Adam Karrillon
Erlebnisse eines Erdenbummlers
Adam Karrillon

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Mein erster Erdentag

Als ich im Jahre 1853 am 12. Mai das Licht der Welt erblickte, gab es in Waldmichelbach noch viele ungläubige Menschen. Da waren solche, die weder an den Teufel glaubten noch auch an den Bestand einer deutschen Republik (man bedenke, es war nicht gar lange nach der badischen Revolution), ja es fanden sich unter den Ur-Eingeborenen sogar solche, die nicht glauben wollten, daß man ohne Pferdevorspann einen Wagen von einem Platz zum andern bringen könne. Das alles hatte seine guten Gründe: Mein Geburtsort lag dazumal noch schwer ersteigbar im sogenannten Überwald. Vom Dorfe Kreidach bis zur Wasserscheide vom Rhein und Neckar herauf führte der sogenannte Kirchweg, der zur Regenzeit mehr einem Bachbett glich als einer Straße und nur an den seltenen Gerichtstagen einmal von dem Lederwagen eines Darmstädter Advokaten erstiegen worden war. Dieser westliche Zugang verband damals meine Zeitgenossen mit den großen Völkerstraßen den Rhein entlang und brachte ab und zu die spärliche Kunde von Neuigkeiten, die sich in der Welt ereigneten, während sich von Süden her, den Olfenbach entlang, zumeist vor den Quatember-Fasttagen, die Hirschhorner Fischfrau heraufarbeitete und neben der Neuigkeit, daß von Heidelberg nach Mannheim eine Eisenbahn laufe, ihre Weißfische zum Verkaufen anbot.

Die wenigen Welterfahrenen im Dorfe hatten einen schweren Stand gegen das bodenständige Vorurteil. Man hielt die Besserwisser für Aufschneider und wenn der Blaufärber vor seiner Indigolösung sang: »Zu Straßburg auf der Schanz, da ging mein Trauern an,« so glaubte man ihm seine Worte nicht und wollte ihm nachweisen, daß er die ganzen zwei Jahre seiner Abwesenheit von der Heimat auf der Tuchbleiche zu Altneudorf verlebt habe, mit dem Forellenstehlen aus dem Steinachbache beschäftigt.

Als ich mich zu diesen Menschen an den Tagen der Eisheiligen versetzt fühlte, fror es mich ein wenig, und da mir der Geruch einer eben ausgeblasenen Rüböllampe unangenehm in die Nase stach, so fing ich an zu winseln.

»Göttliche Gerechtigkeit,« schrie die Hebamme, »der Junge ist schon über eine Stunde auf der Welt und hat noch keinen warmen Löffelstiel übers Herz gebracht. Man muß ihm etwas zur Stärkung geben.«

Bei diesen Worten goß sie mir einen faden Fencheltee über die Zunge und in den Schlund hinunter. Ich schluckte zwar, aber ich fand das Gebräu nicht nach meinem Geschmack und wehrte mich dagegen mit jämmerlichen Lauten. Meine Mutter, mit deren Hand meine Wiege durch einen soliden Hanfstrang verbunden war, brachte die Kufen in eine wiegende Bewegung, wodurch ich insoweit beruhigt wurde, daß ich meine Angehörigen zur ersten Vorstellung empfangen konnte. Mein Vater ließ sich bei der Feierlichkeit entschuldigen, er saß, wie alle Tage um die Morgenstunde, auf der Orgelbank und spielte ein Seelenamt für irgendeinen, der trotz reichlicher Kirchenspenden immer noch im Fegfeuer war. Nach dem Haushaltungsvorstand kam mein Bruder Nikolaus an die Reihe. Da er ein kleiner Idiot war und nur wenig sprechen konnte, so fiel es ihm schwer, seiner inneren Überzeugung Ausdruck zu geben, daß ihm ein junger Hund lieber gewesen wäre als ein kleiner Bruder. Mit verdrossenem Gesichte stahl er sich von der Wiege weg und machte meinen beiden Schwestern Marie und Elisabeth Platz. Diese lieben Mädchen empfingen mich sehr freundlich und erzählten mit vielen Worten des Bedauerns, daß mein ältester Bruder Heinrich schon vor einiger Zeit nach Amerika abgereist sei, während Karl und Jakob sich in der Rheinebene befänden, der eine, um die Kaufmannschaft, der andere, um das Metzgerhandwerk zu erlernen. Daß drei von meinen Geschwistern bereits gestorben waren, mag ich auch bei dieser Gelegenheit erfahren haben. Kurzum, ich konnte merken, daß es in meinem Elternhause an manchem fehlen mochte, nur an Kindern nicht.

Nach meinen Geschwistern sind dann vermutlich Nachbarsleute gekommen, die meine Gescheitheit lobten und prophezeiten, daß einmal ein Pfarrer aus mir werden solle.

In der Zehnuhrpause drängten sich die Schulmädchen in die Stube, um zu bewundern, was der Storch dem Herrn Lehrer gebracht hatte.

Der Rasierer kam gegen Mittag, da der Vater ins Pfarramt hinmußte und allda nicht mit einem Stoppelbart erscheinen konnte. Sehr wahrscheinlich, daß auch die gute Tante Magsamen von Hammelbach da war und ein Häubchen brachte, denn sie war überall, wo es fehlte. Gerne gedenke ich ihrer, denn wenn sie mit ihren freundlichen Augen und ihrer Ledertasche in unser Haus kam, dann herrschte Wohlstand in der Küche und im Speiseschrank.

Doch was suche ich den Ereignissen vorzugreifen? Vorerst war ich ja noch an meinem ersten Lebenstag und brauchte wenig. Und dies wenige bezog man von zwei Kühen, die unter mir im Stall standen. Meine Mutter hatte einige Morgen Wiesen in die Ehe gebracht, und zur Besoldung meines Vaters gehörte der Schulacker. Mithin waren die Ingredienzien gegeben, die man zum Betrieb der Landwirtschaft brauchte und um den Kindersegen zu ernähren, der in alle Schulhäuser mehr als reichlich hineinfloß.

Daß ich's nicht vergesse, auch mein Onkel von Mackenheim sah gegen Abend nach mir. Er kam mit einem Paar Ochsen vom Beerfelder Viehmarkt und hatte einen Rausch. O, dieses Beerfelden, es war doch ein rechtes Lumpennest. Wer am Morgen katzennüchtern dort ankam, torkelte am Abend sternhagelvoll an dem Galgen vorbei, der auf der Höhe vor dem Städtchen stand. Aber man konnte ohne Beerfelden im Odenwald nicht auskommen. Wo anders hätte man die Viehmärkte abhalten sollen als in seiner breiten Straße und vor seinem vielröhrigen Brunnen, der neben einem Labsal für Ein- und Zweihufer auch noch die Quelle der Mümmling war? Allzuviele Wirtshäuser, es ist wahr, standen in dem Städtchen herum. Da drinnen wurden die Käufe abgeschlossen, und natürlich wurde auch getrunken. Manchmal endete das Gelage mit einem fröhlichen Gesang, manchmal mit einer Keilerei. Aber ob das eine oder andere der Fall war, wenn man schließlich Abschied voneinander nahm, so geschah's unter Händeschütteln und unter dem Versprechen, daß man sich auf dem Viehmarkt wiedersehen wolle, wenn man auf dieser Welt nicht mehr zusammenkommen solle.

Es gibt Leute, die im Rausche die besseren Menschen sind. So 'war's bei meinem Onkel. Da fühlte er sich reich und war voller Freigebigkeit. »Schullehrer,« hatte er zu meinem Vater gesagt, »was du brauchst, um diesen Frischling großzuziehen, das alles kannst du bei mir auf dem Gute holen. Die Bäume blühen in diesem Jahre wie verrückt. Die Kartoffeln stoßen schon aus den Schollen und drei Kühe sind mir nah am Kalben. Also nichts an den Metzger verkaufen, sondern großziehen was kommt.«

Ob ich dies alles als Erlebtes beschwören könnte? Nein. Aber da sich in entlegenen Bezirken die Sitten wenig ändern, so wird es bei meiner Geburt gewesen sein, wie es dreißig Jahre später auch noch war.


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