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Oberlicht.

I.

Auf dem Bahnhof zu X. standen dichte Gruppen; der Schnellzug nach H. mußte jeden Augenblick eintreffen. Gepäckträger, mit kleinerem Handgepäck beladen, machten sich bereit, ein gutes Coupé im Schnellzug zu erobern. Hin und her nahm man Abschied: die einen scherzend, die andern einsilbig und gedrückt, als gelte es Trennung fürs Leben.

Den Mittelpunkt einer solchen Gruppe bildete eine resolut aussehende alte Dame. Ihr frisches, fröhliches Gesicht stimmte freilich nicht ganz zu dem schwarzen Witwenkleide und dem silberweißen Haar. Die umgehängte Geldtasche aus englischem Leder, wie auch der elegante kleine Koffer, den eben noch ihr Großsohn trug, ließen ebenso wie das ganze Auftreten auf Wohlhabenheit schließen.

»Also, wie ich dir sagte, lieber Felix«, wandte sich die alte Dame eben zu ihrem Schwiegersohn, »wenn die Bochumer Aktien wirklich so gestiegen sind, wie das Kursblatt von heute Morgen meldete, so verkaufe meinen ganzen Anteil. Ich bin mit kleinem Gewinn auch zufrieden und lege die Summe dann lieber in Staatspapieren an.«

»Aber, liebe Mutter«, sagte die junge, blasse Frau, der die stattliche Körperfülle der Mutter fehlte – und doch ließ die Ähnlichkeit der blauen Augen und des kleinen Mundes die Tochter erkennen – »sieh nur wirklich genau nach bei der Wohnung, die du mietest, daß wir auch ein ordentliches Badezimmer haben und womöglich auch ein Mägdezimmer, das nicht, Gott weiß wo, unter dem Dache liegt, und nicht durch eine ganze Etage, wo fremde Leute drin wohnen, von uns getrennt ist.«

»Ja, auf ein ganzes Haus, das wir allein bewohnen könnten, dürft ihr euch in H. keine Rechnung machen. Dort ist nicht mehr die rheinische Sitte vorherrschend, daß man kleine Einzelhäuser hat, sondern wir müssen eben eine Etagenwohnung nehmen, wo wir die Treppe mit andern Leuten teilen«, antwortete die Mutter achselzuckend.

»Großmutter«, rief der Knabe mit dem Koffer dazwischen, »aber einen Garten müssen wir doch auch haben!«

»Nun, wir wollen schon sehen, wie sich alle eure Wünsche befriedigen lassen; sorgt mir während meiner Abwesenheit nur gut für die Palmen; die im Saal darf ja nicht zu viel Wasser haben!«

In diesem Augenblick gab es eine allgemeine Bewegung: der Zug lief ein und stand im nächsten Augenblick in den Bremsen fauchend still. Ein hastiges Abschiednehmen, – mancher Kuß traf in der Eile statt des Mundes die Wange oder das Ohr, – dann stieg man ein, versicherte sich eines guten Platzes, brachte die kleinen Gepäckstücke und Hutschachteln unter, und da rief es schon: »Türen schließen! Abfahren!« Der Zug setzte sich in Bewegung.

Die verwitwete Frau Rechnungsrat Window hatte es heute gut getroffen: in ihrem Wagenabteil zweiter Klasse saß nur noch eine junge Dame, und so konnte sie sich in aller Bequemlichkeit ausbreiten. Sie setzte sich denn auch am Fenster zurecht, und man konnte es dem behaglichen Gesichtsausdruck ansehen, daß sie sich wohl fühlte. Was sollte ihr auch fehlen? Wie die bekannten Felder und Fluren von X. in rasender Folge vor ihrem Auge vorüberflogen, mußte ihr selbst dieser Gedanke gekommen sein: was fehlt mir eigentlich? Denn es spannen sich Gedankenbilder wie feine Ranken vor ihrem Auge, und träumend saß sie mit lächelndem Munde da. Ja, sie hatte es doch gut gehabt! Gut mit ihrem Albert, der ihr im Hause und bei der Kindererziehung in allen Fragen, die ein Frauengemüt bewegen, so freie Hand gelassen, weil er ganz in seinen Büchern und Berufspflichten aufging. Daß er gestorben, der gute Mann, das hatte freilich damals, vor mehreren Jahren, eine tiefe Lücke gerissen, aber sie hatte sich doch sagen müssen: er war ja schon kränklich und hatte so wenig vom Leben, warum sollte er nicht von allem Elend erlöst sein! Und sie hatte ja so viel mit ihren erwachsenen Kindern zu tun, wie einst, als ihre Kinder noch klein waren. Sie waren alle wohlgeraten; Hugo, ihr Stolz, war Amtsrichter in Magdeburg; ihr Zweiter war Oberlehrer in Barmen, ein guter, fleißiger Mensch, der der Mutter nur Ehre und Freude machte, und dann die Jüngste, die Auguste, bei der sie jetzt schon, seit Jahr und Tag gelebt hatte. Das war doch ein liebes, prächtiges Gemüt, so weich und demütig wie der Vater und ebenso lenksam, wie der Selige stets gewesen. Und was für ein Glück, daß sie an Felix Werner solch einen Mann bekommen, der als Prokurist einer großen Firma einen so schönen Gehalt bezog, daß alle Jahre noch etwas davon erspart werden konnte und sie nicht einmal die Zinsen ihres eigenen Vermögens zu verbrauchen gezwungen war. Dabei war er doch ein so guter Familienvater und ließ sich stets von der Schwiegermutter beraten und leiten, ohne jemals ihr das Leben sauer gemacht zu haben. Jetzt war er Leiter einer Filiale seiner Firma in H. geworden, und sie fuhr hin, um eine Wohnung für die ganze Familie auszusuchen und zu mieten, denn daß sie sich von dem ihr lieb gewordenen Leben mit den Kindern trennen sollte, wäre niemand eingefallen, ihr am wenigsten.

Bei dieser Fahrt aber schlug sie zwei Fliegen mit einer Klappe. Sie konnte ihre alte Jugendfreundin, Agnes Felbenbrink in H. wiedersehen, die unverheiratet geblieben war und, viel kränklich, ein einsames Leben führen mußte. Da konnte sich jetzt eben die alte Frau des Gedankens nicht erwehren, wie viel glücklicher doch ihr Leben gewesen war, als das von Agnes. Einst hatten sie zusammen die Schule besucht, waren an einem Tage konfirmiert worden und hatten als junge Mädchen zusammen geschwärmt! Wie viel Enttäuschung und Schmerz hatte seither die arme Agnes durchgemacht! Ihr Bräutigam war gestorben, die Eltern verarmt und auch längst tot; dann hatte sie als Lehrerin ihr Brot verdient und lebte jetzt von der kleinen Pension gewiß in recht kümmerlichen Verhältnissen. Nun, wenn sie jetzt nach H. zogen, wollte sie sich der armen, einsamen Jugendfreundin annehmen und sie etwas mitgenießen lassen von all dem Glück, das ihr eigenes Familienleben bei dem behäbigen Wohlstände, in dem sie lebten, ihnen bot.

So spannen sich die Gedanken fort, bis der rasend dahineilende Schnellzug H. erreicht hatte und die alte Frau eilfertig mit ihren Habseligkeiten ausstieg.

 

II.

Es war eine ganz kleine Wohnung von zwei Stübchen, im dritten Stock einer Mietskaserne gelegen, aber mit einem besonderen Eingang von der gemeinsamen Treppe. Die Fenster gingen auf ein größeres grünes Gartenstück hinaus, welches durch das Zusammenstoßen von sechs oder acht Nachbargärten gebildet wurde. Über die Dächerreihe, die den Ausblick abschloß, grüßte ein schlanker Kirchturm herüber, der so hoch war, daß man noch die Glocken sah.

Im ersten Stübchen standen einige alte Schränke und Truhen, die lange nicht mehr bis zum Glanz gerieben worden waren, so daß ihre Spiegelflächen und Metallbeschläge trübselig dreinschauten, wie verweinte Menschenaugen. Rechts in der Ecke war ein ganz kleiner Herd, und neben ihm die notwendigsten Bestandteile einer kleinen dürftigen Kücheneinrichtung. An der freien Wand neben den Schränken stand ein niedriges Feldbett, dessen Ausstattung, von einer alten verblichenen Pikeedecke sorgfältig umhüllt, sich den Blicken entzog.

Wie ein Fürstenkind in der ärmlichsten Umgebung nahm sich über dem Bett ein wunderhübsches Aquarell aus: ein Heidebild in Herbststimmung. Wer eintrat, mochte geradezu verblüfft sein über diesen Kontrast. Solch ein Bild in geschmackvollem, wenn auch jetzt nicht mehr modernem Goldrahmen paßte überall eher hin als hierher.

Frau Window überflog mit einem Blick diese Einrichtung des ersten Zimmers ihrer früheren Jugendgespielin und konnte sich kaum enthalten, hm hm zu machen.

»Was in aller Welt soll das eigentlich sein? Küche, Schlafraum, Rumpelkammer? Lange nicht sorgfältig abgestäubt und gereinigt; seit Jahren offenbar kein ehrlicher Hausputz gewesen! – Finde ich einfach schauderhaft!«

Die Tür zum zweiten Stübchen war nur angelehnt und von daher rief jetzt eine schwache Stimme: »Wer ist da? Ich kann nicht ausstehen. Bitte herein Zu kommen!«

Im nächsten Augenblick lagen sich die Freundinnen in den Armen und Frau Window mußte sich in den bequemen lederüberzogenen Großvaterstuhl setzen, der neben dem Bett ihrer kranken Freundin stand. Jetzt hatte sie Zeit, sich die gleichfalls ärmliche Einrichtung dieses Raumes anzusehen. Wenn es auch hier reinlicher und behaglicher war, so sah eine so tüchtige Hausfrau wie die Besucherin sofort, daß die Gardinen schlecht gewaschen und schon zu arg geflickt waren. Die polierten Möbel machten dasselbe trübselige Gesicht, wie draußen die Schränke. Auf dem Tisch, der vom Bett erreichbar war, lagen Bücher und Studienblätter neben Tellern und Tassen von der letzten Mahlzeit in himmelschreiender Unordnung. Das einzige Schöne waren einige hübsche Ölbilder, wie eine ganze Sammlung kleiner Aquarelle an der dem Bette gegenüberliegenden Wand.

Doch nein, das einzige Schöne im Zimmer waren die Bilder nicht! Es war noch etwas sehr Schönes da. Und es ging der Besucherin damit so, wie es uns mit manchem Bilde geht: zuerst ist das Auge mit allem möglichen andern beschäftigt, bemerkt dies und jenes, was ihm nicht gefällt, oder auch was sich besonders effektvoll in den Vordergrund drängt, und endlich findet man erst die wahre Schönheit heraus; vielleicht einen Kopf oder eine Fernsicht, wodurch man ganz gefesselt wird, und worüber man alles übrige vergißt. Dieses schönste waren hier die tiefblauen Augen der Kranken, wie man sie sonst nur in einem frischen, von rosigen Lebensfarben übergossenen Menschenantlitz zu sehen erwartet. Hier aber leuchteten aus den wachsbleichen Zügen einer Kranken, die offenbar schon lange litt, ein Paar tiefe, starke, lebendige Augen. Wie viel Seelenkraft, wie viel Liebe, wie viel herzgewinnende Freundlichkeit strahlte dem Gast aus diesen Augen entgegen, als die farblosen Lippen herzliche Worte der Begrüßung sprachen. Die Besucherin fühlte sich eigentlich durch alles, was sie sah und was sie hörte, etwas bedrückt. Sie war gewohnt, sich nichts abgehen zu lassen, hatte heute noch sich ein gutes Zimmer in einem ordentlichen Hotel genommen, hatte dann zu Mittag gegessen, ihr gewohntes Schläfchen gehalten und war dann erst hierher zur Jugendfreundin gekommen. Jetzt war sie von beidem überrascht, sowohl von der offenbaren Armut, als von dem wundersamen, fröhlichen Blick und dem glücklichen Reden der Kranken.

Doch man ließ sie nicht lange ihren Gedanken nachhängen. Sie mußte auch anfangen zu erzählen von ihrem Ergehen – sie hatten sich ja ein Jahrzehnt lang nicht gesehen – und die Freundin verstand es meisterlich, so eine Saite um die andere anschlagen, daß die glückliche Mutter und Großmutter nicht müde ward, das behagliche Glück ihres Alters zu schildern. Wie lange sie so erzählt und geschildert hatte, wußte sie selbst nicht, nur schien es ihr, als mache die Kranke einen müderen Eindruck, darum brach sie ab. Agnes richtete sich etwas auf und sagte freundlich:

»Ja, Du hast ein reiches, schönes Bild vor meinen Augen entrollt, und ich kann mir vieles recht wohl hineindenken, was Du nicht erzählt hast. Kenne ich doch von früher her Deine Tatkraft und Deinen praktischen Blick. Nur fehlt dem ganzen Gemälde etwas, – nimm mirs nicht übel, ich bin ja immer etwas Malerin gewesen – es fehlt so recht eigentlich das Oberlicht!«

Frau Rechnungsrat Window rückte fast erschrocken an ihrem Stuhl. Es kam ihr so unerwartet und wirkte fast beleidigend auf sie, daß diese arme kranke Seele, die in solch einem »leibhaftigen Schmutz« dahinsiechte, an ihrem Glück etwas auszusetzen fand. Dennoch fragte sie gespannt:

»Was soll das bedeuten? Ich verstehe Dich nicht.«

»Du hast lauter irdische Dinge genannt, lauter Annehmlichkeiten und Vorzüge für dieses Leben, aber an Deiner ganzen Erzählung ist kein Hauch von der Ewigkeit, kein innig gerührter Dank gegen Gott, der das Leben der Deinen so gesegnet und geführt, keine Sorge um das ewige Geschick all dieser Seelen, kein Ton, daß Du selbst innerlich gewachsen bist und zugenommen hast für die Ewigkeit.«

Als keine Antwort erfolgte, sondern die Besucherin sichtlich verlegen die Augen niederschlug, legte die Kranke ihre abgezehrte Hand begütigend auf den Arm der Freundin:

»Nimm mirs nicht übel, daß ich so sprach! Wir, die wir an der Grenze der unsichtbaren Welt leben müssen, weil Jahre dahingehen, in denen jeder Tag uns den letzten Ruf hinüber zu bringen droht, wir legen einen anderen Maßstab an all die Dinge und das Leben um uns her. Was ist solch Erdenleben und wenn es noch so glatt und glänzend verliefe? Was gilt es, wenn schließlich die Seele verloren geht? Weißt Du noch, wie ergriffen wir damals waren, als unser Pastor mit so großem Ernst über das Wort gesprochen hatte: »»Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?««

Frau Rat fühlte in dem eigenen Gewissen schier Vergessene alte Vorwürfe und Mahnungen sich regen, und es war ihr, als ob der ganze Himmel ihres Glückes voll dunkler Wolken hänge. Hatte die Freundin recht, wie leer und schal war dann doch das ganze Treiben, und wie wenig Grund hatte sie gehabt, sich so zu rühmen. Die Tränen waren ihr näher als irgend eine Antwort, und darum schwieg sie. So fuhr denn die andere an ihrer Stelle fort:

»Das denke ich mir nach meiner Lebenserfahrung als das rechte Glück, wie Gott es mir nach schweren Kämpfen geschenkt hat, mit dem bunten Flitterkram des Erdentreibens wirklich – ich meine in allem Ernst und ein für allemal abgeschlossen zu haben. Solange noch die Seele etwas sucht und ersehnt von all diesen trügerischen Schätzen und Freuden, geht es ohne Enttäuschung und Selbstbetrug nicht ab. Ich kenne das alles und habe es viele Jahre meines Lebens schmerzlich genug empfunden, daß ich immer aus der andern dunklen Seite all der Dinge war, die ihr Glänzen und Gleißen Dir zugewandt haben. Für mich gab es viel Entsagung, viel heimliche, törichte, kindische Tränen, bis der Herr mir zeigte, daß das Glück nicht in dem Genießen der Erdendinge liege, sondern im Umgang mit ihm. Von da an lernte ich die Menschen, mit denen er mich zusammenführte, erst wirklich lieben. Das aber heißt, mich um ihre Seele kümmern und da hat er mir in den letzten Jahren meines Lehrerinnenstandes noch viel wirklichen Segen geschenkt. Durfte ich doch mancher jungen Seele ein Wegweiser zur Ewigkeit werden. Seither sitze ich hier so ziemlich abgeschlossen von der Welt. Außer meiner alten Katharina, die da vorn auf dem Feldbett schläft, das Notwendigste für mich besorgt und nebenbei noch auf Verdienst zu andern Leuten arbeiten geht, kommt nur der Doktor zu mir und ein paar meiner früheren Schülerinnen. Wenn es nun Gottes Wille sein sollte, daß ihr hierher zieht und Du nicht gleich das erste Mal durch meine Art abgeschreckt worden bist, will ich euch gern in den Kreis meiner Liebe und Fürbitte aufnehmen und es soll mich freuen, wenn Du ab und an ein halbes Stündchen für mich übrig hast. Aber glücklicher und reicher als Du bin ich doch! Mir kann von meinem Vermögen nie was genommen werden, im Gegenteil, mein Reichtum wächst, je näher ich der Ewigkeit komme, denn mein Reichtum ist der lebendige Herr selbst, und was ich im Umgang mit ihm aus seinem Wort schöpfen kann, macht mich froh und getrost. Dazwischen gibt es allerdings Tage, wo ich heftige Schmerzen habe, so daß ich weder Briefe schreiben kann, noch meine liebste Nebenbeschäftigung, das Malen, mir von der Hand gehen will. Dann habe ich wohl noch zu kämpfen mit der irdischen Ungeduld der Seele, die am liebsten von solchen Banden schneller loskommen möchte. Aber der Herr weiß, wieviel er einem auslegt und solche Zeiten wechseln dann immer wieder mit Wochen, wo ich sehr wenig Schmerzen habe.«

»Aber Schmerzen hast Du immer?« fragte Frau Window ergriffen.

»Was die Leute so nennen! Seit etwa zweiundzwanzig Jahren kann ich mich keines Tages erinnern, an dem mich mein elender Körper nicht durch seinen Ungehorsam daran gemahnt hätte, daß er noch da sei und mir einen Streich spielen kann. Etwas Schmerzen sind immer da. Aber wollen wir nicht soviel von mir sprechen! Mir wäre es lieber, ich könnte Dir zu all dem Guten, was Du in Deinem Leben schon hast, noch das Beste fügen, das Licht von oben. Hast Du selbst Frieden mit Gott, dann wird es ja gar nicht anders sein können, als daß es Dir darum zu tun ist, auch Deinen Lieben davon zu sagen und ihnen zu gleichem Glücke zu verhelfen.«

Frau Rat seufzte tief auf. Sie merkte wohl, wie viel ihr selbst fehlen müsse, und es kam ihr wie eine schwere Last zum Bewußtsein, wie untreu sie gegen ihren Heiland gewesen sei, ja wie weit sie von ihm fortgerissen sei durch lauter irdische Dinge. Darum sagte sie nach einer kleinen Pause gedrückt, während ihr plötzlich die Tränen kamen:

»Agnes, bete Du um Licht für mich und die Meinen! Ich fürchte, es fehlt uns allen, und wir haben uns um alles andere mehr gekümmert, als um das Heil unserer Seele.«

»Gut«, sagte die Kranke freundlich, »das will ich wohl tun! Aber lies Du selbst von nun an wieder wie in unserer Mädchenzeit im Neuen Testament, und suche mit Jesu in Ordnung zu kommen. Sein Wort ist das beste Bollwerk gegen die Gefahr, von ihm losgerissen zu werden.«

Die schräg ins Zimmer fallenden Sonnenstrahlen mahnten daran, daß der Abend hereinbrach, darum stand Frau Rat auf und versprach, in diesen Tagen, wo sie hier in H. die Wohnung für ihre Kinder besorgen wolle, wiederzukommen. Dabei fiel ihr ein, ob sie die Freundin nicht unterstützen könne. Als sie ganz schüchtern eine Andeutung nach dieser Seite hin machte, wehrte die Kranke lächelnd ab: »Laß nur gut sein! Ich habe genug und bin sehr zufrieden, wenn unsere kleine Wirtschaftsrechnung am Ende jeden Monats glatt aufgeht. Bei meiner kleinen Pension kommen Katharine und ich schon aus, und der Ertrag meiner Bildchen, wenn ich einmal eins verkaufe, gibt uns noch manchen Extragroschen für Leute, die ärmer sind als wir.«

Die Freundinnen schieden herzlicher noch und wärmer, als sie sich begrüßt hatten, und Frau Rat ging mit dem Gefühl fort: »Du hast heute eine Lehre bekommen, an der du zu lernen haben wirst dein Lebelang!« Ja, am Abend im Hotel schämte sie sich, daß sie kein Neues Testament im Handköfferchen mit sich genommen, sondern nur einen Band der Romanbibliothek. Dafür suchten ihre Gedanken im Gebet nach langer Zeit zum erstenmal wieder die Richtung zum Heiland ihrer Seele.

 

III.

Drei Tage waren seit Großmutters Rückkehr aus H. vergangen. Sie hatte eine passende Wohnung gefunden und sonst noch manches für den Umzug der Familie und die Neueinrichtung einer größeren Wohnung besorgt.

Da saß abends nach dem Tee Herr Werner mit der Zeitung und der brennenden Zigarre bei seiner Frau, die ein Kinderkleidchen flickte. Wiederholt sah die junge Frau zu ihrem Manne herüber, als wartete sie nur, bis er mit der Zeitung fertig sei, um ihm etwas Wichtiges zu sagen, was sie bewegte. Endlich legte er das Blatt hin und schaute auf.

»Felix, ist Dir nichts an Mütterchen aufgefallen, seit sie aus H. zurück ist?«

»An Mutter? Hm«, machte er, »sie schien mir ein wenig müde von der Reise zu sein, wenigstens habe ich sie sonst nicht wohl so still gesehen.«

»Nein,« sagte die junge Frau nachdenklich, »es ist etwas ganz anderes!« und dabei zog ein seines Rot über ihre zarten Züge. »Denke dir, sie hat gestern und vorgestern abends mit Kurt und Maria vor dem Schlafengehen gebetet.«

»Gebetet?« fragte Herr Werner verwundert und sah seine Frau groß an. »Nun, das ist ja reizend. Das finde ich sehr nett, wenn kleine Kinder so die Händchen falten und ein haar hübsche Gebetsreime sprechen. Dagegen kann man nichts haben. Weißt du, Gustchen, das ist sogar poetisch, das erinnert einen an die eigene Jugend, und ich glaube gelesen zu haben, daß die Kaiserin es mit ihren Kindern auch tut.«

»Dann hätte ich das wohl auch schon längst mit meinen Kindern anfangen sollen?« fragte die junge Frau etwas spitz.

»Ach, liebes Kind, das ist Geschmackssache! Bei manchen gehört das so zum Stil. Wenn's geschieht, ist es ja ganz hübsch, aber schließlich kommt ja wenig darauf an. Darüber brauchst du dir keine grauen Haare wachsen zu lassen!«

»Ja aber, lieber Mann, denke doch nur, daß sie heute in die Küche gegangen ist, als Lisette und Christel sich wieder einmal zankten, und da hat sie nicht, wie sonst wohl, gedonnert und gescholten, sondern sie hat ihnen mit sanfter Stimme eine ganz ordentliche Predigt gehalten, wie sich das für Christenmenschen nicht zieme, und was wohl der Heiland dazu sagen würde, wenn er solch einen Zank mit anhören würde. Die Christel hat es mir später mit einem so impertinenten, spöttischen Zuge um die Lippen wiedererzählt und in einem Atem dazu gesetzt, ob die alte Frau Rat wohl krank sei.«

Der Mann lachte kurz und erwiderte gähnend;

»Aber, lieber Schatz, deine Mutter hat es bisher so gut verstanden, unsere Küchendragoner in Ordnung zu halten, daß dich das doch nicht aufzuregen braucht, wenn sie einmal als neuestes Mittel auch andere Saiten aufzieht. Die Hauptsache bleibt doch bei den Kindern wie bei den Dienstboten, daß die Methode, nach der man sie behandelt, auch wirklich etwas hilft. Hilft's bei den Dienstboten mit dem Heiland, so mag's meinethalb so gemacht werden. Mir ist's ganz egal!«

»Aber, Felix, du verstehst mich noch immer nicht recht!« fuhr die Frau beharrlich fort. »Ich behaupte, es ist mit Mütterchen selbst ein vollständiger Umschwung eingetreten. Ist dir zum Beispiel garnicht aufgefallen, daß die sonst so lebenslustige Frau, die hier kein Lustspiel durchgehen läßt, wo es etwas tüchtiges zu lachen gibt, jetzt plötzlich zehn Tage in H. gewesen ist, ohne auch nur mit ihrem Fuß das dortige Theater betreten zu haben? Sie wußte nicht einmal, was in der Zeit dort auf dem Theaterzettel gestanden hat. Dagegen erzählte sie mir, als wäre das von der allergrößten Wichtigkeit, daß unsere neue Wohnung in H. in dem Pfarrbezirk eines gläubigen jungen Pastors liege. Sie hat ihn predigen gehört und ist ganz hin. Ja, sie freut sich schon darauf, daß wir nächstens alle zusammen diesen Gottesmann hören werden.«

»Allerdings sehr merkwürdig,« lächelte Herr Werner und strich mit so gleichgiltigem Gesichtsausdruck, als ginge ihn das garnichts an, die Asche von der Zigarre.

»Dann hat sie mir auch wieder mit großer Bewegung, ja sogar mit Tränen von dem Wiedersehen mit ihrer kranken Jugendfreundin, einer pensionierten Lehrerin, erzählt, und da klang durch alles immer wieder hindurch, was das für eine fromme, gläubige Person sei, und wie eigentlich doch alle Menschen so glauben müßten und Ernst machen müßten mit dem Christentum u. s. w. Mir scheint eben, der Einfluß dieser kranken, überspannten Seele hat Mütterchen ganz aus dem Häuschen gebracht. Und nun denke ich, wenn wir nach H. kommen, wird sich das nur noch steigern und da können wir schöne Geschichten erleben. Sie ließ schon heute so ein Wort fallen, daß man doch eigentlich Tischgebet haben müsse und sich auch ein christliches Sonntagsblatt halten soll, und was dergleichen ähnliche pietistische Schrullen mehr waren. Ich fürchte, ich fürchte, unser schönes, friedliches Beisammensein wird durch dergleichen einen starken Stoß bekommen!«

»Ihr Frauen« hob der Mann lächelnd an, »seid doch krause Geschöpfe! Ihr hängt euch an all das schwammige Gefühl, an tausend nebensächliche Kleinigkeiten. Hat deine Mutter bis jetzt uns in unserm Haushalt nur genützt, dir eine ganze Menge Arbeit abgenommen, und ist sie mir nie dabei im Wege gewesen, sondern im Gegenteil wie eine vernünftige, praktische, ältere Freundin, was machst du dir jetzt für Sorgen, wenn die alte Frau ein bischen nach der Muckerkante schlägt? Weißt du, das haben alte Leute schon einmal so an sich, und man kann ihnen das nicht krumm nehmen. Manche Freuden des Daseins sind ihnen versagt, sie sind in vielen Stücken von der Natur nicht mehr so gut bedacht wie wir und da suchen sie sich allerlei Herzenstrost. Sieh doch die Frau unseres verehrten Chefs an! Früher war sie die glänzendste Balldame und schwärmte für Wagnersche Musik, und seit sie den ersten Schlaganfall erlitten, ist sie mit einem male der reine Barmherzigkeitsengel geworden! Sie strickt jetzt Strümpfe für arme Kinder, redet und tut Gott weiß was alles in Armenkränzchen und Frauenvereinen, und ihr Mann läßt sie doch vollständig in Ruh. Schlimmer wird deine Mutter auch durch solche religiöse Schwärmerei nicht werden! Also wovor fürchtest du dich eigentlich?«

Die junge Frau stützte den Kopf in die Hand und sagte gedrückt:

»Lieber Felix, du weißt nicht, mit welcher Sorge ich mich eigentlich von Anfang an getragen habe, seit Mutter zu uns gezogen ist. Wenn ein Mann auch so gutmütig und geduldig ist wie du, so bleibt Schwiegermutter immer Schwiegermutter, und da habe ich immer gefürchtet, wenn irgend etwas kommt, wo ihr einmal so ganz verschiedener Meinung seid, dann könnte es zu einem Krach kommen. Das wäre mir schrecklich! Wie würde ich mich hin- und hergeworfen fühlen! Gewiß, ich stehe zu dir, aber die Mutter bleibt doch immer die Mutter. Und jetzt könnte leicht eine Meinungsverschiedenheit eintreten. Siehst du, ich habe das immer so gehört, wenn einer so ganz ernst macht mit seiner Stellung zum Christentum, dann gibt es mit den Leuten, die so frei stehen wie wir, lausend Zusammenstöße. Also z. B. wie wirst du dich stellen, wenn sie eines schönen Tages von dir verlangt, du solltest das Tischgebet im Hause einführen?«

»Nun, das wird sie ja nicht,« lächelte der Mann, »und schließlich, wenn wir unter uns sind und eins der Kinder auch wirklich so ein Gebetlein hersagt, so ist das doch kein großes Unglück. In meinem Elternhause wurde auch gebetet, wenn keine Gäste da waren, und du weißt doch selbst, daß meine Eltern keine Kopfhänger waren. An manchen Orten hat sich eben solche alte christliche Sitte noch länger erhalten, und wo es so in der guten Gesellschaft Mode ist, wie zum Beispiel in vielen adeligen Kreisen, macht man es eben ruhig mit.«

»Aber Felix, denke doch nur, wie sie jetzt über das Theater und unser ganzes Gesellschaftsleben urteilen wird. Ich denke mir das schrecklich, wenn sie da einmal so in der Gesellschaft mit den alten Geschichten vom Beten und vom Christentum herausplatzt.«

»Na, warte doch erst ab! Ich glaube, du siehst Gespenster. Die alte Frau hat gesunden Menschenverstand genug, um sich von den Hirngespinnsten einer kranken Freundin nicht so umgarnen zu lassen. Es hat für den ersten Augenblick vielleicht manches auf sie Eindruck gemacht, und sie ist lebhaft genug, diesen Eindruck auch gleich weiter zu geben, aber über kurz oder lang wird sie in dem gewohnten freundlichen Tone unseres Zusammenseins sich doch viel wohler suhlen, als in dieser geschraubten Geschichte.«

»Da kenne ich Mutter besser!« meinte Frau Werner. »Wenn sie mit ihrer ganzen Herzenskraft für eine Sache eintritt, dann lebt sie auch darin, und dann zieht sie entweder uns mit hinein oder aber es geht ein Riß durch unser Haus und durch unsere Herzen, vor dem mir eben graut.«

In derselben Zeit, wo im Wohnzimmer zwischen den Ehegatten dieses Gespräch stattfand, saß die alte Frau Rechnungsrat in ihrem Stübchen und schrieb seit vielen Jahren zum erstenmal an ihre kranke Freundin:

»Du hast mir bei unserem Zusammensein die Augen geöffnet für das Oberlicht, wie du es nanntest, für das Leben der Seele mit dem Herrn. Das ist mir zum großen Segen geworden! Habe ich doch in den wenigen Tagen seither mehr gelesen und gebetet, als in den letzten drei Jahrzehnten meines Lebens. Aber dieses neue Leben fordert von mir ein schweres Opfer! Ich kann doch nicht anders als meiner lieben Tochter gegenüber Bekenntnis davon ablegen, was mich jetzt so beschäftigt und bewegt. Dazu haben wir viel zu offen und kameradschaftlich miteinander verkehrt, als daß ich ihr so etwas verbergen könnte. Ja, mir scheint sogar, als könnte ich nur durch treues Bekennen und warme Fürbitte einigermaßen die Versäumnisse wieder gut machen, die ich mir auf diesem Punkt habe zu schulden kommen lassen. Anfangs muß sie mich garnicht verstanden haben, dann aber war sie so bestürzt, als redete ich irre, und darüber blutet mir jetzt das Herz. Wie ich nun heute Abend, ehe ich anfing an Dich zu schreiben, mein neues Testament aufschlug, fand ich gerade die Stelle, wo der Herr Jesus davon spricht, daß er solch einen Riß in die Häuser hineinbringe, daß durch ihn und seine Sache die Hausgenossen untereinander erregt werden, ja die Tochter wider die Mutter werde u. s. w. Das hat mich schrecklich getroffen. Was wird es erst geben, wenn mein lieber Schwiegersohn mir anfängt in geistlichen Dingen zu widersprechen und sich die Einführung dieses neuen Tones in sein Haus energisch zu verbitten?

Dann die Großkinder? Bin ich doch gestern Abend rot geworden bis unter die Haare, als mir der kleine Kurt, nachdem ich mit ihm gebetet hatte, das runde Händchen auf den Arm legte und mich mit seinen großen Kinderaugen so forschend ansah und fragte: »Großmutterchen, warum hast du früher niemals mit uns gebetet?« Ich fürchte, ich fürchte, meine alte Schuld wird mir den Mund schließen und ich werde nicht mehr gut machen können, was ich so lange unterlassen!

Du aber bist mit schuld, daß ich jetzt in diese Aufregung der Seele hineingekommen bin. Darum bete für uns und hilf du mir mit, daß die Seelen meiner Kinder und Großkinder womöglich noch für den Herrn gewonnen werden, ehe es zu spät ist!

Auch meinen anderen verheirateten Kindern habe ich gestern zum erstenmal geschrieben, so daß in den Briefen ein leiser Widerhall meines ganzen inneren Lebens nachklang. Werden sie nicht ebenso wie unser Stubenmädchen mich für etwas verrückt halten? Du glaubst nicht, wie verzagt und klein, wie schwach und arm ich mir vorkomme. Besonders, wenn ich an mein ganzes bisheriges so verlorenes Leben zurückdenke, dann will mich die Verzweiflung überfallen, und ich habe schon mehrmals heimlich mich ordentlich satt weinen müssen und immer wieder die Hände gefaltet und gebetet: Herr Jesu, decke zu mit deinem Leben, was ich verfehlt und gesündigt in meinem Leben, und wenn's noch möglich ist, dann laß über unsere Familie dein helles Licht kommen, das Oberlicht deiner Gnade von Oben! Du siehst, wie sehr deiner Fürbitte bedarf

deine arme alte Frieda.«

 

IV.

Seit drei Monaten lebten Werners in H. und schon hatte sich manche Befürchtung der jungen Frau bewahrheitet. Der Einfluß ihrer Mutter war stärker, als ihr Mann damals hatte zugeben wollen. Das erste Ereignis war noch in X. am Tage vor ihrer Abreise eingetreten. Das flinke und gründlich eingearbeitete Stubenmädchen Christel hatte gekündigt und dabei deutlich durchblicken lassen, daß sie es nicht mehr aushalten könne, seit die Frau Rat immer »mit das Christentum und allerlei so merkwürdige Wörter an ihr herumgepredigt habe«.

Doch das war schließlich zu verwinden. In H. angekommen, hatte Herr Werner in seiner neuen Stellung so viel zu tun, daß er sich weit weniger als früher seiner Familie widmen konnte; daher machte er sich aus manchen kleinen Veränderungen nichts, während seine Frau schwer daran trug. Nicht nur das Tischgebet war eingeführt worden, sondern auch ein gemeinsamer Kirchgang am Sonntag Vormittag; gemeinsam insofern, als Frau Rat darauf gedrungen hatte, die Tochter müsse wenigstens um ihrer Kinder willen mitgehen. So gingen denn die beiden Damen regelmäßig mit den Kindern in die Kirche. Herrn Werner war das ganz recht; hatte er doch dadurch am Sonntag Vormittag ein haar Stunden für sich allein zum Erledigen mancher Privatkorrespondenz.

Dieses regelmäßige Kirchengehen verfehlte seine Wirkung auf die junge Frau Werner nicht; denn der Pastor, den die kranke Freundin ihrer Mutter für sie ausgesucht hatte, war nicht nur ein lebendiger Christ, sondern auch ein tüchtiger Redner und konnte schon jemand fesseln. Ob sie es wollte oder nicht, sie empfing so manchen Eindruck, den sie nicht wieder los werden konnte. Ihr Gewissen wurde angefaßt, und manchmal ertappte, sie sich daraus, wie sie über gewisse Gedanken aus der Predigt die ganze Woche nachsann. Wenn sie es nur der Mutter hätte eingestehen wollen, – sie ging schon garnicht mehr bloß der Kinder wegen mit zur Kirche, sie hatte selbst ein Verlangen darnach, wieder etwas zu hören und sich Gedanken mitgeben zu lassen, die ihre Seele beschäftigten. Allerdings vermied sie geradezu ängstlich jede religiöse Aussprache mit der Mutter und wenn die alte Frau auch noch so warm über die eben gehörte Predigt oder einen Artikel in ihrem Sonntagsblatt mit ihr sprach, dann senkte sie errötend ihre Augen oder sah wie träumerisch aus dem Fenster, aber die Mutter sollte nicht lesen, was in ihrem Herzen vorging.

Frau Window hatte auch dem Pastor einen Besuch gemacht und dabei war sie denn mit allem herausgeplatzt, wie gleichgiltig gegen das Heil ihrer Seele sie selbst bisher gelebt habe, wie durch ihre Freundin jetzt wieder das alte Glaubensleben erwacht sei, und wie sie nun mit eigenem Wandel und Bekenntnis, ja mit heimlichem Gebet und Tränen daran arbeite, die Ihrigen dem Heiland zuzuführen. Ob der Pastor ihr nicht noch irgend einen besonderen Rat oder Wink geben könne, wie sie die scheinbar umpanzerten Herzen ihrer Tochter und des Schwiegersohnes erobern könne. Der Pastor lächelte und sagte:

»Der Weg zu den Herzen der Eltern geht in vielen Fällen durch die Kinder. Bringen Sie es dazu, daß man Ihre Enkelkinder in meine Sonntagsschule schickt! Da werden Sie vielleicht sich Hilfstruppen heranwachsen sehen in den Kindern. Wenn es Sie interessiert, dann sehen Sie sich erst einmal meine Sonntagsschule an! Ich gebe Ihnen nicht nur gern die Erlaubnis, an der Vorbereitungsstunde, die ich Freitags den Helferinnen gebe, teilzunehmen, sondern würde mich freuen, wenn sie selbst eine solche Gruppe von Kindern zu unterrichten übernehmen würden.«

»Ach, Herr Pastor,« meinte die Frau Rat ängstlich, »wo denken Sie hin! Dazu bin ich ja viel zu ungeschickt! Ich habe noch nie in meinem Leben einen andern unterrichtet.«

»Nun versuchen Sie es nur! Wenn jemandem das Herz für den Heiland so warm geworden ist, wie Ihnen, dann wird es ihm bei etwas gutem Willen auch gelingen, andern in der rechten Weise mitzuteilen, was das Herz erfüllt. Nebenbei gesagt, glaube ich, daß Sie Ihre eigenen Schriftkenntnisse und damit auch Ihren eigenen Christenstand vertiefen und stärken, wenn Sie an Vorbereitung und Sonntagsschule teilnehmen. Dann hätten ja auch Ihre Enkelkinder gleich jemand, der sie hinbringt und wieder nach Hause geleitet.«

Die alte Frau wurde nachdenklich, versprach aber denn doch einmal zur Vorbereitung und zur Sonntagsschule zu kommen, um sich die Sache anzusehen.

Als sie aber das getan hatte, war ihr ganzes Herz dafür eingenommen, und sie sagte dem Pastor für ihre Person sofort zu. Ob es zu Hause durchzusetzen sein würde, daß auch die Kinder kämen, konnte sie nicht mit Gewißheit sagen.

Da traf sichs, daß die kleine Maria eine Schulkameradin zu sich eingeladen hatte, die auch die Sonntagsschule besuchte. Es kam die Rede darauf, und es gab nun in Gegenwart der Kinder eine längere Auseinandersetzung über die Art der Sonntagsschule, ihren Segen und den Nutzen, den die Kinder dadurch für den Religionsunterricht und den späteren Konfirmandenunterricht hätten, daß Frau Werner schließlich die Erlaubnis dazu gab. Nur wurde eine Bedingung gleich vereinbart: Die Kinder sollten nur im Winter, etwa bis Ostern, die Sonntagsschule besuchen. Denn später gegen den Sommer hin mache man ja gerade Sonntags häufig Ausflüge, da in der Woche weder der Papa noch die Kinder frei wären, und das wolle man sich denn doch durch die Sonntagsschule nicht verkümmern lassen.

Mit strahlendem Gesicht zog die alte Frau Rat am nächsten Sonntag nach dem Gottesdienst mit ihren vier Enkelkindern ab. Bald hatte auch sie selbst eine feste Gruppe von kleinen Mädchen und gewann die Art dieser Arbeit lieb. Wohl mußte sie sich selbst zu Hause noch gründlich vorbereiten, aber da half ihr wieder ihre kranke Freundin; denn sie ging jeden Freitagnachmittag aus der Vorbereitungsstunde zu ihr und erzählte ihr ganz kurz, was der Pastor eben über den betreffenden Stoff gesagt habe. Dann verstand es die Kranke meisterhaft, ihr noch einige praktische Lichter in die Geschichte zu setzen: Bald war es ein erbaulicher Wink, bald ein Beispiel aus dem Leben, wie es die Kinder verstehen konnten, bald irgend ein kleines Geschichtchen, das die Wahrheit der Schrift glücklich beleuchtete.

Wurden so die Beziehungen zwischen Frau Window und ihrer Jugendfreundin immer enger und gesegneter für beide Teile, so konnte die alte Frau es doch nicht dazu bringen, daß ihre Tochter einmal mit ihr zu Agnes Felbenbrink gegangen wäre. Es war wie eine Art geheimer Angst, als würde der Einfluß, den diese Kranke auf ihre Mutter ausgeübt hatte, ihr selbst gefährlich sein. Jedenfalls sträubte sie sich jedesmal, wenn die Mutter sie bat: »Aber heute begleitest du mich doch?« auf das allerentschiedenste.

Da, eines Tages, kurz vor Weihnachten, hatte Frau Rat sich den Fuß verstaucht und konnte nicht ausgehen. Weil sie aber mit der Freundin die Bescherung einiger armer Familien unternommen hatte, war es unerläßlich, daß jemand heute noch zu Fräulein Felbenbrink ging, um die Adresse der einen Familie zu erfahren, sowie festzustellen, wie alt die Kinder in der betreffenden Familie feien.

Mit innerem Frohlocken bat darum die alte Frau ihre Tochter um diese Gefälligkeit und setzte ihr auseinander, was sie noch alles notwendig wissen müsse. Wohl oder übel mußte Frau Werner in den saueren Apfel beißen und ging hin. Heimlich hatte sie sich innerlich geradezu das Versprechen gegeben: Du läßt dich auf keinen Fall in ein religiöses Gespräch ein. Die Sache wird erledigt und damit basta!

Als sie aber in dem engen Stübchen auf dem Großvaterstuhl neben dem Krankenbett saß, und die Sterbenskranke sie mit ihren wunderbaren Augen gleichsam einfing, vergaß sie bald alle ihre Vorurteile. Man sprach nicht nur über die armen Familien, sondern über Malerei und Musik, und die Kranke entpuppte sich als ein feingebildetes und feinsinniges Wesen. Im Handumdrehen war man an einen Punkt gekommen, den keine echte Mutter gleichgültig an sich vorübergehen läßt: Die Kinder, ihre Charaktere und die rechte Art, sie zu erziehen.

Es dauerte nicht lange, da hatte gerade dieses Gespräch den Schlüssel zu Frau Werners Herzen herbeigeschafft. Und als Fräulein Felbenbrink von ihrer Erfahrung sprach, wie gerade das lebendige Christentum bei der Erziehung so ungemein viel helfen könne, da war man auch schon mitten in dem Gebiet, dem Frau Werner aus dem Wege zu gehen gelobt hatte. Es fiel ihr aber gar nicht ein, jetzt aufzustehen oder sonstwie ein solches Gespräch abzubrechen; im Gegenteil, mit gespanntester Aufmerksamkeit lauschte sie den begeisterten Worten der Kranken. Einige Einwürfe, die sie machte, wurden ihr in origineller Weise widerlegt, und sie fuhr ordentlich zusammen, als plötzlich die kleine Stutzuhr auf dem Schränkchen zwölf schlug. War es nur möglich, daß sie eine ganze Stunde hier gesessen hatte? Zugleich ward es ihr klar, wie sie schon von dem Zauber der Kranken angesteckt sei. In sichtlicher Verlegenheit stand sie darum auf und sagte:

»Es ist gleich Mittag, ich muß nach Hause!«

»Nun, ich hoffe, es ist nicht das letzte Mal, daß Sie mich besucht haben, wenn man mit der Mutter so viel Gemeinsames hat und so viele Liebesbande unsere Seelen verbinden, wie sollte es da anders sein, als daß man auch einer Tochter näher tritt, die äußerlich schon so sehr an die Mutter mahnt, wie diese einst als Mädchen aussah.«

Die junge Frau errötete und versprach wiederzukommen, ja, auch, was die Kranke besonders warm sich erbeten, einmal die Kinder mitzubringen, und dann eilte sie heim mit einem ganz wunderbaren Gefühl: Hatte sie heute allen Boden unter den Füßen verloren? Hatte diese Kranke wirklich recht, dann war sie eine Rabenmutter gegen ihre Kinder gewesen, dann hatte sie ihren Kindern das Beste vorenthalten! Ja, dann hatte sie sich auch gegen ihre Mutter versündigt, und – es wurde ihr schwer, das vor sich selber einzugestehen, – auch gegen ihre eigene Seele und gegen ihren Heiland!

Frau Window merkte an der heimkehrenden Tochter und der Art, wie sie sich darüber entschuldigte, daß sie so lange bei der Kranken gewesen, daß sie Feuer gefangen haben mußte und betete um so inniger für ihr Kind. Aber wunderbar genug, es kam an diesem Tage noch nicht zu einer Aussprache zwischen den beiden Frauenherzen.

Dann kamen all die Vorbereitungen für Weihnachten im ganzen Hause und für die Bescherung der armen Familien. Darauf die Festtage mit dem Jubel der Kinder, mit Besuchen, die man empfing oder machte, und so gingen mehrere Wochen darüber hin, ohne daß der versprochene Besuch mit den Kindern bei Fräulein Felbenbrink ausgeführt werden konnte.

Nur einmal war noch davon die Rede, als die alte Frau Rat von einem Besuch bei ihrer Freundin heimkehrte und mit ernstem Gesicht berichtete:

»Die arme Agnes hat schwer zu leiden! Es scheint, als bekäme sie die Influenza. Da sie niemand Vernünftiges hat, der sie pflegt, außer der alten ungeschickten Katharina, muß ich jetzt täglich auf einige Zeit hingehen. Man kann sie unmöglich so allein liegen lassen!«

 

V.

Es war wirklich Influenza. Und der junge liebenswürdige Doktor, den Frau Window am nächsten Tage bei der Kranken traf, schien wenig Hoffnung zu haben. Als er im ersten Zimmer auf die Frage der Frau Rat im Flüstertöne und mit Achselzucken gesagt hatte: »Das gute Fräulein hat nichts zuzusetzen! Sie war schon halb tot, ehe sie diesen Influenza-Anfall bekam, darum stehe ich für nichts!« wirkte diese Hiobspost auf die alte Frau wie ein Donnerschlag. Ohne daran zu denken, wie die Kranke sich wohl freuen würde, endlich von ihrem langen Leiden erlöst zu sein, hatte sie im ersten Augenblick nur daran gedacht, was sie dadurch verlieren würde.

Sie mußte wohl noch nicht ganz Herrin ihrer Mienen geworden sein, als sie wieder ins Krankenzimmer trat, denn nach einem scharfen Blick, den die Sterbende ihr zugeworfen, strahlte es plötzlich in ihren Zügen auf, und sie rief ganz glücklich aus:

»Gott sei Dank, der Doktor scheint keine Hoffnung mehr zu haben! O wie wohl wirds tun, wenn ich ausgespannt heimkomme in den ewigen Frieden!«

Frau Rat setzte sich stillschweigend auf den Sessel und konnte sich nicht halten: die hellen Tränen liefen ihr über die Wangen. Die Kranke aber sagte:

»Worüber regst du dich jetzt auf? Wenn der versprengte kranke Vogel endlich ins heimische Nest kommt, wenn die Seele endlich frei wird vom Druck des Leibes, sollte man sich darüber nicht von ganzem Herzen freuen können?«

»Wie wird uns sein, wenn endlich nach dem schweren
Doch nach dem letzten ausgekämpften Streit
Wir aus der Fremde in die Heimat kehren
Und einziehn in das Tor der Ewigkeit,
Wenn wir den letzten Staub von unfern Füßen,
Den letzten Schweiß vom Angesicht gewischt.
Und in der Nähe sehen und begrüßen.
Was oft den Mut im Pilgertal erfrischt!«

Als Frau Window noch immer nicht sprechen konnte, fing die Kranke nach einer kleinen Pause wieder an, während das glückliche Lächeln nicht mehr von ihrem Antlitz weichen wollte: »Jetzt wollen wir noch schnell alles nötige besprechen; wer weiß, ob ich es später noch kann: Du bist so gut und gehst zum Pastor und bittest ihn, sobald er kann, vielleicht morgen früh, mir das Abendmahl zu reichen. Wäre es nicht schön, wenn wir beide es noch zusammen empfingen?«

Die Angeredete nickte unter Tränen.

»Dann möchte ich dich bitten, meine Bilder, die hier hängen, die ich alle selbst gemalt habe, an dich zu nehmen, und, wenn es dir gelingt, sie zu verkaufen. Verfahre mit dem Erlös, wie ichs bisher getan habe: laß einige arme Familien davon Unterstützung erhalten. Alle meine Möbel und das bischen Wäsche, was ich noch habe, habe ich meiner alten Katharine vermacht. Was sie davon nicht behält, hilft ihr doch etwas für ihre alten Tage. Die silbernen Löffel von meiner seligen Mutter bitte ich dich, damit sie in der Familie bleiben, meiner Kousine, Frau Blecher, geborene Felbenbrink in Bonn zu schicken. Dort im obersten Schubfach des Schränkchens steht das alles auf einem großen Bogen aufgeschrieben. Dort findest Du in einem gelben Kouvert noch etwas über hundert Mark; davon soll meine Beerdigung bestritten werden. Dann habe ich noch zwei Menschen, die ich dir vermachen möchte.«

»Menschen?« fragte Frau Window verwundert.

»Ja, Menschen, an denen ich gearbeitet habe, und bin mit ihnen nicht fertig geworden! Da ist eine frühere Schülerin von mir, Linda von Horsting, ein prächtiges begabtes Mädchen. Du hast ihr Bild schon neulich bewundert. Man siehts diesen klaren Zügen an, daß ein reiner und starker Geist in ihnen wohnt. Sie hat viel Anhänglichkeit an mich bewiesen, so lange sie hier war. Jetzt ist sie seit einem halben Jahre bei ihrer Tante auf dem Lande; soviel ich weiß, kommt sie nächstens wieder hierher. Aus einem Päckchen Briefe, die sie im Laufe der letzten vier Jahre an mich geschrieben hat, – sie liegen auch dort im Schubfache des Schränkchens, – wirst du ihren Charakter erkennen können. Es fehlt ihr immer noch an der rechten, demütigen Hingabe an den Heiland und darum kommt sie zu keinem Frieden. Ich glaube auch, es fehlt ihr die rechte Arbeit, die klare, feste Lebensstellung – die armen, wohlhabenden Mädchen haben mich immer gedauert! – Dabei ist sie eigentlich wirklich klug genug, und menschlich genommen, gut genug, um jeden Mann glücklich zu machen. Also ich lege sie dir aufs Herz, daß du für sie betest. Sie hat sonst niemand in ihrem Kreise, der wirklich ein lebendiger Christ wäre.«

»Ja aber«, fiel Frau Rat verlegen ein, »wie soll ich an die mir ganz fremde Dame heran kommen?«.

»O, du bist ihr nicht fremd! Ich habe ihr schon mehrfach von dir geschrieben, und sie kommt gewiß zu meiner Beerdigung. Da kannst du es ihr ja gleich sagen, daß du in diesem Punkte meine Stelle vertreten willst.«

»Ach, liebe Agnes, ich fürchte, dazu habe ich nicht das Zeug! Deine Art kann ich nicht ersetzen!«

»Sprich nicht so! Der Herr Jesus kann aus uns schon das machen, was er an uns haben will, sobald wir Mut haben, uns ihm ganz zu übergeben, und vielleicht hilft gerade deine praktischere Art ihr besser voran, als es mir vergönnt war.«

Frau Window faltete die Hände und nickte bewegt. Was sollte sie auch jetzt widersprechen, wo es sich um den letzten Willen einer Sterbenden handelte. Das viele Sprechen schien die Kranke ermüdet zu haben, denn sie schloß für einen Augenblick Lippen und Augen, und lehnte sich müde zurück. Aber der starke Wille, siegte wieder über diesen Anfall körperlicher Schwäche, und sie raffte sich noch einmal auf.

»Nun bin ich gleich fertig. Mein letztes Stück vom Testament betrifft meinen lieben jungen Doktor. Er ist der Sohn meiner ersten Schülerin, die ich je gehabt, und mit der ich unvergeßliche Stunden durchlebt habe. Als sie starb, war er Student, und da hat sie ihn mir brieflich aufs Gewissen gebunden. Ich habe für ihn gebetet und ihm den Heiland bezeugt, so oft ich konnte und so gut ich's vermochte, aber er ist nicht zum lebendigen Glauben hindurchgedrungen. Da kann ich nicht aus der Welt scheiden, ohne auch diesen jungen Mann jemandem ans Herz zu legen der in die Gebetsarbeit für ihn eintritt.«

Wieder seufzte Frau Window und sagte ängstlich:

»Aber, Agnes, wenn ich auch gern dir versprechen will, für ihn zu beten, so habe ich doch garnicht die Beziehung zu ihm, wie du, und werde ihm wenig nützen können.«

Statt der Antwort fragte die Sterbende schnell: »Hat dein Schwiegersohn hier schon einen Hausarzt genommen?«

»Nein«, war die erstaunte Antwort, »es ist noch kein Krankheitsfall vorgekommen.«

»Nun sieh mal,« fuhr Agnes fort, »das ist ja prächtig! Dann sorgst du dafür, daß er euer Hausarzt wird. Dann gibt es sicherlich auch Beziehungen, wo du für seine Seele etwas tun kannst. Soviel ich weiß, hat er auch nicht viel bekannte Familien hier am Orte, da könntest du ihn einladen und ihm eine treue mütterliche Freundin sein. Ich glaube, jetzt bin ich fertig, und wenn es des Herrn Wille wäre, dann könnte er mich heimrufen, daß ich zu der Vollendung der Gerechten im Lichte gelange.«

Die alte Frau Rat saß in tiefer Bewegung am Sterbebette ihrer Freundin und konnte sich noch immer nicht in den Gedanken hineinfinden, daß es so bald mit ihr zu Ende gehen sollte. Am liebsten wäre sie jetzt gleich ganz bei der Sterbenden geblieben, aber das ließ diese nicht zu.

»Du bist selbst bejahrt und brauchst dein Teil Ruhe. Gehe nur heute Abend ruhig heim! Des Nachts versieht Katharina schon die kleinen Dienste an meinem Bette. Oft habe ich sie ja nicht nötig. Wenn du nur heute Abend den Pastor bestellst und morgen früh hier bist, damit wir zusammen das Abendmahl nehmen können.«

Am andern Morgen gab es noch eine ergreifende Feier. Der Pastor hatte zu seiner Abendmahlsvorbereitung den Text genommen Jesaia 43, 4: »Weil du so wert bist vor meinen Augen geachtet, mußt du auch herrlich sein, und ich habe dich lieb.« Er sprach dabei über die Erziehung, die der Herr seinen Kindern muß angedeihen lassen, im Blick auf alles Großartige, was sie bei ihm einst erben sollen. Sie waren alle drei bewegt und spürten beim heiligen Male die Nähe des Herrn.

Am andern Tage fehlte Frau Window in der Sonntagsschulvorbereitung, – brachte sie doch jetzt den größten Teil des Tages an dem Sterbebett ihrer Freundin zu. Ebenso war es ihr unmöglich, am Sonntagmorgen zur Kirche, noch, wie sie es sonst pflegte, mit ihren Enkelkindern zur Sonntagsschule zu gehen, da sie schon sehr früh zu Agnes geeilt war. Jetzt gab es im Windowschen Hause einen großen Sturm. Die Kinder verlangten kategorisch in die Sonntagsschule gehen zu dürfen. Allein wollte Frau Werner sie nicht gern gehen lassen. Das Stubenmädchen aber hatte seinen freien Sonntag und Lisette mußte kochen. Als nun der kleine Kurt sich ihr an den Arm hängte und schmeichelnd bat: »Liebes Mütterchen, geh du doch mit uns! Du wirst schon sehen, wie schön es da ist!« konnte sie nicht widerstehen.

Mit klopfendem Herzen folgte sie ihren Kindern in den großen Saal, wo etwa fünfhundert Kinder in dreißig Gruppen unterrichtet wurden. Eine Dame, zu deren Gruppe Marie gehörte, kam freundlich auf sie zu, und als Kurt ganz stolz sagte: »Das ist unsere Mama!« stellte man ihr einen Stuhl in die Nähe der Gruppe, sodaß sie sowohl dem Unterricht dieser Lehrerin, als auch der Schlußansprache des Pastors beiwohnen konnte. Beides machte einen großen Eindruck auf sie. Es kam ihr vor, als schlüge in der letzten Zeit jedes Wort, das sie vom Pastor hörte, so ganz anders an ihr Ohr, seit sie mit Fräulein Felbenbrink persönlich bekannt geworden war. Auch die lieben, drolligen Antworten der Kinder rührten sie. War sie nicht einst auch ein gläubiges, glückliches Kind gewesen? Wodurch war sie denn überhaupt soweit weg von dem Besitze des Friedens und des Glückes gekommen, das ihre Kinder, ihre alte Mutter und deren Jugendfreundin besaßen?

Als sie aus der Sonntagsschule heimwärts pilgerten, konnte sie sich kaum zwingen, dem munteren Geplauder ihrer Kinder Gehör zu schenken, da sie innerlich soviel mit sich selbst zu tun hatte. Wie sie jetzt in den Flur ihrer Wohnung kamen, gab es eine neue Aufregung. Da saß auf einem Stuhl neben dem Mantelstock ihre Mutter noch in Hut und Mantel und schluchzte laut.

»Großmutter weint,« sagte der kleine Kurt halblaut zur Mutter. »Wer hat ihr was getan?«

Auch die anderen Kinder waren bei diesem Anblick ebenso betroffen, wie Frau Werner selbst.

»Mütterchen, was ist denn geschehen, daß du hier so sitzest und weinst?« fragte Frau Werner.

»Ach, sie ist eben heimgegangen! Ich habe ihre lieben, lieben Augen zugedrückt. Du kannst nicht fassen, was ich an ihr verloren!«

Durch die schlanke Gestalt der jungen Frau flog's wie ein Schauder: Was, Fräulein Feldenbrink gestorben? Dieses hochbegabte, wunderbare Geschöpf tot?«

Sie mußte an sich halten, um nicht auch sofort in Tränen auszubrechen; ja sie mußte noch mehr an sich halten, um nicht der Mutter sofort zu gestehen, was auch sie selbst bei ihrem einmaligen Besuch am Krankenbette der Vollendeten erlebt hatte!

 

VI.

Frau Werner ließ sich's nicht nehmen, ihre Mutter zu dem Begräbnis zu begleiten.

Die kleinen Zimmer waren ausgeräumt und durch die Fürsorge der alten Frau Rat in eine würdige Trauerkapelle verwandelt worden: grüne Gewächse und Trauerflor im Hintergrund. In der Mitte der aufgebahrte Sarg: schneeweiß, wie die Verstorbene ihn sich gewünscht hatte, und schier verdeckt von der Menge der Blumen und Kränze, die die Schülerinnen der Verstorbenen gespendet hatten. Es waren auch manche von ihnen persönlich zum Begräbnis gekommen, und so hatte die einsame Dulderin, wie Frau Window mit einer Art Befriedigung von der alten Katharina vernahm, doch noch ein ganz »großartiges Begräbnis.« Auch, daß der Doktor und Fräulein von Horsting unter den Leidtragenden sich befanden, war Frau Rat eine Beruhigung, konnte sie doch gleich für sie beten und eine Beziehung zwischen diesen Menschen suchen.

Der Pastor, der die Heimgegangene gut gekannt hatte, sprach über dasselbe Wort, das er bei der letzten Abendmahlsfeier der Verstorbenen ans Herz gelegt hatte, und betonte es mit leuchtenden Augen, was für eine Freude ihm solch ein Begräbnis sei. Wenn man sonst die Leute nicht näher gekannt habe, wie das die Verhältnisse der Großstadt oft mit sich brächten, und solle dann an ihrem Sarge reden, so sei das eine schwere Aufgabe. Freilich, wenn man erst wisse, daß sie im Unglauben gelebt und gestorben, da sei das noch viel schwerer. Heute dagegen könne er einmal mit Dank gegen Gott auf der Verewigten Lebenslauf zurückblicken. Hier habe die himmlische Zucht von oben ein Menschenkind reif für die Ewigkeit gemacht, und der wunderbare, selige Friede, der bis in die letzten Augenblicke die Selige erquickt, sei wie ein Unterpfand dafür, daß hier des Meisters Arbeit zur Vollendung gekommen. Dann wandte er sich an die Anwesenden und forderte von ihnen vollen Ernst der Herzenshingabe an den Herrn, damit auch ihnen einst solch ein Sterben beschieden sein könne.

Es lag eine derartige Weihe über der ganzen Feier, daß sogar der Doktor, als Frau Rat ihm nachher die Hand drückte, sich nicht enthalten konnte, zu sagen:

»Der Hauch des Geistes, der hier im Leben gewaltet, war eben wirklich zu verspüren.«

Ganz glücklich über diesen Ausspruch, hob sich die Frau Rat auf die Fußspitzen, um dem viel größeren Doktor ins Ohr flüstern zu können:

»Herr Doktor, die Stelle der Seligen bei Ihnen soll von nun an ich versehen. Sie hat sie mir vermacht. Jetzt müssen Sie mich auch besuchen und mir meine Aufgabe nicht zu schwer machen.«

Der junge Mann schien ganz bewegt zu sein, denn er drückte ihr noch einmal die Hand und antwortete ebenso leise:

»Ich danke Ihnen! Das sieht der Vollendeten ähnlich, daß sie noch weiter an mich gedacht.«

Da das mit dem Doktor so gut gegangen war, stieg Frau Rat der Mut, sich auch an Fräulein von Horsting heranzumachen. Sie richtete es so ein, daß, als man die Wagen bestieg, sie neben dem Fräulein stand und ihr sagen konnte:

»Bitte, steigen Sie mit mir in einen Wagen, ich habe Ihnen noch einen Gruß von unserer Freundin zu sagen.«

Damit sie mit ihr allein sein könne, stellte sie schnell den Doktor ihrer Tochter vor und bat ihn:

»Bitte, begleiten Sie meine Tochter! Ich habe da jemand, mit dem ich etwas Besonderes zu reden habe.«

Auf diese Weise, dachte sie, würde der Doktor gleich mit der Tochter bekannt, und es fiel ihr dann später nicht schwer, dafür zu sorgen, daß er, nach dem Wunsche von Agnes, auch bei ihnen Hausarzt wurde.

Fräulein von Horsting war eine angenehme Erscheinung. Eine schlanke Gestalt, der heute das schwarze Trauerkleid sehr gut stand, nachdenkliche blaue Augen und eine freie, von leicht gewelltem, wunderbar hellem Haar umrahmte Stirn verliehen ihr besonderen Reiz. Bei dem langsamen Fahren hinter dem Leichenwagen schüttete Frau Rat ziemlich unvermittelt ihr Herz aus, was sie an der Dahingegangenen gehabt habe und was sie in den letzten Tagen des Leidens und Sterbens derselben noch erlebt. Ihre Begleiterin weinte mit ihr und gab ungefragt zu, daß sie manchmal durch ihre Zweifel und Eigenart der geliebten Lehrerin Sorge gemacht habe.

»Es ist heutzutage so schwer, wirklich ganz kindlich zu glauben, wie Fräulein Felbenbrink es konnte, wenn man in einer Gesellschaft lebt, wo so eine ganz andere Luft weht, wo man über alles ganz anders urteilt. Dann ist es für ein junges Menschenkind auch kaum möglich, ununterbrochen zu widersprechen oder andere dadurch zu reizen, daß man ihr Leben und Wesen eigentlich für Sünde erklären müßte. Wer so von aller Welt abgeschieden leben kann, wie die Selige, der hat es leichter, sich mit allen Gedanken nur an den Herrn zu klammern. Uns aber bringt die Abwechslung des Alltages und die Berührung mit anderen Menschen immer wieder neue Gefahr.«

»Sie haben gewiß nicht ganz unrecht,« sagte Frau Rat, indem sie ihre anmutige Gefährtin mit freundlichem Blick anschaute. »Mir ist es ja selbst vor einigen Monaten ähnlich gegangen, daß ich alte Frau erst durch das Oberlicht, das Agnes mir gezeigt, so recht zum Glauben durchgedrungen bin, und nun anfangen mußte, vor denselben Leuten Jesum zu bekennen, denen gegenüber ich jahrelang von ihm geschwiegen hatte. Aber da hat mir Agnes gründlich den Star gestochen. Nicht was ich den andern vom Heiland erzähle, ist die Waffe meiner Ritterschaft, sondern was ich von ihm habe; erst muß er in mir etwas geworden sein, daß seine Art ganz leise anfängt durch mein Benehmen und Leben herauszustrahlen, dann wird auch ein gelegentliches Zeugnis eine Kraft haben, sonst nicht!«

»Ach, liebe Frau Rat, so weit bin ich gar nicht!« seufzte das junge Mädchen. »Ich bete wohl dann und wann, höre zuweilen auch gern eine gute Predigt, blätt're dann am Sonntagnachmittag in solchen guten Büchern, wie sie mir die Selige zur Anschaffung empfohlen hat, aber das ist alles ohne die eigentlich tiefgehende Wirkung auf mich geblieben, von der Fräulein Felbenbrink immer sprach. Ich höre von einem Frieden, den ich selbst nicht habe.«

»Da kann ich Ihnen nur den einen Spruch ins Gedächtnis rufen,« gab Frau Rat zurück: »Wer den Willen des tun wird, der mich gesandt hat, der wird inne werden, ob meine Lehre von Gott ist,« hat Jesus gesagt. Tun Sie wirklich, was der Herr von Ihnen verlangt? Vorher kann man doch eigentlich vom Christentum gar nicht reden.«

»Tun?« fragte die andere verlegen. »Ja, wie soll ich denn das verstehen?«

»Nun, zum Beispiel, verleugnen Sie sich selbst, suchen Sie das Glück in der Erfüllung Ihrer Pflicht darin, daß Sie sich bemühen, andern das Leben zu erleichtern. Oder denken Sie zu viel an sich selbst und Ihr eigenes augenblickliches Wohlbehagen?«

Eine Weile stockte jetzt das Gespräch. Es kam keine Antwort, und Frau Rat seufzte innerlich um Weisheit, wie sie an ihre Pflegebefohlene recht herankommen könne. Plötzlich rief Fräulein von Horsting fast heftig:

»Ich habe keinen Beruf, ich habe keine Arbeit, ich lebe nur meinem Vergnügen, ich verkehre nur mit Menschen, die mir gefallen, und denke an nichts anderes, als wie ich mich recht gut amüsieren kann!«

Frau Rat legte begütigend die Hand auf den bebenden Arm der neben ihr Sitzenden und sagte:

»Liebes Fräulein, dem kann abgeholfen werden! Sie treten in die Sonntagsschule ein, und da haben Sie schon etwas Arbeit. Dann bringe ich Sie zum Pastor und sage ihm: Hier ist eine Lilie auf dem Felde, die nicht spinnt, und unser Herrgott kleidet sie doch, und jetzt will sie Ihnen helfen in der Armenpflege! Dann sollen Sie in vier Wochen ein anderes Lied singen. Wenn man erst in all das tiefe Weh anderer Menschenherzen hineinsieht, und sich ernstlich damit abgibt, Fremder Leid zu lindern, dann wird man glücklich. Es fragt sich nur, können Sie sich von Ihren gesellschaftlichen Verpflichtungen so leicht lösen?«

»Das denke ich doch!« war die schnelle Antwort. »Ich habe nur entfernte Verwandte, bin im Geldpunkte, wenn nicht glänzend, so doch wenigstens ganz selbständig gestellt, und brauchte mich bloß von einigen Familien zurückzuziehen, bei deren Gesellschaftsabenden meine Seele keine Nahrung und keinen Segen empfängt. Ich habe aber bisher nicht den Mut gehabt, mich selbst zu verleugnen und mit so manchem zu brechen. Wenn Sie also mir die Hand reichen wollen und mich in ein gesegneteres Leben hineinziehen, dann will ich Ihnen dankbar sein.«

Die alte Frau ergriff die dargebotene kleine Hand und drückte sie herzhaft.

»Abgemacht, mein Kind, von jetzt ab gehören Sie mir! Muß ich doch nach dem letzten Wunsch meiner Agnes täglich für Sie beten.«

»Für mich?« fragte Fräulein von Horsting ganz bewegt, und wieder kamen ihr die Tränen.

Nun erzählte ihr Frau Rat von dem Auftrag der Heimgegangenen, soweit er sie betraf. Das schien dem jungen Mädchen so überwältigend zu kommen, daß sie schluchzend der alten Frau um den Hals fiel und sie sich unter Tränen küßten.

Jetzt sprach man nicht mehr bis zum Kirchhof. Beiden war das Herz zu voll und beide mochten in diesem Augenblick mit ihren Gedanken die Richtung suchen, die der Liebesauftrag der Verstorbenen ihnen wies: hinauf zu dem, der Menschenherzen wie Wasserbäche lenkt und Feuerfunken seiner Liebe ausstreut, damit sein Feuer immer weiter brennen könne, das er gekommen anzuzünden.

Der zweite Teil der Feier auf dem Kirchhof war trotz der scharfen Januarkälte nicht weniger schön. Der Pastor und alle Anwesenden waren persönlich ergriffen, und doch strahlte über alle Wehmut die wunderbare Gewißheit hindurch, daß der Segen eines solchen Lebens nicht mit dem Tode aus sei, sondern man freudige Hoffnung auf ein seliges Wiedersehen neben allem Trennungsschmerz verspüren müsse. Als jeder die üblichen drei handvoll Erde auf den blumengeschmückten Sarg hinuntergeworfen hatte, faltete der Pastor noch einmal seine Hände und sprach den Vers:

»Lieben will ich, flehn und loben
Bis der Vorhang weggeschoben.
Dann zu dir, du ewig Reiner!
Jesus Christus, denke meiner.
Eines fleh ich noch hienieden:
Deinen Geist und deinen Frieden,
Und den Ruhm an meinem Grabe,
Daß ich dich geliebet habe.«

Frau Werner hatte erst durch den Tod und das Begräbnis von Agnes Felbenbrink den Mut bekommen, sich mit ihrer Mutter über den Zustand ihres eigenen Herzens offen auszusprechen. Das war eine selige Stunde für die alte Frau, als sie ihre Tochter auf diese Weise erst wiederfand. Zum erstenmal konnten sie miteinander niederknien, und die Mutter schüttete ihr Herz, das voll Lob und Dank gegen Gott war, in herzlichem freien Gebet aus.

Es war jetzt etwas Geringes, daß ihr doppelter Wunsch auch bei Herrn Werner durchgesetzt wurde: den jungen Doktor Schalling zum Hausarzt der Familie zu machen, und Fräulein von Horsting einzuladen, Hausfreundin zu werden. Ihr munteres, fröhliches Wesen gefiel auch Herrn Werner sehr gut, und so hatte die Frau Rat fürs erste alle Hoffnung, daß sie dem Auftrage ihrer Jugendfreundin, an den Seelen dieser beiden jungen Leute zu arbeiten, ohne Schwierigkeiten von außen werde nachkommen können.

 

VII.

Drei Jahre waren ins Land gegangen, und das Oberlicht hatte im Wernerschen Hause noch nicht gesiegt. Freilich, die Frauen waren jetzt einig und suchten in ihrer Art ganz unmerklich den widerstrebenden Hausherrn in den Zusammenhang mit dem Herrn zu bringen. Herr Werner ließ es sich auch gefallen, daß der Ton im Hause im großen und ganzen christlich war, aber er selbst schien dem Herrn um kein Haar breit näher gekommen zu sein. Man brachte ihn nicht dazu, die Kirche zu besuchen, oder etwa um derselben willen einen Ausflug an einem Sonntage im Sommer auszusetzen. Einmal bei einer besonderen Gelegenheit hatten die Frauen und Kinder gemeinsame Sache gegen ihn gemacht, da war er verstimmt frühmorgens fortgefahren und erst abends heimgekehrt. Für gewöhnlich entschuldigte er sich: »Ich habe keine Zeit!«

Ja, Frau Werner hatte es schon manches mal der Mutter heimlich geklagt, wie ihr Mann ihr eigentlich viel fremder geworden sei, seit sie selbst Ernst mit ihrem Christentum mache. Es war, als ob eine geheimnisvolle leise Verstimmung bleibend zwischen den Ehegatten stünde, als verständen sie sich in vielen Fragen nicht mehr so wie früher, und als könne der Mann es nicht verwinden, daß seine Frau mit der Mutter viel inniger zusammenhing als früher.

Die alte Frau Rat hatte dann wohl vorgeschlagen, sie wolle das Haus verlassen, aber davon wollte Frau Werner nichts wissen. Sie mochte wohl spüren, daß sie die Hilfe der Mutter sowohl dem Manne gegenüber, als auch bei der Kindererziehung nötig habe, denn ihr fehlte der tatkräftige Zug. Sie war weicher und nachgiebiger, und hätte sicherlich ohne den Einfluß des starken Glaubens ihrer Mutter dem Herrn die Treue nicht recht gehalten.

Mit Fräulein von Horsting war es besser voran gegangen. Sie hatte ihre reichen Gaben dem Heiland zur Verfügung gestellt und hatte nicht nur selbst darin volles Genüge für ihr Herzensbedürfnis gefunden, sondern sie war auch manchem andern zum Segen geworden. In der Sonntagsschule und bei den Armen war sie des Pastors rechte Hand, und er rühmte immer die freiwillige Diakonisse, die er an ihr gefunden. Sie hatte ein Armenkränzchen aus gleichaltrigen jungen Mädchen gebildet, in welchem man nicht nur Arbeiten für arme Familien machte, sondern auch bei den Zusammenkünften gute, religiöse Schriften las.

Schier ebenso erfolglos wie bei Herrn Werner schien die Seelenarbeit an Doktor Schalling gewesen zu sein. Er war ein gewissenhafter Hausarzt und ein liebenswürdiger Gesellschafter, konnte sich bei gewissen Gesprächen mit dem Fräulein Linda auch über religiöse Fragen ganz verständig unterhalten, kam aber Herr Werner oder sonst ein Andersdenkender in die Nähe, dann änderte sich blitzschnell der Ton und die Art seiner Rede. Es kam den Frauen immer so vor, als schäme er sich einzugestehen, daß er etwas suche und brauche für seine unsterbliche Seele. Dabei waren seine Kuren gesegnet, und er hatte sich eine große, gesicherte Praxis erworben. Daß er weder ans Heiraten zu denken schien, noch auch dem Christentum sich wirklich näherte, machte der guten Frau Rat Sorgen genug. Wenn ihr dann einmal wieder die Geduld riß und sie ihn unter vier Augen in ihrer Weise ordentlich vornahm, dann konnte er lächelnd antworten:

»Mütter müssen doch Geduld mit ihren Kindern haben! Sie wissen doch, daß ich ehrlich suche, aber es geht mir mit dem Gläubigwerden in Ihrem Sinne, wie mit dem Heiraten. Ich muß für beides vollständige Klarheit haben, und kann keinen Schritt tun, ehe ich weiß, daß ich ihn vor mir selbst und meinem Gewissen verantworten kann. Ebensowenig, wie ich mich meiner Wahl vor anderen schämen könnte, wenn ich einmal zu einem Mädchen gesprochen habe: »Sei mein!« ebensowenig kann ich mich einem Glauben ergeben, für den ich nicht überall einzutreten imstande bin!«

»Ach was,« konnte dann wohl Frau Rat sagen, »das ist Eigensinn! Jedes gute Ding will wachsen. Es muß doch mal bei Ihnen einen Anfang nehmen mit dem Beten und Glauben. Gewißheit und starke Überzeugung kommt dann von selbst.«

Aber es war einmal wenig mit ihm zu machen! Sie mußte für ihn beten und ihn um seiner sonstigen guten Eigenschaften willen lieb haben. Heimlich tröstete sie sich wohl mit dem Gedanken: Hat seine Mutter so viel für ihn gebetet, hat Agnes diese Arbeit fortgesetzt, sollte ich nicht auch Geduld haben und bei meiner Fürbitte beharren? Der Herr kann es schließlich doch geben, daß eine Stunde kommt, wo ihm dieser Starke zum Raube fällt.

Dann kamen plötzlich über das Wernersche Haus schwere Zeiten. Kurt, der begabte und fleißige Knabe, wurde lungenleidend, und Herr Werner litt unsäglich bei dem bloßen Gedanken, seinen Liebling und seinen Stolz verlieren zu müssen. Man tat alles mögliche für ihn, man nahm ihn aus der Schule, ließ ihn Höhenluft und Tannenduft genießen, aber er blieb bleich und schwächlich, so daß nicht nur sein Fortkommen in der Schule fraglich, sondern auch die Besorgnis für sein Leben zu einer bleibenden Sorge wurde.

Hatte das schon Herrn Werner oft verstimmt gemacht, so traten dazu jetzt geschäftliche Schwierigkeiten auf. Sein alter Chef war gestorben, und der junge, hochmütige Erbe bereitete durch sein Aufbrausen und seine taktlose Behandlung dem verdienten Geschäftsführer unleidliche Szenen. Als nun ganz ohne Schuld von seiten Herrn Werners das Geschäft eine große Einbuße erlitt, stürmte der junge Herr eines Tages ins Bureau und machte Herrn Werner vor all seinen Untergebenen geradezu für diesen großen Schaden verantwortlich. Das ließ sich der sonst so stille Mann nicht gefallen und kündigte seine Stellung.

Blaß und noch bebend vor innerer Erregung kam er heim und teilte den Frauen mit, was geschehen war:

»Siebzehn Jahre bin ich jetzt in dem Geschäfte gewesen und habe durch meine Arbeit der Firma Hunderttausende verdienen helfen, und jetzt behandelt mich dieser junge, unerfahrene Mensch wie einen Schurken! Das kann ich nicht auf mir sitzen lassen!«

Frau Werner setzte sich erschrocken auf den nächsten Stuhl und war keines Wortes mächtig. Denn wenn sie auch etwas eigenes Vermögen besaßen, so reichten doch ihre und der Mutter Zinsen nicht hin, in der gewohnten Weise weiter zu leben. Frau Rat nahm die Sache praktisch und fragte ruhig: »Was wirst du nun anfangen, Felix?«

»Ich werde in derselben Branche ein eigenes Geschäft gründen. Ich besitze das Vertrauen aller Lieferanten, kenne alle Wege, und bin fest überzeugt, daß gerade ich der Firma, die mich so schnöde behandelt, ungeheuren Schaden tun kann.«

»Aber, ist das recht, solches Vertrauen, das man besessen, und solche Kenntnisse, die gerade du im Geschäfte dir erworben, nun zum Schaden deines Feindes anzuwenden?« fragte die alte Frau Rat scharf.

Herr Werner lachte höhnisch auf:

»Recht? Wie sie es mir gemacht, so sollen sie es jetzt von mir erfahren!«

Frau Werner zitterte am ganzen Körper und fing an zu schluchzen. Die Mutter aber blickte ihren erregten Schwiegersohn fest an und sagte mit lauter, durchdringender Stimme: »Mach, was du willst, Felix, aber Gottes Segen wird auf solchem Unternehmen nicht ruhen! Ich sag's dir voraus, das wird dein Unglück. Nimm lieber eine andere Stellung an oder suche dich mit deinem Chef wieder auszusöhnen, denn auf dem Wege, den du einschlagen willst, wird dir Gott entgegentreten und es dir nicht gelingen lassen.«

»Gott und immer wieder Gott!« höhnte der Mann mit bebenden Lippen. »Ich bin bisher ohne Gott ausgekommen und werde es auch ferner tun können. Wenn ihr mit eurem neumodischen Beten eure weichen Herzen erfreut, so macht, was ihr wollt, ein Mann aber richtet sich nach solch schwammigen Gefühlen nicht!« Damit wollte Herr Werner das Zimmer verlassen.

»Felix!« rief ihn Frau Rat noch einmal zurück, »wenn du dein Vermögen, das du dir erspart hast, und die Mitgift deiner Frau an dieses heillose Unternehmen wenden willst, hast du es zu verantworten. Von heute ab aber verlange ich mein kleines Vermögen, das du bisher verwaltet hast, aus deinen Händen zurück. Bricht dann im Gerichte Gottes euer bisheriger Wohlstand zusammen, dann haben wir an meinem Gelde wenigstens noch einen Notanker, damit wir nicht vor fremden Türen betteln müssen.«

Herr Werner war wieder der ruhige Geschäftsmann und sagte mit einer verbindlichen Verbeugung: »Soll geschehen, Frau Schwiegermutter! Morgen bringe ich die Abrechnung über dein Vermögen aus der Nationalbank.«

Es kamen jetzt dunkle Tage. Dreimal suchte der junge Chef vergeblich Herrn Werner persönlich auf, um ihm Abbitte zu leisten. Der Gekränkte ließ sich nicht sprechen. Als nach einigen Wochen in der Handelswelt bekannt wurde, daß Herr Werner sich in derselben Branche selbständig machen wolle, ließ ihm sein früherer Chef durch einen Rechtsanwalt hunderttausend Mark anbieten, wenn er sich verpflichten wolle, nie ein Konkurrenzgeschäft anzufangen.

Frau Rat und ihre Tochter, die davon gehört hatten, baten ihn inständig, diese große Abfindungssumme doch anzunehmen, dann brauche er ja garnichts mehr zu riskieren, und sie hätten mit dem eigenen zu leben genug. Aber der früher so stille und verständige Mann ließ jetzt mit sich nicht reden. Er fuhr auf wie ein Rasender und schrie:

»Ich lasse mich von euch nicht bevormunden! In Geschäftssachen gehe ich meinen Weg und damit Punktum!«

So nahm das Verhängnis seinen Lauf.

Weil die Firma vermutlich bei allen Kunden und Lieferanten gewaltige Gegenanstrengungen machte, gelang es Herrn Werner lange nicht so, wie er erwartet hatte, Eingang bei der Kundschaft zu gewinnen. Der Mißerfolg machte ihn wortkarg und verstimmt, und wenn er dann heim kam und seinen Kurt husten hörte, konnte es einem leid tun, den gequälten Mann heimlich von der Seite zu beobachten. Trost und Zuspruch von den Frauen wies er kurz ab, so daß Frau Werner, auch abgesehen von den Geldsorgen, sich in dieser Zeit so unglücklich fühlte, wie noch nie in ihrer Ehe. Die Stunden, die sie jetzt im Gebet und Betrachtung des Wortes Gottes bei der Mutter zubrachte, waren ihr einziger Trost.

Kaum drei Monate, nachdem Herr Werner sich selbständig gemacht hatte, war es ihm klar geworden, daß er auf diese Weise nicht vorankäme, und um nur ja nicht seinen Mißerfolg offen einzugestehen, damit die Schwiegermutter nicht sagen könne: »Habe ich's doch vorausgesagt,« legte er sich in der Verzweiflung aufs Börsenspiel. Darüber wurde er noch aufgeregter und nervöser, als vorher, und Doktor Schalling, der Kurts halber häufig ins Haus kam, schüttelte auch schon über sein Aussehen den Kopf.

Wenn Herr Werner nicht bald anders wird,« sagte er auf der Treppe zu Frau Window, »werden wir ihn wohl auch in die Kur nehmen müssen. Der Mann sieht ja schon aus wie der wandelnde Tod.«

»Oder wie das böse Gewissen!« platzte die alte Frau heraus. »Er sträubt sich gegen Gottes Führung. Aber ich bin getrost, der Herr ist größer, und er erhöret Gebet.«

Der Doktor sah sie von der Seite an und meinte nachdenklich: »Sie, Frau Rat, sind mir auch ein Rätsel! Es muß doch eine merkwürdige Sache mit diesem Glauben sein, und manchmal denke ich bei mir, was meine Mutter und Fräulein Felbenbrink und Sie stark macht, kann doch eigentlich nicht alles Einbildung sein?«

»Ist es auch nicht!« lachte die alte Frau. »Es ist Oberlicht, das wahrste und stärkste Ding in der Welt. Sie lehren ja auch in Ihrer Wissenschaft, daß die unsichtbaren Kräfte mehr Wirkungen haben, als viele grobe, massive, sichtbare Dinge. Zu solchen gewaltigen, unsichtbaren Kräften gehört auch unser Glaube. Er ist der Sieg, der auch Sie einmal überwinden wird!«

Der Doktor schwieg eine Weile und sagte dann mit einem feinen Lächeln: »Ich glaube, ich werde nicht eher vom Glauben besiegt werden, bis ich jemand, den ich als gläubig kenne, werde wirklich besiegt haben.«

Aufmerksam schaute ihn die alte Frau an, um zu erraten, was er damit meine. Als sie aber helle Röte ihm ins Gesicht steigen sah, ward es ihr klar.

»Ah, so meinen Sie das!« lächelte sie. »O, wenn es doch wirklich so leicht wäre, den Glauben zu gewinnen, wie das Herz eines Mädchens!«

 

VIII.

Ein kleiner Gewinn von einigen tausend Mark, den Herr Werner bei seinem Börsenspiel gemacht hatte, verwirrte ihn vollständig, so daß er alles noch übrige Geld auf eine gewagte Spekulation setzte. Wenn er setzt am letzten des Monats gewann, konnte er mit einem Schlage aus der Geldverlegenheit heraus sein, und diese Hoffnung belebte ihn wieder etwas. Freilich mußte er sich auch die andere Seite vorstellen, daß die ganze Anlage verloren sein könne. Nach Abzug der Spesen würde ihm dann nicht einmal soviel bleiben, daß sie vom Rest des Vermögens auch nur ein Jahr hätten leben können.

Wären nicht seine Gedanken durch Kurts Krankheit noch etwas abgelenkt worden, so hätte er jetzt Tag und Nacht sich mit nichts anderem beschäftigt, als mit dem Verlust oder Gewinn des Vermögens. Aber Kurts Zustand wurde immer bedenklicher. Er war bettlägerig geworden, und der Doktor kam jetzt jeden Tag ins Haus.

Da saß eines Abends der Vater an dem Krankenbette seines Lieblings, der mit geschlossenen Augen dalag, fast einer Leiche ähnlich, und starrte mit dem Ausdruck der Verzweiflung auf die lieben Züge. War es wirklich so, wie die anderen glaubten, daß Gott ihm zürne und ihm darum so Schweres auferlegt habe? Wenn er den Ruin seines Vermögens vielleicht selbst verschuldet hatte, aber was für Schuld von seiner Seite lag denn vor, daß sein liebstes Kind so leiden mußte? Wenn er nur daran dachte, daß Kurt sterben könnte, machte ihn solch ein Gedanke fast wahnsinnig.

Da schlug der Knabe langsam die Augen auf und sah den Vater an. Erst war es wie ein wirrer Blick, der sich zurecht sucht, wo er sei, bis allmählich das Kind den Vater erkannte. Warum wandte nun Kurt seine Augen von ihm weg zur Wand?

»Kurt, warum siehst du mich denn garnicht an?« fragte der gequälte Vater erregt.

»Ich weiß nicht, ich kann nicht,« stammelte das Kind, »deine Augen sind so böse.«

»Böse?« fragte der Vater betroffen. »Ich habe dich doch lieb!«

»Nein,« antwortete das Kind gestreßt, »deine Augen sind so böse; ich werde ganz angst, wenn ich dich ansehe. Rufe lieber Mama oder die Großmutter her, mir ist so schrecklich angst!«

Wie ein Gerichteter wankte Herr Werner vom Bett seines Kindes fort. Hat das Kind recht? Liest es in seinen Augen all seine Schuld und all seine Verzweiflung? Man sagt ja von Kindern und Sterbenden, daß sie einen klaren Blick haben, der in der Seele des anderen zu lesen versteht. Dann hat das Kind recht: Er hat ja keine Ruhe und keinen Frieden, er hat ja nur unendlichen Jammer! Ist das alles daher, weil er nicht glauben will? Und zum erstenmal, seitdem das Unglück über sein Haus gekommen, blitzen ihm die Gedanken durch den Sinn: Es gibt nur eine Entscheidung! Gläubig werden an den Gott, den die anderen um ihn her liebten und ehrten, oder aber solch ein entsetzliches Leben von sich werfen, wie eine unerträgliche Last. Und wenn's dann doch einen Gott und ein Gericht nach dem Tode gibt? Über diesen Gedanken kam er nicht mehr weg, als ob sein Kind das gleiche Urteil über ihn gesprochen hätte, das heimlich sein Gewissen ihm längst schon vorgehalten. So war er von diesem Tage an noch mehr gebrochen. Nur an das eine Hoffnungsseil klammerte er sich immer wieder an: es kann doch sein, daß meine Papiere steigen, und dann kommt alles in Ordnung!

Außer dem Doktor, mit dem Herr Werner sich länger ausgesprochen hatte, wußte niemand, wie eben seine Sachen standen. Es war dem unglücklichen Menschen noch eine Art Trost, doch einen Menschen zu seinem Vertrauten machen zu können, der anders dachte und glaubte als die anderen. Er stützte sich gleichsam auf des Doktors Unglauben. Das war doch ein ruhiger, besonnener Mann, weit und breit geachtet und tüchtig in seinem Fach, und der hielt doch auch nichts von all diesen merkwürdigen Geschichten; der betete auch nicht. Freilich hatte er den Doktor nie spotten gehört, wie es ihm wohl bisweilen in der Verstimmung entfuhr. Schalling hatte nur die Achseln gezuckt und gesagt: »Soweit bin ich nicht! Dergleichen muß bei unsereinem aus einer starken persönlichen Überzeugung herauswachsen, sonst ist es nichts, und zu dieser Überzeugung fehlt mir die Erfahrung. Dabei aber möchte ich doch gern jeden andern in seinem Glauben lassen.«

Ein anderes mal, als Herr Werner am Krankenbette seines Kindes mit Fräulein von Horsting zusammentraf, brachte der Knabe selbst die Rede auf den Himmel und das selige Leben beim Herrn. Finster, mit abgewandtem Gesicht saß der Vater dabei. Wie fuhr er aber zusammen, als Kurt ihn plötzlich fragte:

»Papa, wo wirst du in der Ewigkeit sein? Du hast ja den Heiland gar nicht lieb und gehst nie zur Kirche?«

Was sollte er antworten? Er fuhr empor und stieß es kurz heraus: »Davon verstehst du nichts und brauchst dir darüber keine Sorgen zu machen!«

Aber hartnäckig, wie so Sterbende sein können, fuhr der Knabe fort: »Ja, werden wir denn einmal im Himmel nicht alle zusammen sein, Mama und Großmutter, und Ernst und Marie, und Helene und Fräulein Linda, und alle, die den Heiland lieb haben? Hast du ihn denn nicht lieb?«

Fräulein von Horsting erbarmte sich über den unglücklichen Mann, der offenbar eine heftige Antwort mühsam niederkämpfte, und sagte begütigend zu dem Knaben:

»Kurt, du mußt deinen Vater nicht so fragen. Der Heiland hat uns alle lieb und ist für uns alle gestorben, und darum sorgt er auch für uns alle, daß wir selig werden. Sei du nur froh, daß du ihn kennst, und Frieden in ihm gefunden hast.«

»Ja«, antwortete das Kind, »früher in X. sind wir niemals zur Kirche und niemals in die Sonntagsschule gegangen, wenn ich damals gestorben wäre, hätte ich wohl müssen ewig verloren sein. Wir haben nicht einmal am Abend gebetet. Es war doch gut, daß wir nach H. gezogen sind; jetzt haben wir das alles gehört und sind mit dem Heiland bekannt geworden.«

Es war dem Vater nicht möglich, solchem Gespräch zuzuhören. Ohne ein Wort zu sagen, verließ er das Zimmer; doch die Gedanken, die das Kind ihm angeregt, ließen ihn nicht wieder los. O, er wollte sich ja schon beugen, wenn es sein mußte, er wollte sich bekehren und beten, aber erst mußte der Bann von seinem Herzen herunter, erst mußte er im Geldpunkt wieder in Ordnung dastehen, nicht als ein Mensch, der seiner Kinder Zukunft ruiniert und verdorben hat! Und dann noch eins: wenn das wirklich alles so wahr wäre, wie die andern immer sagten, von dem liebevollen und barmherzigen Heiland, dann mußte ihm doch sein Kind erhalten bleiben. Ja, mit einer Art inneren Trotzes stellte er die Bedingung als sein erstes, frevelhaftes Gebet: »Gott, laß mein Kind gesund werden und gib mir Glück in dem letzten Börsengeschäft, dann will ich an deine Macht glauben!«

Die Tage schlichen ihm nur so dahin. Es kam ihm vor, als könne er es nicht mehr ertragen, in der doppelten Angst weiter zu leben: die Unsicherheit im Geldpunkt und die Angst um Kurt. Endlich nahte der verhängnisvolle letzte Tag des Monats heran, an dem er das Telegramm von der Berliner Börse über den Ausgang seines gewagten Spieles erhalten mußte. Aber gerade dieser Tag schien für Kurt besonders schwer zu sein. Der Arzt hatte am Morgen schon erklärt: »Machen Sie sich auf alles gefaßt, ich habe keine Hoffnung mehr!« und so saß denn die ganze Familie in der engen Krankenstube. Frau Werner hatte die eine Hand ihres Lieblings fest in der ihren, und an der anderen Seite des Bettes saß die Großmutter und streichelte leise die abgezehrte Hand, die regungslos auf der Bettdecke lag. Herr Werner aber stand am Fenster und schaute mit brennenden Augen ins trübe Herbstwetter hinaus. Muß es denn sein, daß das Kind stirbt? Was würde ihm dann auch sein großer Gewinn nützen, wenn er ihn heute Mittag erhielte? Wenn er die Wahl hätte, sein Kind am Leben zu erhalten oder jenen Gewinn – er wollte lieber bankerott werden, nur um sein Kind zu behalten.

»Großmutter,« sagte plötzlich der sterbende Knabe mit leiser Stimme, »du kannst ja schön beten, bete einmal, daß der Heiland bald kommt und mich holt, und dann bete auch für Papa und Mama und Marie und Ernst und Helene, daß wir einmal alle zusammen in den Himmel kommen!«

Während die anderen Anwesenden jetzt niederknieten, rührte sich Herr Werner nicht. Zum erstenmal betete die alte Frau Rat in Gegenwart ihres Schwiegersohnes, und alle, außer dem Sterbenden und dem Vater am Fenster, schluchzten laut, als sie nach einem kurzen, bewegenden Gebet »Amen« sagte.

Dann war es eine Weile still im Krankenzimmer. – Drunten ward geschellt. Herr Werner sah in nervöser Hast nach der Uhr. Das Telegramm von der Börse konnte jetzt noch nicht da sein, dennoch ging er hinaus, um zu sehen, was es wäre.

Da trat ihm der Doktor entgegen und fragte:

»Lebt er noch?«

»Ja, aber ich fürchte, es geht zu Ende.«

Der Doktor drückte Herrn Werner noch einmal die Hand und sagte unsicher: »Mein Händedruck soll Ihnen zeigen, daß ich teil nehme an Ihrem Schmerz, aber sonst können wir einander wenig von Trost sagen. Nirgends läßt unsere Stellung zu den übernatürlichen Dingen uns so arm und jämmerlich fühlen, als angesichts des Todes. Da möchte man Ihre Frau Schwiegermutter und Ihre Frau Gemahlin beneiden! Was muß das doch für ein anderes Gefühl sein, wenn man eines wirklichen, persönlichen Wiedersehens nach kurzer Trennung so gewiß ist, ja, wenn man sich jetzt schon ganz fest damit trösten kann, daß so ein scheidendes Kind es unendlich schön und angenehm bekommt! Von dem allen steht in dem Katechismus des Naturglaubens nichts, und das ist eigentlich schauderhaft!«

Herr Werner nickte als Zeichen seiner Bejahung, aber brachte nicht ein Wort über die Lippen. So fuhr der Doktor denn fort: »Ich würde was darum geben, wenn ich wüßte, wie die großen Geister unserer modernen Weltanschauung sich wohl selbst trösten, wenn ihnen das Sterben an die Seele tritt. Mein Beruf führt mich an so manches Sterbebett, und ich muß es immer wieder spüren, was doch die Leute voraus haben, die noch am alten Glauben und an der Kirchenlehre festhalten. Aber noch kein einziges mal ist es mir begegnet, daß ein Mann von unserer Art mit vollem Frieden aus dem Leben geschieden wäre. Wissen Sie, Herr Werner, das gibt eigentlich zu denken.«

Der Angeredete schien sich wenig in der Stimmung zu befinden, auf des Doktors Gedanken einzugehen. Er starrte träumerisch zu Boden, bis der Doktor wohl merken mochte, daß jener ihm garnicht recht zuhöre, darum fragte er plötzlich mit verändertem Tone: »Herr Werner, sind Sie krank?«

Jetzt sah ihn derselbe mit zerstreutem Blick an und antwortete gepreßt: »Krank? Wie man's nehmen will. Ich habe das Gefühl, als ob ich die Spannung nicht mehr ertragen kann, die auf mir lastet. Heute kann mir mein liebstes Kind sterben, und das ist ein furchtbarer Gedanke, und heute fällt in Berlin die Entscheidung über mein Börsenspiel. Entweder werde ich sechzig- bis achtzigtausend Mark gewinnen, oder wenn es in meinen Papieren Baisse gibt, kann ich so ziemlich alles verlieren.«

Mit tiefem Mitleid betrachtete der Doktor den unglücklichen Mann. Er sah wirklich krank aus, und es wäre kein Wunder, wenn er jetzt auch zusammenbräche. Und wieder kam dem Arzt dabei der Gedanke: Wäre Herr Werner wohl so weit heruntergekommen, stünde er wohl heute so fassungslos und zerschlagen da, wenn er die geheimnisvolle Kraft gehabt hätte?

In dem Augenblick öffnete jemand die Tür aus dem Krankenzimmer und schaute herein. Da schritt der Arzt mit schnellem, leisem Tritt auf die Tür zu und fragte, ob er hineindürfe. Die alte Frau Rat nickte und führte ihn an ihrer Hand bis zu des sterbenden Kindes Lager, während auch Herr Werner seinen früheren Platz am Fenster wieder einnahm. Ein Blick belehrte den Arzt, daß das Kind in den letzten Zügen liege, und darum wandte er sich leise zu seiner Nachbarin mit der Frage: »Er wird gleich verscheiden, wollen Sie nicht lieber mit Frau Werner fortgehen?«

»Weshalb?« war die ruhige Antwort. »Wir sind beide gefaßt und wissen, daß der Heiland uns und unseren Kurt so lieb hat, daß er uns nur das Beste schicken wird. Aber setzen Sie sich hin, Herr Doktor, und lernen Sie werden wie dieses Kind, das jetzt schon voller Frieden und voller Gewißheit der zukünftigen Herrlichkeit ist.«

Das Sprechen mochte Kurt beunruhigt haben, denn er schlug die Augen auf und sah aufmerksam nach dieser Seite. Jetzt flog es wie ein fröhliches Lächeln über seine Züge, als er den Doktor erkannte, und er machte eine schwache Bewegung mit der Hand, als wolle er sie ihm reichen. Wie der Doktor diese Hand nahm, flüsterte der Sterbende: »Wir wollen alle selig werden! Ich gehe voraus und sage es dem Heiland, daß Ihr alle nachkommt. Nicht wahr, du kommst auch?«

Bewegt nickte der Arzt dem Kinde zu, aber sagen konnte er nichts. Dafür flüsterte ihm aber die alte Frau Rat ins Ohr: »Jetzt auch Wort halten! Sie haben es dem sterbenden Kinde versprochen.«

Schalling geriet offenbar etwas in Verwirrung und wußte nicht, was er darauf erwidern sollte. So war es einige Minuten ganz still im Krankenzimmer, nur zuweilen flog es wie ein Zucken durch Kurts Glieder, oder er öffnete wieder die Augen, um jemand freundlich anzusehen; dann aber sanken die Lider bald wieder herab. Frau Werner verwandte kein Auge von ihrem Liebling, dessen Hand sie zwischen ihren beiden hielt. Nur als Helene in einer solchen stillen Pause sie am Kleide zupfte und dringlich etwas fragte, mußte sie sich zu ihr hinwenden: »Was sagtest du? Ich verstand dich nicht.«

Da wiederholte Helene ihre Frage so laut, daß es alle hören mußten: »Mama, sind jetzt die Engel schon hier, die Kurt zum Heiland tragen wollen?«

Statt der Mutter antwortete Kurt viel lauter als er vorher gesprochen hatte: »Nein, der Heiland ist selbst hier, ich habe ihn eben noch dort gesehen.«

In dem Augenblick schellte es unten heftig, und Herr Werner verließ das Gemach. Wenige Minuten später stöhnte Kurt laut auf, öffnete weit die Augen, als wollte er zur Decke sehen – ein bitterer, schmerzlicher Zug erschien um den Mund – und er war heimgegangen.

Frau Rat umfaßte ihre laut schluchzende Tochter, und der Doktor eilte ins andere Zimmer, den Vater zu suchen. Warum konnte er nur nicht bei seines Kindes Sterben dabei sein? Er fand ihn am Schreibtisch sitzend, mit einem blöden Lächeln um den Mund und einem wirren Glänzen der Augen. In der Hand hielt Herr Werner noch das Telegramm aus Berlin. Da er sich nicht regte, nahm ihm Schalling das Papier aus der Hand und las: »Große Baisse. Alles verloren!«

 

IX.

Von dem Tage an, wo Herr Werner seinen Kurt und den Rest seines Vermögens verloren hatte, war ein merkwürdiger Zustand über ihn gekommen. Er wurde gegen alles ihn umgebende gleichgültig. Man mußte ihn erinnern, aufzustehen und sich anzukleiden; man mußte ihn zu Tische führen und während des Essens immer wieder erinnern, daß er jetzt auch wirklich essen müsse. Es schien, als ob sein ganzes Nervensystem zerrüttet sei, sein Zustand spottete aller Bemühungen des Arztes. Auch ein anderer erfahrener Nervenarzt, der hinzugezogen wurde, meinte achselzuckend: »Da ist wenig zu machen! Das einzige, wozu ich noch raten würde, wäre, ihn sofort in ganz andere Umgebung zu bringen. Wenn er jemand zur Pflege mitnehmen kann, seine Frau oder sonst jemand passendes, und die Geldmittel es erlauben, würde ich dazu raten, daß er morgen oder übermorgen in ein wärmeres Klima übersiedelt. Lassen Sie ihn etwa ein halbes Jahr in Italien bleiben, das könnte von wohltätiger Wirkung auf ihn sein. Er darf keine Sorgen haben, sondern muß durch Zerstreuung und Anregung wieder fürs Leben gewonnen werden.«

Als die Ärzte fort waren, erklärte Frau Rat ihrer Tochter mit ihrer ganzen Entschiedenheit: »Nun, liebes Kind, mache dich reisefertig! Spätestens morgen Abend reist du mit deinem Manne nach Italien, Nizza oder Nervi, oder wohin ihr wollt, und ich bleibe daheim und versorge die Kinder.«

»Aber, Mutter,« schluchzte Frau Werner, »wir haben ja unser ganzes Vermögen verloren.«

»Ach was,« sagte die Mutter schnell, »die paar tausend Mark, die ihr zur Reise nötig habt, gebe ich euch von meinem Kapital, und dieses halbe Jahr werde ich wohl mit den Kindern auch noch zu leben haben! Wenn es dann auch wirklich vom Kapital heruntergeht, es ist doch der einzige Ausweg, und die einzige Hoffnung, daß Felix arbeitsfähig wird und selbst seine Familie versorgen kann. Also nun nicht lange besonnen!«

Am Abend desselben Tages kam Fräulein Linda von Horsting in irgend einer Armensache zur alten Frau Rat und hörte hier von den so plötzlich gefaßten Reiseplänen. Da durchzuckte sie ein Gedanke, dem sie auch sofort Wort lieh: »Liebes Mütterchen,« bat sie, erlauben Sie mir, dann zu Ihnen zu ziehen? Sie haben ja mindestens eine Stube nach der Abreise des Ehepaares frei. Ich bringe meine notwendigsten Sachen mit und zahle Ihnen ein anständiges Kostgeld. Dann habe ich doch auch einmal ein Stückchen Heimat. Bitte, bitte, schlagen Sie es mir nicht ab! Ich will auch recht brav sein und Ihnen helfen, die Kinder versorgen.«

Dieser Vorschlag kam der alten Frau wohl sehr überraschend, aber sie nahm es als eine Fügung vom Herrn. So hatte sie es wenigstens nicht so einsam, und auf der andern Seite fiel denn doch jetzt auch der Geldpunkt ins Gewicht.

So kam es, daß wenige Tage nach der Abreise der Wernerschen Eheleute Fräulein Linda einzog. Die Kinder hatten sie ja schon vorher lieb gewonnen und schlossen sich jetzt ihr um so näher an, und der alten Frau Rat war dadurch ein gut Teil Arbeit und Sorge abgenommen. Wäre es ihr doch schwer gefallen, mit den Kindern spazieren zu gehen und sie so den ganzen Tag, wenn sie aus der Schule daheim waren, um sich zu haben.

Doktor Schalling, der von dieser neuesten Einrichtung noch nichts erfahren hatte, kam wenige Tage nach der Abreise von Werners gegen Abend ins Haus. Fühlte er sich doch so als zur Familie gehörig, daß er auch ohne ärztliche Pflicht hin und wieder zu einem Plauderstündchen zu der alten Frau Rat kommen konnte. Das Dienstmädchen hatte auch nicht daran gedacht, ihn anzumelden, und sein leises Klopfen an der Tür der Wohnstube war überhört worden. Wie er die Tür nun doch öffnete und eintrat, mußte er verwundert stehen bleiben. Was war denn das? Dort saß mit dem Rücken zu ihm eine junge, schlanke Frauengestalt auf einem niedrigen Tabouret, und die Wernerschen Kinder saßen auf Schemeln dicht neben derselben, ja, Helene hatte sogar ihren Kopf auf den Schoß der Dame gelegt. Für die alte Frau Rat war die Gestalt zu schlank, Frau Werner war verreist, wer konnte das sein? Mit gedämpfter Stimme erzählte sie eben den Kindern eine Geschichte, und da mußten wohl alle drei davon so eingenommen sein, daß des Doktors Kommen nicht beachtet worden war. Regungslos an die Wand gelehnt, blieb der junge Mann stehen und lauschte.

Es war so eine kleine anspruchslose Geschichte von einem Schulkinde und seinem Gebet, aber die Art und Weise, wie sie erzählt wurde, die weiche einschmeichelnde Stimme, kleine feine Züge, die das tiefe Gemüt der Erzählerin verrieten, ohne daß doch der kindliche Standpunkt überschritten wäre, – das alles fesselte den Doktor aufs tiefste. Wer mochte diese Dame sein?

Plötzlich ging die Tür ziemlich heftig auf, und die Magd kam mit der brennenden Lampe ins Zimmer.

»Hier ist die Lampe und der Herr Doktor?« sagte sie spitz, um sich mit einem schier vorwurfsvollen Blick auf den lauschenden Doktor zu entfernen.

Da war Fräulein Linda aufgefahren, und nun hatte er sie auch erkannt. Daß er sie eben belauscht hatte, machte sie etwas befangen. Aber es half ihr nichts, die Kinder bestanden darauf, trotz des Doktors, die Geschichte zu Ende zu hören, und da er auch tief ernst darum bat, wollte sie sich nicht länger zieren und fuhr in ihrer Erzählung fort. Jetzt kam es ihm vor, als ob der Ton der Stimme und die Art der Erzählung sich geändert habe. War sie um seiner Gegenwart willen etwas aus der Fassung gekommen und klang darum eine kleine Erregung hindurch, dann war er ihr doch auf alle Fälle nicht gleichgültig.

Jetzt war die Geschichte zu Ende, und die Kinder wurden anderswie beschäftigt, so daß der Doktor fragen konnte, wo Frau Window sei. Da kam es im Gespräch denn heraus, wie Fräulein von Horsting jetzt hier Hausgenossin geworden sei, und da war es wieder der Doktor, der seine freudige Verwunderung nicht schnell genug beherrschen konnte, sondern in die Worte ausbrach:

»Aber das freut mich ja außerordentlich!«

»Sie? Warum?« fragte Linda arglos.

Er biß sich auf die Lippen und sagte verlegen:

»Nun ja – das heißt natürlich, für Frau Rat freut es mich ungemein, daß sie so angenehme Gesellschaft und Hilfe bei den Kindern hat.«

Als aber in diesem Augenblick sich ihre Blicke trafen, leuchtete auch in ihren Augen ein Strahl des Verständnisses auf, und sie mußte sich fragen: Meint er nicht eigentlich, daß er sich über die Gelegenheit freut, über die Gelegenheit, mich hier treffen zu können?

Da aber beide sich beherrschten, kam bald das Gespräch in ruhigeres Fahrwasser, und als Frau Window von ihrem Armenbesuch heimkehrte, fand sie ihre beiden Lieblinge in ernster Unterhaltung über Möglichkeit oder Glaublichkeit der biblischen Wunder begriffen. Eine Weile hörte sie zu, dann legte sie der eifrig redenden Linda die Hand auf den Arm und sagte:

»Liebes Kind, ich habe das Gefühl, bei solchen Fragen streiten wir Frauen mit den Männern ganz vergeblich. Gebildet genug und klug genug sind wir für sie nicht. Es ist genug, wenn sie unser klares Zeugnis gehört haben, wie wir glauben und denken. Auf Gründe gibt es immer Gegengründe, und da könnten wir ihnen doch nicht recht beikommen. Ists dem Herrn Doktor endlich drum ernst, zur Klarheit zu kommen, dann muß er auch ein ganz klein bischen Courage haben.«

»Courage?« fragte der Doktor verwundert.

»Gewiß! Gehen Sie doch zu unserem Pastor direkt ins Haus und sagen Sie ihm, Sie wollten sich mit ihm über all Ihre Zweifel aussprechen. Er ist Manns genug, Ihnen darauf zu antworten! Und daß Sie solch einen Schritt nicht schon längst getan haben, das zeigt mir nur, daß Sie eben keine Courage haben. Sie sind schon längst nicht mehr sicher in der Burg Ihres Unglaubens und wollen sich das doch nicht zugestehen. Sie haben Angst, daß es auf einmal bei Ihren Herren Kollegen heißen könnte: Wißt ihr auch, der Doktor Schalling ist ein Mucker geworden?«

Linda war geradezu erschrocken über diese schroffen Worte der alten Frau. Wie sehr der Doktor von diesem Angriff verletzt war, sah man daraus, daß er plötzlich aufstand und dunkle Röte im Gesicht, aber mit äußerlich verbindlichem Tone und einer Verbeugung erwiderte:

»Von Männern ließe ich mir dergleichen Beleidigung nicht gefallen! Ihnen, verehrte mütterliche Freundin, habe ich ja ein Recht eingeräumt, mich wie Ihren Sohn zu behandeln, darum muß ich mir auch einmal solche moralische Ohrfeige gefallen lassen. Aber Sie haben Recht und Unrecht durcheinander geworfen, und das gestatten Sie mir klar zu stellen. Der erste Vorwurf, daß ich aus einer Art Schwäche nicht den Pastor in solchen Fragen aufgesucht habe, trifft vollständig zu. Das spürte ich sofort und ich will Ihnen den Beweis liefern, daß ich nächstens in die Höhle des Löwen gehe und mich von Angesicht zu Angesicht mit ihm ausspreche. Aber der zweite Vorwurf war ganz aus der Luft gegriffen. Ich gebe Ihnen mein Wort, daß an dem Tage, wo ich die klare Überzeugung gewonnen habe, daß mein Gebet erhört wird und daß Jesus mein Heiland ist, der da lebt und seine Liebe zu mir beweist, ich der erste sein werde, der von solcher Umwandlung seiner Weltanschauung jedermann Rede und Antwort stehen würde, der das wissen will. Und soweit kenne ich auch meine Kollegen, unter denen sich mehrere katholische wie evangelische gläubige Männer befinden, daß sie eine wirkliche Überzeugung ehren und achten, auch wo sie ihnen selbst abgeht.«

Die alte Frau sah geradezu strahlend aus, als sie ihm jetzt die Hand hinstreckte und sagte:

»Einschlagen, Doktor, so habe ich Sie lange haben wollen, daß Sie nicht wie die Katze um den heißen Brei herumgehen, sondern endlich einmal einen resoluten Schritt vorwärts tun! Wir haben lange für Sie gebetet, und jetzt scheint die Erhörung zu kommen; denn Sie haben es eben versprochen, sobald als möglich unseren Pastor aufzusuchen. Da kann es nicht anders sein, als daß Sie in solch einer Unterredung spüren werden, wie Ihnen an Geist und Bildung ebenbürtige Leute dennoch glauben und ihren Glauben auch zu rechtfertigen und zu verteidigen wissen. Daß ich Sie nebenbei gekränkt habe, können Sie mir doch nicht übel nehmen? Wenn man jemand retten will, packt man auch einmal unsanft zu. Nun versprechen Sie noch eins: Drei Tage, nachdem Sie mit dem Pastor fertig geworden sind, kommen Sie und erzählen Sie uns auch davon.«

Der Doktor versprach's, ging aber, wie es schien, in leiser Verstimmung bald darauf fort.

Die beiden Damen machten nun ab, alle Tage für den Doktor zu beten. Aber Woche um Woche verstrich, und sie hörten weder etwas von ihm, noch ließ er sich selber blicken. Bei Frau Rat wuchs die Sorge, weil sie fürchtete, ihn beleidigt zu haben, und sie mußte ihre Gebete immer damit schließen: Herr, wenn ich's versehen habe, bringe du es in Ordnung!

Linda aber ertappte sich bei dieser Fürbitte sehr oft darauf, daß ihre Gedanken eine ganz andere Richtung nahmen und sie jedesmal verlegen erröten mußte, wenn Frau Rat das Gespräch auf den Doktor brachte.

Es war Anfang Dezember und der Winter hatte dieses Jahr mit Macht eingesetzt. Die Straßen lagen voll Schnee und an den Fensterscheiben blühten Eisblumen. Da eines Abends, als man im traulich durchwärmten Stübchen beisammensaß – die Kinder waren schon zu Bett gebracht – schellte es heftig, und das Mädchen meldete den Doktor Schalling. Mit klopfendem Herzen sah Linda die alte Frau an und konnte die verräterische Röte nicht verbergen.

»Sie gestatten mir wohl«, bat sie schnell, »auf mein Zimmer zu gehen, damit Sie den Doktor allein empfangen?«

Und ehe Frau Window noch ja oder nein sagen konnte, war das Mädchen durch die andere Tür hinaus, so daß der Doktor die alte Frau allein vorfand. Nach wenigen allgemeinen Redensarten fragte sie:

»Warum in aller Welt sind Sie so lange nicht hergekommen?«

Der Doktor lächelte freundlich und sagte:

»Daran sind Sie schuld! Sie hatten mir ja das Versprechen abgenommen, drei Tage, nachdem ich mit dem Pastor fertig geworden sei, zu Ihnen zu kommen. Nun, vor drei Tagen bin ich endlich mit dem Pastor fertig geworden, nachdem ich ihn fünf- oder sechsmal besucht habe. Wiederholt hat unsere Unterhaltung bis in die Nacht gedauert. Aber merkwürdigerweise waren mir das Durchschlagendste doch nicht diese Aussprachen mit ihm, sondern die Predigt vom vorigen Sonntag. Es war Totenfest, wie Sie wissen, und da hat mich das Wort in der tiefsten Seele getroffen: Wer den Sohn hat, der hat das Leben. Ich kann Ihnen das in der Eile nicht auseinandersetzen, was für Gespräche und Lektüre in den letzten Wochen meine Seele bewegt haben, aber eine Erfahrung jagte ordentlich die andere. Ich habe einige Kuren in dieser Zeit erlebt, wo mir das Eingreifen einer höheren Hand, ich möchte fast sagen, greifbar klar geworden ist. Dann war ja der Oberarzt des Sophienhospitals vor vierzehn Tagen am Schlage gestorben, und es war mein heimliches Sehnen seit Jahren, in solch eine Stellung zu kommen. Obwohl ich der jüngste von den Ärzten unserer Stadt war, die nach Ruf und Können überhaupt für diese Stellung in Frage kamen, so ist die Wahl des Kuratoriums dennoch einstimmig auf mich gefallen und ich habe das Gefühl bekommen, ich kann nicht mehr dem Zuge widerstehen, der seine Kreise um meine Seele zieht.«

»Aber Herzensjunge,« rief Frau Rat unter Tränen lachend, indem sie aufsprang und den Doktor umarmte, »Sie sollen auch nicht mehr widerstehen!«

Er barg sein Haupt wie ein Kind an ihre Brust und sagte bewegt:

»Ich glaube, aber der Herr muß aus solchem Senfkorn erst etwas Ganzes und Festes machen. Wollen Sie nächsten Sonntag mit mir zum Abendmahl gehen? Ich habe meiner Mutter die Freude nicht gemacht, weil ich nicht heucheln konnte; jetzt möchte ich, daß Christi Werk in mir offenbar werde.«

Das war ein seliger Abend für Frau Rat, denn als der Doktor gegangen war, suchte sie Linda auf und erzählte ihr unter Tränen jauchzend:

»Das Oberlicht meiner seligen Agnes hat gesiegt!«

 

X.

Über dem prachtvollen Garten der Villa D'Este am Komersee wölbte sich tiefblauer Himmel. Weiche warme Luft flutete zwischen den schattigen Bäumen und flimmerte im Sonnenschein. Rings sproßten Blumen und Blüten hervor in all der Mannigfaltigkeit des südlichen Klimas. Das zu einem Hotel umgewandelte einstige Besitztum des Kardinals D'Este barg jetzt gar manchen erholungsbedürftigen Gast; denn der weite schöne Garten, der gemach am Seeufer hinansteigt, war wie geschaffen zur Erholung und Genesung.

Unter den mächtigen Platanen dicht am See liegt Herr Werner in der Hängematte mit geschlossenen Augen und läßt sich umfächeln von dem leisen milden Westwind, der kaum die großen Blätter bewegt. Neben ihm sitzt seine Frau, eine Handarbeit im Schoß, und sieht eben träumerisch und sehnsüchtig nach den gegenüberliegenden blauen Bergen, hinter denen schneegekrönte Spitzen hervorragen. Wie lange, mußte sie eben denken, wird wohl noch die Trennung von ihren Kindern dauern, wie lange wird der Mann so merkwürdig gleichgültig für alle Fragen des Lebens bleiben? Es hatte sich ja in den fünf Monaten sein Zustand bedeutend gebessert. Erholung und gute Pflege in der schönen Luft hatten ihm körperlich entschieden geholfen, aber wortkarg und verschlossen war er geblieben. Es vergingen Tage, wo kein Blick und keine Miene der Frau verriet, was in ihm vorging. Sie hatte noch mit keiner Silbe über seinen Vermögensverlust gesprochen oder seine Aussicht für die Zukunft. Nur von Kurts Tod war bisweilen zwischen ihnen die Rede gewesen.

Heute Morgen hatte er plötzlich nach einer deutschen Zeitung gefragt. Zum erstenmal in all der Zeit verlangte er etwas zu lesen. Wie sie ihm die Kölnische Zeitung gebracht hatte, hatte er sich zuerst wie ein Kind darüber gefreut; dann aber waren ihm offenbar beim Lesen allerlei Erinnerungen gekommen, die er wieder in sich zu verarbeiten bemüht war. Was mochte wohl eben in ihm vorgehen, wie er mit geschlossenen Augen so dalag?

»Herr Gott, wann wirst du unser Gefängnis wenden?« seufzte Frau Werner. Sie war schon so mutlos geworden und konnte die freudigen, zuversichtlichen Briefe ihrer Mutter kaum ohne Tränen lesen. Was hatte die doch für einen anderen Glauben, wenn sie in jedem Brief wieder schrieb:

»Macht, was ihr wollt, Jesus bleibt Sieger! Haben wir seinen Namen über euch angerufen, hat er sonst schon so wunderbar geholfen, er wird auch weiter helfen über Bitten und Verstehen!«

Ein fremdes Kind lief laut lachend einem weißen Pudel nach, der eben in ihrer Nähe vorbeisprang. Dadurch erweckt aus seinem Sinnen, öffnete Herr Werner die Augen, sah sich erst wirr um, griff dann wieder nach der Zeitung und starrte auf die Rückseite, wo die Stellenangebote und andere Anzeigen stehen. Seine Frau bemerkte nicht, daß er eine dieser Anzeigen mit weit geöffneten Augen immer und immer wieder las. Sie fuhr ordentlich zusammen, wie er plötzlich mit einem Satz aus der Hängematte auf die Füße sprang. Wie erstaunt war sie aber erst, als er sie fragte: »Um alles in der Welt, was tun wir eigentlich hier? Wovon leben wir?«

»Beunruhige dich nicht, Felix! Meine Mutter hat uns das Geld zu deiner Erholung gegeben.«

Er starrte seine Frau an, als verstände er sie nicht, dann fuhr er aufgeregt fort: »Und wovon lebt sie mit den Kindern? Soviel Zinsen hat sie ja nicht!«

Frau Werner erwiderte begütigend: »Nun, das macht ja nichts, wenn sie auch ein paar tausend Mark von ihrem Kapital verzehrt.«

»Unsinn,« rief er heftig, »und ich verdiene nichts!« Hier las ich eben eine Anzeige: Die große Firma Tosi in Mailand sucht für sofort einen zweiten Buchhalter, der der deutschen, französischen und italienischen Sprache mächtig ist. Bei guten Referenzen ist der Anfangsgehalt auf dreitausend Mark angesetzt. Wie weit ist's bis Mailand? Ich habe mein bischen Italienisch in diesem Winter durchs bloße Hören der Sprache gewiß wieder aufgefrischt: ich will noch heute hinfahren und mich vorstellen.«

Frau Werner faltete die Hände und mußte innerlich beten; der plötzliche Umschwung in dem Benehmen ihres Mannes kam ihr zu unerwartet.

»Willst du dir das nicht vielleicht noch überlegen, Felix? Mit einem male aus der Ruhe in die volle Arbeit, das würden deine Nerven garnicht ertragen.«

Aber er schien sie garnicht mehr zu hören. Sie merkte, daß er mit seinen Gedanken beschäftigt, sich vergaß und laut dachte: »Die Zeitung ist vom zwölften März. Es sind also sechs Tage vergangen, seit die Anzeige aufgegeben ist, ich komme noch nicht zu spät. Bin ich von Sinnen gewesen, die ganze Zeit hier herumzuliegen? Ich muß arbeiten, arbeiten! Keine Stunde länger darf ich säumen.«

Und ohne sich um seine Frau zu kümmern, ging er mit starkem Schritt ins Hotel. Als Frau Werner ihm gefolgt war, hörte sie, wie er sich mit dem Portier darüber unterhielt, ob er heute noch nach Mailand hin und zurück fahren könne. Wirklich setzte er es durch, am selben Tage noch zu fahren. Frau Werner begleitete ihn und wartete in Mailand auf der Straße, bis er herauskam. Ein Blick zeigte ihr, daß diese Hoffnung ihn getäuscht haben mußte. Es waren so viele Bewerbungen eingelaufen, daß man ihm wenig Aussichten machen konnte.

Aber die Hauptsache war doch geschehen. Der Bann war gebrochen und Herr Werner dem Leben und der Arbeit wiedergeschenkt. Jetzt litt es ihn nicht mehr länger in der trägen Ruhe, und wenige Tage nach diesem Umschwung fuhr das Ehepaar nach Hause. Man wollte dort für ihn schon eine Stellung oder eine Arbeit suchen.

In der Wernerschen Wohnung zu H. herrschte im ersten Augenblick großer Jubel über die guten Nachrichten aus Italien, nur Linda war ordentlich zusammengezuckt, wie sie davon hörte: war doch jetzt ihr schönes, stilles Heim bei Frau Rat zu Ende, und sie mußte sich beeilen, den Heimkehrenden den Platz zu räumen. Obwohl sie sich sagte, daß es schändliche Selbstsucht sei, was eben ihre Seele erfasse, und sie daran hindere, sich mit der alten Frau Window von ganzem Herzen zu freuen, so waren ihr doch die Tränen nahe. Sie mußte in ihr Zimmer gehen, wie sies wohl tat, wenn sie das unruhige Herz niederkämpfen wollte zur Ruh, und dort beten: »Herr, machs nach deinem Wohlgefallen!«

Die alte Frau Rat mußte ihre hohe Freude doch jedermann mitteilen, von dem sie erwarten konnte, daß er sich für sie interessiere. So schrieb sie sofort an Doktor Schalling und teilte ihm die frohe Nachricht aus Italien mit. Aber sie war denn doch selbst über den Erfolg dieser Mitteilung überrascht, als der vielbeschäftigte Oberarzt des großen Sophienkrankenhauses eine Stunde nach Empfang ihres Kärtchens bei ihr eintrat.

»Ich kam erstlich, um Ihnen zu gratulieren zu dem langersehnten Umschwung, den ich eigentlich vorausgesehen habe. Aber das ist doch nicht alles! Ich habe trotz all der vielen Arbeit und Unruhe in meiner jetzigen Stellung noch etwas anderes, was mich seit Monaten heimlich drückt und bewegt, und wenn ichs Ihnen offen sagen soll, werden Sie wieder urteilen: Der Doktor hat keine Kourage.«

Frau Window mußte wohl durch die heute erfahrene Freude so eingenommen sein, daß sie gar nicht erriet, wo er hinaus wollte. Da sie ihm denn gar nicht entgegenkam, sagte er verlegen lächelnd:

»Nun, wollen Sie mich denn partout nicht verstehen. Sie sollen meine Schwiegermutter werden.«

Jetzt ging ein Leuchten über Frau Rats Züge.

»Meinen Sie Linda?«

Der Doktor nickte und setzte schnell hinzu:

»Aber ich habe bisher nicht den Mut gehabt, mit ihr zu sprechen.«

»O, sind das Männer! Keinen Mut, weil man die Augen nicht offen hat. Jetzt muß das Eisen geschmiedet werden! Ich schicke sie Ihnen sofort hierher und Sie können sie selbst fragen.«

Fünf Minuten später saß der Arzt vor dem Mädchen, das er schon so lange heimlich geliebt hatte. Linda mochte ahnen, was jetzt kommen würde, denn alles Blut war aus ihrem Gesicht gewichen und die feinen Finger spielten nervös mit den Fransen des Tischtuches.

»Fräulein von Horsting,« begann der Doktor nach einer kurzen bangen Pause, »ich habe es nicht gewagt, um eines gläubigen Mädchens Hand zu bitten, bevor der Herr mir selbst zum Glauben und zu einer Lebensstellung verholfen hat, wo ich auch mit einer Art von irdischem Recht meine Hand ausstrecken kann und sagen darf: Sei mein! Jetzt kann ich nicht länger warten. Wollen Sie einen Anfänger im Glauben mit Liebe und Geduld tragen und fördern, wollen Sie einem vielbeschäftigten Arbeiter sein freudloses Heim schmücken und sein Leben verschönen? Linda, wollen Sie mein Weib werden?

Eine heftige Bewegung flog durch ihre Gestalt, und als sie kaum hörbar »ja« sagte, waren ihr die Tränen näher als das Lachen. Es war ihr denn doch zu plötzlich gekommen. Erst als Frau Rat wieder eintrat und mit einem fröhlichen Wort den Bann brach, konnte sie unter Tränen lächelnd sich an des geliebten Mannes Brust lehnen.

Werners waren nicht wenig überrascht, als sie bei ihrer Heimkehr auf dem Bahnhof von dem glücklichen Brautpaar empfangen wurden und die alte Frau Window sich nicht enthalten konnte, dem Schwiegersohn anzudeuten, daß der Doktor auch gläubig geworden sei. Herr Werner fuhr bei dieser Mitteilung ordentlich zusammen, und wenn sie nicht auf dem Bahnhof vor den vielen Menschen gewesen wären, hätte er den Doktor sofort selbst gefragt, ob das wahr sei.

Ein paar Tage später holte er es aber nach und sagte heftig: »Doktor, seien Sie aufrichtig! Ich habe mich in der ganzen Zeit, wo es in mir kochte und ich von meinen Gedankenkämpfen krank geworden war, ordentlich fest gehalten an Ihrer Stellung. Immer wieder hieß es in mir: wenn solch ein Mann, der doch viel mehr gelernt hat als du, der dabei einen so sichern, festen Eindruck machte, – wenn der vom Glauben und Beten nichts wissen will, dann kannst du dich drauf verlassen, daß nichts Wirkliches dahinter steckt. Und nun hat mir meine Schwiegermutter die letzte Stütze weggeschlagen, als sie sagte, Sie seien auch gläubig geworden. Entweder sagen Sie mir, daß Sie aus Gefälligkeit die Frauen nur getäuscht haben, oder daß meine Schwiegermutter sich ohne Ihre Schuld nur geirrt habe?«

»Bedaure, Ihnen den Gefallen nicht tun zu können,« sagte der Angeredete ruhig. Ich habe Erfahrungen von dem Eingreifen einer höheren Hand sowohl in meiner Praxis, als auch in meinem eigenen Leben gemacht, habe mich weiter überzeugt, je mehr ich mich in meine Wissenschaft eingearbeitet habe, wie wenig wir wirklich auf rein natürlichem Wege erklären und beweisen können. Immer wieder stieß ich an die Grenzen unseres Erkennens. Hand in Hand mit solcher Einsicht wuchs der Zug in meinem Innern zur Hingabe an einen Heiland, der mir einen sittlichen Halt und religiösen Trost gewähren kann, bis ich mit meinem Willen einbog in die Richtung einer gläubigen Hingabe an ihn. Von dem Augenblick an erfuhr ich die Nähe Jesu so tröstlich und so stärkend, daß ich wie neugeboren bin und ich dieses Glück nicht mehr missen möchte um alle Schätze der Welt.«

Herr Werner starrte den Sprecher verwundert an, das hatte er nicht erwartet. Der Boden schien ihm unter den Füßen zu wanken. Mußte er nicht jetzt auch seinen Widerstand gegen das siegreich vordringende Oberlicht, wie die Schwiegermutter jetzt in seiner Gegenwart das Christentum genannt hatte, aufgeben? Alles stürmte plötzlich in dieser Richtung auf ihn ein! Seines Kurt Sterben mit all den Worten und Blicken des Kindes, die sich ihm wie mit Widerhaken in die Seele gebohrt hatten! Dann die demütigende Erfahrung beim Mißlingen des Geschäfts, das er gegen sein Gewissen begonnen, sowie der Ruin des Vermögens durch das unheilvolle Börsenspiel! Stand da nicht ein Stärkerer ihm gegenüber, vor dem er sich beugen mußte? – Aber zur Klarheit kam er noch nicht. Wohl aber geschah das Wunderbare, daß Herr Werner am nächsten Sonntag mit der ganzen Familie zur Kirche ging. Die strahlenden Gesichter der Seinen verstimmten ihn etwas, und er saß in seiner Ecke zusammengesunken, wie ein gebrochener Mann. Die Predigt des Pastors über »die offene Tür des Glaubens«, die auf Fürbitten anderer einem noch eine Weile aufgehalten werde, damit der Sünder sie noch benutzen könne, packte ihn, und gegen Ende derselben brach er plötzlich in Tränen aus. Er ahnte nicht, daß ihn vom gegenüberliegenden Chor aus ein Herr die ganze Zeit über mit dem lebhaftesten Mitleid beobachtet hatte. Es war sein früherer Chef, dem Doktor Schalling bei Gelegenheit einer Operation vor wenig Wochen die näheren Umstände seines wirtschaftlichen Ruins und seiner nervösen Zerrüttung mitgeteilt hatte.

Am andern Tage hielt die elegante Equipage des jungen Millionärs vor der Tür der Wernerschen Wohnung, und der Chef bat seinem früheren Prokuristen persönlich die einst angetane Unbill ab. Als Herr Werner dem freundlichen Blick und Wort nicht widersprechen konnte, sondern in die bittend hingehaltene Hand einschlug, hielt der andere die Hand fest und bat:

»So, jetzt halte ich Sie fest! Zeigen Sie mir mit der Tat, daß Sie mir verziehen haben, und treten Sie mit dem alten Gehalt von neuntausend Mark wieder in mein Geschäft ein!«

Wie im Traume sagte Werner zu. Als er aber allein war, fiel er auf seine Knie und betete laut unter strömenden Tränen:

»Ich kann Deiner Güte nicht widerstehen! Herr! Deinem Strafen wollte ich nicht nachgeben, aber Deine Liebe hat mich umgeworfen! Ich will Dein sein und bleiben!«

Als Frau Werner und ihre Mutter eintraten, neugierig, zu erfahren, was der frühere Chef gewollt habe, fanden sie Herrn Werner glücklich lächelnd und betend vor. Wie er nun aufstand und ihnen mitteilte was er soeben äußerlich und innerlich erfahren, umarmte seine Frau ihn schluchzend. Frau Window aber sagte feierlich:

»Das Oberlicht hat gesiegt! Gelobt seist Du, o Christus! Amen.«

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