Wagen, stieg selbst hinein, schlug die Tür zu und langsam setzte sich auf dem holperigen Waldwege das Gefährt in Bewegung.

Der Wagen war eng und dunkel, die heraufgezogenen Glasfenster klirrten leise, dahinter lagen der Wald und die Nacht wie schwarze Sammetvorhänge. Zuweilen warfen Blitze ein jähes blaues Licht in dieses Dunkel. Es begann heftig zu regnen, ein lautes gleichmäßiges Rauschen umgab die Fahrenden, die Tropfen trommelten auf dem Verdeck des Wagens und klopften an die Scheiben. Boris seufzte auf, ein tiefer Seufzer des Behagens und der Erleichterung. Er zog Billy zu sich heran, er drückte sie fest an sich, daß es fast schmerzte, er schüttelte sie ein wenig. »So ist es gut, so ist es gut!« flüsterte er. Seine Stimme klang nicht mehr tragisch, sondern knabenhaft und ausgelassen. Und dann wurde er besorgt: »Aber du frierst, natürlich, ich habe für einen Mantel gesorgt, ich habe für alles gesorgt!« Er hüllte sie in einen großen seidenen Mantel, der leicht nach Moschus roch. »So ist es gut, nicht wahr, das ist der Mantel der alten Frau von Worsky. Mein Freund Ladislas hat ihn mir gegeben, du weißt, er wohnt dort an der Grenze in Padony mit seiner alten Mutter; ein guter Junge! er hat viel für uns getan, er kennt dort alle an der Grenze, er hat uns die Wege geebnet, vielleicht sehen wir ihn noch diese Nacht. Ist der Mantel warm?« – »Ja,« meinte Billy, »aber er riecht nach Madame Bonnechose.« Boris ärgerte sich: »Verflucht! Er soll nicht nach Madame Bonnechose riechen; nichts soll nach deinem Zu Hause riechen. Das ist fort, versunken.« »Über die Grenze sagst du?« fragte Billy. Boris' Stimmton nahm wieder etwas Gequältes an, als er antwortete: »Ja – ich weiß nicht, frag' jetzt nicht, dir bleibt ja doch nichts anderes übrig, es wird schon alles gut, aber jetzt denken wir überhaupt nicht. Das ist es, wonach ich mich gesehnt habe, das ist es, was ich haben mußte, ich wäre gestorben, wenn ich es nicht gehabt hätte, hier so mit dir zusammen sitzen, eng, eng, und um uns ist es ganz dunkel und schwarz, alles ist fort, ist ausgelöscht, die dumme Welt trommelt an den Wagen und kann nicht herein, und du und ich sind ganz allein und haben nichts anderes zu tun als beieinander zu sein. Fühlst du das? sag?« Und er drückte sie wieder fest an sich und schüttelte sie ein wenig. »Ja, ich glaube,« antwortete Billy, »aber sprich noch, sprich noch so.« – »Wozu ist denn«, fuhr Boris fort, »das ganze Leben da, als nur für solche Augenblicke, in denen wir alles vergessen können. Dafür plagt man sich doch, läßt sich demütigen und pumpt Geld, damit für eine kurze Zeit alles von einem abfällt und wir nur eines fühlen und eines denken: Billy!« Er küßte sie ganz fest auf die Lippen. »Nicht wahr, du fühlst wie das alles abfällt von dir, es wird ganz blaß und wesenlos, der langweilige Garten zu Hause und Josef mit der Tischglocke und der Tee mit den Butterbrötchen und diese Billy mit dem weißen Kleid, die nichts tun und nichts denken durfte. All das ist unwirklich und es gibt nur ein Wirkliches, das bin ich. Sag', fühlst du das?«

Billy lehnte den Kopf an Boris' Schulter und schloß die Augen. Gewiß, das war alles sehr fern, der Garten, ihr Zimmer mit niedergelassenen Vorhängen, die schlafende Marion, die altbekannten Stimmen der Uhren in den stillen Zimmern, fremd und unwirklich, als gehöre es nicht zu ihr. Aber hier der Wagen mit seiner Enge und Finsternis, das Rauschen des Regens, das Klirren der Fensterscheiben, waren die wirklich? waren die Hände wirklich, die sie faßten, drückten und schüttelten, als gehörte sie nicht mehr sich selbst, als gehörte sie einem anderen, die Lippen, die sich heiß auf die ihren drückten, diese Stimme, die leise und leidenschaftlich in die Dunkelheit hineinsprach. Und sie selbst, wer war sie denn mit dem Körper, mit dem Blut, in denen sich ein seltsames Fieber hervorwagte. Sie fühlte, wie die Billy, die sie gekannt und an die sie geglaubt hatte, in ihr hinschmolz, es war ihr, als ließe etwas sie los, das sie bisher gehalten hatte, und nun trieb sie dahin und alles war jetzt gleich, es gehörte ja doch nicht zu ihr, jenes Brennen und Fiebern, dem zu lauschen und zu gehorchen jetzt ihr einziges Geschäft war. Sie schwiegen nun beide. Der Regen schien stärker zu werden, immer häufiger huschte das eilige Licht der Blitze über den schwarzen Wald. Der Wagen kam nur mühsam vorwärts, schüttelte und wiegte sich. Eine große Müdigkeit machte Billy die Glieder schwer, als gehörten sie ihr nicht und unvermerkt glitt sie in den Traum hinüber, in jenes qualvolle Träumen des beginnenden Schlafes, in dem die Traumgestalten uns so aufdringlich nahekommen. Es war das Gesicht ihres Vaters, das vor Billy auftauchte, dicht vor ihr, so dicht, daß die lange weiße Nase Billys Nase berührte wie etwas Kaltes, und in den strengen eisengrauen Augen regten sich kleine goldene Punkte wie stets, wenn er böse war. Sie hörte ihn auch sprechen, die ruhige, ein wenig näselnde Stimme: »Ja wenn das mit dem Ausstreichen immer so ginge«, sagte er. Ein starker Donnerschlag ließ Billy auffahren, sie wußte nicht, wo sie war, nur etwas Schweres und Trauriges lastete auf ihr. Sie fror. Auch Boris neben ihr war aufgeschreckt, wie angstvoll griff er nach ihr. »Wir haben geschlafen«, sagte er, »nein das können wir nicht, dann kommt wieder alles Mögliche, vor allem der Morgen kommt dann, dieses verfluchte Licht, wie das herankriecht.« Fröstelnd drückten sie sich aneinander. »Es sollte gar nicht mehr Tag werden, sterben sollten wir jetzt, nicht wahr, so in einem Blitz, plötzlich eine starke blaue Helligkeit und dann wieder diese gute warme Finsternis.«

Plötzlich hielt der Wagen. Boris ließ das Wagenfenster hinunter und steckte den Kopf heraus. Durch das Niederrinnen des Regens blinzelte ein gelbes Licht, ein Hund bellte wütend. »Was gibt es?« rief Boris. Dann öffnete er ungeduldig den Wagenschlag und sprang hinaus. Billy hörte ihn aufgeregt sprechen; eine brummende Männerstimme antwortete ihm, dann mischte sich noch eine Stimme hinein, hoch und schnarrend, die heiter und gesellschaftlich klang, als lachte ein Herr in einer Quadrilleunterhaltung über seinen eigenen Witz. Billy, allein geblieben, fürchtete sich, sie fürchtete sich vor der Dunkelheit, vor den Stimmen draußen, vor dem was geschehen würde und dem, was sie getan hatte, so die einfache, schmerzhafte Furcht des kleinen Mädchens mit dem schlechten Gewissen. Boris öffnete wieder den Wagenschlag. »Komm,« sagte er, »wir müssen aussteigen, der Kerl weigert sich weiter zu fahren, der Weg soll unmöglich sein, eine Brücke soll kaput sein, was weiß ich!« Er war offenbar sehr ärgerlich. Er half Billy aus dem Wagen und führte sie durch die Wasserlachen einige morsche Stufen hinauf. »Vorsichtig, hier ist alles verfault,« sagte wieder die hohe, schnarrende Stimme. Sie traten in einen Flur, in dem es nach Rauch und Zwiebeln roch, von da in ein Wohnzimmer, in dem ihnen eine schwere überheizte Luft entgegenschlug. Hier war es hell, zwei Kerzen brannten auf einem weißgedeckten Tisch, an der Seite über einem kleinen Schenktisch hing eine qualmende Petroleumlampe. Geblendet blinzelte Billy in das Licht, das Zimmer schien ihr voller Menschen zu sein. Jemand nahm ihr den Mantel ab und die schnarrende Stimme sagte: »Ihre Augen müssen sich erst an den Glanz des Wolfschen Salons gewöhnen, Komtesse.« »Setz' dich, setz' dich«, rief Boris und schob sie zu dem großen, schwarzen Sofa, das vor dem gedeckten Tische stand, hin. Jetzt erst unterschied Billy die Gestalten im Zimmer. Da war ein langer Jude mit schwarzem Bart und grellen braunen Augen, er lächelte ganz süß. In der halboffenen Tür drängten sich Kinder im Hemde, unter wirren, schwarzen Haaren schauten sehr große Augen dunkel wie Onyxkugeln unverwandt zu Billy hinüber. Hinter dem Ladentisch saß eine Jüdin, der falsche, rotbraune Scheitel war ein wenig zu tief in die Stirn gerückt, das gelbe, regelmäßige Gesicht, die langen, braunen Augen drückten eine starre, hochmütige Geduld aus. Neben Boris stand ein Herr im Reitanzuge, er trug Sporen an den Stiefeln, sein feines, scharfgeschnittenes Gesicht lachte, er zeigte dabei sehr weiße Zähne unter einem kleinen Schnurrbart, der ihm wie zwei tintenschwarze Kommas auf der Oberlippe saß. »Mein Freund Ladislas Worsky,« stellte Boris vor, »das ist ein Freund! Bei dem Wetter ist er hinübergeritten, nur um uns zu sehen und uns vor irgendeiner Brücke zu warnen.« Ladislas zeigte wieder seine weißen Zähne. »O,« meinte er, »das ist das Verdienst meiner alten Reitstute, die findet den Weg bei jedem Wetter und in jeder Dunkelheit, vielleicht weil sie nur ein Auge hat. Aber Freund Wolf, den Samowar heran und was sonst da ist. Der Kindersegen soll abtreten, machen Sie es etwas gemütlich, und Mutter Wolf machen Sie ein liebenswürdigeres Gesicht. Boris, mein Alter, keine Verstimmungen! Setzen wir uns zum Souper.« Und er setzte sich an den Tisch, beugte sich zu Billy vor, sah sie mit den blanken Augen aufmerksam und ein wenig frech an und begann sich zu unterhalten, heiter und höflich, als säße er in einem Salon.

»Souper, nun ja, was man so nennt, die Delikatessen unseres Freundes Wolf können wir nicht brauchen. Eier allenfalls, in die dringt das alte Testament nicht ein. Da habe ich mir denn erlaubt, von unserer alten Mamsell zu Hause heimlich ein kaltes Huhn herauszulocken und es mitzubringen.« Er wickelte das Huhn aus einem Papier, legte es auf den Teller und begann es zu zerlegen, sehr sauber und regelrecht; ein wenig zu zierlich und dann wieder zu schwungvoll waren dabei die Bewegungen der weißen Hände mit den vielen blitzenden Ringen. Er sprach dabei immerfort vom Wetter, vom Wege, vom Juden Wolf, und Billy antwortete, als sei er ein junger Herr, der seinen ersten Besuch machte und sie mußte ihn empfangen. »Bitte, dieses Stück, Komtesse«, sagte er und legte Billy einen Hühnerflügel auf den Teller, »das ist ein spanisches Huhn; meine Mutter interessiert sich für Hühnerspezialitäten. Aber Boris, du sprichst ja nicht, tu n'es pas en train, mon vieux, du hast unrecht, Bruder. Du hast allen Grund guter Laune zu sein, kolossal viel Grund.« Dabei verbeugte er sich leicht gegen Billy, »aber das wollen wir schon machen; Wolf geben Sie von Ihrem sündigen Sekt her; unser Freund Wolf nämlich hat immer Sekt auf Lager, um damit auf heimlichen Wegen die Barbaren jenseits der Grenze zu beglücken.«

Essen konnte Billy nicht, die blau und weißen Teller, die Messer und Gabeln, das Tischtuch, alles war ihr zuwider. Drüben hinter dem Schenktisch saß noch immer die Jüdin, das gelbe, regelmäßige Gesicht unbewegt, die mandelförmigen Augen schauten Billy an, gleichgültig, hochmütig und geduldig, »ich ertrage dich, weil ich muß«, schienen sie zu sagen. Diese Augen quälten Billy, es war ihr, als sei sie noch nie so angeschaut worden. Sie zwang sich von diesen Augen fortzusehen, auf Ladislas Worsky zu hören, der eifrig in seiner Unterhaltung fortfuhr. Jetzt sprach er von Literatur: »Bourget, ach ja natürlich, sehr fein, aber er will das Frauenherz analysieren, so wie Schmetterlinge auf Nadeln stecken, aber das ist ja gerade das Ding auf der Welt, das sich nicht analysieren läßt. Sie kennen nicht Bourget, Komtesse? Ach ja, die deutschen jungen Damen lesen keine Romane, sie lesen nur Schiller. Nun, Ihr Schiller – – –.« Billy war ihm dankbar für seine Unterhaltung, für das überelegante seiner Bewegungen, für die weißen Manschetten, die er immer wieder aus dem Rockärmel hervorzog, und für die schmalen, frauenhaften Hände voller Ringe. All das legte etwas Bekanntes, etwas Heimatliches in diese fremde, feindliche Umgebung. Billy antwortete, lachte ein wenig, bemühte sich zu tun, als säßen sie auf der Gartenveranda in Kadullen, ja, sie ahmte ein wenig die Weltdamenmanieren ihrer Schwester Lisa nach. Der Sekt kam. »So, bitte, ein anderes Gesicht, Bruder«, rief Ladislas Boris zu und schenkte den Wein ein. »Aber so ist er immer,« wandte er sich an Billy, »je connais mon Boris. Stört ihm etwas sein Programm, dann ist es fort mit der guten Laune, er hat uns immer mit seiner schlechten Laune die halben Sonntage verdorben, nur weil der nächste Tag Montag war. Ja, das ließ sich nicht ändern. Da hatten wir in Prima einen Kameraden, du weißt, Boris, Andreijsky, ein toller, lustiger Junge. Nun plötzlich erschießt er sich. Warum? Man sprach da von Krankheit und solchen Sachen. Nein, ich weiß, er erschoß sich, weil die Ferien zu Ende waren, einfach, weil die Ferien zu Ende waren, er haßte die Schule wie die Sünde. So ist Boris auch.« »Da muß ich doch bitten«, bemerkte Boris. – »Nun, nun,« meinte Ladislas, »ärgere dich nicht, Bruder, du hast gar keinen Grund. Morgen früh ist die Brücke wieder gemacht, hier bist du in Sicherheit, in der reizendsten Gesellschaft, der glücklichste Mensch, also stoßen wir an, auf Ihr Wohl, Komtesse! auf die Erfüllung aller Wünsche!«

Sie ließen die Gläser aneinanderklingen. Boris lächelte matt, das begeisterte Ladislas. »So ist's recht, mein Alter. Sehen Sie, Komtesse, ich bin solch ein harmloser Mensch, seh' ich einen anderen glücklich, dann bin ich wie berauscht. Ich erlebe nie etwas, aber mir ist zumute, als sei das hier mein Abenteuer, als ob Sie und ich, na, gleichviel –.« Er sprang von seinem Stuhle auf, ergriff sein Glas und begann zu singen:

Treibt der Champagner
Das Blut erst im Kreise usw.

Er sang mit einem hübschen Bariton und mit schwungvollen Theaterbewegungen. Der Jude rief »bravo« und klatschte leise in die Hände. In der Tür erschien wieder die Schar der Judenkinder und schaute mit runden, grellen Augen in das Zimmer. Boris und Billy hörten lächelnd zu, nur das Gesicht der Jüdin blieb unbewegt und blickte mit müder Verachtung die drei dort am Tische an. Die leichtherzigen Noten von Mozarts Melodie füllten den qualmigen Raum wie mit etwas Glänzendem und Kostbarem. Boris wiegte sich leicht auf seinem Stuhl, schlug mit den Fingern den Takt auf den Tisch und als Ladislas zu Ende war, nickte er ihm zu und meinte: »Ja, ja, Bruder, das war das Richtige.« »Nicht wahr?« rief Ladislas. Er freute sich so sehr über die Wirkung seines Gesanges, daß er Boris umarmte und auf beide Wangen küßte. Dann setzte er sich wieder an den Tisch, füllte die Gläser. »Erlauben Sie, Komtesse.« sagte er, »daß ich Ihnen die Hand küsse, ich bin so froh, an diesem Glück hier teilnehmen zu dürfen.« Boris lachte ein wenig mitleidig. »Das war immer dein Talent, mein guter Ladislas! Teilnehmen. Erinnerst du dich, wie du als Student eine Zeitlang keinen Wein trinken durftest und mit deinem Selterswasser doch immer früher betrunken warst, als wir mit unserem Wein, nur aus Teilnahme. Du bist dazu geboren, in Prokura glücklich zu sein.« »Bravo!« rief Ladislas, »un mot charmant! Du fängst wieder an witzig zu werden, Gott sei Dank, du hast allen Grund dazu, Bruder, wenn man, wie du, auf der Seite der Wippschaukel steht, die hoch oben ist und nicht allein dort steht – im Gegenteil.« Boris wurde wieder ernst. »Ganz schön, aber vielleicht müssen wir doch ein wenig von Geschäften reden.« Aber Ladislas war empört: »Erbarm dich, Bruder! Warum sollen wir von Geschäften reden! Warum sollen wir die Komtesse damit langweilen? Was ist auch da zu reden, es ist alles geordnet, es wird alles glatt gehen, nein, ich weiß etwas Besseres, wir machen ein Spielchen, da sind Karten, die habe ich mitgenommen. Sie spielen doch, Komtesse? Irgendein Spiel.« Nein, Billy spielte kein Spiel, aber sie wollte zuschauen, die Herren sollten nur spielen. Sie lehnte sich in das Sofa zurück, die überheizte Luft und der Wein machten ihr den Kopf schwer, machten sie schläfrig und ruhig; Ladislas' »es wird schon alles glatt gehen«, klang ihr angenehm in die Ohren. Natürlich, wenn sie nur jetzt schlafen könnte. »Also ein Ecartéchen«, sagte Ladislas und mischte die Karten. »Sehen Sie, Komtesse, ich spiele sehr gern Karten. Warum? Weil das Kartenspiel symbolisch ist. Bitte, Boris, kupiere.« Billy konnte nicht anders, sie legte die Hand vor den Mund und gähnte. »Du bist müde, Kind,« sagte Boris, »leg' dich ein wenig nieder.« »Freilich,« rief Ladislas, »es ist für alles gesorgt.« Er sprang auf und öffnete die Tür zu einem Nebenzimmer: »Bitte. Aber vordem, Komtesse, erlauben Sie, daß ich von Ihnen Abschied nehme, ich reite gleich wieder fort, ich muß zeitig zu Hause sein, damit meine Mutter von meinem nächtlichen Unternehmen nichts merkt.« Er küßte Billys Hand: »Ich danke Ihnen, Komtesse, für das Glück dieser Stunden.« Das klang so gefühlvoll, daß Billy fast gerührt wurde.

Im Nebenzimmer brannte trübe eine Kerze auf einer Kommode. Weiß und goldene Porzellanvasen standen da voller Papierrosen, an der Wand hing eine jüdische Kußtafel. Den meisten Raum im Zimmer aber nahmen zwei mächtige Betten ein, auf denen sich Berge von Federkissen in rotbaumwollenen Bezügen türmten. »Ja, lege dich nieder,« sagte Boris und strich mit der Hand über Billys Haar, »ach Billy, wenn du fühlen würdest wie ich.« – »Warum sagst du, daß ich nicht fühle wie du,« erwiderte Billy ein wenig gereizt, »das ist unfreundlich.« »Nein, nein, ich bin nicht unfreundlich,« meinte Boris, »schlafe jetzt, ich muß mit Ladislas manches besprechen.« Billy legte sich auf das Bett und Boris ging hinaus. Sie hörte die beiden jungen Leute draußen sprechen, anfangs schienen sie Karten zu spielen, dann flüsterten sie eifrig miteinander in polnischer Sprache schnell und zischend. Billy schloß die Augen und lag regungslos da, schlafen wollte sie, aber dann schien es ihr, als stünde neben ihr etwas, etwas das drohte, das heranschleichen wollte, es schien ihr, als müßte sie wachen, als wüßte sie auf ihrer Hut sein. Sie schlug wieder die Augen auf, die Flamme der Kerze wurde von einem Zugwinde leicht bewegt, irgendwo im Hause wimmerte ein Kind, ein leiser unendlich kummervoller Ton, und um sie her lagen die roten Federkissen mit ihrem widerwärtigen üppigen Schwellen und atmeten einen süßlichen Staubgeruch aus. Sie warfen große Schatten an die Wand und die runden weichen Formen zitterten sachte. Ein unendlicher Ekel schüttelte Billy, warum war sie hier, was hatte sie hier zu tun? Ja so, sie liebte ja Boris. Wie war das doch? konnte sie es nicht wieder haben, dieses heiße Gefühl des Mitleids und der Sehnsucht, das alles in ihr veränderte, ihr Mut zu allem gab und das Unmöglichste selbstverständlich machte. Auch dazu war sie jetzt zu müde. Schlafen wollte sie jetzt – irgendwo wo es still und sicher und rein wäre. Sie schloß wieder die Augen, um nicht dieses Zimmer zu sehen, wollte an zu Hause denken, allein auch diese Gedanken gaben keine Ruhe, sie schmerzten. Also an etwas ganz Friedliches wollte sie denken, etwas, das keine Vorwürfe machen konnte, an die Möbel im Gartensaal, wie sie unter ihren weißen Baumwollebezügen in der Dunkelheit standen, an die großen Blumensträuße, die dort in den Vasen welkten und ihre Blätter mit einem ganz leisen Ton auf den Tisch niederregnen ließen. Ja daran, nur daran wollte sie denken.


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