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Es war Nacht und zwar eine recht unheimliche, beängstigende Nacht, denn so weit man die Finsterniß zu durchdringen vermochte, gewahrte man nur eine weite, unabsehbare Wasserfläche und während der Ton der Kirchenglocken in dumpfen Klängen hörbar wurde, vernahm man gleichzeitig ein unheimliches Rauschen und ein hohles Gurgeln der übereinanderstürzenden, sich im wilden Ungestüm drängenden Wogen. In der Mitte einer Gruppe von Landleuten, welche bei dem Schein der Fackeln eifrig damit beschäftigt waren, einem breiten Damm durch Einrammen von Pfählen und Aufwerfen von Erdwänden möglichste Haltbarkeit zu geben, stand ein Herr von einigen fünfzig Jahren, dessen umwölkte Stirn deutlich genug bewies, wie lebhaft ihn die Gefahr beschäftigte, welche hier Jedermann durch die plötzlich hereingebrochene Überschwemmung vor Augen trat.

»Muthig ausgehalten, ihr Leute,« rief er mit klarer wohltönender Stimme, »halb ist die Gefahr schon überwunden und wenn ihr so fortarbeitet, dürfen wir mit Gottes gnädiger Hülfe hoffen, ein großes unübersehbares Unglück von uns und den Unsrigen abzuwenden.«

»Es sind jetzt vierzig Jahre her,« sagte ein alter Bauer, »und Euer Gnaden Vater, der selige Herr, lebte damals noch, als wir eine viel schrecklichere Nacht wie diese durchlebte. Auch damals klangen die Glocken so dumpf und kläglich wie heute durch die Nacht, das Vieh brüllte und die geängstigten Menschen riefen nach Hülfe, aber Gebet und angestrengte Arbeit halfen nur wenig, Viele fanden den Tod in den Wellen und Mancher, der noch den Tag vorher den Kopf stolz und hochmüthig in den Nacken geworfen hatte, wußte vierundzwanzig Stunden nachher nicht, wohin er sein Haupt legen sollte.«

»Ja, ja,« sagte der Gutsherr, welcher hier mitten unter seinen Arbeitern stand, »Ihr habt Recht, Peter Görgen, ich erinnere mich dessen noch recht gut, obgleich ich damals nur erst ein Knabe von 15 Jahren war. Doch der gnädige Gott wird uns hoffentlich dies Mal vor einem ähnlichen Unfall behüten, denn seit einer halben Stunde hat das Brausen und Toben der Wellen merklich nachgelassen und ich hoffe, das Wasser wird seinen höchsten Standpunkt erreicht haben.«

»Es fängt bereits an zu fallen,« jagte einer der Männer, welcher in diesem Augenblicke mit einer Laterne in der Hand in den Kreis trat, »der Kerbstock ragt um ein Achtel Zoll höher aus dem Wasser und dem Himmel sei gedankt, auch der Damm hat dem Druck desselben bisher erfolgreichen Widerstand geleistet.«

Aller Blicke leuchteten bei dieser Nachricht auf und es bedurfte kaum der Anregung des Freiherrn, um die Männer, welche hier für Weib und Kind, für Hab' und Gut thätig waren, zu erneuerter Arbeit anzutreiben. Aber plötzlich hielten Alle wie eingewurzelt inne und die Blicke richteten sich unmittelbar gespannt nach der vor ihnen liegenden Wasserfläche, denn von dort war ein lauter Hülferuf erklungen und ein dunkler Gegenstand schien langsam näher zu treiben.

»Was ist das?« rief der Freiherr, indem er auf die Brüstung des Dammes sprang und sich nach Kräften anstrengte, die nächtliche Finsterniß zu durchdringen.

»Es ist ein Mensch, so viel sehe ich,« sagte der Guts-Inspector, indem er an die Seite des Barons trat, er kämpft mit den Wellen und macht offenbar Anstrengungen das Ufer zu erreichen.«

»Nun, dann ist kein Augenblick zu verlieren,« rief der Baron, »geschwind, lassen Sie den Kahn losmachen, hoffentlich gelingt es uns noch, den Unglücklichen zu retten.«

Während der Inspector wegeilte, um der gegebenen Weisung nachzukommen, erhob der Freiherr seine Stimme und ließ ein kräftiges »Ahoi!« ertönen.

Eine schwache Antwort erfolgte, welche deutlich genug bewies, daß der mit den Fluthen Kämpfende schon ziemlich erschöpft sein mußte.

»Steuern Sie gerade auf das Kreuz zu,« rief der Baron dem Inspector zu, welcher jetzt eben mit seinen Leuten abstieß.

Von dem Kreuz war freilich in diesem Augenblick nichts zu sehen, aber man wußte doch, daß dies ein Punkt war, welcher fünfzig Schritte unterwärts lag und nach dieser Richtung bewegte sich jetzt das Fahrzeug vorwärts.

»Eine Fackel!« befahl der Gutsherr und hielt dieselbe, als sie ihm gereicht worden war, um besser sehen zu können, mit vorgebeugtem Körper hoch empor.

»Ah,« sagte er nach einer Weile – und als sei er einer schweren Last enthoben, entschlüpfte dabei ein tiefer Seufzer seinen Lippen – »ah, er ist gerettet und gebe Gott, daß diese Schreckensnacht nicht noch andere Opfer begehrt hat!«

In der That hatte der Nachen mit seiner Bemannung auch bereits wieder gewendet und stieß jetzt an derselben Stelle ans Ufer, von welcher er abgestoßen war. Ein Herr von etwa dreißig Jahren, welcher trotz des erschöpften Zustandes, in dem er sich befand, ein schönes ausdrucksvolles Gesicht zeigte, und dessen von Wasser triefende Kleidung den Mann von Stand andeutete, lag in der Mitte des Nachens und schien so eben aus dem halbbewußtlosen Zustande, in welchen ihn die übergroße Anstrengung versetzt hatte, wieder zum Bewußtsein zurückgekehrt zu sein.

»Vermögen Sie sich zu erheben?« fragte der Inspector, indem er sich über ihn beugte.

»Ich danke Ihnen, ich denke, es wird gehen,« – und der Fremde richtete sich wirklich langsam empor, strich sich, wie besinnend, das braune feuchte Haar aus der Stirn und fragte, indem er langsam den Damm hinaufstieg und verwundert auf die von Fackeln beleuchtete Gruppe der Landleute blickte:

»Wo bin ich?«

»Sie sind bei Leuten, welche eine herzliche Freude darüber empfinden, Sie gerettet zu sehen,« sagte der Freiherr vortretend.

»Ah, mein Herr« … und der Fremde stockte und rieb sich wieder, wie nachdenkend, die Stirn.

»Besinnen Sie sich nur,« fuhr der Freiherr, freundlich zuredend fort, »Sie haben augenscheinlich in einer großen Gefahr geschwebt, doch Gott sei Dank, dieselbe ist nun vorüber und es kommt gegenwärtig nur darauf an, den Folgen derselben vorzubeugen.« –

»Ganz recht,« entgegnete der Unbekannte, »jetzt weiß ich es und wenn ich es nicht wüßte, so würden es mir meine nassen Kleider sagen, daß ich dem Ertrinken nahe war.« –

»Sie müssen aber doch ein guter Schwimmer sein,« bemerkte der Baron.

»Und doch wäre ich umgekommen, wenn mich der Zufall nicht hier vorübergeführt hätte. Der Sturz vom Pferde hatte mich betäubt – –«

»Sie sind mit dem Pferde gestürzt? –«

»Ja, es mag eine Unvorsichtigkeit von mir gewesen sein, in einer Gegend, deren Wege mir völlig unbekannt sind, und trotz der erhaltenen Warnungen, meine Reise fortzusetzen. Aber ich hatte es mir einmal in den Kopf gesetzt, noch diesen Abend das nahe gelegene Städtchen zu erreichen, wofür ich denn freilich verdienter Maßen habe büßen müssen.«

»Aber wo ist denn Ihr Pferd?«

»Ich weiß es nicht, wahrscheinlich hat es seinen Tod in den Fluthen gefunden. Ich ritt auf dem Damme, aber die Finsterniß mußte wohl das Thier getäuscht haben, kurz, es glitt aus und stürzte mit mir ins Wasser und seitdem weiß ich nicht, was aus ihm geworden ist.«

»Vielleicht hat es sich doch wieder emporgearbeitet; wenigstens will ich den Versuch machen, ob sich eine Spur von ihm entdecken läßt.« –

Während der Baron einigen Leuten den Befehl ertheilte, zu diesem Zweck das nächste Terrain abzusuchen, wendete er sich wieder zu dem Fremden und sagte:

»Sie frösteln stark und in dem Zustande, in welchem Sie sich befinden, kann dies wohl auch nicht anders sein. Zum Glück bin ich in der Lage, Ihnen ein Glas alten Madeira anbieten zu können, und bis mein Wagen anlangt, welcher in einer halben Stunde eintrifft, werden Sie gewiß den wohlgemeinten Rath nicht verschmähen, dort an dem Feuer, welches meine Leute angezündet haben, Platz zu nehmen.«

Der Unbekannte verbeugte sich höflich und nachdem er das mit Zuvorkommenheit ihm gereichte Glas geleert hatte, sagte er in jener Weise, die den feinen wohlerzogenen Mann verräth:

»Sie nehmen sich meiner so freundlich und mit solcher Theilnahme an, daß der Wunsch zu erfahren, wem ich so viele Güte zu verdanken habe, nur noch lebendiger bei mir hervortritt.«

»Ich bin der Freiherr von Meisdorf und Landrath dieses Kreises,« erwiederte der Angeredete, sich verbeugend.

Der Fremde verneigte sich achtungsvoll. »Ich bin der Doctor Setten,« sagte er, sich nun ebenfalls vorstellend.

»Doctor Setten?« wiederholte Herr von Meisdorf nachsinnend und seinen Gesellschafter jetzt noch mit größerem Interesse betrachtend. Ein Doctor Setten kaufte vor etwa einem Monat ganz in der Nähe meines Gutes eine kleine Besitzung und ließ das dazu gehörende Haus baulich einrichten. Kennen Sie vielleicht diesen Namensvetter, oder ist es am Ende gar ein Verwandter von Ihnen? –«

»Ich bin es selbst,« antwortete der Befragte mit sanfter gewinnender Stimme und mit einem Lächeln, dessen Reiz durch den sanften Schimmer der Melancholie, der sich darin abspiegelte, noch gehoben wurde.

»Nun das ist in der That sonderbar,« rief der Baron, »wenn ich dem Aberglauben huldigte, so würde ich berechtigt sein, daraus prophetische Schlüsse zu ziehen.«

»Woraus, wenn ich fragen darf?« sagte der Fremde.

»Aus der Art und Weise, wie das Schicksal Sie mir heute zugeschickt hat. Sie entsteigen plötzlich, wie hervorgezaubert, dem Wassergrabe und kündigen sich mir in ebenso überraschender Weise als künftiger nächster Nachbar an – nun, liegt darin nicht etwas Räthselhaftes und ist es nicht, als wenn das Schicksal dabei einen geheimnißvollen Knoten geschlungen hätte, welchen früher oder später die Hand des Fatums in guter oder schlimmer Weise zu lösen bestimmt ist?«

Der Landrath lachte und in seiner Absicht lag es offenbar, seinen Gesellschafter ebenfalls zu einem Lächeln zu nöthigen. Dieses erfolgte auch, aber gleichzeitig konnte es der Fremde nicht verhindern, daß sich seine sonst edele und offene Stirn umdüsterte und sein Gesicht, wenn auch nur vorübergehend, sich in einen schmerzlichen Ausdruck hüllte. Aber er faßte sich bald und mit sanfter ausdrucksvoller Stimme antwortete er:

»Gewiß kann ich mir zu einer Nachbarschaft wie die Ihrige nur Glück wünschen, aber ich entwerfe mir dabei doch ein lachenderes Gemälde und ich schließe es mit dem Rahmen des Bildes ein, welches sich meine vielleicht zu sanguinische Phantasie von meiner nächsten Zukunft entworfen hat. Denn was mich in diese romantische dem Geräusch der Welt fernliegende Gegend trieb, war allein das Verlangen, in stiller Zurückgezogenheit mit philosophischer Ruhe der Natur und den Wissenschaften zu leben.«

»Ein schönes Ziel,« entgegnete der Landrath, »und ich glaube, Sie werden es hier auch erreichen können. Doch eben ist mein Wagen angelangt und da die dringendste Gefahr vorüber, das Wasser seit einer Stunde im Fallen begriffen ist, so werden wir durch Nichts mehr abgehalten einzusteigen. Natürlich sind Sie bis zu Ihrer gänzlichen Wiederherstellung mein Gast, das ist ein Recht und eine Ehre, da ich Sie gewissermaßen erobert habe.«

Die Einladung war auf so feine, liebenswürdige Art erfolgt, daß der Doctor in gleicher Weise durch eine dankbare Verbeugung antwortete und dann an der Seite des Herrn von Meisdorf Platz nahm. Nach einer halben Stunde langten sie im Schlosse an und schon eine Viertelstunde darauf lag der Fremde, welcher in so eigenthümlicher Weise dort eingeführt worden war, in einem weichen behaglichen Bett, nachdem er als Mann der Wissenschaft die nöthigen Vorkehrungen getroffen hatte, um durch Anwendung zweckmäßiger Hausmittel den übelen Folgen seines unfreiwilligen nächtlichen Bades vorzubeugen.

Es ist selbstverständlich, daß der Arzt am anderen Morgen der Familie, in deren Mitte er plötzlich auf so wunderbare Weise versetzt worden war, vorgestellt wurde. Dieselbe bestand außer dem Landrath aus dessen zwei erwachsenen Töchtern von zwanzig und achtzehn Jahren. Beide waren interessante Erscheinungen, schlank und proportionirt gebaut, mit feinen regelmäßigen Zügen, lebhaften, sprechenden Augen und, was die Hauptsache war, in einer Weise erzogen, die schon bei der ersten näheren Berührung den hohen Werth eines feinen, von jeder Pedanterie, wie von jeder Ueberhebung gleich entfernten Benehmens erkennen ließ. Natürlich und unbefangen, aber doch zugleich wieder zurückhaltend genug, um im richtigen Tact die Gesetze des feineren gesellschaftlichen Lebens aufrecht zu halten, konnte ein solches Benehmen natürlich nur den günstigsten Eindruck hervorrufen.

Man sah es auch dem Doctor bald an, wie erwärmend die Unterhaltung auf ihn einwirkte und welche Anziehungskraft namentlich Hedwig, die ältere Schwester, durch ein ernsteres Behandeln aller Gegenstände, die ins Gespräch gezogen wurden, durch ihr verständiges Urtheil und doch auch wieder durch die weichen Empfindungen, welche ihrem Herzen entquollen, auf ihn ausübten.

Philippine dagegen blickte leuchtend mit ihren schönen Augen umher, sie war lebhaft und beweglich und während ihre Schwester sich oft im überströmenden Gefühl einer Schwärmerei überlassen konnte, welche ein Herz voll tiefer Empfindungen verrieth, vermochte sie bei jeder Gelegenheit unbefangen zu lachen und man sah es ihr an, daß es in ihrer Natur lag, das Leben nur von einer heiteren, rosigen Seite aufzufassen.

Doctor Setten hatte eben ein kleines Examen bestanden, wie solches bei einem Zusammentreffen, wie das hier beschriebene, nicht gut zu vermeiden ist, ohne dabei jedoch die Gränzen höflicher Zurückhaltung zu überschreiten.

Es war natürlich, daß man sich doch einigermaßen über die Verhältnisse des neuen Nachbars zu unterrichten wünschte, und der Stoff hierzu lag ja so nahe, wenn man seine Verwunderung darüber aussprach, daß ein Mann wie er, in der Blüthe seiner Jahre, vertraut mit Kunst und Wissenschaft, durch seinen Beruf als Arzt und wie es schien auch durch seine Vermögensverhältnisse, dem höheren Gesellschaftskreise näher gerückt, so plötzlich dem Allen entsagen und sich lediglich aus Vorliebe für das Naturleben in diese ländliche Einsamkeit zurückziehen konnte. Die Damen deuteten darauf durch ein scherzhaftes lächeln hin, aber in diesem Lächeln drückte sich doch der Wunsch und die Erwartung aus, dieses Räthsel durch die Erklärung des Doctors gelöst zu sehen.

Der Arzt war zu wohl erzogen, um dieser unschuldigen Neugier nicht Befriedigung zu gewähren, wahrscheinlich mochte er aber auch in seinem eigenen Innern den Drang fühlen, so bald wie möglich alles Befremdende zwischen sich und einer Familie zu entfernen, deren einzelne Mitglieder seit dem ersten Augenblick ihn so angesprochen hatten und in deren engeren Kreis gezogen zu werden er als ein Glück betrachtete. Indem er daher sein schönes ernstes Auge erhob und dasselbe schließlich, als wünsche er zunächst von dieser verstanden zu werden, auf Hedwig heftete, sagte er in dem sanften ruhigen Tone, der seiner Stimme eigen war:

»Die Liebe zum Contemplativen ist bei mir immer vorherrschend gewesen und den Wunsch, mich früher oder später in eine reizende Einsamkeit zu begraben, habe ich stets bei mir herumgetragen. Als ich mich nach Beendigung meiner Studien nach den zwei ersten Hauptstädten der Welt, nach Paris und London begab, fühlte ich mich unter dieser buntdurcheinanderfluthenden, den verschiedensten Interessen nachjagenden Menge, bald betäubt und angegriffen.«

»Ich glaube es gern,« schaltete hier Hedwig ein, »ich glaube auch, ich würde mir auf diesen großen Sammelplätzen des gesellschaftlichen Verkehrs wie auf einem Maskenball vorkommen und mich schon in acht Tagen hier nach diesen gesegneten Fluren, nach dieser ländlichen behaglichen Ruhe zurücksehnen.«

»Das könnte ich eben nicht sagen,« rief Philippine, »denn, obgleich es mir hier recht gut gefällt, so würde es mir doch unendliches Vergnügen gewähren, könnte ich an all' den tausendfachen Genüssen Theil nehmen, welche eine Hauptstadt bietet.«

»Dein lebhaftes Temperament giebt Dir solche thörichte Wünsche ein,« bemerkte der Landrath fast im verweisenden Tone.

»Aber liebes Väterchen, bin ich denn wirklich wieder einmal thöricht gewesen?« rief die junge Dame und schmiegte sich schmeichelnd an die Seite des Herrn von Meisdorf, welcher jetzt das liebliche blühende Kind mit einem zärtlichen Lächeln betrachtete.

»Man muß immer wissen, was man spricht,« sagte der Vater, Philippine das weiche Haar streichend. »Dein sanguinischer Charakter reißt Dich oft zu Aeußerungen hin, deren Bedeutung Du nicht kennst.«

Hedwig hatte inzwischen das ursprünglich begonnene Gespräch mit dem Doctor weiter geführt und je wärmer derselbe jetzt ein Bild von der Zukunft, so wie er sich dieselbe vorgezeichnet hatte, zu entwickeln begann, mit um so größerem Interesse lauschte sie diesen Erklärungen, um so mehr steigerte sich bei ihr im Stillen der Antheil, welchen sie an dem Manne nahm, der mit sanfter wohltönender Stimme und mit ebenso viel Gefühl wie Verstand sie zur Vertrauten seiner Pläne machte.

»Wonach ich strebe,« sagte er, »ist das Verlangen, meine Zeit zwischen Studien, zwischen Wohlthun und im Umgang mit edelen, mir gleichgesinnten Menschen zu vollbringen. Gott sei Dank ist meine äußere Lage so, daß ich im Stande bin, die Hand nach mancher Seite hin hülfreich auszustrecken und mein Beruf als Arzt wird es mir möglich machen, den Armen dieser Gegend ein tröstender, helfender Freund zu werden.«

»Da haben Sie sich ein sehr edeles Ziel gesteckt,« rief Hedwig mit Wärme und ihr Auge wendete sich dabei einen Augenblick mit inniger Anerkennung dem Arzte zu; »wer eine Genugthuung darin findet, die Thränen Anderer zu trocknen, der besitzt jedenfalls ein großes edeles Herz, und wer sich in so uneigennütziger Weise dem Dienste der leidenden Menschheit weiht, der ist sich gewiß von jeher nur eines fleckenlosen, vorwurfsfreien Lebens bewußt gewesen.«

Diese Worte, welche Hedwig mit gehobener Stimme und auch wohl unter dem Einfluß ihrer steigenden Sympathie für den Arzt aussprach, riefen bei diesem plötzlich eine überraschende Wirkung hervor. Es war, als wenn er vor irgend Etwas unerwartet zurückschrecke, und während seine Augen einen Augenblick unstät hin- und herflackerten, verwandelte sich die frische Farbe seines Gesichts in eine auffallende Blässe. Hedwig hätte dies unmöglich entgehen können, wenn in diesem Augenblick nicht gerade ein Reiter in den Hof gesprengt wäre.

»Da kommt Vetter Rudolph!« rief Philippine, und mit der ihr eigenthümlichen Lebhaftigkeit eilte sie an's Fenster und nickte dem Absteigenden vertraulich zu.

»Sie werden sogleich Gelegenheit haben, den Kreis Ihrer Bekannten in hiesiger Gegend zu erweitern,« bemerkte der Landrath; »der junge Mann, welcher sich eben vom Pferde schwang, besitzt gleichfalls ein Gut hier in der Nähe und ist ein entfernter Verwandter von uns.«

»Daher datirt sich auch die Vetterschaft,« rief lachend Philippine, »und wenn man mit Jemand noch in die Schule gegangen ist, so darf man sich auch wohl herausnehmen, ihm freundlich zuzunicken.«

In diesem Augenblick öffnete sich die Thüre und Herr von Carlsdorf, ein junger Mann von ungefähr vierundzwanzig Jahren, trat ziemlich ungenirt herein.

Er machte den Damen eine höfliche, wenn auch nur kurze Verbeugung, ließ seinen Blick leicht nach dem Arzt hinüberstreichen, der in diesem Augenblick in einer Fenstervertiefung stand, und eilte dann unmittelbar auf den Landrath zu.

»Ich konnte es zu Hause nicht mehr aushalten, und hielt es daher für's Beste, mir unmittelbar selbst Bescheid von Ihnen zu holen,« rief er. »Was ist denn das für eine kuriose Geschichte, von welcher die ganze Gegend spricht? Wie, Sie haben also diese Nacht so eine Art von Professor oder Doctor, oder was es sonst für ein Exemplar ist, aus dem Wasser gefischt?«

»Allerdings bin ich so glücklich gewesen, dem Herrn dort in einem Augenblick großer Noth beistehen zu können,« antwortete Herr von Meisdorf nicht ohne Verlegenheit, während er gleichzeitig auf den Doctor zeigte.

»Herr Doctor Setten wird sich in hiesiger Gegend niederlassen,« bemerkte er schließlich.

»Und da haben Sie den kürzesten Weg gewählt und sind unmittelbar angeschwommen gekommen?« rief lachend Herr von Carlsdorf.

Ein zürnender Blick aus Hedwigs Augen traf den unbescheidenen Sprecher und auch Herr von Meisdorf machte ein mißbilligendes Gesicht.

Der Doctor indessen, welcher sich durch die vorlaute Aeußerung des jungen Mannes zunächst hätte verletzt fühlen müssen, antwortete mit ruhiger Gelassenheit und mit einem Lächeln geistiger Ueberlegenheit:

»Ich sehe, Sie sind Humorist, mein Herr, und ich denke, Jeder muß wissen, wo er am besten in seinem Element ist.«

»Nun, jedenfalls liebt der Vetter das ›Wässerige,‹ wie wir soeben gehört haben,« sagte Hedwig stark betont.

Herr von Carlsdorf biß sich auf die Lippen, dann schleuderte er dem Arzte einen verstecken drohenden Blick zu und antwortete schließlich:

»Ich konnte in der That nicht vermuthen, liebe Cousine, daß der Herr hier an Dir eine so beredte Vertheidigerin finden würde. Jedenfalls wünsche ich ihm Glück dazu, ebenso sehr bedauere ich aber auch Deine Mißbilligung erregt zu haben.«

Er griff nach seinem Hut und verbeugte sich verabschiedend kurz, aber immer noch mit gerunzelter Stirn.

»Willst Du nicht für den Mittag unser Gast sein?« fragte der Freiherr.

»Ich danke vielmals. Ein anderes Mal, wenn die Cousine besser gelaunt ist, lade ich mich ein und dann soll es mir, um so trefflicher schmecken.«

Er verließ das Zimmer, bestieg sein Pferd und sprengte, sichtbar übelgelaunt fort.

»Ich hoffe, Sie werden sich durch diese Aeußerung meines Verwandten nicht verletzt fühlen,« begann jetzt der Landrath, indem er sich mit einer höflichen Verbeugung an den Arzt wendete. »Die unabhängige Lage, in welche er schon frühzeitig versetzt worden ist, hat ihn verwöhnt und er schlägt daher häufig einen Ton an, welcher gegen die feineren gesellschaftlichen Regeln verstößt.«

»Und um die volle Wahrheit zu sagen,« fügte Hedwig hinzu, »ist auch der Vetter heftig und leidenschaftlich und es zeigt sich bei ihm wenig Neigung, sich selbst zu überwachen.«

»Wir sind Alle unvollkommener Natur,« entgegnete Setten entschuldigend, »und nur Wenige haben die Kraft oder den guten Willen, ernstlich gegen ihre Fehler anzukämpfen. Indessen eine spätere Zeit wird mich ja wohl näher mit dem Herrn bekannt machen und an mir soll es dann nicht liegen, ihn freundlich gegen mich zu stimmen.«

Ein anerkennender Blick Hedwigs lohnte den Doctor für diese Worte und der letztere fuhr dann fort:

»Es würde unbescheiden erscheinen, wollte ich Ihre, mir in so zuvorkommender Weise gewährte Gastfreundschaft noch länger in Anspruch nehmen. Das Haus, welches ich gekauft, ist in seiner inneren Einrichtung vollendet und ich kann jeden Augenblick einziehen. Diesen Morgen langte der letzte Theil meines Mobiliars mit meinen Büchern an, warum Ihnen also noch länger beschwerlich fallen, da mir nunmehr die Pforten zu meinem kleinen Besitzthum offen stehen.«

»Ich finde es sehr natürlich, daß Sie so bald wie möglich an die Besitzergreifung des kleinen Paradieses, welches Sie sich geschaffen haben, denken,« entgegnete der Baron, »denn ein Paradies ist es in der That und so recht dazu gemacht, einem Geiste, welcher sich nach Ruhe sehnt und in ungestörter Einsamkeit den Wissenschaften leben will, ein friedliches, heiteres Asyl zu gewähren.«

»Und dabei auch dem süßen Gebot der Wohlthätigkeit Folge zu leisten und die Thränen der Unglücklichen zu trocknen,« fügte der Doctor in einem Tone hinzu, welcher deutlich bewies, welchen innigen Antheil sein Herz an diesen Worten nahm.

»Oh, dabei wollen wir Ihnen redlich beistehen,« rief in ihrer munteren lebhaften Weise Philippine, »ich, und besonders hier unsere gute Hedwig, finden auch ein Glück darin, Trauernde zu trösten und den Schmerz anderer Hülfloser zu mildern, und wenn wir auch nicht überall so helfen können, wie wir gern möchten, so unterstützt uns doch Papa dabei großmüthig mit seiner Casse und ihm danken wir es, daß uns schon mancher Segensspruch zu Theil geworden ist.«

»So gestatten Sie mir, daß ich von nun an in diesem schönen Bunde der Dritte sei,« sagte der Arzt, den beiden jungen Damen seine Hand entgegenstreckend.

»Topp, wir schlagen ein!« rief heiter Philippine, während Hedwig unter einem leisen Erröthen, aber mit einem Blick innerer Befriedigung dem Doctor ebenfalls ihre Rechte reichte.

 

Während man sich im besten Einverständniß trennte, und Setten sich nach seiner neuen, etwa eine Viertelstunde entfernten Besitzung begab, jagte Herr von Carlsdorf ohne Zweck und Ziel unstät umher. Er befand sich offenbar in übeler Laune, ohne daß er eigentlich bestimmte Tatsachen hiefür anzugeben vermochte. Aber die heutige Zurechtweisung bei dem Freiherrn und die Art und Weise, wie sich Hedwig dabei hineingemischt, hatte ihm nicht gefallen; seine Eitelkeit war verletzt und seine Eifersucht dabei zum ersten Mal angeregt worden, denn längst liebte er Hedwig im Stillen mit der ganzen Leidenschaft einer wilden, durch Nichts gebändigten Natur, und wenn er bisher gegen diese mit keiner näheren Erklärung hervorgetreten war, so lag dies wohl hauptsächlich in der ernsten Zurückhaltung, mit welcher ihm die Tochter des Landraths bisher begegnet war. Allein dies hatte seinen Hoffnungen keinesweges Abbruch gethan, der Verkehr mit der Familie war dadurch nicht gestört worden, und manche Härte, welche die junge Dame gegen ihn an den Tag gelegt, war ja auch bei anderer Gelegenheit von ihr durch freundliche Güte ausgeglichen worden. Warum sollte er also nicht hoffen, sein Ziel zu erreichen? Er war reich und konnte seiner künftigen Gattin eine bevorzugte Stellung bieten, er war jung und naturgemäß beansprucht die Jugend auch durchgängig das Prädicat der Liebenswürdigkeit; gegen seinen Ruf lag endlich nichts Nachtheiliges vor und die Fehler seines Charakters brachte er, wie dies gewöhnlich der Fall ist, bei seinen Berechnungen nicht in Anschlag. Aber die heutige Begegnung mit dem Fremden hatte sein Blut in Wallung gebracht, seine bösen Leidenschaften wach gerufen und plötzlich einen Argwohn angeregt, dem er jetzt in Worten Ausdruck verlieh.

»Was will dieser Mensch so plötzlich hier und in welcher geheimnißvollen Weise hat ihn das Schicksal mitten in die Familie meines Verwandten geschleudert?« murmelte er mit finster zusammengezogenen Braunen. »Wer ist er? – Warum zeigt Hedwig, welche sonst so zurückhaltend ist, in so auffallender Weise ein solches Interesse für den Fremden? – Soll ich zurückstehen gegen den Unbekannten, von dem Niemand etwas Anderes weiß, als daß ihn die Fluth hier ans Ufer geworfen hat?« –

Die Augen des jungen Mannes blitzten auf und während er seinem Pferde die Sporen gab und weiter jagte, rief er in wilder Leidenschaftlichkeit:

»Ich hasse ihn, – ich habe gefühlt, daß ich ihn bereits haßte, als ich ihm zum ersten Mal in die Augen blickte! Nun gut, ich werde ihn beobachten und wagt er es« – hier erhob er drohend seine Faust – »wagt er es, seine Augen zu Hedwig zu erheben, so werde ich diese Kühnheit zu strafen, so werde ich ihn unschädlich zu machen wissen!«

Er war jetzt auf einer großen weiten Haidefläche angelangt und sprengte noch immer planlos weiter. Plötzlich hielt er an und sein Gefühl erhellte sich. Ein Mann in einem blauen beschmutzten, theilweise zerrissenen Kittel, mit einem Hut auf dem Kopfe, der diesen Namen kaum verdiente, mit einer Hacke auf der Schulter, trat so eben aus einer ärmlichen, zerfallenen Lehmhütte und schritt gerade auf ihn zu.

»Ein verrufener Kerl,« murmelte Herr von Carlsdorf. »aber er versteht das Spioniren und sämmtliche Vagabonden der Umgegend betrachten ihn gewissermaßen als ihr Oberhaupt. Es giebt keine dunkle und geheime Geschichte drei Meilen in der Runde, welche ihm nicht bekannt ist, oder von welcher er sich nicht Kenntniß verschaffen könnte. Einen solchen Burschen kann man brauchen, wenn es was zu erhorchen giebt, oder wenn es darauf ankömmt, den Schleier von Dingen zu lüften, die man um jeden Preis verborgen halten möchte. Und für alle Fälle … Man kann ja nicht wissen … jedenfalls ist es gut, wenn man eine Waffe in den Händen hat, womit man Jemand, der Einem unbequem wird, niederschmettern und für immer beseitigen kann.«

Wahrend dieses Monologs war der Mann, auf welchen sich die eben gesprochnen Worte bezogen, näher gekommen und er grüßte jetzt demüthig, indem er seinen Hut zog.

»Wie geht es, Caspar?« fragte der junge Edelmann, indem er, als Erwiderung, stolz mit dem Kopfe nickte.

»Wie soll es gehen, Gnaden, es sind schlechte Zeiten, in denen für so einen armen Teufel wie ich bin, nicht viel zu verdienen ist.«

»Und doch habt Ihr die Augen und die Ohren überall,« bemerkte Herr von Carlsdorf.

»Das nützt nur nicht viel, Gnaden, mit den Augen und den Ohren verdient unsereiner nichts.«

Der junge Edelmann zögerte einen Augenblick, ehe er eine Antwort gab; sein besseres Gefühl schien sich doch dagegen zu sträuben, mit einem Kerl von solch anerkannt schlechtem Ruf in näheren Verkehr zu treten. Schließlich mußte er aber doch wohl seine Bedenken aufgegeben haben, denn, wenn auch nur mit abgewandtem Gesicht und zögernder Stimme, sagte er:

»Es wäre vielleicht möglich, daß ich Euch eine gewinnbringende Beschäftigung geben könnte.«

Der Vagabond spitzte die Ohren. »Ich stehe Euer Gnaden zu Diensten,« sagte er, »Sie sollen mit mir zufrieden sein!«

»Es käme auf einen Versuch an. Uebrigens handelt es sich dabei blos um die Aufgabe, etwas aufzupassen.«

»Sein Sie unbesorgt, daran soll es nicht fehlen.«

»Mitunter zu horchen und unbemerkt zu beobachten.«

»Gehört zu meinem Metier,« erwiderte der Vagabond, »die Gensdarmen kümmern sich um meine Person so mehr, als mir lieb ist.«

»Dann versteht es sich auch von selbst, daß Niemand auch nur im Entferntesten merken darf, daß Ihr in meinen Diensten steht.«

»Das begreife ich sehr wohl,« entgegnete Caspar, »was befehlen also Euer Gnaden?« –

»Du wirst gewiß auch schon von dem Fremden gehört haben, welcher von dem Herrn Landrath auf so wunderbare Weise gerettet wurde?«

»Aus dem Wasser gezogen? – Ja, davon habe ich freilich gehört. Manche Leute meinen, das habe nichts Gutes zu bedeuten.«

»Für wen?« –

»Nun für den, welcher den zürnenden Fluthen ein solches Opfer entreißt.«

Herr von Carlsdorf stutzte. Diese Bemerkung gab seinem Vorurtheil gegen den Doctor neue Nahrung.

»Der Fremde wird sich hier niederlassen,« bemerkte er weiter.

»Dort drüben in dem Hause auf der Anhöhe. Es ist ja Alles aufs Schönste eingerichtet worden.«

»Nun seht, ich habe meine Gründe, das Thun und Treiben dieses Mannes im Stillen möglichst genau zu überwachen.«

»Ach, ich begreife!« rief der Vagabond und legte bezeichnend den Finger an die Nase.

»Ihr wißt also jetzt, was Ihr zu thun habt?« –

»Ganz wohl, Euer Gnaden.«

»Findet Ihr ihn auf falscher Fährte, so macht Ihr mir sofort Mittheilung davon.«

»Sie sollen gut bedient werden.«

»Aber noch einmal: Reinen Mund gehalten gegen Jedermann!«

»Ich kann schweigen, wenn ich will. Was mir nicht zu sagen beliebt, bekommt Niemand von mir heraus.« –

»Gut, Caspar. Hier habt Ihr ein kleines Angeld; von Euch wird es abhängen, ob Ihr mehr verdienen wollt.«

Herr von Carlsdorf hatte seine Börse gezogen und legte ein Goldstück in die Hand des Vagabonden, das dieser mit funkelnden Blicken betrachtete. Als der junge Edelmann jetzt sein Pferd wendete und sich mit einer stolzen Neigung des Kopfes entfernte, sah ihm der Strolch, den er so eben in seine Dienste genommen, eine Weile nach.

»Dabei wird Etwas zu verdienen sein,« murmelte er, »und ich bin nicht der Mann, um von einer solchen Gelegenheit nicht zu profitiren. Einstweilen will ich mir in der Schänke etwas zu Gute thun und mich durch einen tüchtigen Schluck stärken, denn mein Grundsatz ist leben und leben lassen.«

Er warf seine Hacke über die Schulter, und kehrte nach seiner verfallenen Hütte zurück. Kurz darauf sah man ihn dem Dorfe zuschreiten, um hinter dem Branntweinglase darüber nachzudenken, wie er seinem neuen Herrn am besten dienen könne.


Ein halbes Jahr war verflossen, seitdem sich der Doctor Setten in der Gegend, deren Schauplatz unsere Erzählung bisher gewesen ist, niedergelassen hatte. Wohlthätigkeit und Menschenliebe bezeichneten seine Handlungen, denn er unterstützte die Armen nicht allein reichlich und bemühte sich moralisch auf diese einzuwirken, sondern er hatte es sich auch als Arzt zur Aufgabe gemacht, die Hütten der Bedürftigen zu besuchen und ihnen am Krankenbett Trost und Hülfe zu spenden. Von der reinsten Menschenliebe beseelt, schien sein Herz nur in der Ausübung guter Werke Freude und Genugthung zu empfinden und es konnte daher auch nicht fehlen, daß die allgemeine Achtung sich ihm immer mehr zuwendete und daß man den »Einsiedler vom Berge,« wie man ihn allgemein nannte, als einen Mann verehrte, der überall, wo er erschien, eine segensreiche Erinnerung zurücklasse.

Und doch zeigte sich der Arzt nur wenig in der Öffentlichkeit. Sein Wirken war ein stilles, geräuschloses; die Studierstube fesselte ihn, die herrliche Scenerie der Umgegend bot ihm Erholung, sonst aber schien er geflissentlich, wie eine Art Büßer, den Umgang mit den Menschen zu vermeiden. Nur die Familie des Landraths besuchte er täglich, dorthin zog es sein Herz, dort verschwand der trübe Schatten, welcher sich so häufig auf seiner Stirn lagerte, dort vermochte er heiter zu lächeln und die düsteren Gedanken, von denen er nicht selten in seiner Einsamkeit heimgesucht wurde, zu verscheuchen.

Wir brauchen wohl kaum zu bemerken, daß Hedwig den Mittelpunkt seiner Gefühle bildete und wir können gleich hinzufügen, daß auch die junge Dame von den Huldigungen, welche ihr der Arzt in so zarter rücksichtsvoller Weise darbrachte, nicht ungerührt geblieben war. Sein sanfter Charakter paßte vollkommen zu dem ihrigen, seine edele Natur war ihr ein Bild, in welchem sich ihr eigenes Denken und Empfinden spiegelte. Still und bescheiden, wie sie war, schwebte ihr als höchstes Ideal nur eine Zukunft vor Augen, von der sie mit Sicherheit erwarten durfte, ein Paradies ungetrübten ehelichen Glücks, eine Stätte des Friedens an der Seite eines sanften, edelen, ihr gleichgesinnten Mannes zu finden.

Sie erwartete wohl eine bestimmte Erklärung von dem Manne, dessen stilles einfaches Wesen, dessen Sanftmuth, dessen edeler Sinn so ganz ihr Herz gefesselt hielt, und auch Setten schien nach längerem Kampfe endlich zu dem Entschluß gelangt zu sein, das entscheidende Wort zu Hedwig zu sprechen und dann bei ihrem Vater offen um ihre Hand zu werben.

Freilich ging diesem Entschluß des Arztes ein seltsamer Kampf vorher. Man sah ihn mehr wie je die Einsamkeit suchen, noch bis tief in die Nacht schritt er mit verschränkten Armen in seinem Zimmer auf und ab; sein Gesicht war bleich, tiefe Seufzer entstiegen von Zeit zu Zeit seiner Brust, kurz er schien in eine sehr ernste Selbstprüfung mit sich selbst und gleichzeitig in eine Berathung mit Gott getreten zu sein. Aber endlich gewann es den Anschein, als habe er die Zweifel und Bedenken, welche in seiner Seele aufgestiegen waren, siegreich beseitigt, denn sein Gesicht zeigte wieder den früheren milden ruhigen Ausdruck, seine in der letzten Zeit etwas gebeugte Gestalt richtete sich wieder fest empor und als er nun Hedwig nach einer Abwesenheit von mehreren Tagen entgegentrat, erbebte deren Herz unwillkürlich, denn sein Auge und der Ton seiner Stimme verriethen deutlich genug, daß sein Inneres außergewöhnlich erregt war.

Wir wollen den Leser nicht mit der Schilderung einer Scene ermüden, wie dies schon hundert Mal bei ähnlichen Geschichten wie diese ausführlich geschehen ist, es möge einfach die Mittheilung genügen, daß es zwischen beiden zu bestimmten Erklärungen kam, welche den Bund zweier Herzen besiegelten, der nicht durch die Rücksicht auf äußere Verhältnisse, sondern durch die harmonische Uebereinstimmung der gegenseitigen Gefühle, durch die reinsten, den gewöhnlichen Leidenschaften fern liegenden Empfindungen geschlossen worden war.

Die Blicke Hedwigs strahlten und auch die glatte wolkenfreie Stirn des Arztes zeigte, was für reine beseligende Empfindungen ihn durchströmten; die inneren Kämpfe, welche ihn in der letzten Zeit so heftig hin und her geschleudert, schienen vorüber und heiter und froh trennte er sich von der Geliebten, nachdem er sich mit dieser verabredet, schon in wenigen Tagen bei dem Baron in bestimmter Weise seine Werbung anzubringen.

 

Inzwischen wurde auch Herr von Carlsdorf im Kampfe wild auflodernder Leidenschaften hin und her geschleudert. Es lag nicht in seinem Charakter, eine Hoffnung, die er jahrelang mit sich herumgetragen, plötzlich ohne Widerstand aufzugeben, noch viel weniger zeigte er Lust, vor einem Fremden zurückzutreten, der sich, seiner Meinung nach, zwischen ihn und Hedwig gedrängt hatte. Sein Herz erglühte von Rache und diese Rache steigerte sich noch durch die sichtbare Kälte, welche das Fräulein von Meisdorf in der letzten Zeit gegen ihn an den Tag legte. Setten zu verdrängen und unschädlich zu machen, war das geheime Ziel seines Strebens; mit seiner Beseitigung, so hoffte er, würde das frühere freundschaftliche Verhältniß zwischen ihm und seiner Cousine wieder zurückkehren.

Mit dem Vagabonden auf der Haide hatte er seine geheime Verbindung fortgesetzt und endlich schien dieselbe die erwarteten Früchte zu tragen. Eines Tages trat dieser nämlich zu ihm heran und meldete, daß er wichtigen Entdeckungen auf der Spur sei. Er habe eine Bekanntschaft gemacht, von welcher er hoffe, daß sie ihn auf die richtige Fährte leiten werde, er wolle den Kerl nicht aus den Augen lassen und hoffe schon in wenigen Tagen Nachrichten zu bringen, die Herr von Carlsdorf mit Freuden mit Gold aufwiegen werde.

»Nun,« antwortete dieser, und sein Auge blitzte in wilder Leidenschaft auf, »wenn Ihr die Wahrheit redet und mir die Mittel verschafft, den verhaßten Menschen dort auf dem Berge unschädlich zu machen, so soll der Lohn, welchen ich Euch zugedacht habe, gewiß nicht hinter Euren Erwartungen zurückbleiben. Welche wichtige Entdeckung habt Ihr inzwischen gemacht und was ist das für ein Kerl, auf welchen Ihr hindeutet?«

Caspar brach in ein lautes Gelächter aus. »Was soll der Bursche anders sein, Euer Gnaden, als ein Landstreicher, wie es im Buche steht. Er treibt sich schon seit acht Tagen hier in der Gegend herum, und gestern schlössen wir nähere Bekanntschaft bei einer Flasche Branntwein.«

»Und er kennt den Arzt?«

»Darüber bin ich eben noch im Zweifel. Aber er schwatzte wunderbare Dinge aus seiner Vergangenheit – scheint früher auch einmal so etwas Besseres wie jetzt gewesen zu sein und behauptet, er suche einen guten Freund aus seiner Jugendzeit, den er seit mehreren Jahren aus den Augen verloren habe.«

»Nannte er denn einen Namen?«

»Das eben nicht, aber er schwor Hölle und Teufel, er meine auf der richtigen Spur zu sein und er werde nicht eher ruhen, bis er dieselbe gefunden habe, und dann wolle er sich bezahlt machen, denn er sei des Herumstreichens müde und mitunter komme ihm die Neigung an, das Handwerk des Vagabondirens aufzugeben und ein ordentlicher Mensch zu werden.«

»Wo hält sich der Strolch denn auf?« fragte Herr von Carlsdorf, welcher mit immer größerem Interesse den Mittheilungen Caspars gefolgt war.

»Ei, Euer Gnaden kennen ja da unten im Moor den schwarzen Peter. Ist auch so Einer von unserm Orden, ha! ha! – liebt auch die Branntweinflasche mehr als alles Andere und schlägt Frau und Kind, wenn er heim kommt und sie ihm ein schiefes Gesicht ziehen oder Brod verlangen.«

»Ich kenne ihn,« antwortete der junge Mann, »ist auch so Einer, welcher sich für ein Stück Geld ohne Schwierigkeiten mit seinem Gewissen abfindet. – Prügelt Weib und Kind, sagt Ihr? – Nun, seine Tochter, die Marie, soll ja ein schmuckes Mädchen sein und wie die Leute sagen, ist der schwarze Peter gar nicht das Kleinod werth, welches ihm der Himmel in ihr geschenkt hat.«

»Ist ein stolzes hoffärtiges Ding, die Marie,« antwortete der Vagabond, »und sicher thut sie sich auf ihre Schönheit etwas zu Gute, obgleich sie die Augen immer so sittsam zu Boden schlägt, als könne sie nicht drei zählen. Wüßte wohl Capital aus ihr zu machen, wenn sie mein wäre – sollte mir bald so viel verdienen, daß ich bequem und ohne Sorgen leben könnte. Inzwischen – –«

»Nun?«

»Nun, Euer Gnaden, ich meine nur, daß das Mädchen auf dem besten Wege ist, der Tugend geradezu in die Arme zu laufen, seitdem der Doctor dort auf dem Berge es für gut gefunden hat, sie unter seine besondere Obhut zu nehmen.«

Herr von Carlsdorf blickte den Berichterstatter überrascht an.

»So,« sagte er, indem sein Auge dabei befriedigt aufblitzte, »der fromme Klausner, von dessen Lobe Jeder voll ist, spielt also im Stillen den Fuchs im Hühnerstall?«

»Könnte wohl möglich sein,« antwortete Caspar mit bedeutungsvollem Augenblinzeln – »hat übrigens keinen schlechten Geschmack – kann's ihm nicht verdenken, Gnaden, wenn er seine Angel nach dem Mädchen auswirft, denn die Marie ist die schönste Dirne drei Meilen in der Umgegend.«

»Aber was sagt denn der schwarze Peter dazu?«

»Was soll er sagen? Er drückt die Augen zu und thut sich inzwischen hinter dem Branntweinglase etwas zu Gute.«

»So scheint er von dem Arzte also Geld zu empfangen?«

»Will ich gerade nicht sagen,« antwortete der Vagabond, »aber Frau und Tochter, die mag er wohl unterstützen und sehen Sie, Gnaden, in solchen Dingen hat der Peter eine feine Nase, er wittert es heraus und die Weibsleute müssen ihm den letzten Groschen überliefern und dürfen dabei gegen einen Anderen noch nicht den Mund aufthun, wenn sie nicht Gefahr laufen wollen, seine Fäuste zu fühlen.«

»Und der Kerl, welcher seit acht Tagen hier herumstreicht, steht mit dem schwarzen Peter in Verbindung?« fragte Herr von Carlsdorf weiter.

»So heimlich, daß die Polizei nichts merkt,« antwortete Caspar. »Mag seine guten Gründe haben, den Gensdarmen aus dem Wege zu gehen, kommt daher auch erst spät des Nachts nach dem Moor, und bricht schon früh am Morgen wieder auf, weil ihm die frische Luft auf der Haide ganz besonders behagt, wie er behauptet.«

Der Vagabond ließ diesen Worten ein helles Gelächter folgen, unzweifelhaft, weil er nach seiner Ansicht so eben etwas sehr Witziges gesagt hatte.

Sein Beschützer dagegen hörte nur halb hin, denn in seinem Kopfe schien sich in diesem Augenblick ein Plan zu bilden, von dessen Ausführung er sich einen seinen Zwecken entsprechenden günstigen Erfolg versprach.

»Wenn ich nur mit Bestimmtheit wüßte,« sagte er, »ob der Doctor auch diesen Abend die Hütte im Moor besuchen wird.«

»Käme nur auf einen Versuch an, Gnaden.«

»Wie so?«

»Wenn man zum Beispiel eine Botschaft von der Tochter an ihn gelangen ließe.«

»Das ginge. Wollt Ihr diese Botschaft übernehmen? –«

»Bin's zufrieden, Gnaden. Etwa so ein plötzliches Erkranken der alten Elsbeth? – Wird wohl nichts zu bedeuten haben, wenn es hinterher nicht wahr ist?«

»Ganz und gar nichts, doch damit ist es nicht abgemacht.«

»Nun, was sonst noch zu thun möglich ist, soll auch geschehen.«

»So hört! Könnt Ihr es bewerkstelligen, daß Euer neuer Bekannter, der eine so sonderbare Abneigung gegen die Gensdarmen und eine so auffallende Vorliebe für einsame Spaziergänge hat, zu derselben Zeit die Hütte Peters mit seinem Besuch beehrte, wo der Doctor dort anzutreffen wäre?«

Der Vertraute des jungen Edelmanns legte den Finger an die Nase. »Wird Geld kosten,« antwortete er in einem Tone, der so ziemlich wie eine Forderung klang, »muß Beide erst in die gehörige Stimmung bringen, hoffe aber dann dafür garantiren zu können.«

»So nehmt,« sagte der junge Edelmann, indem er ihm einige Thaler in die Hand drückte, »und nun handelt klug und vorsichtig, Ihr wißt, daß ich gute Dienste auch gut zu belohnen bereit bin.«

»Euer Gnaden sollen mit mir zufrieden sein, ich werde Alles pünktlich besorgen.«

Während der Haidebewohner Herrn von Carlsdorf diese Worte noch nachrief, als derselbe ihm bereits den Rücken gewendet hatte, kehrte der junge Edelmann mit einem Gesicht, in welchem sich die Hoffnung auf das Gelingen eines Planes abspiegelte, dessen Ausführung nach seinem Dafürhalten seinen Gegner vernichten, ihn aber selbst wieder den Weg zu dem Herzen seiner Cousine bahnen sollte, nach seiner Wohnung zurück.

»Ich kenne Hedwig,« murmelte er, »sie hat ein stolzes Herz und nichts würde besser im Stande sein, sie von dieser thörichten Leidenschaft zu heilen, als wenn ich ihr die Ueberzeugung beibringen könnte, daß sie einem Unwürdigen ihr Vertrauen geschenkt. Dieser Mensch, der sich so unerwartet zwischen sie und mich gedrängt hat, um dessentwillen ich die schönste Hoffnung meines Lebens aufgeben soll – er muß vor ihr so tief erniedrigt, so in den Staub gedrückt werden, daß sich ihre Zuneigung in Haß und Verachtung verwandelt. Und daß mir dies gelingen wird, hoffe ich mit Bestimmtheit, denn ich werde sie gegen den Arzt so lange aufstacheln und reizen, bis sie die Beweise für meine Beschuldigung fordert und dann soll sie einen Anblick genießen, welcher ihr die Schamröthe ins Gesicht treiben und ihr Herz mit der tiefsten Verachtung gegen den Mann erfüllen wird, welchem es bisher durch allerhand Künste gelang, ihren klaren Verstand und ihre Sinne in so gröblicher Weise zu blenden.«

Er rief nach seinem Pferde und seines Triumphes schon im Voraus gewiß, schlug er fast in heiterer Stimmung die Richtung nach dem Oute des Freiherrn ein.

Der Zufall schien seinen Absichten günstig zu sein. Der Landrath war in seinem Bureau beschäftigt und auch Philippine hielten gerade in dem Augenblick, als der junge Mann erschien, häusliche Geschäfte von der Schwester fern, Hedwig saß im Wohnzimmer am Piano und hatte mit ihrer schönen, glockenreinen Stimme eben ein Lied vollendet, als ihr Verwandter erschien. Sie erhob sich bei dessen Eintritt und etwas von Verlegenheit, vielleicht auch von Unbehaglichkeit spiegelte sich in ihrem Gesicht ab, denn sie mochte wohl befürchten, daß Herr von Carlsdorf dieses Alleinsein mit ihr dazu benutzen würde, um mit seinen Bewerbungen abermals hervorzutreten.

Der reizbare junge Mann, bei welchem beim Anblick derjenigen, von der er sich so kalt zurückgewiesen sah, die Schmerzen einer hoffnungslosen Liebe mit erneuerter Gewalt hervorbrachen, hatte recht gut den Mißmuth bemerkt, der sich Hedwigs bei seinem Anblick bemächtigte und dies steigerte natürlich noch die Bitterkeit seiner Stimmung.

»Du scheinst eben nicht besonders darüber erfreut zu sein, mich nach längerer Zeit wieder einmal bei Euch zu sehen,« sagte er in einem Tone, der halb schmerzlich, halb herausfordernd, klang, »indessen Zurücksetzung und absichtliche Abweisung bin ich schon seit den letzten Monaten an Dir gewohnt und ich wundere mich nur, daß Du mich aus Vorliebe für diesen Fremden nicht schon ersucht hast, ganz von hier wegzubleiben.«

»Ich bitte Dich,« antwortete Hedwig, indem sich ihr Gesicht im edelen Unwillen röthete, »muthe mir nicht Dinge zu, an die mein Herz nicht denkt, und vor Allem ersuche ich Dich, bei Deinen Angriffen einen Mann aus dem Spiel zu lassen, welcher unser Aller Vertrauen in so hohem Grade genießt.«

»Und besonders das Deinige,« platzte Herr von Carlsdorf heraus, indem sich seine Blicke, eifersüchtig auflodernd, auf das Fräulein richteten.

»Ich ersuche Dich nochmals, Dich zu mäßigen, wenn Du mich nicht zwingen willst das Zimmer zu verlassen,« erwiderte die junge Dame. »Es mag sein, daß Dir Manches hier nicht gefällt, aber deswegen hast Du noch kein Recht, Dich unberufen zu meinem Rathgeber aufzuwerfen.«

»Zu Deinem Rathgeber?« erwiederte jetzt mit gereizter Bitterkeit der junge Mann; – »nein, das sei fern von mir, denn ich räume ein, daß Du mehr Ruhe und Ueberlegung wie ich besitzest. Dein Rathgeber will ich also nicht sein, Cousine, aber als Dein Warner vor Dich zu treten, dies halte ich für Pflicht und hierin besteht der Zweck meines heutigen Besuches.«

»Du zwingst mich also durchaus, Dich anzuhören?«

»Hedwig,« sagte jetzt Herr von Carlsdorf mit weicher bittender Summe, »bin ich Dir denn bereits so fremd geworden, daß Dir selbst meine Stimme widerlich erscheint? – Entschließe Dich doch nur einen einzigen Blick in mein Herz zu thun – stoße mich nicht so kalt zurück, Hedwig, habe Mitleid mit mir, blicke mir ins Auge – komm, reiche mir vertrauungsvoll deine Hand.«

»Nein,« entgegnete das Fräulein mit einer Strenge und Entschiedenheit, die sonst gar nicht in ihrem sanften Wesen lag, »nein, laß es gut sein und begnüge Dich damit, daß wir uns einfach als Bekannte, wie es unser verwandtschaftliches Verhältniß mit sich bringt, begrüßen.«

»Du verschmähst also meine Hand, Du treibst also Deine Verachtung gegen mich schon so weit, daß Du Dich nicht scheust, mich in so demüthigender Weise zu behandeln?« rief nunmehr der junge Mann, in ungezügelter Heftigkeit übersprudelnd – »und dies Alles eines Menschen wegen, dessen Vergangenheit sich in geheimnißvolles Dunkel hüllt, über welchen die nachtheiligsten Gerüchte umherlaufen, kurz und gut, der Deines Vertrauens völlig unwerth ist.«

Welche Frau würde wohl den Mann ihrer Wahl, und selbst wenn es die geringste, wäre, in so gröblicher Weise angegriffen sehen, ohne zu seiner Vertheidigung ihre Stimme zu erheben? – Auch Hedwig erbebte bei der Anklage, welche sie so eben hatte vernehmen müssen und ihre sonst so sanftblickenden Augen erfüllte jetzt die Gluth des Zornes.

»Beweise Deine Worte, wenn ich Dich nicht für einen niedrigen Verleumder halten soll,« rief sie mit bebender Stimme, »gieb mir Beweise für eine solche Anschuldigung, wenn nicht bei mir noch der letzte Rest von Achtung gegen Dich verloren gehen soll!«

»Diese Beweise kannst Du Dir selbst verschaffen, wenn Du Muth und Neigung dazu hast,« sagte mit fester Stimme, die ein kaltes Lächeln begleitete, Herr von Carlsdorf.

Die arme Hedwig erbebte. Die Bestimmtheit, mit welcher der Ankläger auftrat, machte sie einen Augenblick irre, in der nächsten Secunde schien aber das Bild des Arztes in seiner ganzen ungetrübten Klarheit vor ihre Seele zu treten, und ihrem Verwandten einen stolzen Blick zuwerfend, sagte sie:

»Du forderst meinen Muth heraus, und Du sollst dies nicht umsonst gethan haben! Wohlan, ich verlange von Dir hiermit nochmals, mir die Beweise für die schändlichen Anschuldigungen zu liefern.«

»Nun, wenn ich Dir nun sage, daß dieser Herr Setten, welcher sich so meisterhaft in den Mantel der Tugend zu hüllen versteht, heimlich ein unerlaubtes Verhältniß mit einem jungen Mädchen unterhält.« –

Ein Blick unendlicher Verachtung war die einzige Antwort Hedwigs.

»Ich kann diesen Blick ertragen,« fuhr der junge Mann fort, »und ich thue dies mit um so größerer Ruhe, da ich hoffe, daß meine Enthüllungen Dich von Deinen unseligen Irrthümern heilen werden. Doch ich bin noch nicht fertig. Der Mann welcher sich in so unverdienter Weise Deiner Gunst erfreut, ist auch gleichzeitig der Genosse von Vagabonden der niedrigsten Art, von Leuten, die längst für das Arbeitshaus reif sind.«

Hedwig begann zu schwanken, sie empfand ein Gefühl, als wenn ein spitzer Stahl ihr durchs Herz dringe, aber sie wappnete sich mit einer Kraft, die sie im Grunde nicht besaß, und sagte scheinbar ruhig, wenngleich mit tonloser Stimme:

»Geh', ich verachte Dich – ich durchschaue Dich vollkommen, geh', entferne Dich, Dein Anblick fängt an mir unerträglich zu werden!« –

»Und wo bleibt Dein gerühmter Muth?« fragte von Carlsdorf, höhnisch auflachend.

»Es ist wahr,« entgegnete das Fräulein, »um Dich ganz zu entlarven, ist es nöthig, daß ich mich von diesen Verleumdungen selbst überzeuge. Gieb mir also den Weg an, auf welchem dies geschehen kann, ich bin dazu bereit!«

»Der Weg ist etwas beschwerlich,« antwortete der junge Mann mit dem bisherigen Hohn – »er führt bis da unten ins Moor und Du müßtest Dich einer nächtlichen Promenade unterwerfen.«

»Ich werde Beides nicht scheuen.« –

»Nun, Du kennst doch die Hütte des ›schwarzen Peter‹?«

»Ich kenne sie, ich bin einige Male mit Philippine dort gewesen, als die arme beklagenswerthe Frau dieses rohen und verwilderten Menschen krank und hülflos darniederlag.«

»Ja, ja,« lachte Herr von Carlsdorf, »der Peter ist ein Freund des Faustrechts und er nimmt keinen Anstand, es innerhalb seiner vier Pfähle in der ausgedehntesten Weise zu handhaben. Um so mehr muß man sich also wundern, daß er die heimlichen Besuche Deines Schützlings, des Doctor Setten, bei seiner Tochter duldet, indessen – nun, der Kerl hat eine gemeine niedrige Natur und für ein gutes Stück Geld läßt er sich wohl bewegen, die Augen zuzudrücken.«

Die arme Hedwig fühlte abermals, wie es ihr durchs Herz schnitt, denn die Sicherheit, mit welcher ihr Verwandter von diesen Dingen sprach, machte sie, trotz ihres guten Glaubens an den Arzt, doch etwas irre. Aber zu stolz, um sich in ihren wahren Empfindungen zu verrathen, raffte sie sich gewaltsam auf und indem sie eine Stärke heuchelte, die sie in Wirklichkeit nicht besaß, sagte sie:

»Genug dieser Anklagen gegen einen Mann, dessen Wandel bisher ein reiner und untadelhafter war!«

»Du glaubst also noch immer nicht daran, daß dieser Setten eine Maske trägt, die er ablegt, wenn er sich unbeachtet meint?« redete ihr Verwandter dazwischen – »ein Mensch, welcher mit zerlumpten Taugenichtsen der schlechtesten Art nächtliche heimliche Zusammenkünfte hat, findet also in Dir eine Schutzrednerin?«

»Geh!« rief Hedwig jetzt mit zornglühenden Augen und zeigte gebieterisch nach der Thüre – »geh, und wenn Du die Wahrheit gesprochen hast, so werde ich Dir später dafür danken, erweist sich aber Deine Anklage als eine feige, verleumderische Lüge, so halte Dich versichert, daß der Mann, dessen Ruf Du so schonungslos in den Staub tratest, gewiß auch den Muth haben wird, die ernsteste Genugthuung von Dir zu fordern.«

»Ich stehe zu Diensten, wenn ihm darnach gelüstet,« antwortete Herr von Carlsdorf, »und da Du mich in so handgreiflicher Weise gehen heißt, so entferne ich mich und überlasse Dich Deinen Betrachtungen.«

Mit einem lächeln befriedigter Rachsucht verließ der junge Mann das Zimmer und rief nach seinem Pferde. »Das Gift wird wirken,« murmelte er, indem er fortsprengte, das Mißtrauen hat sich ihres Herzens bemächtigt, ich sah sie erblassen und zittern und obgleich sie das, was in ihrer Seele vorging, mir verbergen wollte, so kenne ich Sie doch zu gut, um nicht zu wissen, daß das nur eine erkünstelte Ruhe war.«

 

Inzwischen hatte Hedwig eine Minute mit gesenktem Kopfe starr und unbeweglich vor sich hin geblickt. Dann schlug sie die großen sanften Augen auf und zwei dicke Thränen rollten auf ihre Wangen herab.

»Mein Herr und Gott,« seufzte sie, »warum weine ich denn, warum ist mir denn das Herz zum Springen schwer, da ich doch weiß, daß diese ganze Erzählung auf eine nichtswürdige Verleumdung hinausläuft!«

Sie ging wieder einige Mal im Zimmer nachdenkend auf und ab und blieb dann abermals stehen.

»Ich sollte nichts darauf geben,« murmelte sie, »es ist ein zu plumper elender Betrug, um ihn nicht sogleich als solchen zu erkennen. Und doch … Soll ich dem Verleumder den Triumph gönnen, den er empfinden wird, wenn er erfährt; daß ich nicht den Muth gehabt habe, mich persönlich von der Unwahrheit dieser abscheulichen Anklagen zu überzeugen? … Ja, ich will es, es wird zu meiner Beruhigung dienen; es wird die Zweifel beseitigen, welche ich, trotz meines Ankämpfens, doch zu schwach bin ganz zu beseitigen.«

Der Leser ersieht hieraus, daß Hedwig, ungeachtet ihrer edelen Natur und ihres klaren Verstandes, immer nur eine Frau blieb, denn trotz aller Vernunftgründe vermochte sie ihr stürmisch aufgeregtes Herz doch nicht ganz zu beruhigen; es drängte sie, sich mit eigenen Augen und Ohren zu überzeugen, und inmitten dieser qualvollen Unruhe fand sie schließlich eine Tröstung darin, daß sie hierdurch ja dem größten Triumph entgegen gehe, denn es konnte ja nicht anders sein, diese schändlichen Verleumdungen mußten in Nichts zerfallen, und der von ihr so heißgeliebte Mann stand dann glänzend gerechtfertigt vor ihr.

In diesem Augenblick trat Philippine ins Zimmer. »Mein Gott, wie siehst Du aus?« rief diese, »Deine Züge sind entstellt, Du hast geweint, sprich, was ist vorgefallen?«

Statt einer Antwort schloß Hedwig die Schwester in ihre Arme und drückte sie innig ans Herz.

»Hast Du den Muth, mich diesen Abend auf einem Gange zu begleiten?« fragte sie mit gepreßter Stimme.

»Wohin, theure Hedwig, es ist doch sonst nicht Deine Gewohnheit, das Haus bei Nacht zu verlassen?«

»Und doch muß es geschehen.«

»Aber wohin willst Du denn?« –

»Nach dem Moor, nach der Hütte des ›schwarzen Peter‹.«

»Wie, nach der Behausung dieses verrufenen Menschen? Hedwig, welches Geheimniß verbirgt sich hinter einer solchen Absicht?« –

»Frage jetzt nicht weiter, ich werde es Dir unterwegs erklären. Genügt es Dir, wenn ich Dir vorläufig mittheile, daß es sich um die Rechtfertigung der schwer angegriffenen Ehre Setten's handelt?« –

»Wie, es hätte Jemand gewagt, den Doctor, welcher die allgemeinste Achtung und Verehrung genießt, zu verleumden?«

»Leider unser eigener Vetter.«

»Ich begleite Dich,« rief nun auch Philippine aufgeregt – »ich würde Dich ohnedem begleitet haben, aber jetzt thue ich es doppelt gern. Komm, ich habe Muth, die Finsterniß soll mich nicht schrecken und zu unserm Schutz nehmen wir ›Jupiter‹ mit.«

»So laß uns bis nach dem Nachtessen warten, wo der Papa sich wieder in sein Arbeitszimmer zurückzieht. Wir müssen eine Nothlüge machen, so ungerne ich dies auch thue, und ihm sagen, daß wir uns frühzeitig zu Bett begeben wollen. Morgen soll er Alles erfahren und ich bin überzeugt, um der Motive willen wird er uns diese kleine Unwahrheit verzeihen.«

Die beiden Schwestern schlössen sich noch einmal in die Arme, und drückten sich, als wollten sie sich gegenseitig zu dem nächtlichen Gange ermuthigen, einen innigen Kuß auf die frischen Lippen. Dann betraten sie gemeinsam das Familienzimmer und schmiegten sich noch inniger wie sonst an den Vater. Man sah es ihnen an, es fiel ihnen schwer den Freiherrn zu hintergehen, und in ihren Augen leuchtete Etwas, was schon jetzt einer herzlichen Abbitte ähnlich sah. Da der Landrath gerade heute mit dringenden Arbeiten beschäftigt war, so fiel ihm übrigens die baldige Entfernung seiner Töchter nicht auf und er begnügte sich ohne eine weitere Bemerkung mit der Entschuldigung, welche sie dafür vorbrachten.

Als sich die beiden jungen Damen auf ihrem Zimmer .allein befanden, lauschten sie eine halbe Stunde, bis völlige Ruhe eingetreten war. Dann schlugen sie ihre Mäntel um sich, hüllten sich in dichte Schleier und schlüpften behutsam durch das Hinterhaus. Auf dem Hofe sprang ihnen eine schöne kräftige Dogge entgegen und schmiegte sich schmeichelnd an sie.

»Ist es nicht gerade, als wenn uns ›Jupiter‹ erwartet hätte?« flüsterte Hedwig, indem sie dem Thiere über den weichen Rücken strich.

»Komm,« sagte Philippine zu dem Hunde, der die Geschwister mit seinen klugen Augen anblickte, »komm, Jupiter und zeige Dich heute des Vertrauens werth, unser Beschützer zu sein.«

Leise schlüpften die lieblichen Mädchen durch die Hinterpforte und befanden sich bald im Freien.

»Fürchtest Du Dich?« fragte Philippine, indem sie sich im Fortschreiten an die ältere Schwester anschmiegte.

»Nein,« antwortete diese, »des Herrn Wege sind überall und seine Vaterhand breitet sich schützend über Alle, die ihm vertrauen.«

»Wie schön steht Dir dieses Gottvertrauen,« bemerkte Philippine, indem sie ihren Blick mit Innigkeit auf die Schwester richtete.

»Bedarf ich denn nicht auch dessen?« antwortete diese mit einem leisen Seufzer, im Hinblick auf den Zweck dieser nächtlichen Wanderung.

»Arme Hedwig, Dein Herz ist Dir gewiß recht schwer? Enthülle mir dieses Geheimniß, welches Dich niederdrückt; mache mich zu Deiner Vertrauten, wie Du es mir versprochen hast.«

Während die ältere Schwester dieser Aufforderung nachkam, schritten Beide unverdrossen dem Moore zu.

»Wir sind bald am Ziel,« sagte Hedwig nach einer Weile, »sieh, dort schimmert uns schon das Licht aus der Hütte entgegen.«

»So laß uns zuschreiten.«

»Du kennst also genau den Ort, wo wir uns verborgen aufstellen können?«

»Ganz genau, komm nur. Es ist eine Art Stall, der durch eine dünne schadhafte Bretterwand von dem Wohnzimmer getrennt wird. Wenn wir behutsam auftreten, wird uns Niemand bemerken und wir können von dort Alles hören und sehen, was in der Stube geschieht.«

Sie standen jetzt an dem verfallenen Häuschen, welches kaum diesen Namen verdiente, still. – Als wollten sie sich gegenseitig Muth einsprechen, blickten sie sich noch einmal in die Augen und drückten sich innig die verschlungenen Hände. Dann schlüpften sie geräuschlos in den Verschlag und traten an die dünne Bretterwand, deren schadhafte Stellen ihnen einen vollständigen Einblick in das Wohnzimmer gestatteten. »Jupiter« hatte sich, einem Winke Philippinen's folgend, ruhig zu den Füßen der Geschwister niedergestreckt und hob nur von Zeit zu Zeit seinen Kopf empor, gleichsam als wolle er anzeigen, daß er wachsam und zu ihrem Schutz jeden Augenblick bereit sei.

Der Anblick, welcher den zwei jungen Damen zu Theil wurde, war allerdings dazu geeignet, das Herz Hedwigs lauter pochen zu lassen. Die Frau des »schwarzen Peter« saß, den Ellenbogen auf das Knie und den Kopf in die Hand gestützt, am Herde, auf welchem ein bereits halberloschenes Feuer glimmte, während eine angezündete Kienfackel ein mattes Licht in dem Stübchen verbreitete. Marie dagegen, eine leichte elastische Gestalt mit feinen, ansprechenden Gesichtszügen, hatte mehr seitwärts Platz genommen und während sie gerade in dem Augenblick, wo die zwei Lauscherinen eintraten, den Blick nachdenkend zu Boden gesenkt hatte, ruhte ihre Hand in der des Arztes, dessen Augen sich mit lebhaftem Interesse auf das schöne siebenzehnjährige Mädchen zu heften schienen. Ein leiser Seufzer entschlüpfte Hedwig, als sie diesem Bilde der Vertraulichkeit begegnete und indem sie sanft die Hand Philippinens drückte, als wollte sie dieselbe darauf aufmerksam machen, sprach sich gleichzeitig das, was sie in ihrem Herzen empfand, durch ein schmerzliches Zucken in ihrem Gesicht aus.

»Muth, meine arme Schwester,« flüsterte Philippine – »sei stark und laß uns abwarten, was weiter geschieht, bevor wir ein Urtheil fällen.«

»Er spricht!« antwortete ebenso leise das ältere Fräulein und gleichzeitig neigte es sich gespannt vorwärts, damit ihm kein Wort verloren gehe.

Wirklich hatte der Arzt das bisherige Schweigen gebrochen und seine sanfte, ruhige, wohlthuende Stimme konnte man jetzt in ihrer vollen Klarheit vernehmen.

»So ist also diese Angelegenheit geordnet,« begann Setten, »und ich hoffe, der Segen Gottes wird das Werk krönen.«

»Ich sehe auch nur das leibliche und geistige Verderben Mariens vor Augen, wenn sie länger in dieser rohen wüsten Gesellschaft bleibt,« seufzte die Mutter. »Bin ich auch nur eine arme unglückliche Frau, die ihre Tage unter Schlägen und Mißhandlungen aller Art hinschleppen muß, so habe ich mir doch ein Herz für mein Kind bewahrt und endlich hat der Himmel auch mein Gebet erhört und uns in Ihrer Person die rettende Hülfe geschickt.«

»Niemand soll an der Gnade des Herrn zweifeln,« antwortete der Doctor, »und jetzt, so hoffe ich, wird aus Eurer Marie noch einmal etwas recht Tüchtiges werden. Morgen will ich mit dem gnädigen Fräulein sprechen und wenn es diesem nicht möglich ist, Eure Tochter in's Haus zu nehmen, so soll sie bei braven ordentlichen Leuten in der Stadt untergebracht werden, wo sie Gelegenheit haben wird, etwas Ordentliches zu lernen, um sich dann mit Ehren durch die Welt zu helfen, und Euch im späteren Alter eine Stütze zu werden.«

»Gottes Segen komme über Sie,« rief die arme Frau und trocknete sich mit der Schürze die Thränen, welche auf ihre abgezehrten Wangen herabliefen.

Aber auch in dem Verschlage nebenan leuchteten zwei Augen in seliger Verklärung und indem Hedwig sich zu dem Ohr ihrer Schwester neigte, flüsterte sie:

»O, mein Gott, mein Gott, ich wußte es ja, daß er nur Edeles im Sinn haben konnte! … Und doch … O, Philippine, ich habe eine große Sünde begangen, ich mache es mir zum bittersten Vorwurf, daß ich dennoch einen Augenblick an der Reinheit seiner Absichten zu zweifeln vermochte!«

»Beruhige Dich nur,« entgegnete die Schwester, »diese Sünde läßt sich wieder abbüßen und Setten wird Dir gern Absolution ertheilen. Doch man beginnt wieder zu sprechen, laß uns hören, was weiter da drinnen verhandelt wird.«

»Behandelt Euch Euer Mann jetzt besser?« fragte der Arzt, sich abermals zu der Frau wendend.

»Er schlägt mich nicht mehr,« sagte diese, »seitdem er seinen Durst nach Branntwein mit dem Gelde stillen kann, was er von Ihnen empfangen hat.«

»Ich wußte wohl, daß es auf diese Weise verwendet werden würde,« bemerkte der Arzt, »allein es gab kein anderes Mittel, um Euch Ruhe zu verschaffen und die Einwilligung Eures Mannes dafür zu erhalten, daß Marie diesen Ort verlassen könne.«

Die Frau schüttelte verzweiflungsvoll den Kopf. »Er ist doch nicht mehr zu bessern,« sagte sie seufzend, »und so ist jetzt wenigstens durch Ihre Großmuth meine Tochter vom leiblichen und geistigen Untergang gerettet worden; doch horcht!« – und sie hob lauschend den Kopf in die Höhe – »o, Herr des Himmels, wird dieses Elend denn niemals aufhören und müssen Sie nun auch noch gerade Zeuge unserer Erniedrigung und Schande sein!«

Der Sinn dieser Worte wurde durch ein wüstes Gebrüll, welches sich vor der Hütte vernehmen ließ, verständlich, denn es unterlag keinem Zweifel, daß der »schwarze Peter« in Begleitung eines seiner Spießgesellen soeben zurückkehrte.

»Ich höre es an seinem Gange und an seiner Stimme, daß er wieder betrunken ist,« stöhnte die alte Elsbeth und richtete halb mit dem Ausdruck der Furcht, halb mit dem des Abscheues ihren Blick nach der Thüre.

Diese wurde jetzt heftig aufgerissen und einen Augenblick darauf stand der Trunkenbold in Begleitung eines anderen Menschen mitten in dem kleinen Zimmer.

»He, Frau,« rief er, und zeigte dabei auf seinen Begleiter, »hier bringe ich einen Gast – einen Kerl, wie es wenige seines Gleichen giebt, der sich ebenfalls aus Gott und der Welt nichts macht, der die Menschen verachtet und so seine eigenen Begriffe über Recht und Unrecht, über Mein und Dein hat.«

»Ja wahrhaftig,« schrie der Vagabond, indem er sich auf einen dicken Eichenknüttel stützte und unter seinem zerknitterten, zerlumpten Hut herausfordernd um sich blickte, »der Standpunkt, welchen ich einnehme, ist ein absonderlicher und die Philosophie, welcher ich huldige, enthebt mich der Mühe, mich auf den geschraubten Standpunkt wie andere Menschenkinder zu stellen!«

»Verdammt gelehrt,« brummte der ›schwarze Peter‹, »inzwischen macht es Euch bequem, Camerad, und seht, wo Ihr einen Platz findet, denn an Stühlen ist hier eben kein Vorrath.«

»Hat nichts zu bedeuten,« lachte der Strolch und taumelte einige Schritte vorwärts, blieb aber auf einmal stehen und richtete sich mit allen Zeichen der Ueberraschung empor, als er plötzlich den Doctor bemerkte, auf welchen er jetzt mit dem Ausdruck listiger Schadenfreude seine Blicke heftete.

Auch der Arzt war erbleicht, als dieser zerlumpte, verkommene Mensch ihn mit seinem von Branntwein aufgedunsenen Gesicht angrinste.

»Willkommen,« rief dieser und streckte seine Hand aus, indem er gleichzeitig einen Schritt vortrat – »willkommen nach einer Trennung, die wahrlich mit meinem Willen nicht erfolgt ist! Ha, ha, alter Freund, hast wohl nicht vermuthet, daß wir uns so bald wiedersehen würden, als Du mir das letzte Mal entschlüpftest? … Nun, das Fatum hat es so gewollt und ich hoffe, das Schicksal wird uns nun so bald nicht wieder trennen!«

Die Scene war so überraschend und der Vagabond sprach mit einer solchen Sicherheit, daß die Anwesenden vor Staunen und Schreck verstummten und ihre Blicke auf den Arzt richteten, indem sie augenscheinlich von ihm erwarteten, daß er ein so freches Benehmen gebührender Maßen mit Entschiedenheit zurückweisen würde.

Auch die beiden jungen Damen standen starr und unbeweglich in ihrem Versteck. Hedwig zitterte am ganzen Körper, das Blut war ihr aus dem Gesicht getreten und angstvoll klammerte sie sich an die Schwester. Gespannt lauschte sie auf die Antwort Settens, aber man sah es ihr an, daß von dieser Antwort ihre künftige Ruhe, das fernere Glück ihres Lebens abhing.

»Ich bitte Dich,« flüsterte Philippine, »ringe nach Fassung – betrachte Dir den Menschen, es ist unmöglich, daß dahinter etwas Anderes als eine gränzenlose Unverschämtheit steckt.«

Hedwig überhörte diese Worte, denn starr und mit einer Spannung, welche ihren Seelenzustand zur Genüge bekundete, hingen ihre Blicke an Setten.

Dieser hatte bisher unbeweglich dagestanden, und war bemüht, eine Ruhe an den Tag zu legen, die er offenbar nicht besaß. Ein leises Flackern seiner Augen trat erkennbar hervor, als sich jetzt seine Lippen öffneten und er halb mit Widerwillen, halb mit schmerzlicher Resignation zu dem verkommenen Menschen, der ihn noch immer hohnlächelnd angrinzte, sagte:

»Folgt mir nach meiner Wohnung, und wenn Ihr ein Anliegen habt, so bin ich gern bereit, Euch Hülfe und Unterstützung angedeihen zu lassen.«

»Glaub's gern,« antwortete mit frecher Unverschämtheit der Vagabond, »und gefunden hätte ich Dich doch und mein Besuch wäre Dir auf keinen Fall erspart worden. Möchte auch wissen, warum sich ein paar alte Freunde verleugnen sollten … Ist zwar schon lange her, war aber doch eine hübsche Zeit, als wir noch zusammen auf der Universität die Collegia besuchten! Waren Beide ein paar flotte Burschen und wenn der fatale Streich nicht gekommen wäre – –«

»Genug,« rief der Arzt, und eine plötzliche Todtenblässe überzog sein Gesicht und seine Stimme zitterte, »genug! Folgt mir nach meiner Wohnung, dort bin ich bereit Euch anzuhören und ich denke, Ihr werdet dieselbe nicht unzufrieden verlassen.«

»Kann's auch brauchen,« brummte der Strolch, indem er dem Doctor, als dieser das Zimmer verließ, nachfolgte – »kann's brauchen und ich denke, die Klugheit wird Euch rathen, mir von dem Ueberfluß, mit welchem Ihr gesegnet zu sein scheint, etwas abzugeben.«

Ein leises Stöhnen ließ sich von der Stelle her hören, wo die Schwestern verborgen gelauscht hatten; zum Glück blieb dasselbe aber, da sich die allgemeine Aufmerksamkeit dem Arzte und seinem Begleiter zuwendete, unbemerkt.

»Komm,« sagte Hedwig mit tonloser Stimme, indem sie mit Aufbietung ihrer ganzen Kraft ihre zusammengeknickte Gestalt aufzurichten strebte.

»Arme Schwester,« lispelte Philippine, »glaubst Du denn wirklich, daß Setten zu einer solchen Persönlichkeit in irgend einer Verbindung stehen könnte?«

Beide jungen Damen waren, während sie diese wenigen Worte wechselten, leise aus ihrem Versteck geschlüpft und verschwanden jetzt im Dunkel der Nacht, indem sie den Rückweg antraten.

»Nein,« entgegnete Hedwig, die vorhin an sie gestellte Frage beantwortend – »nein, es ist mir nicht möglich, einem solchen Gedanken Einfluß über mich zu gestatten. Und doch bemerktest Du wohl, mit welcher dreisten Sicherheit dieser heruntergekommene Mensch dem Doctor entgegentrat, und warum hieß dieser ihn mitgehen, statt ihn mit Ekel und Abscheu, wie er es verdiente, entschieden von sich zu weisen?«

»Setten wird wahrscheinlich einer Scene haben ein Ende machen wollen, die ihm gerade in der Gesellschaft, in welcher er sich befand, doppelt unangenehm sein mußte. Wenn Du dies Alles bedenkst, liebe Schwester, und das reine untadelhafte Leben des Doctors in Betracht ziehst, so bin ich überzeugt, daß Du zu einem ähnlichen Resultat gelangen wirst.«

»Oh, ich kenne sein Herz,« rief Hedwig mit tiefer Wärme, »ich kenne jeden Gedanken und nie, nie würde ich den Mann zu verurtheilen vermögen, welcher zu den edelsten und besten Menschen gehört. Und dennoch – oh Philippine, kannst Du es mir verdenken, wenn mein armer Kopf sich verwirrt – dennoch erzittere und erbebe ich, denn was wir nun gesehen und gehört haben, sagte mir ja der Vetter vorher, und er würde dies nicht mit so kaltem Hohne gethan haben, wenn er nicht schon im Voraus von seinem Triumphe überzeugt gewesen wäre.«

»Es war ein verächtliches Benehmen von unserem Verwandten,« entgegnete die jüngere Schwester, »und ich werde ihn keines Blickes mehr würdigen. Inzwischen beruhige Dich bis morgen; ich bin überzeugt, Setten selbst wird sich beeilen, Dir möglichst bald die genügende Aufklärung zu geben.«

»Das wolle Gott, denn mein armes Herz bedarf der Beruhigung.«

Ein tiefer, schwerer Seufzer begleitete diese Worte, während sich die junge Dame fester in ihren Mantel hüllte und schweigend an der Seite der Schwester weiter schritt.

 

Inzwischen war bei der Hütte im Moor das Verschwinden des Arztes mit dem Vagabonden auch noch von zwei anderen Personen mit Aufmerksamkeit beobachtet worden, und jetzt, wo Beide durch die Finsterniß fortschritten, erhob sich plötzlich aus einem dunklen Winkel ein Mann, zu welchem sich unmittelbar nachher ein Zweiter gesellte.

»Hast Du Alles bemerkt?« fragte Herr von Carlsdorf, indem er sich an Caspar, seinen Vertrauten, wendete.

»Ja, Gnaden, Alles. Ich sah, wie der Doctor vor Schreck erzitterte, als er dem Gast Peters plötzlich gegenüberstand und so unverhofft an eine alte Bekanntschaft erinnert wurde.«

»Nun, was meinst Du also dazu?« –

»Hm, Gnaden, wenn ich die Reden, welche das alte Branntweinfaß schon früher geführt hat, mit der Bestürzung des Doctors zusammenhalte, so komme ich zu dem Schluß, daß dahinter eine sonderbare Geschichte stecken muß, welche der Herr dort oben auf dem Berge um jeden Preis vor der Welt geheim gehalten wissen will.«

»Das ist auch meine Ansicht. Aber ich selbst bin überrascht; einen solchen Ausgang erwartete ich nicht, als ich das Fräulein veranlaßte, sich hierher zu begeben. Wer zum Kukuk konnte aber auch glauben, daß sich in den Beiden zwei alte Bekannte zusammenfinden würden! Es handelte sich meinerseits bei diesem Rendezvous nur darum, das Mißtrauen meiner Cousine gegen den Arzt zu erregen, denn sie sollte glauben, daß das Zusammentreffen desselben mit dem Strolche kein zufälliges wäre, aber an andere Dinge habe ich dabei nicht gedacht.«

»Ja, ja, es ist nichts so fein gesponnen, es kommt doch ans Licht der Sonnen,« moralisirte Caspar, indem er in seine Rocktasche griff und einen langen Zug aus der Schnapsflasche that. »Doch was soll nun weiter geschehen, Gnaden?«

»Der Kerl, welcher sich so plötzlich als ein alter Bekannter dieses tugendhaften Herrn Setten entpuppt hat, darf keinen Augenblick aus den Augen gelassen werden.«

»Gut, Gnaden.«

»Ich vermuthe noch ganz andere Dinge hinter dieser Geschichte und ich will denselben jedenfalls vollständig auf den Grund kommen. Du mußt den Burschen, welcher gegenwärtig wahrscheinlich mit dem Doctor um den Lohn seines Schweigens unterhandelt, unverweilt, aber auch unbemerkt in mein Haus schmuggeln.«

»Soll geschehen, Gnaden. Glaube zudem nicht, daß das alte ausgepichte Faß besondere Lust hat, dort oben auf dem Berge Nachtquartier zu nehmen, denn 's ist ein verdammt schlauer Patron und einen Menschen, dessen Aussagen man fürchtet, kann man ohne Zeugen im Schlafe oder in der Trunkenheit bald beseitigen.«

»Wenn er sich aber weigert, Dir zu folgen?« fragte Herr von Carlsdorf.

»Ist keine Gefahr. Stellen Sie ihm nur eine Hand voll blanker Goldstücke und eine gefüllte Branntweinflasche in Aussicht, und der Bursche ist der Ihrige.«

»Aber wenn er sich gegen den Doctor schon verpflichtet hat?«

Caspar lachte hell auf. »Dazu gehört so ein Stückchen Gewissen,« antwortete er, »und das ist in unserer freien Zunft kein Glaubensartikel. Solchen alten Plunder können wir nicht brauchen, Gnaden, und somit kurz und gut, ich werde den Collegen zur Stelle schaffen.«

»Rechne auf meine Erkenntlichkeit, Caspar,« flüsterte der junge Edelmann, »in dieser Angelegenheit spielt Geld keine Rolle. Und nun geh' und lege Dich auf die Lauer, und wenn Du den alten durchräucherten Burschen eingefangen hast, so bringe ihn mir, ich werde Dich erwarten.«

»Es ist, als wenn eine höhere Hand hier im Spiele wäre,« murmelte er, indem er vor sich hinstarrte. »Ich wollte diesen Menschen bei Hedwig blos verdächtigen, ich wollte ihr Herz mit Mißtrauen gegen ihn erfüllen und jetzt verwandelt sich das von mir veranstaltete zufällige Zusammentreffen dieses Strolches mit dem Arzte in eine dunkle, geheimnißvolle Geschichte.«

Er sprang auf und schritt in dem Gemach mehrere Mal mit verschränkten Armen auf und ab. Dann blieb er stehen und sagte:

»Es ist klar, daß ich die erlangten Vortheile über den verhaßten Nebenbuhler nicht aus den Händen geben werde. Aber ich will auch nicht übereilt handeln und von Hedwigs Benehmen wird es schließlich abhängen, welche Entschlüsse ich fasse. Morgen will ich hinüber und diesem Verhältniß zwischen ihr und dem Doctor, welches durch die Begebenheiten dieser Nacht so tief erschüttert worden ist, den letzten Stoß geben. Ich werde ihr nochmals mein Herz und meine Hand anbieten und ich hoffe, sie wird in ihrer jetzigen Lage, wo sie so sehr compromittirt worden ist, verständig genug sein, in einem solchen Schritt meine große Liebe zu ihr zu erkennen.« – »Ja,« fuhr der junge Mann leidenschaftlich fort, »diese Liebe ist mächtiger, als ich geglaubt habe, und fiele es Hedwig ein, meinen Bewerbungen auch jetzt noch ein stolzes ›Nein!‹ entgegenzusetzen, dann würde ich nicht eher ruhen, bis ich den Gegenstand meines Hasses, den Mann, welcher mich um meine schönsten Hoffnungen brachte und mir den Stachel tief ins Herz drückte, schonungslos vernichtet hätte!«

 

Mit diesem Gedanken begab sich Herr von Carlsdorf zu Bett und während wir ihn noch weiter über seine finsteren Pläne brüten lassen, bitten wir den Leser uns jetzt nach der Wohnung des Arztes zu folgen, der soeben in Begleitung des Vagabonden dort angekommen war.

»Setzt Euch,« sagte der Erstere, nachdem er in seinem Zimmer Licht angemacht und die Thüre desselben sorgfältig verschlossen hatte.

»Setzt Euch?« brummte der Strolch, indem er seinen dicken Knotenstock zwischen die Kniee stemmte, seine Hände auf diesen stützte und Setten mit dem Ausdruck frecher Unverschämtheit anblickte – »setzt Euch! ist das eine Manier, Jemand zu empfangen, der sich rühmen kann, einst der vertraute Genosse Deiner Jugendstreiche gewesen zu sein? – He, Freund Alfred, ich glaube, das Glück hat Dich stolz gemacht und es scheint, als wenn Du vergessen hast, daß wir zusammen die Collegia besuchten und als flotte Studios den Philistern ein Pereat brachten und alle schönen Dirnen leben ließen!«

»Ich habe Nichts vergessen,« entgegnete der Arzt, »oder vielmehr, es ist der Fluch einer verhängnisvollen That, welche mich nach fünfzehn Jahren bitterer Seelenleiden in einem Augenblick wieder mit Dir zusammenführt, wo ich von Gott bereits Verzeihung für ein Vergehen erhofft hatte, welches mich gegen meinen Willen zum Verbrecher machte.«

»Sage es nur kurz heraus, zum Mörder, zum Todtschläger,« rief sein Gesellschafter, indem er hell auflachte.

Der Doctor hatte den Kopf gesenkt, ein tiefer schmerzlicher Seufzer entschlüpfte seiner Brust. Dann erhob er sein Haupt und seine Blicke zum Himmel emporrichtend, rief er mit tiefbewegter Stimme:

»Oh mein Herr und Gott, Du weißt am Besten, ob ich einen solchen Namen verdiene. Du hast auch mein Ringen und Kämpfen gesehen, Du hast mein reuiges Gebet vernommen, wenn ich mich in kummervollen schlaflosen Nächten, Deine Gnade anrufend, zu Dir wendete.«

»Bleib mir mit Deinem Geplärr vom Leibe,« rief roh auflachend der Vagabond, »und gieb auch meinetwegen dem Dinge einen Namen, welchen Du willst, die Sache bleibt doch immer dieselbe. He,« fuhr er, sich erhebend und Setten ins Gesicht blickend fort, »erinnerst Du Dich noch der Nacht vor fünfzehn Jahren, die Dir jetzt so unerwartet ins Gedächtniß zurückgerufen wird? Wir hatten geschwärmt und die Köpfe waren uns voll und wir fühlten keine Lust nach Hause zu gehen und wollten weiter schwärmen und hatten doch kein Geld. Lustiges Kleeblatt, ich, Du und der Lehmann, welcher jetzt ein schönes Amt bekleidet und der es sich auch nicht träumen läßt, daß ich ihm bereits auf der Spur bin und ihn nächstens mit einem Besuch überraschen werde! …

Nun gut, wir wußten also nicht, wie wir uns Geld verschaffen sollten und zogen lärmend weiter, bis der Teufel, der sein Wohlgefallen an uns haben mochte, uns an das abgelegene Haus des alten Wucherers in der Vorstadt führte.

›Wie wäre es, wenn wir den alten Gauner da drin anzuzapfen versuchten?«‹ sagte Lehmann.

›Ein prächtiger Gedanke,‹ riefen wir Beide jubelnd und schon in der nächsten Minute standen wir vor dem Geizhals, welcher erschrocken auffuhr, als wir eintraten.«

»Genug, genug,« rief der Arzt, »das Ende dieser traurigen Geschichte ist kurz. Das Geld wurde uns verweigert und wir, des Weines voll, drangen auf den Alten ein. Da zog dieser ein Pistol hervor und zielte nach uns, ich aber wollte ihm die Waffe aus der Hand schlagen und holte mit meinem Stock aus und im nächsten Augenblick –«

»– sahen wir eine Leiche vor uns,« ergänzte der Vagabond – »nun, ist das kein Todtschlag?« –

»Aber kein absichtlicher,« ergänzte Setten, »ich hatte ihn unglücklicher Weise in die Schläfe getroffen und das ohnedem schwache Lebenslicht des alten Mannes erlosch zu unserm Schrecken.«

»Allerdings,« entgegnete der Strolch, »aber wir besaßen Verstand genug, uns schleunigst aus dem Staube zu machen, und zu unserm Glück hatte Niemand unser Gehen und Kommen bemerkt. Als man die Leiche am andern Tage auffand und sich überzeugte, daß seine Schätze unberührt geblieben waren, schrieb man seinen Tod einer natürlichen Ursache zu und so geschah es, daß weiter keine Nachforschungen angestellt wurden und über die ganze Geschichte bald Gras wuchs. Wir verließen kurz nachher die Universitätsstadt und seitdem haben sich unsere Lebenswege getrennt, bis uns Beide heute das Schicksal wieder so unverhofft zusammenführt.«

Der Arzt seufzte, die Farbe seiner Wangen war bis zur tiefsten Blässe herabgesunken, seine Augen waren erloschen, der Schweiß stand ihm auf der Stirn.

»Glaub's gern,« brummte der Strolch, sich in dem Zimmer umsehend, »daß dem vornehmen Herrn ein solches Wiedersehen unangenehm ist. Zeigt Alles, was ich hier erblicke, von Behaglichkeit und Wohlhabenheit, glaub's gern, daß Ihr keine Noth kennt und jedenfalls muß es sich dort auf dem weichen Divan besser ruhen, wie hinter einer Hecke auf kaltem feuchtem Boden.«

»Hört,« sagte jetzt der Arzt, »Ihr begreift, daß von Eurem Schweigen meine künftige Ruhe abhängt.«

»Ha, ha, gewiß begreife ich das, ich denke daraus den möglichsten Vortheil zu ziehen.«

»So fordert eine Summe und versprecht mir, wenn ich Euch dieselbe eingehändigt habe, diese Gegend sofort für immer zu verlassen.«

»Daß ich ein Narr wäre!« lachte der Vagabond. »Bin genug in der Welt herumgewandert, um nun auch endlich einmal das Bedürfniß zu fühlen, zur Ruhe zu gelangen. Was sollen mir die paar hundert Thaler, welche Ihr mir zu bieten geneigt sein möchtet? … Bleibt mir damit vom Leibe, die würden in einigen Wochen doch alle sein und dann könnte ich mich wieder auf's Hungern legen und lief abermals Gefahr, als Landstreicher eingesteckt zu werden. Nein, ich will Euch einen besseren Vorschlag machen und es giebt noch einen andern Preis, um welchen Ihr mein Stillschweigen erkaufen könnt.«

»So sprecht,« sagte der Arzt mit einer Stimme, die nur zu deutlich die Furcht vor diesem verkommenen Menschen ausdrückte.

»Nun, ich habe Euch ja mitgetheilt, daß ich Willens bin, mich zur Ruhe zu setzen. Dünkt mir hier ganz angenehm, werde Euch keine Störung verursachen, bin ein guter Kerl, der Niemand in den Weg tritt, denke, wir werden zusammen ein recht vergnügtes Leben führen.«

»Das geht unmöglich,« entgegnete Setten jetzt mit fester Stimme, »Ihr müßt durchaus für immer aus dieser Gegend fort und treibt Ihr mich zum Aeußersten, so könnte es leicht kommen, daß Ihr mit leeren Händen ausginget.«

»Ueberlegt Euch das,« sagte, ohne im Mindesten durch diese Drohung eingeschüchtert zu werden, der Landstreicher, »habe Zeit – werde morgen wieder kommen – denke, es ist immer der Mühe werth, einen solchen Vorschlag zu beschlafen – dürfte immer besser sein, denselben anzunehmen, als sich den Händen der Criminalpolizei zu überliefern.«

Der Vagabond hatte sich bei diesen Worten erhoben, er drückte seinen alten zerknitterten Hut jetzt tief ins Gesicht und sagte nachlässig nickend:

»Gute Nacht denn, morgen komme ich wieder und dann, denke ich, werdet Ihr froh sein, den Contract mit mir abschließen zu können.«

Er stolperte zur Thüre hinaus, denn der im Ueberfluß genossene Branntwein hatte seine Schritte unsicher gemacht und während Setten noch mit sich kämpfte, ob er den Strolch zurückhalten oder seines Weges ziehen lassen sollte, war dieser bereits im Freien und begann wieder den Weg nach der Behausung des »schwarzen Peter« im Moor einzuschlagen. Kaum hatte er jedoch einige Schritte gethan, als ihm Caspar entgegentrat.

»Wohin?« fragte dieser – »scheinst verdrießlich, 's Geschäft ist wohl nicht nach Wunsch gegangen?« –

»Warum denn nicht,« antwortete sein Spießgesell, »liebe es aber nicht, mich in einer Sache zu übereilen, besonders wenn ich weiß, daß sie mir sicher ist.«

»Inzwischen seht Ihr Euch nach einem Nachtlager um. Hm, kann's mir denken, wüßte wohl einen Ort, wo Ihr im Ueberfluß schwelgen könntet.«

Der Strolch spitzte die Ohren. »Wird wohl was Rechtes sein,« brummte er.

»Nun, Eurer Person wegen wird ein vornehmer Herr freilich nicht solche Umstände machen, es geschieht vielmehr hier des Arztes wegen, versteht Ihr mich? – Es giebt noch mehr Leute, die es gern sähen, wenn ihm Eins angehängt würde und für Euch wäre außerdem ein hübsches Sümmchen zu verdienen.«

»So kommt,« entgegnete der Andere, »und erklärt Euch unterwegs deutlicher, ich werde dann sehen, zu was ich mich entschließe.«

 

Caspar mußte es wohl verstanden haben, den Landstreicher für seine Absichten zu gewinnen, denn schon eine halbe Stunde nachher stand er mit seinem Begleiter vor Herrn von Carlsdorf und etwas später saß der Vagabond an einem mit Speisen und Getränken reich besetzten Tisch und goß ein Glas Branntwein nach dem andern hinunter, bis er zuletzt, seiner Sinne, nicht mehr mächtig, auf ein Sopha taumelte und dort einschlief.

Wir haben gesehen, wie sich Herr von Carlsdorf, trotz seines feindseligen Auftretens gegen den Doctor Setten und ungeachtet er wußte, wie nahe derselbe Hedwig stand, dennoch dem Glauben hingab, daß, wenn derselbe nur erst einmal beseitigt, es ihm auch gelingen werde, dieser gegenüber zu einem günstigeren, den Wünschen seines Herzens entsprechenden Resultat zu gelangen. Wir haben auch gesehen, daß er zunächst dadurch seinen Nebenbuhler zu beseitigen suchte, daß er dessen Moralität und guten Ruf in den Augen des Fräuleins zu vernichten bemüht war.

Eine solche Handlungsweise steht keineswegs vereinzelt da, und sie tritt namentlich da hervor, wo Eitelkeit und Eigenliebe vorherrschend sind, und das höhere sittliche Gefühl von dem Einfluß unbezähmter Leidenschaften beherrscht wird. Der junge Edelmann, der beide Eigenschaften im reichen Maße besaß, war denn auch bald, wie wir gesehen haben, mit seinem Entschluß fertig, er wollte die Vortheile, welche er nach seiner Meinung über das Fräulein erlangt hatte, ungesäumt benutzen, er wollte diesem nochmals seine Hand anbieten und sollte dasselbe diese auch jetzt noch ausschlagen, so war er entschlossen, einen weiteren Schritt zu thun und ganz rücksichtslos gegen Setten aufzutreten.

Es giebt eine Art von Liebe, die nur in der Selbstsucht ihre Nahrung findet, und daher auch nur so lange in eine schöne glänzende Außenseite gehüllt hervortritt, als ihr kein Widerstand entgegengesetzt wird. Mit dem Vorsatz, entweder zu siegen oder die Vernichtung seines Gegners mit der äußersten Consequenz zu betreiben, begab sich daher Herr von Carlsdorf nach dem Gute des Landraths. Er traf zuerst mit Philippine zusammen, welche ihm scheu auszuweichen suchte und die ihn, als sie eine Begegnung mit ihrem Verwandten trotzdem nicht zu vermeiden vermochte, auf sein Befragen, wo Hedwig zu finden sei, mit wenigen kalten Worten nach dem Garten verwies.

Dorthin hatte sich die junge Dame unter den tausend Qualen, die ihr Herz bestürmten, geflüchtet. Sie wollte allein sein, denn selbst die tröstende Zusprache der Schwester gewährte ihr in diesem Augenblick nur geringe Beruhigung. Ihre einzige Hoffnung bestand noch darin, daß Setten erscheinen und ihr über die Begebenheiten der vergangenen Nacht eine genügende, ihn selbst rechtfertigende Erklärung geben würde, aber bis jetzt hatte dieser nicht das Geringste von sich hören lassen und wenn sie an seiner Unschuld auch immer noch nicht zweifelte und in der Scene, welche in der Hütte stattgefunden, eine boshafte Intrigue ihres Vetters vermuthete, so erfüllte sie das Ausbleiben des Arztes doch auch andererseits wieder mit quälenden Zweifeln, denn ihr Verstand sagte ihr, daß der Doctor es unter den waltenden Umständen für eine unaufschiebbare Pflicht hätte halten müssen, zu ihrer Beruhigung und in seinem eigenen Interesse unverweilt zu erscheinen.

Ein banges unheimliches Gefühl des Grauens erfaßte sie daher, als jetzt Herr von Carlsdorf plötzlich vor ihr stand und unwillkürlich machte sie eine abwehrende Bewegung, um ihm anzudeuten, daß er sich entfernen möge.

»Ich kann mir recht gut denken, Cousine, daß Dir mein Erscheinen in diesem Augenblick nicht angenehm ist,« sagte der junge Mann so einschmeichelnd wie möglich, »aber dennoch treibt mich nur ein wahres, aufrichtiges Interesse für Dich hierher und ich hoffe daher, Du wirst die Freundlichkeit haben, mich ruhig anzuhören.«

»Entferne Dich,« rief Hedwig nochmals und wollte selbst gehen.

»Nein, bleibe,« sagte Herr von Carlsdorf, ihr den Weg vertretend. »Bleibe, denn von dieser Unterredung mit Dir hängen meine ferneren Entschlüsse ab.«

Die junge Dame erbebte. Das Bild Settens trat in diesem Augenblick vor ihre Seele, sie fürchtete eine neue Gefahr für ihn.

»So sprich,« antwortete sie, noch immer mit abgewandtem Kopfe – »sprich und fasse Dich so kurz wie möglich.«

»Nun Hedwig,« begann ihr Verwandter, indem er seinen Blick fest auf sie richtete, »ich hoffe, die Begebenheiten dieser Nacht haben Dich von Deinem unglücklichen Wahn geheilt.«

Das Fräulein richtete sich stolz empor. »Willst Du mir Moral predigen, der Du selbst deren so wenig besitzest?« sagte sie, indem ihr Auge aufflammte.

»Ich verzeihe Dir diesen Ausfall, Du befindest Dich in einem aufgeregten Zustande. Was ich für Dich empfinde, beweist am Besten die Thatsache, daß ich auch jetzt noch vor Dir erscheine.«

»Auch jetzt noch? Was willst Du damit sagen?« fragte Hedwig streng.

»Nun, Du kannst doch nicht leugnen, daß Du mit diesem Menschen, dem nunmehr die Maske vom Gesicht gerissen worden ist, stark compromittirt bist.«

Die Wangen des Fräuleins überzogen sich mit einer tiefen Röthe; man sah, daß dieser rohe Angriff sie mehr wie alles Andere empörte.

»Du bist also so gnädig, mich Deines weiteren Umganges noch werth zu achten, nachdem, nach Deiner Ansicht, die Welt nunmehr mit Fingern auf mich zeigen wird?« rief sie, bitter auflachend. »Geh', ich verachte Dich jetzt gründlich und was Setten anbelangt, so hüte Dich, daß er in seinem gerechten Zorne Dir nicht die gebührende Züchtigung zu Theil werden läßt.«

Jetzt loderte aber auch das Auge des jungen Mannes in wilder Leidenschaftlichkeit auf.

»Du glaubst also immer noch an die Unschuld dieses Menschen,« rief er – »Du vertheidigst ihn und stoßest mich seinetwegen zurück! – Wohlan, verlangst Du die Beweise für seine Schuld? Ich kann sie Dir im vollsten Umfange geben!«

Hedwig erblaßte. Der Blick und die Sicherheit, womit diese Worte ausgesprochen wurden, ließen sie erbeben. Bevor sie sich aber zu einer Antwort zu sammeln vermochte, hatte Herr von Carlsdorf bereits seine Tactik geändert. Er blickte seiner Verwandten jetzt mit dem Ausdruck schmeichelnder Sanftmuth ins Gesicht und indem er seiner Summe einen möglichst milden Ausdruck zu geben versuchte, sagte er:

»Höre mich ruhig an, Hedwig. Es kann noch Alles wieder gut werden, aber diesen Menschen mußt Du für immer vergessen. Selbst wenn Du nicht wolltest, würde er doch von jetzt an todt für Dich sein. Betrachte diese Bekanntschaft mit Setten als einen düsteren Traum und erwache dagegen zu einem neuen Leben, indem Du meine Bewerbungen annimmst. Erhöre meine Bitten, erwiedere meine Liebe und ich will Alles thun, was in meinen Kräften steht, um Dein Leben zu einem glücklichen zu machen.«

Herr von Carlsdorf hatte, während er voll Leidenschaftlichkeit diese Worte aussprach, versucht, die Hand seiner Cousine zu ergreifen. Bei dieser Berührung schrak dieselbe nunmehr so heftig zusammen, als sei sie von einem giftigen Insekt berührt worden und sagte, indem sie selbst dabei einen Schritt zurücktrat:

»Berühre mich nicht und wage es nie mehr, solche Worte zu mir zu sprechen. Geh', ich verachte Dich aus dem Grunde meiner Seele, Dein Anblick ist mir zuwider, zwischen uns kann von nun an keine Gemeinschaft mehr bestehen!«

»Und jener Fremde?« rief der heftige junge Mann.

»Setten ist für mich kein Fremder; die Komödie, welche Du in dieser Nacht aufführtest, wird ihm nichts in meiner Achtung schaden.«

»Hedwig, ich bitte Dich nochmals, kehre um, Du treibst mich zum Aeußersten!«

»Ich verachte Deine Drohungen.«

»Mache nicht, daß der Gerechtigkeit ihr Lauf gelassen werden muß.«

»Hüte Dich selbst, daß Dich die Welt nicht als einen ehrlosen Verleumder kennen lernt!« rief das Fräulein in der höchsten Erregtheit.

Herr von Carlsdorf erblaßte. Eine dunkle Gluth schoß aus seinen Augen und mit bebenden Lippen rief er:

»Nimm diese Beleidigung zurück, ehe es zu spät ist!«

»Nein! Zeige erst durch Deine Handlungsweise, daß ich mich geirrt habe.«

»Welche unverbesserliche Hartnäckigkeit! Weißt Du was dieser Setten ist? –«

»Ein edler Mann.«

»Nein, ein Verbrecher!«

Ein Schmerzensschrei flog über der Dame Lippen.

»Ein Todtschläger!« fuhr der junge Mann mit Eiseskälte fort.

Jetzt griff Hedwig nach ihrem Herzen, sie begann zu wanken.

»Ein Mensch,« endete Herr von Carlsdorf unbarmherzig, »dessen sich die Hand der Gerechtigkeit schon in den nächsten vierundzwanzig Stunden bemächtigen wird.«

»Genug! Genug! – Fort aus meinen Augen, Unhold!« stöhnte das Fräulein und faßte nach der Lehne der Bank, um sich zu halten.

»Ich gehe,« antwortete ihr Vetter zornglühend, »und was nun weiter folgt, ist Deine Sache. Mögest Du nie die Verachtung bereuen, mit welcher Du mich von Dir gestoßen hast, aber ich fürchte, diese Reue wird früher kommen, als Du glaubst, und vergebens wirst Du Dich dann nach der Hand umsehen, welche Dich von dem Abgrund, an dessen Rande Du hin und her taumelst, zurückzieht.«

 

Er verließ mit stolz zurückgeworfenem Nacken den Garten und einige Minuten darauf saß er im Sattel und sprengte fort.

»Auge um Auge, Zahn um Zahn!« murmelte er, und lenkte sein Pferd der Haide zu. An der Hütte Caspars hielt er still und klopfte ans Fenster. Sogleich erschien derselbe und aus seinem verschmitzten Galgengesicht konnte man herauslesen, daß er bereits wußte, was nun kommen würde.

»Bist Du bereit?« fragte Herr von Carlsdorf.

»Ganz wie Euer Gnaden befehlen.«

»Wohlan, so begieb Dich nach dem Bureau des Landraths und klage den Doctor Setten des Todtschlages an. Fordere seine Verhaftung und erkläre, daß Du bereit seiest, für Deine Anklage Zeugen zu bringen. Der Kerl, welchen ich in meinem Hause eingeschlossen halte, ist zwar bis jetzt nicht nüchtern geworden, aber ich denke, man wird ihn schon zum Geständniß bringen, wenn er erst dem Criminalrichter gegenüber steht?«

»Denk' es auch, Gnaden, ist ein verteufelt Ding, so ein Verhör, weiß es aus Erfahrung.«

»Fort also, mache Deine Sache gut und rechne auf meine weitere Erkenntlichkeit.«

Caspar nickte bedeutungsvoll mit dem Kopfe. »Muß ein drollig Ding sein, den vornehmen Herrn in der Sträflingsjacke zu sehen,« murmelte er und entfernte sich, um seine Klage anzubringen.

 

Inzwischen hatte sich Hedwig von ihrer Bestürzung einigermaßen erholt, und wenn ihr Herz auch bei der Erinnerung dessen, was sie gehört hatte, erbebte, so erkannte sie doch auch wieder, daß sie keinen Augenblick zögern dürfe, sich Gewißheit über die schrecklichen Dinge, welche sie vernommen hatte, zu verschaffen.

Erst jetzt trat die Liebe, welche sie für Setten hegte, in ihrer ganzen Stärke bei ihr hervor, sie durchlief noch einmal die Zeit ihrer gegenseitigen Bekanntschaft, sie prüfte jede seiner Handlungen, sie erwog nach allen Seiten hin sorgfältig sein Verhalten, aber überall erkannte sie in ihm nur den edelen, von der reinsten Moral geleiteten, von den tugendhaftesten Grundsätzen getragenen Mann.

»Es ist unmöglich, daß er eine solche Schuld begangen hat, wie man sie ihm angedichtet,« murmelte sie, »es ist eine mit unerhörter Kühnheit ausgesprochene Verleumdung, um mich einzuschüchtern. Und diese plumpe Lüge sollte ich glauben, ich sollte ihn verurtheilen, einer Komödie wegen, die man geflissentlich verbreitete, um sie vor meinen Augen aufzuführen! … Aber warum ist er nicht schon erschienen, um mich zu beruhigen und mir persönlich die genügenden Aufklärungen zu geben?« fragte sie sich weiter und ihr Herz begann von Neuem unruhig zu schlagen – »war er sich dies nicht selbst schuldig, gebot ihm dies nicht die Liebe zu mir, die Achtung für meinen Vater und Philippine?« –

Von diesen auf sie einstürmenden Gefühlen abwechselnd bedrängt, zog sich die junge Dame auf ihr Zimmer zurück und ließ ihre Thränen reichlich fließen. Sie rang nach Fassung, sie flehte im heißen Gebet um Muth und Stärke und schien endlich zu einem festen Entschluß gelangt zu sein. Sie zog die Schwester an ihr Herz und theilte dieser in kurzen Worten die Unterredung mit, welche zwischen ihr und ihrem Vetter im Garten stattgefunden hatte; sie verhehlte auch nicht, welches Befremden bei ihr das Ausbleiben des Arztes hervorrief.

»Arme Hedwig,« antwortete Philippine, »Deine Lage ist eine schreckliche, und ich habe fast nicht den Muth, darüber weiter nachzudenken. Auch mir ist es nicht möglich, den Doctor für schuldig zu halten und doch tritt bei mir gleichzeitig die Frage Hervor, warum er sich in einem Augenblick von uns fern hält, wo sein Erscheinen so nothwendig wäre. Die einzige Möglichkeit, welche sich mir aufdrängt, besteht darin, daß er vielleicht krank ist.«

»Wohlan, etwas muß geschehen, um aus dieser schrecklichen Ungewißheit herauszukommen,« sagte das Fräulein, »und ich bin zu einem festen Entschluß gelangt.«

»Zu welchem?« fragte Philippine.

»Ich will Setten in seinem eigenen Hause aufsuchen, ich muß die Wahrheit erfahren und ich bin dessen gewiß, seine edele Natur wird sich nicht verleugnen, er wird mir jede Aufklärung geben, die ich begehre.«

»Ich lobe Deinen Muth,« entgegnete die Schwester, »und ich werde Dich auf diesem Gange begleiten.«

Hedwig drückte einen innigen Kuß auf Philippinens Lippen.

»Ich hatte dies von Dir erwartet,« flüsterte sie bewegt. »Du bist mir ja immer eine so treue, eine so liebe Schwester gewesen. Laß uns auf Gott vertrauen, daß er Alles noch zum Besten wenden werde, und sollte dennoch mich ein so schreckliches Unglück treffen, wie man mir verkündet hat, oh, dann werde ich doch wenigstens einen Arm haben, auf den ich mich stützen kann, wenn ich zerknickt und gebrochen in das Haus unseres Vaters zurückkehre.«

»Laß diese trüben Ahnungen,« entgegnete Philippine, indem sie liebevoll der Schwester die Thränen fortküßte, welche dieser von Neuem an den Wangen herunterliefen, – »fasse Muth und verliere den Glauben an Setten nicht, denn wie sich auch das Räthsel lösen mag, so bin ich doch überzeugt, daß er stets unserer innigen Theilnahme, unseres wärmsten Mitgefühls werth bleiben wird.«

Es dämmerte bereits, als sich die Geschwister auf den Weg machten. Je mehr sie sich dem Hause des Arztes näherten, um so in sich gekehrter, um so stiller wurde Hedwig, und indem sie ihren Arm auf den Philippinens stützte, vermochte sie nicht, ein leises Zittern zu unterdrücken.

»Ich gewahre in seiner Studierstube Licht,« sagte sie endlich, indem sie zu den Fenstern der einsam gelegenen Wohnung emporblickte.

»Und sieh, die Thür seines Hauses ist nur angelehnt,« fügte Philippine hinzu, »scheint es doch fast, als wenn er uns erwartet hätte.«

»Gerade diese Sorglosigkeit beängstigt mich,« flüsterte die ältere Schwester und setzte zögernd den Fuß auf die Schwelle.

»Ich werde Dich hier erwarten,« sagte Philippine mit zarter Zurückhaltung, »es giebt Sachen, die man lieber unter vier Augen sagt, und meine Gegenwart möchte nur störend sein.«

Hedwig drückte der Sprecherin dankend die Hand und ihren ganzen Muth zusammenraffend, schlüpfte sie jetzt in das Haus und stieg unter einem schweren Seufzer die wenigen Stufen hinauf, welche zu dem Zimmer des Arztes führten. Als sie mit einem leisen Druck dasselbe öffnete, blieb sie einen Augenblick regungslos stehen. Den Kopf in die Hand gestützt, saß dieser an dem mit Büchern bedeckten Tisch und blickte starr und regungslos vor sich hin. Sein Gesicht war bis zur tiefsten Blässe herabgesunken und auch in seinem Anzuge konnte man eine gewisse Vernachlässigung bemerken. Vor ihm lag ein zugesiegeltes Packet, in seinen Zügen aber drückte sich eine Resignation aus, welche deutlich erkennen ließ, daß er nach einem langen schmerzlichen Kampfe schließlich zu einem festen Entschluß gelangt war.

Das Rauschen von Hedwigs seidenem Kleide störte ihn in seinem Brüten auf und erschrocken, als stehe eine überirdische Erscheinung vor ihm, richtete er sich empor.

Aber auch das Fräulein erbebte. Dieses von Sorgen und Gram erfüllte Antlitz verkündete ihr nichts Gutes; dieses trübe in Schmerz gehüllte Auge, welches sich jetzt, Vergebung stehend, auf sie richtete, schien anzudeuten, daß sein Inneres schwer belastet sei.

Dennoch raffte die junge Dame ihren ganzen Muth zusammen und indem sie Setten jetzt einen Schritt näher trat, sagte sie mit sanfter, wenn gleich zitternder Stimme:

»Ich komme hierher, um die Angst, welche mich erfüllt, zu beschwichtigen. Sprechen Sie, warum halten Sie sich gerade in einem Augenblick fern von mir, wo Sie es doch zunächst für Ihre Pflicht hätten ansehen müssen, mein Herz zu beruhigen? –«

»Darf sich der Schuldige der Unschuldigen, der Unreine der Reinen noch nahen?« fragte der Arzt mit hohler Stimme, indem sich sein Blick fast gläsern auf Hedwig richtete.

Diese stieß einen leisen kurzen Schrei aus und indem sich ihr angsterfülltes Auge mit einem Ausdruck auf den Doctor heftete, als hange davon für sie Leben oder Tod ab, fragte sie mit fast tonloser Summe:

»Sie bekennen sich also schuldig?« –

Jetzt sank der Arzt auf seine Knie und indem er seine Hände stehend emporhob und in das marmorbleiche Antlitz des Fräuleins blickte, sagte er in einem Tone, der so leidend, so rührend und klagend klang, daß Hedwig sich dessen mächtiger Wirkung nicht zu entziehen vermochte:

»Ob irdische Richter mich schuldig finden werden, weiß ich nicht, vor Gott aber, welcher Barmherzigkeit übt, und welcher Zeuge jener unglückseligen That war, hoffe ich Gnade zu finden.«

»Zeuge jener unglückseligen That?« … und Hedwig erbebte von Neuem – »Sie haben also eine That begangen, die sich in ein dunkles Geheimniß hüllt, welches Sie der Welt nicht wollen offenbar werden lassen?«

Der Arzt senkte den Kopf. »Vergebung, Vergebung,« schluchzte er, »für die neue Sünde, welche ich beging, als ich meine schuldbewußten Blicke zu Ihnen erhob und von Hoffnungen sprach, welche nun nimmermehr in Erfüllung gehen können! Aber ich bin nur ein Mensch und hatte nicht die Kraft, dem Zauber zu widerstehen, der mich seit dem ersten Augenblick, wo ich Sie sah, so wunderbar gefesselt hielt; ich fühlte, wie dieses kranke, zum Tode verwundete Herz im Umgang mit Ihnen allmälig wieder zu genesen begann, ich hatte endlich gehofft, daß Gott in dem aufrichtigen Streben, mich unverdrossen dem Dienst der leidenden Menschheit zu widmen, eine genügende Buße für eine unglückliche dunkele That finden möchte und daß die Thränen, die ich so häufig bei Anderen trocknete, auch endlich die meinigen, welche ich in schlaflos durchwachten Nächten so häufig vergoß, versiegen lassen würde.«

»Eine unglückliche dunk'le That,« wiederholte Hedwig mit bebender Stimme – »oh Herr des Himmels, welche Prüfung hast Du mir auferlegt! So hatten also die Worte, welche jener verkommene Mensch in der Hütte im Moor gesprochen, eine geheimnißvolle Bedeutung?« –

»Sie hatten es,« erwiderte der Arzt fast tonlos. »Und bald wird dieses Geheimniß der Welt bekannt sein – als einen Verbrecher werden sie mich auf die Anklagebank führen und als einen Mörder wird man Gericht über mich halten!«

»Sie ein Mörder?« rief Hedwig, indem sie mit starren, weitgeöffneten Augen den Arzt anstarrte und seinen Arm krampfhaft umfaßte – »Sie ein Mörder? Widerrufen Sie dies schreckliche Wort, Setten, treiben Sie nicht ein so grausames Spiel mit meinem Herzen, welches dem Brechen nahe ist.«

»Oh könnte ich es!« seufzte der Doctor, »und doch – ein Trost, eine Beruhigung bleibt mir, welche mir den Muth giebt, auch jetzt noch meinen Blick zu Ihnen zu erheben. Haben Sie die Kraft, mich anzuhören?«

»Sprechen Sie,« stöhnte das Fräulein.

»Werden Sie glauben, daß ich die Wahrheit sage?« –

Die junge Dame schwieg eine Secunde. Dann aber hob sie ihr Auge plötzlich mit dem Ausdruck unendlicher Theilnahme zu dem unglücklichen Mann und sagte mit fester Stimme:

»Ich werde Ihnen glauben – ich weiß, daß Sie keiner Unwahrheit fähig sind.«

»Oh Dank, Dank für diese Worte, welche Balsam in mein Herz träufeln!« und der Arzt erzählte jetzt in warmer beredter Weise jene Episode aus seinem Leben, wo ein unglücklicher Schlag den Wucherer getödtet hatte.

Als er mit seiner Mittheilung zu Ende war, richtete sich sein Blick auf Hedwig, die einen Augenblick ihr Gesicht mit beiden Händen bedeckt hielt, während sich ihr Kopf ergebungsvoll niederbeugte. Wie sie aber jetzt die Arme niedersinken ließ und ihr Antlitz wieder frei wurde, begegneten ihm ein paar Augen, die zwar mit Thränen gefüllt waren, welche aber in himmlischer Milde, mit dem sanften Erbarmen eines Engels ihm entgegenleuchteten.

»Vergebet, so wird Euch wieder vergeben,« sagte sie mit sanfter Resignation, »und was der Herr beschlossen hat, das möge geschehen, ich werde es in Demuth und mit christlichem Muth ertragen. Wenn auch die Welt Sie verurtheilen sollte, ich vermag es nicht; ich werde in Ihnen nur immer den Unglücklichen erkennen und täglich wird sich mein heißes Gebet zu Gott wenden, daß er Ihnen wegen dieser beklagenswerthen That ein gnädiger und milder Richter sein möge!«

Der Arzt war auf seine Kniee gesunken und erfaßte jetzt die Hände der Sprecherin, welche diese ihm willig überließ. Er seufzte, wie erleichtert, tief auf und blickte die junge Dame mit dem Ausdruck unaussprechlichen Dankes an.

»Oh, ich weiß wohl, ich verdiene solche Engelsgüte nicht,« rief er, »aber sie giebt mir doch die Kraft, den bitteren Gang anzutreten, welcher mir bevorsteht! Und nun Hedwig – gestatten Sie, daß ich Sie noch einmal bei diesem theuren Namen nenne – nun Hedwig, gewähren Sie mir auch dafür Verzeihung, daß ich Sie so freventlich in mein Geschick verflechten konnte, daß ich es wagte, einem so reinen Herzen, wie das Ihrige ist, zu nahen, daß ich ein neues Verbrechen beging, indem ich Ihre Ruhe vernichtete und Ihren Ruf und Ihre Zukunft gefährdete!«

»Ich bin auf das Urtheil der Welt gefaßt und habe mit dem Leben abgeschlossen,« entgegnete das edele Mädchen, »ich werde mich in mein Schicksal finden und das Loos, welches mir beschieden ist, mit Gottergebung tragen. Jetzt handelt es sich um Sie, und darum beantworten Sie mir die Frage, was gedenken Sie zu thun?«

»Ich will ruhig abwarten, was über mich verhängt wird.«

»Nein, Sie müssen fliehen. Handelte es sich um jenen verwahrlosten Menschen allein, so läge es vielleicht noch in Ihrer Macht, ihn zu beschwichtigen, aber es giebt noch einen Zweiten, welcher um dieses schreckliche Geheimniß weiß, und dessen Mitleid würden Sie vergebens ansprechen, denn sein Ziel ist Ihre Vernichtung und Ihre Schande.«

»Ich weiß, wen Sie meinen,« entgegnete der Doctor, »es ist Ihr Verwandter, der Herr von Carlsdorf. Aber fliehen werde ich nicht, ich will mich den Händen des Gerichts überliefern, denn dies ist der einzige Weg, auf welchem ich beweisen kann, daß ich kein gemeiner Verbrecher bin, sondern daß nur ein unglücklicher Zufall den Tod jenes Mannes, an dessen Ende ich schuld bin, herbeiführte.«

»So stärke Sie Gott auf dem bitteren Gange, der Ihnen bevorsteht,« antwortete das Fräulein, und wenn es etwas dazu beitragen kann, Ihren Muth und Ihre Kraft zu erhöhen, so nehmen Sie hiermit nochmals die Versicherung hin, daß ich ohne Haß und ohne Bitterkeit von Ihnen scheide.«

»Noch Eins,« sagte der Arzt, und griff nach dem versiegelten Packet. »Wir werden und dürfen uns nie wiedersehen. In dieser ernsten Stunde, wo ich einen ewigen Abschied von Ihnen nehme, werden Sie mir nicht die letzte Bitte verweigern. Hier Hedwig, ist mein Vermächtniß; führen Sie es aus, denn von nun ab gehöre ich für Sie zu den Todten.«

»Zu den theuren, unvergeßlichen Todten,« schluchzte das Fräulein, das den Gefühlen seines Herzens, die es so lange gewaltsam zurückgehalten hatte, nun nicht länger mehr Widerstand zu leisten im Stande war, »und wie auch die Welt über Sie urtheilen mag, in meinen Augen werden Sie stets nur ein armer Beklagenswerther sein, den des Schicksals eiserne Hand in einem unglücklichen Augenblick auf das Härteste getroffen hat.«

Diese letzten Worte sprach die junge Dame bereits mit abgewandtem Gesicht, denn sie hatte sich angeschickt das Zimmer zu verlassen, doch ruhte dabei ihre Hand noch einmal in der des Doctors, welcher einen heißen innigen Kuß auf dieselbe drückte. In der nächsten Minute stand sie neben ihrer Schwester, die sie mit Bangigkeit erwartete.

»Komm,« sagte Hedwig zu Philippine gewendet, wobei ihr Körper von Fieberfrost geschüttelt wurde, »komm und laß uns diesen Ort verlassen, welcher für uns von jetzt an nur eine Stätte der Trauer sein wird.«

»Um Gotteswillen, was ist vorgefallen?« rief die Jüngere der Geschwister angstbeklommen, »sprich, bringst Du wirklich keinen Trost? – ist Setten in Wahrheit so schuldig, wie der Vetter ihn anklagt?«

»Nein, dem Himmel sei Dank, er ist kein Verbrecher! Aber er ist ein Unglücklicher und,« flüsterte Hedwig sich zu dem Ohr Philippinens neigend, mit matter tonloser Stimme, »er ist für mich auf immer verloren!«

Ein Ausruf angstvoller Ueberraschung entschlüpfte den Lippen Philippinens und unwillkürlich blieb sie einen Augenblick stehen, um sich über diese für sie so rätselhaften Worte eine nähere Erklärung zu erbitten. Aber hastig zog Hedwig sie mit sich fort, indem sie dabei murmelte:

»Komm, komm, Du wirst noch Zeit genug haben, mit mir zu weinen. Jetzt laß uns eilen, damit wir das väterliche Haus wieder erreichen, denn meine Füße sind so schwer wie Blei und dieses nächtliche Dunkel erregt bei mir Furcht und Grauen, denn es ist das Abbild meines künftigen Geschickes!«

 

Während die Geschwister auf diese Weise schweigend durch die Nacht fortschritten, hatte sich inzwischen auch bei dem Freiherrn etwas ereignet, was diesen ebenfalls in die heftigste Unruhe und Aufregung versetzte.

Es war gerade die Zeit, wo er sich in seinem Bureau befand, als an die Thüre desselben geklopft wurde und Caspar, der Haidebewohner, eintrat.

»Haben Euer Gnaden Zeit, mich auf ein paar Minuten anzuhören?« fragte er in seiner gewöhnlichen kriechenden Weise. Der Landrath warf dem zerlumpten Kerl einen strengen Blick zu. »Was wollt Ihr?« fragte er kurz, »man ist doch sonst nicht gewohnt, Euch hier zu sehen.«

»'s ist auch eine absonderliche Veranlassung, die mich hierher führt, Gnaden,« antwortete der Vagabond.

»Nun, was wollt Ihr also?«

»Hm, hab' lange mit mir Rath gehalten, was ich thun sollte, aber am Ende kam ich doch zu dem Resultat, daß das Gesetz für Jedermann gemacht ist, und daß nicht blos Unsereiner die strafende Hand der Gerechtigkeit zu fürchten brauche.«

»Nun, macht es kurz,« sagte verdrießlich der Landrath. »Habt Ihr irgend eine Denunciation anzubringen? – fast scheint es so.«

Caspar nickte mit dem Kopfe und ein höhnisches Lächeln glitt über seine Lippen. »Gnaden haben's errathen,« sagte er – »ja, ich habe eine Anklage zu Protokoll zu geben.«

»Gewiß gegen einen ähnlichen Landstreicher, wie Ihr seid. Warum habt Ihr dies nicht mit dem Gensdarm abgemacht und belästigt mich damit?«

»Weil es sich hier um ein Verbrechen handelt, welches nicht ein armer Teufel, sondern ein vornehmer Herr begangen hat,« antwortete der Haidebewohner und nahm eine trotzige, herausfordernde Stellung an.

Jetzt horchte der Landrath auf. »Ein Verbrechen?« wiederholte er – »hütet Euch, daß Ihr nichts sagt, was Ihr nicht beweisen könnt, man möchte Euch das nicht so hingehen lassen.«

»Soll das etwa eine Drohung sein?« fragte Caspar, indem er sich mit unverkennbarer Unverschämtheit emporrichtete und den Baron mit frecher Dreistigkeit anblickte. Dieser erinnerte sich schnell, daß er sich in diesem Augenblick auf seinem Bureau befinde und als Magistratsperson in amtlicher Function sei. Er that also, als überhöre er die zuletzt von dem Vagabonden an ihn gerichtete Frage, welche ziemlich deutlich wie eine Herausforderung klang, gänzlich und fragte dagegen kurz:

»Nun, worin besteht die Anklage, die Ihr zu erheben beabsichtigt? Ihr seht, ich bin bereit Euch anzuhören.«

»Es handelt sich um einen Todtschlag, der vor vielen Jahren begangen worden ist und ich denuncire hiermit gegen den Thäter.«

»So nennt dessen Namen, damit ich ihn im Protokoll mit aufnehmen kann.«

Caspar stockte einen Augenblick, aber nicht aus Verlegenheit, sondern aus boshafter Schadenfreude über den Triumph, welchen er nach seiner Meinung über den Landrath zu feiern im Begriff stand.

»Nun, der Name?« rief dieser ziemlich barsch.

»Der Name? – Ja so, halten's zu Gnaden, das ist richtig. Ich gebe also zu Protokoll, daß der Arzt dort, oben auf dem Berge, der Doctor Setten, vor fünfzehn Jahren einen Mann meuchlings ermordet hat.«

Der Baron schnellte von seinem Platz in die Höhe, sein Gesicht war so blaß wie der Kalk geworden.

»Wiederholt mir die Sache noch einmal,« sagte er mit einer Stimme, deren bebenden Ton er vergebens zu unterdrücken bemüht war.

»Daß der Doctor Setten vor fünfzehn Jahren meuchlings einen Mann ermordet hat,« repetirte der Vagabond.

»Und ein solches Märchen glaubt Ihr mir aufbinden zu können?« rief jetzt der Landrath zornglühend – »als ein ausgemachter Taugenichts seid Ihr zwar schon seit Langem bekannt, aber daß Eure Frechheit so weit reichen würde, hätte ich doch nicht gedacht. Gewiß glaubt Ihr den Doctor durch eine solche schurkische Anklage einzuschüchtern, um von ihm ein gutes Stück Geld zu erpressen?«

»Ich brauche kein Geld,« antwortete der Strolch, indem er in seine Tasche faßte und eine Handvoll harter Thaler hervorholte. »Euer Gnaden mögen sich überzeugen, daß ich keine Noth leide und es handelt sich jetzt nur, um die Frage, ob Sie meine Denunciation annehmen oder zurückweisen wollen?«

»Natürlich werde ich thun, was meine Pflicht mir gebietet,« erwiederte stolz der Landrath, »aber merkt es Euch wohl, wenn Ihr mir nicht die Beweise für eine solche Anklage sofort zur Stelle schaffen könnt, so werde ich Euch unverweilt, kraft meiner Befugnisse, festnehmen lassen.«

Caspar grinzte höhnisch. »Gnaden möchten daran ganz recht thun,« sagte er trocken, »aber dieser Fall wird nicht eintreten, denn ich habe einen Zeugen, der dabei gegenwärtig war, als die That geschah, und ich bin bereit diesen Zeugen auf der Stelle herbeizuschaffen.«

»Gerechter Gott, wäre es möglich!« erseufzte Herr von Meisdorf im Stillen, und seine ganze Kraft zusammennehmend, fügte er laut hinzu:

»Ihr scheint also Eurer Sache ziemlich gewiß zu sein?«

»Völlig gewiß, Euer Gnaden.«

»Und wo befindet sich Euer Zeuge?«

»Beim Herrn von Carlsdorf.«

»Wie, bei meinem Verwandten?« und der Landrath zuckte unwillkürlich zusammen.

»Ja, bei dero Verwandten,« versetzte der Vagabond.

Herr von Meisdorf trat an einen Schellenzug und setzte denselben hastig in Bewegung. Im nächsten Augenblick stand ein Gensdarm im Ordonnanz-Anzug vor ihm.

»Begleiten Sie diesen Menschen sofort zu meinem Vetter, dem Herrn von Carlsdorf, lassen Sie sich den Mann, welcher sich dort aufhält, übergeben und führen Sie mir Beide unverweilt wieder vor.«

»Vorwärts!« sagte der Gensdarm zu Caspar gewendet, und verschwand mit diesem.

Jetzt sank der Freiherr erschöpft in einen Sessel und bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen. »Wenn es wahr wäre,« murmelte er, »wenn dieser Mann, der sich stets nur von der reinsten und edelsten Seite zeigte, wirklich ein solches Verbrechen begangen hätte! … Unmöglich! Unmöglich! und doch … Kenne ich seine Vergangenheit? – Weiß ich, welches Geheimniß in der Tiefe seines Herzens schlummert? … O mein armes Kind! mein armes Kind! möge der Himmel Dich, möge er uns Alle vor einem solchen Unglück bewahren!«

 

Während der Baron mit gesenktem Haupte und kummerschweren Mienen im Zimmer auf- und abschritt, war der Gensdarm auf dem Gute des Herrn von Carlsdorf mit dem Haidebewohner angelangt. Während der Letztere zu dem jungen Manne eintrat, postirte sich der Erstere im Vorzimmer, um Caspar nicht aus den Augen zu verlieren.

Herr von Carlsdorf sprang auf. »Nun,« flüsterte er, »habt Ihr die Klage angebracht?«

»Ist geschehen, Gnaden.«

»Gut. Kommt morgen wieder, dann wollen wir das Weitere besprechen.«

»Es geht nicht,« erwiederte Caspar und zeigte mit einer entsprechenden Geberde nach der Thüre.

»Es geht nicht? Was wollt Ihr damit sagen?«

»Ich bin von einem Gensdarm begleitet.«

»Von einem Gensdarm?«

»Ja. Und er hat Befehl, das alte Branntweinfaß, welches Sie oben im Zimmer eingeschlossen halten, sofort dem Herrn Landrath vorzuführen.«

»Als Zeuge?«

»Freilich. Gnaden können wohl denken, daß man mir allein nicht vielen Glauben schenkt.«

»Das ist gerade in diesem Augenblick eine schlimme Sache,« entgegnete Herr von Carlsdorf, indem er verlegen im Zimmer auf und abschritt. »Der Durst dieses Kerls ist ja gar nicht zu löschen und obgleich er bereits den ganzen Tag getrunken hat, so droht er, daß beim Verhör kein Wort über seine Lippen kommen würde, wenn er nicht noch mehr Branntwein erhielte. Da habe ich ihm denn den großen Krug abermals füllen lassen und jetzt wird er wohl schon längst wie ein Vieh unter dem Tisch liegen.«

»Dann müssen wir ihn wach rütteln,« entgegnete Caspar, »allein darf ich nicht zurückkehren.«

»Wo ist der Gensdarm?«

»Draußen im Vorzimmer.«

Herr von Carlsdorf öffnete die Thüre und bat diesen einzutreten.

»Wie ich höre,« sagte er, »sind Sie beauftragt, einen Menschen abzuholen, der sich zufällig bei mir aufhält.«

»Ja, der Herr Landrath haben befohlen.«

»Aber der Kerl ist ein Säufer und ich fürchte, gerade jetzt wird er nicht mehr im Stande sein, ein Bein zu heben. Können Sie nicht morgen früh wieder bei mir ansprechen?«

»Ich bedauere, ich habe strengen Befehl.«

»Nun dann,« sagte Herr von Carlsdorf, »so folgen Sie mir, mögen Sie sehen, wie Sie den Strolch fortschaffen.«

Er hatte ein Licht ergriffen und stieg jetzt, von dem Gensdarm und von Caspar gefolgt, eine Treppe empor. Am Ende eines langen Corridors blieb er stehen und zog einen Schlüssel hervor. Kaum hatte er denselben im Schloß herumgedreht und die Thüre geöffnet, als er einen Ausruf des Schreckens ausstieß und zwei Schritte zurückprallte. In der That war der Anblick, welcher sich darbot, auch grausenerregend genug. Der Vagabond, welchen wir zuerst in der Hütte im Moor kennen gelernt haben, lag ausgestreckt am Fußboden, während sein Gesicht blau unterlaufen war und seine stieren, verglasten Augen aus den unterlaufenen Höhlen geöffnet hervortraten. Ein umgestürztes Branntweinglas, dessen Inhalt auf den Tisch geflossen war, zeigte, welcher Beschäftigung sich der Landstreicher noch eben hingegeben hatte.

»Er ist todt,« sagte Caspar näher tretend und seinen Spießgesellen kalt und theilnahmlos in das verzerrte Antlitz sehend.

»Er ist wirklich todt,« bemerkte der Gensdarm.

»Der Schlag scheint ihn gerührt zu haben, dies kommt häufig bei so unverbesserlichen Säufern vor.«

»Wie soll ich nun aber den Beweis für meine Anklage führen?« murmelte Caspar.

Herr von Carlsdorf zuckte mit den Achseln und biß sich auf die Lippen. Er dachte mehr an sich selbst, wie an den verkommenen Menschen, dem er es überließ, sich so gut es ging herauszulügen. Die Brücke zwischen ihm und Hedwig, das erkannte er wohl, war jetzt für immer abgebrochen und da auch die Anklage gegen den Doctor fallen gelassen werden mußte, so fand selbst seine Rachsucht nicht die gewünschte Befriedigung.

Mit einer Geberde des Abscheus wendete er sich endlich von dem Todten und verließ mit seinen Begleitern das Zimmer.

»Ich werde morgen einen Arzt kommen lassen, damit er den üblichen Todtenschein ausstellt,« sagte er zu dem Gensdarmen, »einstweilen melden Sie dem Landrath das Vorgefallene und ist es nothwendig, so kann ja noch immer ein Protokoll an Ort und Stelle aufgenommen werden.«

 

Während sich dies auf dem Gute des Herrn von Carlsdorf ereignete, schritt der Landrath noch immer in heftiger Bewegung auf und ab. In der gesammten Umgegend war es bekannt, in welchem engen Verhältniß Doctor Setten zu ihm und seiner Familie stand; man erwartete täglich die Ankündigung der Verlobung des Letzteren mit Hedwig, und nun drohte plötzlich die gegen den Arzt erhobene Anklage den Frieden seiner geliebten Tochter, den bisher so fleckenlosen Ruf Settens auf das heftigste zu erschüttern. Der Ankläger war freilich nur ein verwilderter, fast aus der menschlichen Gesellschaft gestoßener Mensch, aber er hatte sich ja auf einen Zeugen berufen, der der That beigewohnt, er hatte versprochen diesen Zeugen zur Stelle zu schaffen, und der Umstand, daß sein Neffe den Letzteren bei sich aufgenommen und sorgsam zu hüten schien, ließ einen ernsten Ausgang vermuthen. Dann trat wieder das Bild des Arztes vor seine Seele, dessen sanftes Wesen, dessen reine Grundsätze, dessen teilnehmendes Herz für die Leiden Anderer, und wenn er dies Alles in Betracht zog, so kam er zu dem Resultat, daß ein solcher Mann nicht hatte fähig sein können, ein gemeines Verbrechen zu begehen und er hoffte daher, daß bei einer stattfindenden Untersuchung eine Reihe von Umständen hervortreten würde, welche die Schuld des Doctors in einem völlig veränderten, zu seinen Gunsten sprechenden Lichte würde erscheinen lassen.

Am meisten fühlte sich sein Vaterherz bei dem Gedanken an Hedwig ergriffen und während er jetzt, in Schmerz versunken und in tiefe Gedanken verloren am Fenster stand, öffnete sich plötzlich geräuschlos die Thüre und in der nächsten Secunde stand die geliebte Tochter dem tiefbekümmerten Vater gegenüber.

Er zuckte zusammen, als er sein geliebtes Kind, dessen Lebensglück in so unvorhergesehener Weise auf dem Spiel stand, vor sich sah; als er aber jetzt ihre Hand ergriff und ihr in das tiefbekümmerte Antlitz, in die noch von Thränen gerötheten Augen blickte, da drängte sich eine Ahnung bei ihm auf, daß auch vor ihren Blicken bereits der Schleier dieses furchtbaren Geheimnisses gelüftet sein müsse.

In der That gebrach es ihm in diesem Augenblick an Muth, eine hierauf Bezug habende Frage an Hedwig zu richten, indessen kam ihm diese hierbei hülfreich entgegen, denn, indem sie ihren Kopf an die Schulter des Freiherrn lehnte, lispelte sie gleichzeitig:

»Ich bin von Allem unterrichtet.«

Ein tiefer Seufzer entrang sich der Brust des Landraths, dann, indem er das geliebte Kind noch inniger an sich zog, antwortete er:

»Gott gebe Dir Trost und Stärke, meine gute Tochter, ich vermag es nicht!«

»Bei solchen Prüfungen kann allerdings die Beruhigung nur von dorther kommen,« antwortete sie resignirt, »und Dank sei dem Herrn, sie ist auch nicht ausgeblieben. Ich kenne die Anklage, welche man gegen Setten erhoben, aber ich weiß jetzt auch, daß er kein Mörder, sondern ein unglücklicher, beklagenswerther Mensch ist.«

Des Freiherrn Augen leuchteten auf. »Oh, wenn sich das beweisen ließe,« rief er, »so würde ich gern die Hälfte meines Vermögens hingeben.«

»Hoffen wir, mein Vater, daß dies gesehen wird. Ich war auf dem Berge.« –

»Du warst bei ihm?«

»Ja, mein Vater, ich war bei ihm; ich mußte und wollte von ihm selbst hören, welche Bewandtniß es mit dieser furchtbaren, gegen ihn erhobenen Beschuldigung habe.«

»Und was hast Du erfahren?«

»Daß er allerdings einen Menschen tödtete, aber absichtslos, indem er zu seiner eigenen Vertheidigung den Stock gegen ihn erhob,« und das Fräulein erzählte nun den Hergang jener unglücklichen Begebenheit, deren nähere Details die Leser bereits wissen.

»Ich glaube mit Dir,« sagte der Landrath, »daß es sich mit dieser dunkelen Geschichte so verhält, wie der Doctor behauptet. Aber einer gerichtlichen Untersuchung wird er doch nicht entgehen können und dann hängt der Ausgang derselben hauptsächlich von der Aussage der Zeugen ab.«

»Und von deren Glaubwürdigkeit,« fügte Hedwig hinzu. »Ein obdachloser Landstreicher, ein gänzlich verkommener Mensch, dem man vielleicht noch gar nachweisen kann, daß er bestochen worden ist.«

Der Baron wollte hierauf eben Etwas erwidern, als sich die Thüre öffnete und der Gensdarm mit Caspar eintrat.

»Nun, bringen Sie den Zeugen?« fragte der Freiherr.

»Nein, Herr Landrath.«

»So habt Ihr also gelogen,« rief Herr von Meisdorf, indem er auf den Haidebewohner einen zornigen Blick warf.

»Verzeihen Euer Gnaden. Wer kann für unvorhergesehene Fälle.«

»Was soll das bedeuten?« fragte der Landrath, sich an den Gensdarmen wendend.

»Der Mensch, welchen ich hierher bringen sollte,« antwortete dieser, »ist todt; wir fanden ihn entseelt am Boden liegen, das leere Branntweinglas noch neben ihm.«

Hedwig faltete andächtig die Hände, ein heißes Dankgebet schien über ihre Lippen zu gleiten.

»Nun, wollt Ihr Eure Anklage auch jetzt noch aufrecht halten?« fragte der Freiherr, sich zu dem Haidebebewohner wendend.

»Gnaden wollen verzeihen. Wenn es ginge, wäre es mir lieb, wenn ich die Anklage zurücknehmen könnte.«

»Ich berede Euch zu Nichts, ich bin auch jetzt noch bereit, Euch zu Protokoll zu nehmen. Aber merkt es Euch wohl, wenn eine unsaubere Geschichte zum Vorschein kommt, wenn es sich herausstellt, daß Ihr bestochen worden seid.« –

»So giebt es Zuchthaus und dazu habe ich keine Lust,« ergänzte der Landstreicher.

»Ihr verzichtet also auf Eure Vernehmung?«

»Ja, Gnaden, ich verzichte darauf – ich wasche meine Hände in Unschuld.«

»Geht,« rief jetzt der Landrath mit donnernder Stimme. »Ihr seid ein elender Mensch und vorläufig mögt Ihr Euch entfernen. Aber morgen habt Ihr Euch wieder hier einzufinden, denn wenn die von Euch erhobene Beschuldigung auch jetzt in Nichts zerfällt, so halte ich es doch für angemessen, Eure Erklärung zu Protokoll zu nehmen.«

»Wie Euer Gnaden befehlen,« erwiderte Caspar in seiner gewöhnlichen schleichenden Weise und entfernte sich unter einer heuchlerischen demüthigen Verbeugung.

 

Kaum war er aber im Freien und sah sich unbemerkt, so schlug er statt zu seiner Hütte, den Weg nach dem Gute des Herrn von Carlsdorf ein.

»Fängt mir an hier nicht mehr recht geheuer zu sein,« brummte er– »giebt noch so verschiedene alte Geschichten, die bei nächster Gelegenheit zur Sprache kommen könnten. Werde mich also kurz resolviren und einen Abschied für immer von dieser Gegend nehmen, will mir aber dazu erst das nöthige Reisegeld holen.«

Eine Viertelstunde darauf stand er vor Herrn von Carlsdorf, der sich eben auch nicht in der besten Stimmung befand.

»Nun, was wollt Ihr?« fragte er den Vagabonden barsch.

»Gnaden verzeihen. Komme nur eine bescheidene Anfrage zu halten.«

»Nun was giebt's – macht es kurz!«

»Soll geschehen, Gnaden. Habe mich entschlossen, diese Gegend für immer zu verlassen.«

»Daran thut Ihr recht,« antwortete Herr von Carlsdorf, welcher seine guten Gründe hatte, diesem Entschluß Beifall zu zollen.

»Fehlt mir nur noch eine Kleinigkeit,« fuhr der Landstreicher fort, »und dieserwegen möchte ich eben mit meinem Patron und Gönner Rücksprache nehmen.«

Herr von Carlsdorf erröthete vor Zorn und Scham über diese vertrauliche Sprache des Vagabonden.

»Ich bin weder Euer Patron noch Gönner,« antwortete er im stolzen, wegwerfenden Tone, »ich habe Euch gebraucht und dafür bezahlt, und jetzt macht, daß Ihr fortkommt.«

»Ich werde sogleich gehen, Gnaden, aber ich brauche fünfzig Thaler.«

»Und wenn ich Euch dieselben nicht gebe?«

»Ja dann,« antwortete Caspar trocken, »dann werde ich mich bei meiner Vernehmung vor Gericht genöthigt sehen, der Wahrheit gemäß zu erklären, daß ich von Euer Gnaden in dieser Sache wider den Doctor bestochen worden bin.«

Herr von Carlsdorf biß sich auf die Lippen. Sein Ehrgefühl war doch noch nicht so erstorben, um sich der Gefahr auszusetzen, in einer so schmutzigen Sache als Beschuldigter einem solchen Strolch, der in der ganzen Umgegend auf das Uebelste berüchtigt war, gegenübergestellt zu werden. Fünfzig Thaler konnte er leicht entbehren, aber in eine Criminaluntersuchung verwickelt zu werden, und noch dazu sein ganzes Renommé einzubüßen, dazu hatte er doch keine Lust.

Er zog also seine Börse, und indem er Caspar einen Fünfzigthaler-Schein hinwarf, rief er verächtlich:

»Hier habt Ihr das verlangte Geld und nun laßt Euch nicht wiedersehen, wenn Euch Eure Haut lieb ist.«

»Gnaden können ganz ruhig sein,« entgegnete der Haidebewohner, indem er gemächlich die Banknote an sich nahm – »bin des unruhigen Lebens müde, habe mich entschlossen nach einer großen Stadt zu gehen, will ein ordentlicher Mensch werden und werde das Geld daher nutzbringend anwenden.«

»Geht, wohin Ihr wollt, nur kommt mir nicht wieder vor die Augen,« rief Carlsdorf, indem er die Thüre hinter dem sich entfernenden Vagabonden hastig zuwarf.

 

Am andern Morgen bemerkten Leute, daß die Hütte des Haidebewohners vollständig niedergebrannt war; von ihm selbst erfuhr man nichts mehr; jede Spur über seinen Aufenthalt ging von nun an verloren.

Die gegen den Arzt erhobene Anklage hatte somit ihr Ende erreicht, aber vermieden konnte es doch nicht werden, daß sich die Leute sonderbare Gerüchte in die Ohren flüsterten. Zudem kam, daß seine Thüre fest verschlossen blieb und daß keiner seiner früheren zahlreichen Bekannten ihn zu Gesicht bekam.

Die bestimmte Ursache hiervon kannte man nur in der Familie des Landraths, und so sehr man dort das Schicksal Settens beklagte, so hatten die jüngsten Vorfälle doch jeden weiteren Verkehr mit ihm unmöglich gemacht.

Aber im Stillen wendete man doch dem unglücklichen Manne die wärmste Theilnahme zu, und im Einverständniß mit ihrem Vater schickte ihm Hedwig einige Zeilen, worin sie ihm anzeigte, daß er nunmehr keine weitere Verfolgung zu fürchten habe. Schon wenige Stunden darauf kam eine Antwort, in welcher dem Fräulein in den wärmsten Ausdrücken für diesen neuen Beweis unverdienter Theilnahme gedankt wurde, welche nochmals ein Lebewohl für immer aussprach, den Segen Gottes für Hedwig erflehte und diese schließlich ersuchte, nunmehr das ihr übergebene versiegelte Packet zu erbrechen.

Mit zitternder Hand entledigte sich das Fräulein dieses Auftrages; sie fand eine in gerichtlicher Form ausgestellte Stiftungsurkunde, nach deren Inhalt das Haus des Arztes unter dem Protectorat Hedwigs zur Aufnahme und Verpflegung einer gewissen Zahl siecher Personen bestimmt wurde. Er selbst war spurlos verschwunden und Niemand konnte sagen, wohin er sich gewendet hatte.


Auch Herr von Carlsdorf fühlte sich in der Gegend, die der Schauplatz seiner selbstsüchtigen, von wilden Leidenschaften erzeugten Handlungen gewesen war, nicht mehr heimisch. Das öffentliche Urtheil war doch entschieden zu seinem Nachtheil ausgefallen und je mehr man das Loos des Arztes und das damit so eng verflochtene Geschick Hedwigs bemitleidete, mit desto größerer Kälte trat der bessere Theil der Gesellschaft demjenigen entgegen, welcher mit kalter Ueberlegung und mit Vorbedacht so unendliches Leid über Personen heraufbeschworen hatte, die sich bisher der allgemeinsten Achtung erfreuten. Er verkaufte sein Gut und zog nach der Residenz, wo er sich bald in einen Strudel von Leidenschaften stürzte, die seinem wilden, den materiellen Genüssen ergebenen Geiste zusagten. Sein Name und sein Vermögen machten es ihm leicht, sich Zugang in die höchsten gesellschaftlichen Cirkel zu verschaffen, und da sein Herz ohnedem tieferen Empfindungen nicht zugänglich war, so schien er im Rausche der sich ihm darbietenden Genüsse auch bald die immer mehr in den Hintergrund tretende Vergangenheit vergessen zu haben.

Allein schon nach dem Verlauf von wenigen Jahren mußte er sich das Geständniß ablegen, daß von seinem Vermögen fast Nichts mehr vorhanden sei und die Nothwendigkeit, seine Verhältnisse neu zu arrangiren, trat sehr gebieterisch an ihn heran. Herr von Carlsdorf glaubte dies am Besten durch eine reiche Partie bewerkstelligen zu können, und er hatte zu diesem Zweck bereits seit längerer Zeit sein Augenmerk auf eine Dame gerichtet, die allgemein als sehr reich bekannt war.

Die Baronin von Wolkenstein, seit ungefähr einem Jahr erst Wittwe, war zwar bereits vierunddreißig Jahre alt, allein sie hatte sich gut conservirt, sie war geistreich und wenn man sich auch über das plötzliche und schnelle Ende ihres Gemahls, mit dem sie höchst unglücklich gelebt hatte, sonderbare Geschichten in die Ohren flüsterte, so konnte der Neid und die Bosheit dieselben ebenso gut erfunden haben, denn die Baronin war stets von einem Kreis von Anbetern umgeben und einer Dame wird es bekanntlich von ihrem eigenen Geschlecht am allerwenigsten verziehen, wenn sie den Mittelpunkt solcher Huldigungen bildet.

Eben saß jetzt die Baronin, von Wolkenstein in ihrem Boudoir und hatte das Haupt in die weiße Hand gestützt. Ihr blasses, von rabenschwarzen Locken eingefaßtes Gesicht wurde durch den Glanz ihrer dunklen Augen noch mehr hervorgehoben und verlieh dem Ausdruck ihrer Züge eine Anziehungskraft, welche zwar nicht das Herz erwärmte, die aber doch immer fesselte. Aber heute spiegelte sich Erregtheit und Bitterkeit in diesem Gesicht ab und von Zeit zu Zeit schoß sogar ein so rachsüchtiger Blick aus diesen dunklen, in geheimnißvoller Gluth strahlenden Augen und die kleine Hand ballte sich hier und da so krampfhaft, daß es wohl keinem Zweifel unterlag, Frau von Wolkenstein befinde sich in einem Zustand der höchsten Erregtheit.

Es mochte etwa zwölf Uhr sein, als ihre Zofe eintrat und Herrn von Carlsdorf meldete.

»Führe ihn sogleich herein,« rief die Gebieterin, und eine auffallende Unruhe gab sich bei ihr kund.

»Jetzt werde ich doch den sonderbaren Grund dieses dreitägigen Ausbleibens erfahren,« murmelte sie, im Zimmer auf- und abgehend. »So nahe schon am Ziele – im Begriff, von dem Manne, für welchen ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Leidenschaft empfinde, mit einem Heirathsantrage überrascht zu werden und jetzt … dieses plötzliche Abbrechen … diese auffallende Zurückhaltung … ha, wenn mir eine Nebenbuhlerin in den Weg getreten wäre, sie sollte es schwer büßen – sie ahnet nicht, mit wem sie es zu thun hat!« –

In diesem Augenblick zeigte sich Herr von Carlsdorf, welcher bei seinem Eintritt eine tiefe Verbeugung vor der Baronin machte.

»Nun, was haben Sie erfahren?« fragte die Letztere, indem sie ihrem Besuch einen Wink gab, ihr gegenüber Platz zu nehmen, während sich ihr Blick mit Spannung auf unseren Bekannten heftete.

»Geben Sie jede Hoffnung auf,« sagte dieser, »der Major ist Ihnen entschlüpft.«

Frau von Wolkenstein sprang von ihrem Sessel auf und ihre Augen schossen Blitze.

»Entschlüpft?« rief sie, »jetzt, nachdem alle Welt weiß, daß der Major von Sternheim im Begriff stand, um meine Hand anzuhalten! –«

»Sie hätten diese Nachricht nicht so früh verbreiten lassen sollen. Mich trifft keine Schuld, ich habe dabei nur Ihre Befehle vollführt.«

»Und jetzt zurücktreten?« fuhr die Baronin mit bebender Summe fort – »dem schönsten Manne der Residenz entsagen? Nimmermehr! – er soll und muß der Meine werden!«

»Ja, wenn das Wunderkind nicht erschienen wäre, diese siebenzehnjährige Brünette mit den langgeschlitzten Augen – diese Fremde, welche seit den letzten Wochen in unseren Salons glänzt,« ergänzte Carlsdorf.

»Sie meinen die Tochter des Indiers?« –

»So heißt er allgemein, obgleich er wohl eigentlich ein Franzose ist. Doch lassen Sie mich auf den Major zurückkommen. Verloren ist er doch nun einmal für Sie und Sie werden am besten thun, unter diesen Umständen der Sache eine solche Wendung zu geben, daß die Welt glaubt, er habe mit Ihrem eigenen Willen eine Niederlage bei Ihnen erlitten. So bleibt Ihnen wenigstens ein scheinbarer Triumph und Sie ersparen sich eine Demüthigung« –

»Weiter!« rief Frau von Wolkenstein, indem sich ihre Lippen fest zusammenpreßten.

»Nun, giebt es denn nicht noch andere Männer, die es sich zur besonderen Ehre anrechnen würden, Ihnen Herz und Hand anzubieten?«

»Sie etwa?« rief die Baronin, indem sie in ein unverstelltes Hohngelächter ausbrach.

»Nun, da Sie mir auf halbem Wege entgegenkommen,« antwortete Carlsdorf mit unvergleichlicher Dreistigkeit, »so beantworte ich Ihre Frage mit einem Ja.«

»Ich will Ihnen diese Albernheit verzeihen,« antwortete Frau von Wolkenstein mit einem wegwerfenden Achselzucken. »Viel Verstand ist Ihnen wohl nie eigen gewesen, dagegen besitzen Sie eine desto größere Portion Eitelkeit. –«

»Aber gnädige Frau …«

»Still, kein Wort weiter, wenn Sie noch länger die Vortheile genießen wollen, welche ich Ihnen bisher gewährte. Ich benutzte Sie bisher, um in den Kreisen, in denen ich mich bisher bewegt habe, in meinem Interesse zu spioniren und manches böse Gerücht, welches die Verleumdung über mich ausgestreut hat, zu widerlegen.«

»Zum Beispiel wegen des auffallend schnellen Todes Ihres Gemahls,« bemerkte Carlsdorf nicht ohne Betonung.

Die Baronin schleuderte ihm einen ihrer Schlangenblicke zu, erwiderte aber nichts auf diese herausfordernden Worte. »Für die Dienste, welche Sie mir geleistet haben,« fuhr sie mit stolzer Ueberlegenheit fort, »sind Sie stets reichlich bezahlt worden. Sie werden auch ferner noch meiner bedürfen, das weiß ich – Sie haben zum Beispiel morgen eine Spielschuld von dreißig Friedrichsd'or zu bezahlen, für die Sie mit Ihrem Ehrenwort haften. Können Sie dies leugnen?« –

»Allerdings, ich habe Unglück gehabt …«

»Und wenn Sie diese Summe nicht pünktlich entrichten, so sind Sie für immer aus den Kreisen gestoßen, in denen Sie sich bisher bewegten. Ist es nicht so?«

Der Befragte senkte wie ein Schulknabe den Kopf und drehte sich verlegen den Schnurrbart.

»Nun, ich werde diese Spielschuld bezahlen,« sagte die Baronin, »und wenn Sie mir auch ferner treu dienen, so sollen Sie dabei nicht zu kurz kommen. Und nun berichten Sie weiter, denn ich sehe es Ihnen an, Sie wissen noch mehr, als Sie mir bisher gesagt haben.«

»Allerdings. Wenn ich Ihnen aber diesmal böse Nachrichten bringe, so ist dies nicht meine Schuld.«

»Sprechen Sie nur. Ich bin gewohnt, der Gefahr ins Auge zu sehen und wähle dann meine Mittel, um dieselbe zu beseitigen.«

Diese Worte wurden mit Eiseskälte gesprochen und mit einem Blick begleitet, welcher auf einen bereits gefaßten Entschluß hindeutete.

»Wohlan, so hören Sie. Der Major hat sich gestern ganz im Stillen mit der Tochter des Indiers verlobt.«

Die Baronin faßte nach der Stuhllehne; sie blieb eine Sekunde starr und stumm, als sie aber wieder das Auge aufschlug, war eine wunderbare Veränderung mit ihr vorgegangen. Ihr ohnedem bleiches Gesicht zeigte jetzt die Blässe des Marmors, ihre schwarzen Augen glitzerten und funkelten in unheimlicher Weise, und dabei schwebte ein Lächeln auf ihren Lippen, aber dieses Lächeln war das eines Dämons.

»Sie wissen also gewiß, daß der Major mit diesem albernen Kinde verlobt ist?« fragte sie.

»Es besteht darüber nicht der geringste Zweifel. Herr von Sternheim ließ hierüber einige unvorsichtige Worte gegen seinen Diener fallen und dieser steht ja, wie Sie wissen, schon seit längerer Zeit in meinem Solde.«

Jetzt trat Frau von Wolkenstein einen Schritt vor, legte ihren Arm auf den ihres Vertrauten und sagte:

»Hören Sie, Carlsdorf, besitzen Sie den Muth, eine entschlossene That auszuführen? –«

»Es kommt darauf an,« entgegnete dieser trocken.

»Tausend Thaler sind Ihr Lohn.« –

»Dann gehe ich für Sie durch die Hölle.« –

»So merken Sie wohl auf. Die Tochter des Indiers, dieses Mädchen, welches gewagt hat, mir in den Weg zu treten, muß verschwinden! Ich werde Sorge tragen, daß das Gerücht verbreitet wird, dieselbe hätte sich von Ihnen freiwillig entführen lassen. Ist auf diese Weise ihr Ruf erst vernichtet, so wird der Major von selbst zurückkehren.« –

»Verteufelt schlau ausgedacht,« brummte Herr von Carlsdorf, »doch nicht ohne Gefahr für mich.« –

»Ich weiß,« fuhr die Baronin fort, »daß Leontine jeden Abend in der Gesellschaft einer älteren Dame das Theater besucht. Ich habe einen Plan entworfen, um sie von dort fortzulocken. Ist Ihnen der Doctor Morrion bekannt?« –

»Der Vorsteher einer drei Stunden von hier gelegenen Irrenanstalt? Wenn ich nicht irre, circuliren über selben die sonderbarsten Gerüchte und die Polizei soll ihn im Stillen beobachten.« –

»Es mag sein. Er verläßt übrigens die nächste Nacht Deutschland, um nach Frankreich zurückzukehren. An Morrion werden Sie nun diese Leontine abliefern; es ist die bequemste Gelegenheit, sie ohne alles Aufsehen in Paris abzuliefern, und von dort mag sich dann der Vater später das Töchterchen wieder holen.«

»Verwegen, aber gut durchdacht,« murmelte Carlsdorf.

»Jetzt kommen Sie in mein Cabinet, dort sollen Sie die letzten Instructionen erhalten. –«

Die Baronin verschwand mit diesen Worten hinter einer Thür und ihr Vertrauter folgte ihr festen Schrittes, denn neben großer Gewissenlosigkeit fehlte es ihm auch nicht an Muth, einen gefährlichen Auftrag auszuführen.

Als Herr von Carlsdorf sich von Frau von Wolkenstein entfernte, bestellte er zunächst eine elegante Miethskutsche, die er vor dem Theater halten ließ. Angegeben hatte er, daß es sich um eine Reise aufs Land handle, die eine Verwandte von ihm gleich nach beendeter Vorstellung antreten wollte, um eine Freundin in aller Frühe zum Geburtstag zu überraschen. Dem Kutscher war von ihm der Weg bezeichnet worden, welchen er einschlagen sollte und er hatte ihm befohlen, bei dem Doctor Morrion anzuhalten, den die Dame wegen eines Krankheitsfalles consultiren wolle.

Nach diesen Vorbereitungen nahm er sich ein Billet und trat ins Parterre. Sein Auge erspähte alsbald Leontine, welche sich in einer Loge ersten Ranges an der Seite einer alten Dame befand.

Herr von Carlsdorf zog seine Uhr. »Es geht stark auf neun,« murmelte er – »es ist also Zeit.«

Er verschwand, löste ein Billet zum ersten Rang und befand sich wenige Minuten darauf in der Loge der jungen Dame.

»Verzeihung, mein Fräulein, daß ich zu stören wage.«

Leontine verbeugte sich höflich, aber gemessen.

»Ich komme auf Befehl Ihres Herrn Vaters.« –

»Auf Befehl meines Vaters?« rief die Angeredete etwas verwundert.

»Ja, und zu meiner Legitimation gab er mir dieses Creditiv mit.« – Herr von Carlsdorf präsentirte bei diesen Worten eine Visitenkarte, welche der Indier bei früherer Gelegenheit bei Frau von Wolkenstein abgegeben hatte.

»Was befiehlt mein Vater?« fragte jetzt das junge Mädchen.

»Er bittet, daß Sie sich unter meiner Begleitung augenblicklich zu der Frau Baronin von Wolkenstein begeben, wo er Sie erwartet.«

»Mein Gott, was ist denn vorgefallen?« –

»Jedenfalls Etwas, was Sie sehr angenehm überraschen wird, mehr darf ich nicht sagen. Beliebt es Ihnen einzusteigen? – Der Wagen steht bereit.«

Leontine verabschiedete sich bei ihrer Gesellschafterin und eilte arglos die Treppe hinab. Der Baron riß sehr galant den Schlag der Chaise auf, die Dame stieg ein. Dann folgte er selbst und in der nächsten Minute rasselte der Wagen über das Pflaster.

»Mein Gott,« sagte Leontine nach einer Weile, »es ist doch auffallend, wie viele Zeit der Kutscher braucht; nach meiner Berechnung müßten wir ja schon längst den kurzen Weg zurückgelegt haben.«

»Man sieht wohl,« scherzte Herr von Carlsdorf, »die Zeit wird Ihnen in meiner Gesellschaft lang.«

Die Tochter des Indiers gab keine Antwort; sie horchte.

»Lassen Sie anhalten,« rief sie plötzlich erschrocken, »hier muß ein Irrthum obwalten, der Wagen hat das Steinpflaster verlassen und ich erblicke auch keine Laterne mehr.«

Jetzt änderte Herr von Carlsdorf seine Rolle. Er kehrte plötzlich die rauhe Seite heraus und rief:

»Keinen Laut, wenn ich bitten darf; es geschähe auf Gefahr Ihres Lebens!«

Leontine wollte aufschreien, aber die Hand ihres Begleiters legte sich ohne Weiteres auf ihren Mund und drohend sagte er:

»Wollen Sie, daß ich Ihnen einen Knebel anlege?« –

Jetzt sank das junge Mädchen in Ohnmacht. Es ahnete die Gefahr, aber es begriff sie noch nicht.

Ein unheimliches Schweigen trat ein; die Chaise rollte immer weiter.

Plötzlich hielt sie still; aus dem Dunkel der Nacht tauchten die Umrisse eines großen Gebäudes auf.

»Wir sind zur Stelle,« sagte der Kutscher, vom Bock steigend.

»Ziehen Sie an der Glocke,« rief Herr von Carlsdorf.

Kaum durchzitterten die Töne die Luft, als sich mehrere Personen mit schnellen Schritten nahten.

»Steigen Sie aus, mein Fräulein,« redete sie jetzt der Baron an.

»Erbarmen, oh Erbarmen, mein Herr!« flehte dieses.

»Von Ihrer Folgsamkeit hängt das Leben Ihres Vaters ab, wollen Sie nun noch zögern?« –

»So mag mich Gott beschützen!« … und schwankend und zitternd verließ das arme Kind den Wagen.

»Ich übergebe Ihnen diese Dame,« sagte der Verbündete der Frau von Wolkenstein zu einem Herrn, welcher ihm am nächsten stand, »mein Auftrag ist erfüllt, erfüllen Sie nun auch den Ihrigen.«

»Darf ich bitten einzutreten,« sagte dieser, zu Leontine gewendet.

Ehe diese noch zu einem Entschluß gelangen konnten, schloß sich das Gitter bereits hinter ihr.

Sie war eine Gefangene, das sah sie jetzt ein, aber Leontine besaß auch Muth und Verstand und nachdem der erste Schreck vorüber war, kehrte ihre Besonnenheit zurück. Sie sah ein, daß sie der List List, der Verstellung Verstellung entgegensetzen mußte. Reizen durfte sie diese Menschen nicht, das begriff sie wohl und Zeit gewinnen hieß Alles gewinnen.

»Führen Sie die Dame auf ihr Zimmer,« sagte der Herr, welcher Leontine in Empfang genommen hatte, zu einer Frau von einigen dreißig Jahren, deren Kleidung auf eine bevorzugte Stellung deutete.

»Kommen Sie, mein Kind,« sagte diese, »verbannen Sie jede Furcht, man wird Sie aufmerksam behandeln, so lange Sie hübsch artig sind.«

Ein Frösteln durchrieselte die arme Gefangene, aber sie bezwang sich und folgte ihrer Führerin durch mehrere lange Gänge, bis diese sie in ein kleines abgelegenes Zimmer treten ließ.

»Wo bin ich?« fragte jetzt das junge Mädchen, sich scheu umsehend.

»Wozu diese Frage. In vierundzwanzig Stunden werde ich das Vergnügen haben, mit Ihnen abzureisen.«

Mit diesen Worten entfernte sich Leontinens Begleiterin, indem sie die Thüre hinter sich zuschlug und mehrere starke Riegel vor dieselbe schob.

Bei der Tochter des Indiers brachen jetzt aber die lange zurückgehaltenen Thränen hervor und in dicken Tropfen rannen ihr dieselben unaufhaltsam über die Wangen. Dies erleichterte wenigstens einigermaßen ihr Herz und sie gewann endlich die Kraft, ihre Lage mit Besonnenheit zu überschauen.

»Ich bin in ein schändliches Netz gefallen,« dachte sie, »und die Menschen, in deren Gewalt ich mich befinde, sind gewiß auch zu Allem fähig. Aber auf der anderen Seite hege ich auch die Ueberzeugung, daß mein Vater und der Major Alles aufbieten werden, um meine Spur zu ermitteln und mich aus meiner verzweiflungsvollen Lage zu befreien.«

 

Diese Schlußfolgerung war allerdings auch eine ganz richtige. Nachdem Herr Gervais sich überzeugt, daß sein Kind auf hinterlistige Weise aus dem Theater gelockt worden und seitdem verschwunden war, that er sogleich mit aller Energie die erforderlichen Schritte, um ihre Spur zu verfolgen. Leider war der Major augenblicklich auf einer Dienstreise begriffen und wurde erst den anderen Tag zurückerwartet. Dies hinderte ihn indessen natürlich nicht, unverweilt zu dem Criminal-Director zu eilen und diesem von dem Vorgefallenen in Kenntniß zu setzen.

Dieser hörte ihn mit großer Theilnahme zu, denn der Indier war eine allgemein geachtete Persönlichkeit.

»Lassen Sie uns mit Umsicht handeln,« sagte er schließlich, »Uebereilungen schaden nur und dienen meist dazu, die Schuldigen zu warnen. Inzwischen werde ich geräuschlos meine ganze Thätigkeit entwickeln, darauf können Sie sich verlassen.«

Der unglückliche Vater mußte sich Wohl fügen, weil er einsah, daß der Beamte Recht hatte.

Am andern Morgen langte der Major an. Bleich, verzweiflungsvoll und doch mit drohenden, entschlossenen Blicken warf er sich in Gervais' Arme. Aber auch ihn hielt die eiserne Nothwendigkeit für den Augenblick zurück. Man mußte vorläufig auf die Thätigkeit des Criminal-Directors vertrauen, welcher noch in der Nacht mehrere Agenten abgeschickt hatte, um die Umgegend zu durchstreifen.

Endlich, spät am Nachmittag, erschien er in der Wohnung des Indiers und sein Gesicht verkündete, daß er gute Nachrichten überbringe.

»Die Spur ist gefunden,« rief er, »und jetzt können unsere Operationen beginnen. Ich habe den Kutscher ermittelt, welcher Herrn von Carlsdorf gefahren hat; Ihr Fräulein Tochter befindet sich in der Irrenanstalt des Doctor Morrion.«

»In den Händen dieses Teufels?« stöhnte Gervais.

»Kennen Sie ihn näher?« –

»Von Paris aus, wo man ihn in Verdacht hatte, mehrere Verbrechen begangen zu haben.« –

»Auch ich bin von Paris aus auf ihn aufmerksam gemacht worden und beobachte ihn schon seit längerer Zeit im Stillen. Hoffentlich wird er nunmehr der längst verdienten Strafe nicht mehr entgehen. Mit der Dämmerung brechen wir auf; wir wollen diesen sauberen Vogel in der Nacht aufheben, wo er sich voraussichtlich am sichersten glaubt.«

 

Inzwischen war man auch in der Irrenanstalt nicht unthätig geblieben. Den ganzen Tag hatte man mit den Vorbereitungen zur Abreise zugebracht und auch Herr von Carlsdorf, welcher sich bei Morrion versteckt hielt, war dabei thätig gewesen.

Endlich, als die Nacht angebrochen war, öffnete sich Leontinens Zelle und ihre Wächterin trat ein.

»Es ist Zeit,« sagte sie, »kleiden Sie sich an, in einer halben Stunde brechen wir auf.«

Das arme Kind erbebte. Es hatte bisher noch immer auf seine Befreiung gehofft, jetzt sank ihm der Muth. Aber die Frau, welche bei ihr war, ließ ihr keine Zeit in neue Klagen auszubrechen. Sie reichte dem unglücklichen zitternden Mädchen Hut und Mantel und schleppte es mehr, wie sie es führte, die Treppe hinunter, bis in den inneren Hof.

Dort hielt ein dicht verschlossener Reisewagen. Ein Diener des Irrenarztes saß auf dem Bock, dieser selbst hielt zu Pferde am Eingang des Thorweges, Herr von Carlsdorf endlich, welcher ebenfalls beritten war, bildete die Nachhut.

»Gott sei mir gnädig,« stöhnte Leontine, und brach fast zusammen. Aber die kräftige Faust ihrer Begleiterin hob sie wie eine Feder in die Höhe und im nächsten Augenblick befand sie sich mit dieser im Wagen.

»Vorwärts!« rief der Doctor, »decken Sie uns den Rücken, Baron, ich werde das Terrain vor uns im Auge halten, bis wir den Wald passirt haben.«

Der Kutscher schwang die Peitsche und im nächsten Augenblick verschwand der geheimnißvolle Zug in der Ferne.

Die Augen Morrions spähten, trotz der Finsterniß, wie die eines Raubvogels umher. Aber Nichts zeigte sich, was Verdacht hätte erregen können, man bog jetzt in den Wald und der Arzt trieb wiederholt zur Eile an.

Plötzlich hielt Morrion, welcher etwa zehn Schritte vorausgeritten war, sein Pferd an und lauschte; es war ihm, als wenn er das Schnauben eines Rosses ganz in der Nähe gehört hätte.

»Teufel!« brummte er unentschlossen, »sollte man mir doch auf der Spur sein?« –

Die Beantwortung dieser Frage sollte auf dem Fuße folgen. Ein Angstgeschrei ließ sich vom Wagen aus hören; er erkannte die Stimme von Leontinens Wächterin und sah, daß die Kutsche von mehreren Männern umringt war. Zugleich erblickte er aber auch vor sich einen Reiter und hörte den Hahn eines Pistols knacken.

»Steh, Schurke! donnerte ihm die Stimme des Majors entgegen – »steh', Elender, oder ich schieße Dich nieder!«

»Seht, wie Ihr fertig werdet,« murmelte Morrion, »ich habe meine Gelder in England untergebracht, und bin keineswegs willens, der Frau von Wolkenstein zu Gefallen mit dem Criminalgericht nähere Bekanntschaft zu machen.«

Er warf sein Pferd geschickt herum, drückte ihm gewaltsam die Sporen in die Weichen und war im nächsten Augenblick im Dickicht verschwunden.

Inzwischen hatte das scharfe Auge des Majors einen zweiten Reiter erblickt, welcher ebenfalls im Begriff stand die Flucht zu ergreifen. Es war dies Herr von Carlsdorf, welcher, wie wir wissen, die Nachhut bildete. In der nächsten Secunde hielt er neben demselben und schnitt ihm den Weg ab.

»Halt!« rief der Officier – halt, oder ich schieße Sie nieder!«

Herr von Carlsdorf fehlte es nicht an Muth; er brach bei dieser Drohung in ein höhnisches Gelächter aus. Eben streckte der Major den Arm aus, um ihn zu ergreifen. Aber der Vertraute der Frau von Wolkenstein verlor nicht so bald die Geistesgegenwart und war ebenfalls ein gewandter Reiter. Mit einem kräftigen Schenkeldruck warf er das gutdressirte Thier zur Seite, erhob sein Pistol, zielte einen Augenblick und drückte dann ab.

Das Pferd des Majors bäumte sich hoch; der Blitz und der Knall hatten es erschreckt. Doch Herr von Sternheim saß fest und unverletzt im Sattel, sein Auge blitzte wild, ein zweiter Schuß erfolgte und mitten durch den Kopf getroffen, stürzte Herr von Carlsdorf vom Pferde.

»Der hat genug,« sagte der Criminal-Director, welcher unmittelbar neben dem Major gehalten, ich kann Ihnen übrigens bezeugen, daß Sie zuerst angegriffen worden sind und daß Sie sich daher im Stande der Nothwehr befunden haben.«

»Ein zu gutes Ende für diesen Menschen, der schon einmal eine Familie unglücklich gemacht hat,« murmelte der Officier, und ohne sich weiter um den von seiner Kugel Getroffenen zu kümmern, war er mit einigen Sätzen beim Wagen und hielt unmittelbar darauf die befreite Braut in seinen Armen, die nunmehr ihr Antlitz weinend an seiner Brust barg, während sie ihre Hände dem Vater entgegenstreckte.

Frau von Wolkenstein hatte sich wohlweislich noch an demselben Tage, wo die Entführung Leontinens stattgefunden, auf ihr zwei Stunden von der Residenz gelegenes Gut begeben, um nöthigenfalls ihr Alibi beweisen zu können. Da ihr Vertrauter todt und Morrion glücklich entkommen war, die übrigen Personen aber nicht in das Geheimniß eingeweiht waren, so blieb sie unangefochten, obgleich die öffentliche Meinung sie mit Entschiedenheit als die Anstifterin dieses Drama's bezeichnete.

Herr von Sternheim heirathete bald darauf Leontine; wir aber ersuchen den Leser, uns nunmehr nach einer entfernten Gegend Deutschlands zu folgen, und dort von Ereignissen Zeuge zu sein, welche den Schluß unserer Erzählung, die wir ihm unter dem Titel: »Die letzten Thränen« mitgetheilt haben, bilden.


Fünf Jahre waren seit jener traurigen Begebenheit verflossen, durch welche das Band, welches Hedwig und Setten verknüpft hatte, auf so erschütternde Weise getrennt wurde. Jetzt, nach fünf Jahren, versetzen wir uns noch einmal in die rauhen Berge und Thäler der Eifel. Diejenigen, welche dort längere Zeit gelebt haben, und hier Gelegenheit erhielten, den Charakter dieses rauhen Gebirgslandes kennen zu lernen, werden wissen, mit welchen Gefahren der Reisende dort häufig zu kämpfen hat. Besonders gilt dies von Denen, welche zu Fuß diese ununterbrochene Kette von Thälern und Höhen durchziehen und, indem sie in das Innere dieser abgeschlossenen, dem größeren Verkehr nur sparsam zugänglichen Gegend dringen, die wenigen Chausseen, welche das Land durchschneiden, zu verlassen gezwungen sind und sich genöthigt sehen, jene schmalen Fußpfade zu benutzen, die sich über die langen, mit Haidekraut bewachsenen Bergrücken hinziehen, deren monotoner Anblick nur zeitweise durch eine Anpflanzung junger Eichen oder Birken dem Auge einige Abwechselung gewährt.

Diese schmalen Wege, welche sich häufig kreuzen, wie dünne Linien oft an einem Punkte zusammenstoßen und dann wieder nach den verschiedensten Richtungen auslaufen, machen es dem Fremden nur um so schwieriger sich zu orientiren, je weniger Anhaltspunkte dem Auge dargeboten werden, und es ist durchaus nichts Neues, daß Personen, die schon längere Zeit in jenen Gegenden verweilten, und somit Gelegenheit hatten, sich Terrainkenntnisse zu verschaffen, auf ihren Wanderungen der Umstand begegnete, daß sie am hellen Tage durch einige Schritte, die sie unachtsam rechts oder links thaten, plötzlich auf einen ganz anderen Weg gelangten und nicht eher ihren Irrthum gewahr wurden, bis sie sich mitten in einer von menschlichen Wohnungen weit entfernten Wildniß befanden, oder bis ihr Fuß zögernd am Rande einer jähen Felswand inne hielt.

Noch gefährlicher ist es indessen in jenen Gegenden im Winter, wo häufig heftiges Schneegestöber die grauen, oft stundenlangen Haideflächen bei Nachtzeit in ein undurchdringliches Dunkel hüllt, so daß selbst das schärfste und geübteste Auge nicht selten so getäuscht wird, daß sogar Leute, die in jenen rauhen Thälern geboren und erzogen sind, ihren Wohnort nicht mehr aufzufinden vermögen und zuletzt, von Ermüdung übermannt, in den tiefen Schnee sinken, um sich aus demselben nicht mehr zu erheben.

Es ist eine fromme Sitte, an solchen Stellen zum Andenken des Verunglückten ein einfaches Kreuz zu errichten, und es giebt Gegenden an der Eifel, wo man im Umkreise von zwei bis drei Stunden deren wohl dreißig zählen kann.

Eine Nacht wie die eben angedeutete war es, wo wir den Faden unserer Erzählung wieder beginnen. Ein feiner scharfer Wind jagte über die langen, jetzt mit tiefem Schnee bedeckten Bergrücken und trieb in leisen Wirbeln die feinen Flocken, mit denen die Luft angefüllt war, vor sich her. Das Licht des Mondes brach sich nur matt durch den dichten Wolkenschleier Bahn und verbreitete eine trübe Helle, die dem Auge blos auf einige Schritte gestattete, die Gegenstände, auf welche es stieß, zu erkennen.

Ein Landmann, augenscheinlich ein noch zu so später Stunde abgeschickter Bote, stieg jetzt eben, aufmerksam den Weg, welchen er verfolgte, prüfend, von dem Kamm eines Berges in das Thal und lenkte seine Schritte einem kleinen einfachen, aber schon im besseren Styl erbauten Hause zu, welches ein paar hundert Fuß von einem Dorfe entfernt lag, dessen Häuserreihe man jetzt nur unklar erkennen konnte.

Angelangt an diesem Hause, begann der Bote unverweilt an einen Fensterladen zu pochen und hörte damit nicht eher auf, bis er die Ueberzeugung erlangt hatte, daß man im Innern des Gebäudes dieses Klopfen vernommen habe. In der That dauerte es auch kaum fünf Minuten, als sich ein Fenster öffnete und ein Kopf an demselben sichtbar wurde.

»Wer ruft mich?« fragte eine Männerstimme in der wohlwollendsten Weise.

»Ich komme von der Posthalterei, Herr Doctor,« antwortete der Bote – »der Herr schickt mich, und da er weiß, daß Sie zu keiner Zeit Jemand Ihren Beistand verweigern, so läßt er Sie dringend ersuchen, schleunigst mit mir zu kommen.«

»Um was handelt es sich denn?« fragte der Arzt.

»Um eine fremde Dame, welche auf der Reise nach Aachen begriffen ist und die das Unglück gehabt hat, mit dem Wagen umzuschlagen. Sie klagt über starke Schmerzen und glaubt, sie hat sich auch hart am Kopfe verletzt.«

»Wartet einen Augenblick,« antwortete der Arzt, »ich werde gleich bei Euch sein; gern bin ich bereit, zu jeder Stunde da zu erscheinen, wo ein Hülfsbedürftiger meiner bedarf.«

Er schloß das Fenster und schon nach kurzer Zeit stand er, in einen Mantel gehüllt, neben dem Boten.

»Es ist eine schlimme Nacht,« sagte dieser, »so schlimm, wie ich mich lange keiner erinnere, aber ich kenne genau die Wege und in einer halben Stunde sind wir an Ort und Stelle.«

»Wo befindet sich die kranke Dame?« fragte der Doctor, als er mit seinem Begleiter in der Posthalterei angelangt war.

»Oben in der Gaststube; man hat Sie bereits angemeldet und Sie werden erwartet.«

Schweigend stieg der Arzt die Treppe hinauf und betrat das nur matt erhellte Zimmer. Die Kranke, eine noch jugendliche Gestalt, saß in einem großen Lehnstuhl und hatte den Kopf verbunden.

»Man hat mich zu Ihrer Hülfe herbeigerufen,« begann der Doctor, »wollen Sie gestatten, daß ich Sie untersuche?«

Bei diesen Worten richtete sich die Fremde, trotz ihres leidenden Zustandes hoch auf, ergriff eine brennende Kerze und trat dem Arzte rasch einige Schritte entgegen. Aber kaum hatte sie ihm ins Gesicht geblickt, als sie einen Schrei der Ueberraschung ausstieß und den Leuchter fallen ließ.

»Setten!« stöhnte sie, und sank, einer Ohnmacht nahe, auf den nächsten Stuhl zurück.

»Hedwig!« rief nun auch der Arzt und stürzte vor dieser auf die Kniee – »oh barmherziger Gott, ist es denn wahr, daß ich das Glück Ihres Anblicks in diesem Leben noch einmal genießen soll?!«

Hedwig schluchzte laut auf, aber willig überließ sie dem Doctor ihre Hände, welche dieser mit seinen Küssen bedeckte.

»Armer Dulder,« sagte endlich das Fräulein mit weicher hingebender Stimme, »hier in diesem abgeschiedenen Winkel der Erde büßen Sie also für Ihre Schuld, von welcher Ihr Herz nichts wußte und die nur die That eines unglücklichen Zufalls war?«

»Ja, ich büße,« antwortete Setten, »ich büße, indem ich mich mit noch mehr Eifer wie früher dem Dienste der leidenden Menschheit widme. Beruhigung und Friede ist in meine Brust zurückgekehrt, ich fühle, daß mir mein Gott dort oben einst ein verzeihender Richter sein wird, und auch Sie, nicht wahr, auch Sie, Hedwig, haben mir die Schuld vergeben, welche ich gegen Sie beging?«

»Welche Schuld?« fragte die Dame.

»Die Schuld, Ihre Ruhe gestört und Sie vor den Augen der Welt bloßgestellt zu haben, indem ich es wagte, offen um Ihr Herz und um Ihre Hand zu werben.«

»Haben wir nicht Beide entsagen müssen?« fragte Hedwig mit weicher, vor Rührung zitternder Stimme. »Wenn uns das finstere Verhängniß auch mit seinen Armen umschlang, so hätte mein Herz doch nie den Muth gehabt Sie zu verdammen.«

»Dank, innigsten Dank für diese hochherzigen, einer so erhabenen Seele würdigen Worte! – Doch ich vergesse, welche Pflicht mich hierher ruft; wollen Sie mir gestatten, daß ich mich von Ihrem Zustand überzeuge?«

»Es ist Gott sei Dank keine Gefahr,« sagte Seiten, nachdem die Untersuchung vollendet war, »der Fall, den Sie thaten, war heftig, aber kein edeler Theil des Körpers ist verletzt und diese Wunde am Kopf wird Ihnen schon morgen die Weiterreise gestatten.«

Er verordnete noch Verschiedenes und erhob sich dann. »Sie bedürfen durchaus der Ruhe,« sagte er, »und meine Pflicht als Arzt gebietet mir, daß ich mich jetzt entferne. Aber morgen – morgen hoffe ich Sie noch einmal zu sehen; dieses Glückes dürfen Sie mich nicht berauben, es liegt darin ein unendlicher Trost für meine ganze Zukunft.«

»Ich reise auf keinen Fall vor Mittag,« entgegnete Hedwig, »und auch für mich wird eine nochmalige Zusammenkunft eine hohe Beruhigung sein.«

Sie reichte mit einem Blick unendlicher Güte Setten ihre Hand und dieser drückte dieselbe wiederholt stürmisch an sein Herz und an seine Lippen. Dann eilte er fort und wenige Minuten nachher befand er sich wieder im Freien auf dem Rückwege.

Das Wetter war inzwischen noch schlimmer geworden. Das Schneegestöber hatte sich vermehrt und schneidend kalt trieb der Wind dem nächtlichen Wanderer die immer stärker fallenden Schneeflocken ins Gesicht. Aber nur mit Hedwig beschäftigt, achtete er nicht darauf, unaufhaltsam schritt er weiter, nur wenig auf den Weg achtend, den er verfolgte. Aber nach einer Weile blieb er doch stehen und schöpfte Athem.

»Wo bin ich?« murmelte er, sich umsehend, »ich muß einen weiten Weg zurückgelegt haben, denn ich fühle mich ermüdet, und dennoch … ich kenne ja die Gegend … ich bin sicher, daß ich mich ganz in der Nähe meines Hauses befinde!«

Wieder setzte er seine Wanderung fort, aber diesmal bereits mit merklicher Abnahme seiner Kräfte. An einem alten Weidenstamm blieb er stehen und strich sich über die Stirn.

»Sonderbar,« murmelte er, »mich überkommt eine Schläfrigkeit, die ich sonst nie gefühlt habe; ich will einen Augenblick hier ausruhen und mich an dem Glück dieses Wiedersehens nochmals erquicken.« –

Er lehnte sich gegen den Stamm und bald schien er in tiefe selige Träumereien versunken. Aber unwillkürlich schlossen sich dabei seine Augen und nur mit großer Mühe vermochte er noch der Neigung zum Schlafe zu widerstehen. Träumte er jetzt wirklich? – Man mußte es wohl glauben, denn plötzlich rief er im Tone des höchsten Entzückens:

»Oh mein Gott, wie ist mir – sehe ich recht, ist es wirklich Hedwig, welche mir in Gestalt eines Cherubim die Hand bietet und mich zu dem geöffneten Himmel emporzieht? … Oh welche Last fällt von meinem Herzen – wie ist mir plötzlich so leicht, wie fühle ich alle Erdenschmerzen nun auf einmal von mir genommen!«

Zwei dicke Thränen rollten auf die Wangen des Arztes herab, die aber bei der scharfen Kälte sich sofort in zwei Krystalltropfen verwandelten, während er selbst ruhig fortzuschlummern schien.

So fanden ihn die Landleute am andern Morgen. Der Tod hatte ihn überrascht, aber ein Lächeln spielte noch um seine Lippen, ein seliger Friede sprach sich noch in seinen bleichen Zügen aus und mit Schmerz und Rührung betrachteten Alle die letzten Thränen des armen Doctors, von dem freilich Niemand wußte, welches Geheimniß er in seinem Herzen mit sich herumgetragen hatte.

Hedwig blieb natürlich unvermählt. Sie erweiterte später das von dem Doctor gestiftete Hospiz erheblich und wirkte noch viele Jahre segensreich an der Spitze desselben.

Marie, die Tochter des »schwarzen Peter«, die sie zu sich genommen, unterstützte sie in diesen Werken christlicher Liebe redlich, bis sie später einem braven rechtlichen Manne ihre Hand reichte, dem sie seine Tage verschönerte, während sie selbst als ein Muster weiblicher Tugend in der Umgegend betrachtet wurde.


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