Gottfried Keller
Dietegen
Gottfried Keller

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Schon saß sie auf dem Stuhle und war gewissermaßen froh, daß sie nur sitzen und ausruhen konnte von dem mühseligen Gang. Sie schaute zum letztenmal über das Land hin und in den blauen Schmelz der Ferne. Da verband ihr der Henker die Augen und schickte sich an, ihr das reiche Haar abzunehmen, soweit es unter der Binde hervorquoll, als Dietegen in einiger Entfernung zum Vorschein kam und mächtig rufend seinen Hut und seinen Spieß schwenkte. Gleichzeitig aber, um die Handlung aufzuhalten, riß er seine Büchse von der Schulter und sandte eine Kugel über den Kopf des Henkers weg. Überrascht und erschreckt hielten die Richter inne und alles griff zu den Waffen, als der reisige Jüngling in weiten Sätzen heran und auf das Blutgerüste sprang, daß dasselbe von der Wucht seines Sprunges beinahe zusammenbrach. Die sitzende Küngolt bei der Schulter fassend, da ihre Hände auf dem Rücken gebunden waren, suchte er eine Weile nach Atem, eh er sprechen konnte. Die Ruechensteiner, als sie sahen, daß er allein war und kein weiterer Überfall erfolgte, harrten der Dinge, die da kommen sollten, und als er endlich sein Begehren erklären konnte, traten sie zur Beratung der Angelegenheit zusammen.

Sowohl ihre Art, an den einmal herrschenden Rechtsgewohnheiten unverbrüchlich festzuhalten, als das Ansehen, welches Dietegen in diesen kriegerischen Tagen und mit seiner ganzen Erscheinung behauptete, ließen den Handel ohne Schwierigkeit beilegen, nachdem der grämliche Verdruß über die ungewöhnliche Störung einmal überwunden war. Selbst der Ratsschreiber, der sich nicht versagt hatte, sein Amt in dieser Sache selbst zu versehen und sich von dem Untergange der Hexe zu überzeugen, verbarg sich, so gut er konnte, um den wilden Kriegsmann, dessen Hand er trotz seines Mutes fürchtete, nicht auf sich aufmerksam zu machen.

Der gleiche Priester, der vorher mit der Verurteilten gebetet hatte, mußte nun stehenden Fußes die Trauung auf dem Gerüste vornehmen. Küngolt wurde losgebunden, auf die schwankenden Füße gestellt und befragt, ob sie diesem Manne, der sie zu ehelichen begehre, als seine rechte Ehefrau folgen und ihm ihre Hand geben wolle.

Stumm blickte sie zu ihm auf, der das erste war, was sie nach abgenommener Augenbinde von der Welt wieder sah, und sie blickte wie in einen Traum hinein; doch um, auch wenn es ein solcher wäre, nichts zu verfehlen, nickte sie, da sie nicht reden konnte, mit Geistesgegenwart und geisterhaft drei oder vier Mal, und gleich darauf noch ein paar Mal, so daß selbst die düstern Ratsmänner gerührt wurden und die Zitternde stützten, als sie hierauf in aller Form mit dem Manne verbunden wurde.

Erst jetzt wurde sie ihm mit Leib und Leben, wie sie stand und ging, ohne Nachwähr noch irgend einigen Anspruch auf Gut oder Schadensersatz übergeben, gegen Erlegung der Gebühr für den Trauschein dem Pfaffen und Bezahlung von zehn Kopf Weins für den Scharfrichter und seine Knechte, als Hochzeitgabe, auch drei Pfund Heller für ein neues Wams dem Scharfrichter.

Als er alles bezahlt hatte, nahm Dietegen sein Weib bei der Hand und verließ mit ihr den Richtplatz. Weil er sie aber nehmen mußte, wie sie stand und ging, und sie barfuß und mit nichts als dem Totenhemde bekleidet, auch die Jahrszeit noch früh und kühl war, so befand sie sich nicht gut und konnte nicht wohl neben dem Manne fortkommen. Er hob sie daher vom Boden auf den Arm, schob seinen Hut über die Schultern zurück, sie schlang sogleich ihre Arme um seinen Nacken, legte ihr Haupt auf das seinige und schlief nach wenigen Schritten ein, die er mit dem Speer in der anderen Hand zurücklegte. So wandelte er rüstig weiter auf einsamer Höhe und fühlte, wie sie im Schlafe leise weinte und ihr Atem in süßer Erlösung freier wurde, und als ihre Tränen seine Stirne benetzten, da wurde es ihm zumute, als ob er vom seligen Glücke selbst getauft würde, und dem rauhen starken Gesellen rollten die eigenen Tränen über die Wangen. Sein war das Leben, das er trug, und er hielt es, als ob er die reiche Welt Gottes trüge.

Als sie auf der Stelle anlangten, wo er selbst als Kind im Sünderhemdchen unter den Frauen gesessen und kürzlich Küngolt gefangen worden war, schien die Märzensonne so hell und warm, daß ein kurzes Ausruhen erlaubt schien. Dietegen setzte sich auf den Grenzstein und ließ seine reiche Last sachte auf seine Kniee nieder; der erste Blick, den die Erwachende ihm gab, und die ersten armen Wörtchen, die sie nun endlich stammelte, bestätigten ihm, daß er nicht sowohl eine Pflicht treu erfüllt als eine neue eingegangen habe, nämlich diejenige, so gut und wacker zu werden, daß er des Glückes, das ihn jetzt beseelte, auch allezeit wert sei.

Der Boden um den Markstein her war schon mit Maßliebchen und andern frühen Blumen besät, der Himmel weit herum blau, und kein Ton unterbrach die Nachmittagsstille als der Gesang der Buchfinken in den Wäldern.

Weiter sprachen sie nun nichts, sondern atmeten einträchtiglich in die laue Luft hinaus; endlich aber erhoben sie sich, und weil der Weg nur noch über weichen Moosboden durch die Buchenwaldung abwärts führte nach dem Forsthause, so gingen sie nun nebeneinander hin.

Unversehens griff Küngolt an ihr Goldhaar, welches sie erst jetzt abgeschnitten glaubte, und da sie es noch fand, wie es gewesen, stand sie still und sagte zu Dietegen, indem sie ihn treuherzig ansah: »Kann ich nicht noch ein Brautkränzchen bekommen?«

Er sah sich um und gewahrte eine glänzend grüne Stechpalme. Rasch schnitt er einen starken Zweig von dem Strauche, machte einen Kranz daraus und setzte ihr denselben sorgsam aufs Haupt mit den Worten: »Es ist ein rauher Brautkranz, aber wehrhaft, wie unsere Ehre es jederzeit sein soll! Wer sie mit Wort oder Tat beleidigen will, wird die Strafe fühlen!«

Er küßte sie hierauf ein einziges Mal fest unter ihrem Kranze und sie ging zufrieden weiter mit ihm.

Das Forsthaus stand leer und verlassen, als sie es erreichten. Das Gesinde hatte sich wegen der vermeintlichen Hinrichtung teils aus Trauer, teils aus ungetreuem Leichtsinn verlaufen und niemand kehrte an diesem Tage mehr zurück. Um so traulicher wurde das rasch auflebende junge Weib mit jedem Augenblick. Sie eilte von Schrank zu Schrank, von Kammer zu Kammer, und bald erschien sie in dem köstlichen Brautkleid ihrer Mutter, von welchem sie ihrem jetzigen Manne in jener Nacht erzählt, als sie zusammen im gleichen Kinderbettchen gelegen. Dann deckte sie den Tisch mit festlichem Linnen und trug auf, was sie an Speise und Wein hatte finden und bereiten können.

In tiefer Stille und Einsamkeit saßen sie nun nebeneinander, sie in ihrem Kranze und er mit abgelegten Waffen, und nachdem sie ihr einfaches Mahl genossen, gingen sie zur Ruhe. »So kann es einem ergehen!« sagte Küngolt heute zum zweiten Male und mit leichterm Herzen leise vor sich hin, als sie zufrieden an der Seite ihres Mannes lag; denn es blieb immer ein Restchen von Schalkheit in ihr.

Dietegen wurde ein angesehener Mann durch das Kriegswesen, nicht besser als andere jener Zeit, vielmehr den gleichen Fehlern unterworfen. Er wurde ein Feldhauptmann, der für oder wider die fremden Herren Partei nahm, Söldner warb, Gold und Beute raffte und so von Krieg zu Krieg sein Wesen trieb, gleich den Ersten seines Landes, so daß er emporkam und einen oft gewalttätigen Einfluß übte. Allein mit seiner Frau lebte er in ununterbrochener Eintracht und Ehre und gründete mit ihr ein zahlreiches Geschlecht, das jetzt noch in Blüte steht in verschiedenen Ländern, wohin der kriegerische Zug der Zeiten die Vorfahren einst getrieben.

Violande ihrerseits war bald nach der Hochzeit Dietegens und Küngolts, die ihr zum Troste gereicht hatte, in ein wirkliches Kloster gegangen und eine wirkliche Nonne geworden, welche den Kindern Küngolts zuweilen allerlei Backwerk und Näschereien sandte. Auch gefiel sie sich darin, wenn Herr Dietegen auf der Höhe seines Ansehens etwa große Gasterei hielt und mit langem Bart und goldener Ritterkette dasaß, als geistliche Frau auf Besuch zugegen zu sein, mit einem goldenen Kreuze auf der Brust, und intrigante höfliche Reden mit den Kriegsherren zu wechseln.

Wie Küngolt im Anfange des sechszehnten Jahrhunderts ausgesehen, ist noch aus dem Bilde eines guten Malers zu entnehmen, welches in einer bekannten Galerie hängt und laut Inschrift ihr Bildnis ist. Man sieht da eine schlanke feine Patrizierfrau, deren schöne Gesichtszüge einen gewissen tiefen Ernst verkünden, durchblüht aber von sanfter kluger Laune.

Auch sie starb noch in guten Jahren an einer Erkältung, gleich ihrer Mutter, der Forstmeisterin, als nämlich ihr Mann in einem der Mailänder Feldzüge endlich ums Leben kam und auf dem Friedhofe eines lombardischen Kirchleins begraben wurde. Sie eilte hin, in der Absicht ihm ein Grabmal zu errichten, in der Tat aber um ungesehen eine lange Regennacht hindurch auf seinem Grabe zu sitzen, so daß ein Fieber sie in zwei Tagen dahinraffte und sie an der Seite Dietegens ihre Ruhestatt fand.


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