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Als ich Anno 1920 die »Erlebnisse eines Erdenbummlers« niedergeschrieben hatte, dachte ich nicht daran, daß diese meine Lebensgeschichte eine Fortsetzung finden könne. Niedergebrochen lag das deutsche Kaisertum, seine stolzen Armeen waren zerstoben, sein Bürgertum hatte sich von einer Handvoll meuternder Matrosen und entlaufener Sträflinge einschüchtern lassen.

Wer nicht an den Wert feuervergoldeter Worte glaubte, zog sich verzweifelt in sein inneres Selbst zurück und vermied es ebenso ängstlich, durch den Trübsalnebel in die Zukunft hineinzuschauen, wie er es vermied, durch die Scheiben zu gucken, vor denen draußen auf hufeklappernden Pferden die weißen Burnusse bärtiger Spahis vorübergetragen wurden. Es war die Zeit der unendlich langen Nächte, wo im besetzten Gebiet ein verspäteter Gang nach dem nächsten Briefkasten den Delinquenten um ein Vermögen bringen konnte. Von Geselligkeit war keine Rede mehr. Die Wirtsstuben blieben des Abends leer und unbeleuchtet, und die Straßenlaternen schienen nur noch deshalb angezündet zu sein, um die Finsternis sichtbar zu machen, patrouillierende Soldaten zu illuminieren und verliebte Kater, die ihren Weg über Dächer nahmen, unter denen verstimmte Menschenkinder sich schlaflos auf malproperen Betten wälzten.

In dieser Zeit halb freiwilliger, halb erzwungener Klausur war ich mit der Außenwelt nur noch durch den dünnen Faden des Briefträgers verbunden. Durch dieses Verkehrsinstitut gelangte ab und zu in überklebtem Kuvert ein Schreiben an mich, zumeist mit amerikanischen Freimarken verziert, die meine Sehnsucht aus der Enge herauszukommen in den weiten Horizont der Meere mit ihren lockenden Gestaden fast bis zur Unerträglichkeit steigerten. Man wird es begreiflich finden, daß mich, den Weltenbummler, wahre Fieberschauer schüttelten, als ich eines Tages in einem medizinischen Fachblatt die Nachricht fand, daß die Woermannlinie, die den Rücktransport der Kriegsgefangenen über die Ostsee übernommen hatte, eine Anzahl Schiffsärzte suche, die den einzelnen Fahrzeugen zugeteilt werden sollten. Der Gedanke, daß die Fluten der Baltischen und Finnischen Gewässer mit Minen verseucht sein müßten, hatte für mich, dem außer dem Schwiegersohn und Sohn auch das Vaterland vernichtet war, eher etwas Anziehendes wie Abschreckendes, und es war innerhalb einer Viertelstunde ein Brief geschrieben, der in den Postwagen eines Schnellzuges hineingeworfen seinen Weg nach Hamburg nahm.

Die telegraphische Rückantwort am nächsten Tage schon, daß meine Bewerbung angenommen und mir der Dampfer »Regina« zugeteilt sei, hätte mich belehren können, daß das Seefahren augenblicklich in deutschen Schiffen kein beliebter Sport mehr sei. Allein das Hungerleiden und Stilleliegen waren mir derartig verleidet, daß ich in den offenen Höllenrachen hineingesprungen wäre, wenn sich mir nur eine Aussicht bot, aus Wiesbaden, der verödeten Bäderstadt, loszukommen.

Ich fing also sofort an, meinen weitgereisten Kabinenkoffer abermals zu packen, während meine Frau eine Nickelpfanne mit Wasser über die Spiritusflamme setzte.

»Wirst du zu meinen Gunsten deine Kochkünste noch einmal spielen lassen?«

»Gewiß, ich will dir ein paar Eier sieden. Eine Nacht ist eine lange Zeit, und im Speisewagen zu essen verschlingt in einer halben Stunde mehr Geld, als ein Romanschreiber in einem Vierteljahr verdienen kann.«

»Diese deine ätzende Bemerkung macht es überflüssig, daß ich Salz und Pfeffer mit auf die Reise nehme. Aber wenn du nun doch einmal am Eiersieden bist, sorg' dafür, daß sie hart werden, denn ich muß sie in den Taschen meines neuen Überziehers unterbringen. Wenn sie da durch irgendeinen Zusammenstoß ein vorzeitiges Ende finden sollten, so würde dies dem teueren Umhängemöbel sicher nicht zum Vorteil gereichen.«

»Schön von dir, daß du auch daran gedacht hast. Ich werde dir die Eier so hart sieden, daß du im Notfall damit im heiligen Rußland einem Lappländer Muschik die zolldicke Hirnschale einschlagen kannst. Aber nun wird es Zeit, daß du zum Bahnhof gehst. Handschuh brauchst du keine einzustecken, denn erstens ist es nicht kalt heute nacht, und zweitens kannst du dir zur Not die Finger an den Eiern wärmen.«

Da dieser Rat mein Gepäck nicht besonders beschwerte, nahm ich ihn mit nach dem Bahnhof, den ich in dem Augenblick erreichte, als eben die Abendbeleuchtung einsetzte. Sie war nicht großartig, paßte aber zu den Menschen, die sich unter den weitgespannten Bogen der Einsteigehallen herumtrieben. Leute in schmutzigen, zerlumpten Kleidern mit Fußbekleidungen, die aus den Kreuzzügen herzustammen schienen und flatschernden Kopfbedeckungen, die von Kehrichthaufen aufgelesen waren. Unter diesen Fetzen kaum ein menschliches Wesen, das nicht durch irgendein auf dem Rücken, den Schultern oder auf dem Kopf getragenes Bündel entstellt war. Der auf den Schienen bereitstehende Bummelzug selber aus Wagen zusammengesetzt, die unter der Leitung eines Zigeunerbarons die Furten der Drau und Sau überquert zu haben schienen. Der Lack der Außenwände heruntergeschunden, die Scheiben zertrümmert, die Trittbretter nur noch in Bruchstücken fürs Auge und Gefühl auffindbar. Und das Innere eines Salonwagens vierter Klasse! Hundezwinger, Kaninchenstall, Taubenschlag, Besenlager, Grünzeugladen, Sohllederhandlung alles unter einem Dache vereinigt, aus dessen flacher Holzwölbung eine vollmondähnliche Lichtquelle herunterblinzelte. Erbarm' dich Gott, und in was für eine Atmosphäre hinein! Man muß schon an den Morgenduft einer Kasernenstube gewöhnt sein, wenn man hier noch von Luft reden will. Da rauchte einer Brombeerlaub in einer Pfeife, ein zweiter alte Lumpen, ein dritter Hufspäne zusammengekehrt vorm Eingang zu einer Dorfschmiede. Tabak, der Name existierte wohl noch in alten Zolltabellen und Lehrbüchern der Botanik, wie er aber eigentlich aussah, und wie er schmeckte, das wußte von den zur Zeit Lebenden unter Tausenden kaum noch einer.

Den Qualen, die dem Geruchsinn zugemutet waren, stellten sich jene an die Seite, die für das Gehör bestimmt sind. In dieser Ecke bellte ein keuchhustenkrankes Kind, und mittenhinein in sein Gekläff klimperte die Spieldose eines almosenheischenden Stelzfußes. Gegen das Konzert des Kriegsinvaliden protestierte ein in einem Korbe eingeschlossener Hund, während die surrenden Räder des Zuges eine gleichmäßig dumpfe Melodie von den Schienensträngen heruntergeigten. Zwei, drei Stationen des Leidensweges waren von den Schienen heruntergebetet, als rechts von der Fahrrichtung ein Silberstreifen erschien, in dem sich das lächelnde Gesicht des Vollmondes spiegelte. Dem Himmel sei's gedankt, dachte ich, da haben wir den Main, und meine Schmerzen werden im Frankfurter Bahnhof voraussichtlich eine Unterbrechung von zwei Stunden erreichen, zum mindesten dann, wenn auf das Kursbuch wieder soviel Verlaß ist, wie auf die Wetterprophezeiungen in einem Bauernkalender.

Der Bummelzug hatte sein Ziel erreicht und spie unter einem Haufen der zweifelhaftesten Gestalten auch mich auf den ehemals freistädtischen Asphalt des Frankfurter Bahnhofs. Wer immer von hosenbekleideten Individuen durch eine Dienstmütze den Verdacht erregte, daß er ein Bahnbeamter sein könnte, wurde von mir zum Stehen gebracht und unbarmherzig daraufhin herunterexaminiert, ob es wahrscheinlich sei, daß gegen zehn Uhr hin ein Schnellzug nach Hamburg ginge. Als die Vermutung mir von einem halben Dutzend apfelweinduftender Ehrenmänner bestätigt war, wagte ich es, meinen Rucksack vor einem mit »Handgepäck« überschriebenen Raum abzugeben und schritt in die Straßen der Stadt hinein.

Sie waren mangelhaft beleuchtet und still. Hier und da zeigte sich ein uniformierter Schutzmann, der wie eine vom Seegang bewegte Boje hin- und herschwankte und vor Klippen zu warnen schien, die hier unter dem Wasserspiegel lauerten. Die Hüter der öffentlichen Ordnung wurden zahlreicher, als ich mich dem Straßengewinkel des »Römers« näherte. Was wollten sie da, die Männer mit dem Säbel am linken Hosenbein? Etwa die Reichsinsignien bewachen und den »Krönungsmantel, den alten?« Verlorene Liebesmühe! Selbst wenn wir noch eine Kaiserkrone besäßen, es fehlte uns an einem Kopf, auf den wir sie setzen könnten.

Warum aber trieb ich mich unter dem Zwang einer inneren Nötigung im Halbdunkel mehr oder minder mit Todsünden gepflasterter Sträßchen herum? Daß ich es nur offen eingestehe, es war eine Art von abergläubischer Vorstellung, daß die Ostsee berufen sein könne, die Weissagung zu erfüllen, die eine Zigeunerin vor sechs Jahrzehnten an meiner Wiege verkündet hat. »Er wird im Wasser sterben,« hatte die Sibylle vorsichtig gesagt, ohne über das Wann und Wie eine nähere Auskunft zu geben. Über hundert Flüsse und ein Dutzend Meere war ich nun schon gegondelt, ohne daß das Wasser mich getötet hätte. Aber wer konnt' es denn wissen, vielleicht war es, wenn nicht die Wassersucht, das Wasser des Finnischen oder Bottnischen Meerbusens, das der Zigeunerin zu Gefallen die Hinrichtung an mir vollstrecken sollte. Was hatte nun aber dies mit meiner Streife durch die dunklen Straßen Altfrankfurts zu tun? Nun eben nicht mehr, als daß es mich trieb, noch einmal vor meinem Ende zu jenen Fenstern hinaufzusehen, hinter denen ich als Knabe so manchen seligen Traum verdämmert habe, der wie eine Laterna magica das vor die Wand meine Seele zauberte, was der helle Tag mich in den Straßen der Stadt Neues und Großes erleben ließ. »Hinterm weißen Lämmchen« Nr. 6 hatte nämlich meine Großmutter väterlicherseits gewohnt. Wer vom Römerberg nach dem Dom zuging und auch nur leidlich instruiert war, konnte die Matrone leicht finden. Sie saß nämlich auf der Überkragung eines übertünchten Fachwerkbaues im weißen Häubchen neben einer Rokokohimmelskönigin und strickte für gewöhnlich Strümpfe, wenn sie nicht etwa damit beschäftigt war, mir einen Vortrag darüber zu halten, wie ich in der Stadt den Odenwälder Rustikus abzulegen und mir urbane Umgangsformen anzugewöhnen habe. Man begreift, daß der Ferienaufenthalt in der gefeierten Städterepublik für mich eine Art von hoher Schule darstellte, die ich denn, nachdem ich im Zoologischen Garten die Affen und Kamele betrachtet hatte, eifrig dazu benutzte, mir auch die Menschen anzusehen und was sie trieben, um sich von Bauern zu unterscheiden.

Ich stürzte mich als Neunjähriger in den patriotisch gefärbten Weinrausch des ersten deutschen Bundesschießens hinein und schrie Bravo, als ein alkoholisierter Festredner alles Land »so weit die deutsche Zunge klingt, und Gott im Himmel Lieder singt« unter einem Zepter vereinigte und dieses dem Herzog von Koburg-Gotha in die Faust zu drücken versuchte. Die Sache schien eine Kleinigkeit zu sein, denn Ernst August in der grünen Schützenjoppe war ein schön gewachsener Mann und hatte unbestritten die Frankfurter »Jugendwehr« auf seiner Seite. Diese zwölf- bis achtzehnjährigen freiereichsstädtischen Heldenknaben waren derartig zahlreich, daß, sie in einer einzigen Patronentasche einzukasernieren eine Unmöglichkeit gewesen wäre. Es vertrödelte deshalb ein Teil von ihnen seine Zeit auf der Konstabler-Wache, die sie aber Anno 1848 ruhmvoll übergeben mußten, als eine Übermacht von sechs Burschenschaftern sich von der Altstadt her über die Zeil diesem Bollwerk entgegenwälzte.

O diese Jugendwehr, das verhätschelte Spielzeug Frankfurter Großmütter, wie drängte sie sich in dieser Sommernacht so lebhaft in das Erinnerungsfeld meiner Seele herein. Leibhaftig sah ich sie wieder vor mir, die aus Schweizerkäse geschnitzten Kerlchen mit dem Arzneistöpsel von Tschako auf dem Kopf und der Gewehrimitation von Pappdeckel über der rechten Schulter. Was wohl aus der furchtbaren Waffe werden möchte, wenn sie gebraucht werden sollte, um damit einem Hunde das Nasenbein einzuschlagen, das war ein Gedanke, der einst mich, den Knaben, aufs lebhafteste beunruhigte, der mir aber heute im Zeitalter der Tanks und Panzerautos wie eine Donquichotterie und Eulenspiegelei erscheinen mußte. In der Tat hat denn auch im Jahre sechsundsechzig weder die Frankfurter Jugendwehr, noch die antipathische Stimmung der Sachsenhäuser Apfelweinsaurier, noch auch Prinz Alexander von Hessen mit seinem neunten Armeekorps den Siegeslauf der Preußen aufhalten können. General Vogel von Falkenstein war durchs Friedberger Tor, während die Jugendwehr in der Kinderstube gebadet wurde, in die Stadt eingezogen, hatte die öffentlichen Gebäude besetzt und von der Bürgerschaft eine Kriegskontribution verlangt. Obwohl diese so gering war, daß sie im Jahre 1922 von einem Bettler, der eine fünfstöckige Mietskaserne abgeklappert hatte, hätte bezahlt werden können, so zerstörte diese Steuer doch den letzten Rest lauwarmer Gefühle, die der eine oder der andere der freistädtischen Spießbürger noch für die Preußen in einer seiner Herzkammern eingeweckt hatte.

Wie klingen mir doch noch die Worte nach, die meine dreizehnjährigen Ohren dazumal im Zimmer meiner Großmutter aufgefangen hatten! »Laßt sie nur erst über den Main kommen,« hatte der Vetter Dahlem von Hattersheim behauptet, »die Bayern werden ihnen schon die Spitzen ihrer Pickelhauben mit die Gewehrkolben ins Gehirn hineintreiben.«

»Im Spessart schlagen die Bauern die Zündnadelprotzen mit die Dreschflegeln nieder,« erklärte kategorisch der Fischhändler von Großkarben, und der Sakristan von der Leonhardskirche verkündete mit der Miene eines hartgesottenen Unheilsapostels: »Es steht geschrieben: Die Herrlichkeit des Preußenkönigs wird so zusammenschrumpfen, daß er mitsamt seiner Armee im Schatten eines einzigen Nußbaumes vom Fleisch eines pensionierten Legehinkels werde sattwerden können.«

In welchem der sibyllinischen Bücher sich dieses Diktum findet, konnte ich in einem langen Leben nicht ermitteln. Vielleicht ist es überhaupt nicht geschrieben, sondern pflanzt sich als Ausdruck der Antipathie gegen das protestantische Kaiserhaus auf katholischen Lippen fort, einerlei, es ist Tatsache, daß die Prophetie sich erfüllt, ja mehr noch, sich selber übertrumpft hat. Wilhelm der Zweite braucht zur Bewirtung seiner Gäste keinen Nußbaum mehr und kein Suppenhuhn. Er kann die Erlesenen im Schatten einer Fuhrmannspeitsche mit einem Handkäs sattfüttern.

»Eine eigene Sache um die Gabe der Weissagung ist es eigentlich doch,« mußt' ich zu mir selber sagen, als ich am Goethehaus vorüberging. »Ein jeder besitzt sie, Optimist nicht minder als Pessimist. Salomen und Jeremias haben in die Zukunft geschaut. Der mit lachenden, jener mit weinenden Augen, und beide behielten recht. Wer über die Zukunft eines ganzen Volkes redet, kann sich nicht irren. Siegen und unterliegen tut gelegentlich jede Nation. Das Wann zu wissen, wäre der Vorteil und die Kunst.

Wenn es wahr ist, daß ein Berliner Orakelfabrikant verkündet haben soll: »Wenn die Kanonen ausgeredet haben, werden die Germanen das Tedeum singen, denn jeder von ihnen wird Millionär sein,« so hat er bis zum Jahre 1922 das Richtige prophezeit.

Aber kaum um einen Zoll kleiner als dieser Daniel war dazumal der »wahre Jakob«, der auf allen Jahrmärkten unter die Menge schrie: »Kauft Kämme, ihr Bauern, denn es kommen lausige Zeiten!«

Wie ich so in alte Erinnerungen versunken vor mich hindöste, schlug die Uhr vom Rathausturm, dem »langen Franz«, herunter die neunte Stunde. »Noch vierzig Minuten Zeit, bis dein Zug abgeht,« sagte ich zu mir selber, und ich lenkte meine Schritte noch einmal dem schrägen Anstieg des Römerberges zu. Da stand ich denn vor der Profangotik des altersgrauen Hauses mit seinen drei abgetreppten Giebeln, seinen schmalen, farbenreichen Fenstern und der Schnitzarbeit seines Balkons. Von ihm herab pflegten sich die deutschen Kaiser nach der Krönung im Dome im vollen Ornat dem Volke zu zeigen. Was man aber eigentlich an ihnen hatte, das wußte in diesem Moment trotz Krone, Zepter und Hermelin niemand so recht. Aber es war den Untertanenmännlein wieder mal allergnädigst gestattet worden, nach Herzenslust »Hurra« zu schreien, und alle Ochsenzungen benützten die willkommene Gelegenheit, sich trocken zu brüllen, um so bereitwilliger, weil im nächsten Augenblick der Marktbrunnen anfing, Wein zu kotzen, und man so die Mundschleimhaut wieder anfeuchten konnte. In der Art glaube ich nicht, daß sich der Charakter der Teutonen wesentlich geändert haben wird. Um eine Kaiserkrönung miterleben zu dürfen, dazu bin ich leider zu spät aufgestanden, aber im Jahre sechsundsechzig hatte ich auf dem Römerberg ein Erlebnis, das meine Vermutung bestätigt.

Also das Unerwartete war Ereignis geworden. Die Preußen hatten Österreich besiegt und waren in Frankfurt eingerückt. Die offenkundige Tatsache mußte aber durch irgendeinen feierlichen Akt der Welt und dem Himmel sichtbar gemacht werden. Eine Flaggenhissung ist für solche Fälle eine internationale Gepflogenheit geworden. Der Tag, an dem dies geschehen sollte, war amtlich vorausbestimmt gegeben worden, um denen, die den Untergang der Freiheit nicht glaubten überleben zu können, Zeit zum Aufhängen zu lassen. Einer in der Tat, ein Bürgermeister, hat mit Erfolg die kleine Operation an sich vollzogen. Die Mehrheit der Einwohner begnügte sich damit, alles mögliche Unheil vorauszusagen, was sich an diesem Tage ereignen sollte, und die Mittel zu besprechen, wie man sich und die Seinen gegen unvorhergesehene Fälle schützen könne. Meine Großmutter, die in mir, dem dreizehnjährigen Enkel, den Historiographen der Ereignisse ahnte, blieb an dem dies ater nicht nur selber zu Hause, sondern suchte durch Verstecken meiner Stiefel auch mich in ihren dumpfen Stuben festzuhalten. Da ich nun aber von Geburt an bedürfnislos war und Stiefel für keinen integrierenden Teil des Menschen hielt, so kam ich auch ohne Fußbekleidung auf den Hof hinunter und an der Mohrenapotheke vorbei, hervor nach dem Römerberg. Obwohl dieser mit Menschen von allerlei Art besetzt war, fand ich doch noch Platz auf den Apfelsäcken einer Wagenrolle. Von diesem meinem erhöhten Standpunkt konnte ich nicht nur die unterschiedlichsten Kopfbedeckungen des vereinigten Frankfurt -Sachsenhausenvolkes übersehn, sondern auch alles, was am Römer drüben auf dem Dach und dem Balkon sich vorbereitet. Es entging mir nicht, wie nach einer entfernten Schießerei zwischen einem schwarzen und weißen Leinwandstreifen der preußische Adler flatschernd an einer Fahnenstange in die Lüfte stieg. Ich sah, wie der Balkon sich mit Menschen im Glanz von Uniformen füllte, und als er zum Brechen vollgestopft war, da dachte ich mir, daß jetzt der Himmel den Frankfurtern zu Hilfe kommen und in einem Erdbeben das Gemisch der Usurpatoren verschlingen müßte. Als dies nicht geschah, klammerte sich meine knabenhafte Katastrophenhoffnung an den verzweifelten Heldenmut all der Menschen vor mir, die in geflickten Arbeitskitteln den Untergang des Vaterlandes flammenden Auges miterleben mußten. Aber das Meer von Ballonmützen blieb ohne kämmende Sturmwellen. Man kaute Tabak und spuckte seinem Nachbar auf die Stiefel. So kam's, daß vom Römerbalkon herunter eine Proklamation schon beinah völlig zu Gehör der neuesten Mußpreußen gebracht war, als sich endlich die kochende Volksseele zu regen begann und den proklamatorischen Nachtisch ungenießbar machte, und das kam folgendermaßen.

Von den Apfelsäcken, auf denen außer mir noch andere Helden saßen, war einer patriotisch genug gewesen, einen Riß zu bekommen, und nun rollte sein runder Inhalt zwischen den Füßen der Neoborussen den Römerberg hinunter. Daß jeder Mann und jedes Weib sich um den Himmelssegen raufte, veranlaßte einen familiären Aufruhr, der aber durch den Trommelwirbel einer Tambourabteilung erstickt wurde.

Es erfolgte ein eisiges Schweigen. Die neuen Herren hatten sich Respekt verschafft mit Trommelschlägern. Ja diese Preußen, die Welt verdankt ihnen viel. Sie hatten das Zündnadelgewehr erfunden, den Stechschritt und die stramme Haltung. Sie verstanden auch das Erobern, aber nur der Körper, nicht der Seelen. Wäre ihre Mentalität politisch nur ein wenig klüger eingestellt gewesen, sie hätten statt des eisigen Schweigens von den Frankfurtern ein begeistertes »Hurra« haben können. Sie brauchten ja nur, wie die alten Kaiser den Wein – aus den Röhren des Marktbrunnens sprudeln zu lassen. Zu korrekt kann ein Fehler sein. Ein guter Brocken zähmt den Wolf.

Bismarck hat einmal gesagt: »Man sollte die Borussen zu Germanen umgestalten können.« Er hat die Metamorphosierung versucht. Sie ist nicht gelungen. Übrigens vorbei ist vorbei, und es gibt genug der Frankfurter, die es nicht bedauern, daß sie anno 66 preußisch geworden sind.

Der Stundenschlag einer Turmuhr trieb mich nach dem Bahnhof.

Der Schnellzug steht bereit und rast mit feurigen Augen ins nächtliche Dunkel hinein. Ich sitze weich und bequem, und doch der Schlaf will nicht kommen. O du ränkevollster von allen Vexiergeistern, warum legst du dich schwer zwischen die Lider des Lokomotivführers, verwirrest seinen Sinn mit zerrissenen Nebelbildern und meidest mich, der ich auf den weichen Polstern der zweiten Wagenklasse so sehnlich nach dir verlange? O ich kenne dich wohl, du bist wie ein Schutzmann immer da, wo man dich nicht gebrauchen kann, und fehlst dort, wo du helfen könntest! So zermartere ich denn trotz der Nähe von drei deutschen Hochschulen und ihren höheren Leuchten der Wissenschaft mein armes Gehirn mit der bangen Frage: Wird der, die arme Mittelmäßigkeit überragende Geist kommen, der nach einem Goethe und Bismarck dem deutschen Namen wieder Bedeutung und Glanz verleiht? Ach, ich konnte ja nicht ahnen, daß der Mutterschoß Europas noch nicht so ausgetrocknet war, als daß er nicht schon einen Van de Velde ausgespieen hätte, der mit seiner Technik der Vergattung das Los der Menschheit erträglich zu machen gedenkt.

Da an dieser Stelle meiner Grübeleien von draußen her der Ruf »Göttingen« erscholl, so hielt ich dies für eine Abschlagszahlung für mein patriotisches Hoffen und stieg aus, da ich fahrplanmäßig mit einem halbstündigen Aufenthalt zu rechnen hatte.

In der Erwartung, daß ich, wenn nicht den Messias, so doch eine Tasse heißen Kaffees finden würde, trat ich, dem greisen Simeon gleich, in einen der Wartesäle hinein. Es war lange schon nach Mitternacht, und gleichwohl war der große Raum noch nicht ganz leer. An einem der nüchternen Holztische saß auf poesielosen Rohrstühlen ein Teil der akademischen Bürgerschaft, Männlein und Weiblein zigarettenrauchend um eine halbgeleerte Sodawasserflasche herum. Trotz der farbigen Mützen sahen diese Miniaturbarbaren nicht so aus, als ob sie wie zu Heinrich Heines Zeiten ungebundene Exemplare aus der Zeit der Völkerwanderung wären. Im Gegensatz dazu konnten allerdings die in die Korona hineingezottelten Studierweiber mit ihren verzausten Bubiköpfen, wenn nicht für ganze, so doch für halbe Huris genommen werden, namentlich dann, als sie im Sodawasserrausch das schöne Lied sangen mit dem erhebenden Kehrreim:

»Und sie hat in ihren Augen so was Gutes,
Und was man von ihr haben will, sie tut es.
Na so e Luder, so e Luder,
So e Aas.«

Ich habe mir diese Menschenkollektion, die einem Häufchen Unrat glich, zusammengekehrt im Tanzsaal nach einem Maskenball, betrachtet, konnte mir aber bei allem guten Willen nicht vorstellen, daß aus ihm heraus noch einmal eine Bismarckeiche wachsen könne.

Von der Resultatlosigkeit meiner Beobachtung mehr noch betäubt als von dem Koffein des Bahnhofskaffees, verließ ich die Musenstadt, von einer allgemeinen Wurstigkeit vergiftet, die mir Schlaf genug bescherte, um die Lüneburger Sahara lebend zu durchqueren.

Es war Tag – wie lange schon, weiß ich nicht – als der Zug im Hamburger Bahnhof stillestand, und ich auszusteigen gezwungen war. Wo, zum Donnerwetter, kam aber denn nun plötzlich all das Gedränge! her, das mich von allen Seiten umgab? Hatte es im feuchten Klima der Hafenstadt Menschen geregnet? Dem Schnellzug, der mich hergebracht hatte, konnte diese Völkerwanderung unmöglich entstiegen sein. Um das Problem zu lösen, hätte ich stillestehen und mich umdrehen müssen. Beides war rein unmöglich. Gedrückt, getreten und gezerrt wurde ich einfach weitergeschoben, eine Treppe hinaufgehoben und fiel endlich mit meinem Köfferchen in der Hand zu irgendeinem Loch des Riesenbahnhofs hinaus auf die Straße. Wer da einmal angelangt ist, wo ich war, genießt eine unvergleichlich schöne Aussicht auf Dutzende von Hotelfronten, die alle bereit sind, ihn seines Geldbeutels und frommer Nächstenliebe halber mit Haut und Haaren zu verschlingen. Ich trat in eine von diesen Karawansereien hinein, überlieferte dem Portier meine Reisetasche und machte mich beim warmen Sonnenschein auf die Suche nach dem »Zippelhaus«, allwo mir die Insignien meiner neuen Schiffsarztwürde, messingene Blutegel, auf den blauen Rockkragen genäht werden sollten. Die erhebende Feierlichkeit vollzog sich diesmal überraschend schnell. Damit war ich »angeheuert« und hatte das Recht, mich zu erkundigen, welchen Namen das mir zugewiesene Schiff trüge, und in welchem der vielen Hamburger Hafenbecken es aufzusuchen sei.

»Ihnen ist der Luxusdampfer ›Regina‹ reserviert worden mit Rücksicht darauf, daß Sie schon früher im Dienste der Woermann-Reederei beschäftigt waren. Haben Sie einen Augenblick Geduld, und Sie sollen sofort erfahren, wo der Dampfer gegenwärtig weilt.«

Der Beamte verschwand in einem Nebenraum, und das »sofort« streckte und streckte sich, bis es allmählich zu anderthalb Stunden langgezogen war. Da ich außer der Göttinger Mohrrübenbrühe seit dem gestrigen Abend nichts zu mir genommen hatte, so tat mir mein Hunger die Gefälligkeit, mich an die Hartgesottenen zu erinnern, die meine vorsorgliche Gattin in den Taschen meines Überziehers verstaut haben mußte. Während ich nun auf einen Stuhl losschritt, um mich zum lukullischen Mahle niederzusetzen, tasteten meine Hände an mir nieder, um die Überziehertaschen zu entdecken. Die Finger fanden ihren Weg ins Futtertuch, zogen sich aber sofort wieder zurück, als sie, statt auf eine glatte Rundung zu stoßen, in einen weichen Brei, der mit Scherben durchsetzt war, sich verirrten. »Alle Welt noch einmal,« fuhr es mir durch den Sinn, »daß es doch Dinge gibt, die eine gewisse Sorte von Weibern nie lernt. Seit vierzig Jahren schon suche ich es meiner Gattin beizubringen, daß man die Eier nur genügend lang im kochenden Wasser brauche liegen zu lassen, und sie würden von selber hart. Alles Predigen umsonst. Ein Vierteldutzend Hühner hatte sich umsonst für mich bemüht. Ihre Kunstwerke waren im Gedränge des Hamburger Hauptbahnhofes zu Torsos geworden; mein Überzieher hatte den Schaden, mein Magen den Spott und ich selber einen ungeheueren Zorn in den feinsten Verzweigungen des gesamten Nervensystems. Kein Wunder, daß der Beamte keine gnädige Aufnahme fand, als er endlich wiederkam und den folgenden Rapport erstattete:

»Ich habe nach umständlicher telephonischer Umfragerei glücklicherweise herausgebracht, daß Ihr Schiff zur Zeit im Freihafen von Stettin an der Mole liegt. Sie müssen sich beeilen, möglichst schnell dahin zu kommen.«

»Bei der Zichorie, die den Kaffee verkäuflich macht, ich könnte ja schon dort sein. Warum hat man mich nach Hamburg genarrt?« schrie ich erregt. »Der Weg von Wiesbaden nach der Ostsee ist nicht länger als der nach der Elbemündung.«

»Ich kann dies zugeben,« antwortete nicht ohne Verlegenheit der Beamte und fuhr fort: »Sie mußten doch hier angeheuert werden.«

»Dem Himmel sei's geklagt, daß der bürokratische Zopf, dieser Allerweltsbankert, die Revolution überdauert hat. Wer Kaiser sein wollte, mußte vorher in Frankfurt oder Aachen gewesen sein. Aber das Sprichwort heißt: Quod licet Jovi, non licet bovi. Wer ersetzt mir die Reisekosten von der Elbe bis zur Oder?«

»Wenn Sie mit dem Schreien nachlassen, können Sie dreißig Mark in Empfang nehmen und mit dieser Summe die Grenzen von Mecklenburg von Westen nach Osten zweimal überfahren, vorausgesetzt, daß Sie den Mund halten. Sie wissen, daß das Herzogtum einen Stier im Wappen führt, der nicht ungestraft mit Brüllen gereizt werden darf.«

Wie ich so das Geld entgegennahm, verflüchtigte sich die Hälfte meiner Wut über den Unsinn der Bestellerei, aber der Zorn von wegen der weichen Eier kochte noch immer unter dem Krater meines Herzens. Auf dem Wege vom »Zippelhaus« nach dem Alsterbassin kratzte ich mit den Fingern meiner Rechten die Eierschalen aus dem Futter des Überziehers heraus, stülpte die Taschen selber um und wusch sie aus an einem Brunnentrog, den ein früherer Stadtbaumeister ausgerechnet für mich in eine Straßenkreuzung hineingestellt zu haben schien. Nach der Mantelwäsche wäre ein Taschentuch an die Reihe gekommen, das sich unter dem katholisierenden Einfluß des Eidotters in die päpstliche Kontorflagge – Gelb-Weiß – verwandelt hatte, wenn es keine Müßiggänger gäbe. Diese Sorte Menschen aber, die als Verkehrshindernis überall herumstehen, wo einem Staatsrat der Kamelorden oder einem Gaul die Zunge aus dem Hals hängt, hatte sich um mich massiert und meine Reinlichkeitsbestrebungen auf das peinlichste mit Grinsen gestört. Da ich das Batisttüchlein ungewaschen unter keiner Bedingung mehr einstecken wollte, so verfügte ich mich in einen Papierladen, kaufte ein katzengraues Kuvert und sandte den christkatholischen Wimpel als »Muster ohne Wert« an meine Gattin nach Hause.

Nachdem ich so einen Teil meiner Verstimmung in billiger Weise losgeworden war, machte ich mich darüber her, einen Verwandten aufzusuchen, von dem ich wußte, daß er sich in dem Stadtteil Harvestehude als Arzt niedergelassen habe. Ich fand den guten Vetter und neben ihm eine so gute Base, daß ich sie auch geheiratet hätte, wenn sie mir zu Gefallen vierzig Jahre früher auf die Welt gekommen wäre. Nun, ich wußte mich zu bescheiden. Wir verlebten einen vergnügten Abend zu dreien. Ich fand ein gutes Bett vor und in dem jungen Kollegen am nächsten Morgen einen kundigen Führer nach dem Bahnhof.

Es regnete zufällig einmal nicht in Hamburg, dafür aber hüllte ein dichter Nebel das ganze Alsterbassin in einen grauen Schleier ein. So kam's, daß im Vorüberschreiten am Pavillon ich den Namen »Jungfernstieg« nicht zu lesen und mich über seine Verlogenheit zu ärgern brauchte.

Sitzt man erst einmal in der Eisenbahn drinnen, so dauert's nicht lange, bis man auf Lübeckschen Boden herunter, und zu der Backsteingotik seiner Marienkirche hinaufsieht. Längere Zeit erfordert es schon, bis man den Großstaat Mecklenburg durchquert hat, denn dies Land ist so ausgedehnt, daß man es teilen mußte, und zwar in Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz. Was man rechts und links vom Zuge sieht, sind Heideebnen und Wiesenniederungen, welch letztere freilich da nicht fehlen dürfen, wo ein Ochse auf jedem Dienstsiegel nach Futter schreit. Daß man durch Waldparzellen sauste oder an smaragdgrünen Seen vorüberkam, waren Ereignisse, die ich als angenehme Abwechslungen schätzte; aber sie waren doch eigentlich nicht der Grund, weshalb ich mir an der Fensterscheibe die Nase breitquetschte. Gestehe ich's nur offen ein: Mecklenburgs größte Sehenswürdigkeit ist und bleibt für mich sein »Entspektor Bräsig«, und er war's, den ich mit seinen Stulpenstiefeln, seinem unrasierten Gesicht und der Pfeife im Mund zwischen den speckigen Schollen in den schwarzen Furchen langer Felder suchte. Ich habe ihn leider nicht gefunden. Dagegen sah ich, je näher wir dem Dorfe Stavenhagen kamen, ganze Kompanien von »Jung Jochems« stehen. Sie hatten die Hände in den Hosentaschen, und schienen hinter schmalen Stirnen über dem Gedanken zu brüten:

»Einmal hüh und einmal hott,
Es bleibt doch immer der gleiche Trott.«

O, »Jung Jochem«, daß du die Tage des deutschen Parlamentarismus nicht erlebt hast! Deine geflügelte Sentenz: »Datt is so, as das Leder is,« hätte stundenlange Reden ersetzt.

Der Anblick einer Hammelherde, die friedlich kauend in einem Kleeacker lag, brachte mich auf den Gedanken, wo ich wohl die folgende Nacht ein Lager finden könnte, ob vorläufig noch in einem Gasthaus, oder schon in der engen Arztkammer neben der karbolduftenden Schiffsapotheke. Ich brauchte mich nicht allzulang mit Wahrscheinlichkeiten herumzubalgen, denn der Zug bremste, die Räder schrien auf, und wir Reisende befanden uns unter den Glasdächern des Stettiner Bahnhofes. Nach dem üblichen Schieben und Geschobenwerden hatte ich die Sonne hinter mir und vor mir den Spiegel der Oder, die mir mit dem Bleigrau ihres stillen Gewässers keinen imponierenden Eindruck machte. Auch das, was von Dächern und Türmen der Stadt, von Schornsteinen und Masten in meinem Gesichtsfeld stand, befriedigte mich nur halbwegs. Geradezu genierlich aber war mir der Staub der Zufahrtsstraße, die mit ziemlichem Gefälle nach dem Fluß hinunterleitete. Um meine Atmungsorgane zu schonen, bestieg ich eine elende Droschke und gab dem erhabenen Lenker der selben den Auftrag, meine Person und meinen Koffer nach dem Freihafen zu befördern.

Wir fuhren der Oder entlang an einer Anzahl niederer Matrosenkneipen vorbei, übersetzten den Fluß auf einer Brücke, um schließlich von einem stockwerkhohen Lanzengitter aufgehalten zu werden. Eine Tür, die hinter dies Bollwerk hätte führen können, war verschlossen und vorsichtshalber auch noch mit einer schweren Kette verrammelt. Außer einem Ziegenbock und zwei Hunden war auf dem Pflaster vor dem Bollwerk nichts Lebendes zu sehen.

»Wo mag die ›Regina‹ liegen?« schrie ich mit einem Ton von Verärgerung in der Stimme meinen Rosselenker an.

»Da hinten irgendwo auf dem Wasser,« gab dieser gleichgültig zurück.

»Daß sie nicht auf dem trockenen liegen wird, das könnt' ich mir denken, aber wie kommen wir zu ihr hin?«

»Keinesfalls mit dem Wagen. Das ist für heute ausgeschlossen. Aber den Fluß hinunter vielleicht mit einem Nachen. Das wäre denkbar. Wissen Sie, was ich Ihnen vorschlagen möchte? Ich fahre Sie zur Admiralität. Sie finden zwar dort nicht das Schiff, aber unter den sechs Dutzend Beamten hoffentlich einen, der Ihnen sagen kann, wo das von Ihnen gesuchte Schiff verankert liegt.«

Der gute Rat fand meine Billigung, und das Vehikel ratterte los und in das Wirrsal enger, schlüpferiger Gassen hinein. Vor einem Gebäude, das einem Pfandhaus glich, gleichwohl aber die Admiralität war, hielt der Droschkengaul, und ich tastete mich eine ausgetretene, schmierige Holztreppe empor und kam ohne Laterne, vom Instinkt geleitet vor eine Tür, hinter der auch der Harmlose nichts anderes vermuten konnte als die Verkörperung der Sünden gegen das sechste Gebot. In der Tat wimmelte es, als ich die Schwelle überschritten hatte, vor mir von Menschen beiderlei Geschlechts, die augenscheinlich nichts Vernünftigeres zu tun hatten, als sich aneinander zu reiben und Zigaretten dazu zu rauchen. Meine Fragen nach dem Verweilen der »Regina« beantwortete man mit einem vielsagenden Lächeln und der maliziösen Gegenfrage, »ob es denn gerade eine Regina sein müsse und nicht etwa auch eine Olga oder Irma sein könne«.

So wanderte ich als Aprilnarr eine Zeitlang im Saale hin und her, bis ich vor einem kreuzlahmen Schreibtisch einen gichtbrüchigen alten Herrn fand, der mir mitteilte, daß die »Regina« vor drei Stunden ungefähr den Strom hinunter gegen Swinemünde abgedampft sei.

Auf meine Frage, ob ich sie noch erreichen könne, wenn ich den Strom hinunterschwämme, meinte der gutmütige Meergreis, ich könne mir schon noch eine ruhige Nacht in Stettin gönnen. Der alte Kasten werde in Swinemünde noch allerlei an seinen Maschinen herumzuflicken haben, und wenn ich morgen das Marktboot nähme, so würde ich an der Odermündung sicher noch meinen Dampfer finden.

Zwischen Beißen, Jucken und Kratzen hinein schlief ich in einem dem Strome benachbarten Hotel der Unterstadt auch einige Stunden und fuhr dann in einer Art von Wikingerschiff der Ostsee entgegen. Das kleine Fahrzeug war vollgestopft mit Kisten, Körben und Menschen. Da es tief im Wasser lag, konnte man, wenn man sich ein klein wenig über die Reling beugte, seine Finger in den Oderwellen baden. Von des Flusses Ufern aber konnte jeder Passagier nur das begucken, was auf seiner grünen Seite lag. Ein Überblick war nicht zu gewinnen, da alle Leute standen, annähernd gleich groß und mit undurchsichtigen Köpfen ausgestattet waren.

So kam ich am Steinkai von Swinemünde an und verließ mit zitternden Knien die gottverfluchte Apfelgaleone.

Außer den eingeschlafenen Beinen auch noch meinen Koffer zu schleppen, dazu war ich nicht imstande, und so engagierte ich einen der Müßiggänger, die da am Hafen standen. Der verdienstvolle Seeräuber hat mir von dem Inflationsgelde mehr abgenommen, als ich zu seiner Zeit für meinen Doktortitel verausgabt hatte. Trotz der gerichtskundigsten Prellerei mußte ich dem Biedermann noch dankbar sein. Denn einzig nur mit seiner Hilfe war es möglich, unter einer Anzahl antiquierter Triremen die »Regina« herauszufinden. Dieser verwogene Seefahrer sah nämlich aus wie der vielgereifte Musterkoffer eines Kolonial- und Färb-Warenhändlers. Keine Planke, die nicht verschmiert oder von einem Zettel überklebt war. Gerechter Himmel, warum hast du in die Hände unserer Feinde die stolzen Schiffe gegeben und hast uns nur diese Wechselbälge gelassen, die nur deshalb noch verwendbar sind, weil der Ozean sie nicht schlucken mag? Man wird es mir glauben, wenn ich versichere, daß es nicht gerade Hochgefühle waren, die in mir kochten, als ich über die Laufplanke an Bord dieser Zigeunerkönigin ging.

Der Kapitän, dem ich zufällig in die Hände lief, begrüßte mich mit gnädiger Herablassung, so etwa wie im Trojanischen Kriege der behelmte Achilles den Cheiron empfangen haben mag und teilte mir eine Kabine zu, auf deren Nachttisch noch der Seifenschaum vom Rasiermesser meines Vorgängers deutlich sichtbar war. »Bis das Bett gemacht sein wird, verehrter Doktor, darf ich Sie wohl in meine Kammer bitten, allwo Sie beim Genuß einer Zigarre einige notwendige Instruktionen entgegennehmen mögen. Um gleich damit zu beginnen, muß ich Ihnen erklären, daß wir zunächst noch nicht nach den Gewässern des Bottnischen oder Finnischen Meerbusens losdampfen, sondern zwischen Pillau und dem Stettiner Haff hin- und hergondeln werden. Wir haben die Optanten zu befördern, die unter Umgehung des polnischen Korridors nach Ostpreußen geschafft werden müssen, um einen Teil des großen Vaterlandes mit Stimmzetteln zu retten.«

Er trat in seine Kabine hinein, bot mir einen Stuhl an und fuhr dann fort: »Es handelt sich hier wohl nur um gesunde Menschen im wahlfähigen Alter. Wir brauchten deshalb eigentlich keinen Arzt mitzunehmen, und Sie wären wie ein Monokel nur zur Verzierung da, wenn nicht die Gefahr bestünde, daß die Leute mir das Genick brechen werden.«

»Mir will es nicht einleuchten, warum Menschen, aus dem Volk der Denker entsprossen, dies tun sollten,« erlaubte ich mir zu bemerken.

»Gerade weil sie Denker sind, müssen sie so handeln. Man hat in die deutschen Zeitungen hineingedruckt, diejenigen, die ihrer patriotischen Pflicht genügten, würden bei lukullischer Beköstigung in Luxuskabinen über die Wasser der Ostsee hinübergeschaukelt. Ich will nur sehen, was morgen die verwöhnten Berliner sagen werden, wenn sie ihren Linsenbrei aus hölzernen Katzentröglein löffeln müssen. Und dann die Schlafgelegenheit! Fünfhundert Betten für annähernd fünfzehnhundert Stück Urwähler. Ein Glück ist's, daß sie gutmütig sind.«

»Wir würden sonst aufgespeist, meinen Sie wohl, Herr Kapitän?«

»Meinen? Von Meinen ist da keine Rede. Ich weiß es mit Sicherheit, daß wir verloren wären. Sie kennen sie nicht, diese Apachen aus dem hauptstädtischen Scheunenviertel. Morgen früh werden Sie einen Begriff von dieser Sorte bekommen. Gegen elf Uhr bringt ein Extrazug die Schwefelbande direkt auf das Kai vor unser Schiff. Mir graust es heute schon vor den Gesichtern, die sie schneiden werden, sobald sie unsere Galeone sehen. Übrigens, da Sie mit Ihrer Zigarre fertig sind, will ich Sie nicht länger aufhalten. Sie werden sich in Ihrer Kammer einrichten wollen, und dazu gehört Insektenpulver, das Sie von mir hier mitnehmen können.«

Ich verabschiedete mich von meinem nunmehrigen Vorgesetzten und ging schlafen. Am nächsten Morgen erwachte ich in einer Haut, die trotz des Insektenpulvers dem Brautkleid einer Forelle glich. Ohne Dienstanzug hätte die geschmackvolle Tätowierung mich als den Schiffsarzt der »Regina« legitimieren können. Da aber eine frische Brise von der Ostsee ins Haff hereinwehte, zog ich es doch vor, die Dienstmütze aufzusetzen und unsere Fahrgäste im marineblauen Anzug mit den obligaten Blutegeln am Rockkragen zu erwarten.

Ich stand auf Backbordseite an der Reling, als ein endlos langer Zug von Westen her über die Kaimauer herangebraust kam und unserem Schiffe gegenüber haltmachte. Im Nu waren alle Wagentüren aufgesperrt, und ein wirrer Haufen von Männern, Weibern, Kindern und Hunden kam über den Laufsteg aufs Hauptdeck der »Regina« wie ein Hagelschauer gestürzt. »Für mich eine Kabine mit zwei Betten,« schrie mir ein Semmelblonder entgegen. »Drei Betten für mich,« rief ein Schwarzgelockter. »Mit Baderaum für eine Dame,« lautete es von rechts, während von links ein Hundezwinger verlangt wurde.

»'s ist alles an Bord. Wollen die Herrschaften sich nur die Mühe nehmen, die verlangten Dinge selber aufzusuchen!« schrie ich in den Wirrwarr hinein, eilte in meine Kammer und schloß sie von innen ab. In dieser selbstgeschaffenen Klausur machte ich mir ein Vergnügen daraus, mir vorzustellen, wie der Bäcker Wampel seiner Gattin im Zwischendeck unten über Koffer und Kisten hinweg nach der fünften Bettstelle hinaufhalf, während der Metzger Pressack für seinen Körper schweißtriefend eine Matratze eroberte. Fußtritte, die fortwährend an meiner Kabine vorüberpolterten, Flüche, die auf den Gängen verhallten, Seufzer, die ausgestoßen wurden, belehrten mich, daß unsere patriotischen Optanten sich die Transportmittel nach dem heimatlichen Mutterboden etwas schöner vorgestellt hatten, als sie in Wirklichkeit waren, und daß sie unverfroren genug wären, ihren Zorn an jedem auszulassen, der sich ihnen durch irgendeinen Kleiderfetzen als Verantwortungsperson manifestieren sollte. Ich wagte mich deshalb nicht eher unter die Menge, als bis ich das Arbeiten der Maschine merkte und aus dem Stampfen des Schiffes erkannte, daß wir das seichtere Hafenbassin hinter uns hatten und mit dem Bug in die tiefere Ostsee hineingefallen waren. Diesen Moment hatte ich eigentlich herbeigesehnt, denn ich sagte mir: »Nun wird die Seekrankheit gar manchem das Maul schließen, der es vorher sperrangelweit aufgerissen hat.« Und so fand ich's denn auch, als ich meine Klause verließ.

Mit Niobegesichtern saßen die Frauen auf den Bänken und Treppenstufen herum, bleich, kummervoll der Dinge harrend, die nun bald aus der Tiefe kommen müßten.

Die Männer standen an der Reling, in der Linken die Holzpfeife, in der Rechten ein Streichholz, aber unentschlossen, ob sie es wagen könnten, anzustecken oder nicht. Wohin man sah, nur Furcht vor Zukünftigem und Bedauern, daß man sich in dieses Abenteuer hatte hereinschmeicheln lassen, und zwar trotz eines Grammophons, das unter einer Bank das »Deutschland, Deutschland über alles« spielte.

Bedeutend besser war die Stimmung, die auf dem Oberdeck herrschte. Eine Anzahl rheinischer Lebemänner hatte sich in den Rettungsbooten einlogiert, und sie hatten angefangen, auf ihren Reisekoffern einen Skat zu dreschen. Während die Kähne von den Galgen an Seilen niederschaukelten, flogen die Buben auf dem improvisierten Spieltisch hin und her, wenn nicht einer oder der andere von ihnen von einer Spritzwelle erreicht worden war und mit einem Taschentuch trockengerieben werden mußte.

Im Schutze des Brückendecks sitzen die Urwähler rudelweise zusammengedrängt, denn die Schultzens wollen mit den minderwertigen Müllers nichts zu tun haben.

Von den Flottbecks hat sich eine weibliche Gestalt erhoben und schwankt nach der Küche hin, denn »det mitgebrachte Gör braucht warme Mülk«.

Die Liebenows haben ein Genie von Gymnasiasten hergeführt, der allen, die es hören wollen, erklärt, was ein Bramsegel ist und eine Gaffelstange. Der Vortrag fällt ihm bei bewegter See nicht leicht. Aber fürs Vaterland da muß man auch ein Opfer bringen können. Mit Rülpsen unterbricht er sich selber und füttert über die Brustwehr hinweg die Heringsdörfer Flundern mit seinem Morgenimbiß.

Die Budikes stellen das Pendant zu diesem Bilde. Ihr Eitelfritze erklärt, daß das Seefahren eine Kleinigkeit sei. Man brauche nur das Steuerrad fest wider den Bauch zu drücken und mit den Augen auf den Kompaß zu glotzen, dann liefe die Karre von alleine wie geleckt.

Während dieser Offenbarung aus dem Gebiet der Nautik war die Sonne aus den Wolken getreten und verbesserte wesentlich die Stimmung im Kreise der Seefahrer. Die Grünewalds haben das Familienplaid ausgebreitet und veranstalten aus mitgebrachten Gelbrüben und Schweizerkäse ein mastasmatisches Picknick. Alles klappt und stimmt. Nur der Wind, der verteufelte Wind, der über das Achterschiff fegt, bläst einem von den Grünewalds die Mütze ins Meer, worüber die Budikens schadenfroh lachen und so die »Jemütlichkeit« stören.

Auch bei die Tierbachs herrschte keine ausgesprochene Heiterkeit. Ja, wenn die tolle Kiste nich so schaukeln wollte, und wenn da in der Magengrube nicht so en ewiges Kribbeln wäre, und ob sich da dagegen von seiten der Regierung nicht etwas tun ließe. Dann könnte man an die Priesewitzens schreiben, und sie kämen sicher und optierten zugunsten des geschlagenen Vaterlandes.

Ohne daß dem Kapitän das Genick gebrochen worden wäre, neigte sich der erste Tag meiner Argonautenfahrten dem Abend zu. Dunkelheit ergoß sich über das Meer. Die weißen Wellenkämme unter uns verblaßten. Viermal in jeder Minute blitzte das Leuchtfeuer von Rixhöft über die grollenden Wogen hin. Es gab Leute, die das lustig fanden, paarweise einander umfaßten und übers Verdeck hintanzten. Andere saßen verdrossen da, hüstelten, steckten die Hände unter die Kleider und erinnerten sich sehnsuchtsvoll an ihr weiches Bett, das in Berlin oder Ritzebüttel heute vergeblich ihrer harrte. Ja, es war schon viel verlangt von alten Leuten, wenn sie auf harten Bänken übernachten sollten um des guten Zweckes willen, daß Ostpreußen beim Deutschen Reiche blieb. Wohl war der Sternenhimmel eine schöne Decke, aber sie war kalt, und zehn Stunden zum mindesten dauerte eine Julinacht.

Das Mitleid mit den älteren Damen vor allem bewegte mich, und ich fragte im Vorübergehen an einer verschlungenen Gruppe: »Haben die Damen sich kein Bett zu erobern vermocht?«

»Leider nicht. Nicht einmal eine Kabine ist frei, und selbst das Zwischendeck ist mit Menschenleibern gepflastert.«

»Nicht eine einzige Matratze mehr zur Verfügung?« rief ich dem Lademeister zu, der gerade vorüberging.

»Das schon, aber kein Quadratmeter mehr, auf die man sie legen könnte.«

»Sie irren sich. Noch ist der Boden meiner Kabine frei und auch die Diele der anstoßenden Schiffsapotheke. Wer von den Damen sich vor einem gelinden Schnarchen nicht fürchtet, ist freundlichst eingeladen, bei mir zu logieren.«

Möglich ist es schon, daß ich eine Absage bekommen hätte, wenn ich nur einer einzigen einen Unterstand gewähren wollte. Zu dreien aber hatten die Weiber Mut und gönnten mir von meinem Bette aus den Überblick über ihre in der Horizontalen ausgebreitete Gesamtschönheit.

Die Nacht verging uns Übermüden bei geruhsamem Schlummer, während die immer fleißige Schiffsschraube uns mit ungezählten Drehungen um ihre Achse quer durch die Danziger Bucht hindurch befördert hatte. Als ich die Augen öffnete, blinzelte das Leuchtfeuer von der Pillauer Mole im Wettkampf mit der aufgehenden Sonne verstohlen und kraftlos durchs Bullauge.

»Aufstehen, meine Damen!« rief ich über die schlafenden Grazien hin, und sie erhoben sich, nestelten an sich herum und waren in der Tageshelle nicht einmal halb so schön, als meine Träume sie mir vorgezaubert hatten. Möglich, daß auch meine geheiligte Persönlichkeit ohne die Uniform für die Weiblichkeit viel von ihrem Glanze verloren hatte. Als ich nämlich in Unterhosen so vor den Frauen stand, hob ein lautes Lachen an, das erst endete, als wir alle wieder bekleidet waren und über den Laufsteg auf die Mole traten. Natürlich waren die Lagerschuppen beflaggt, und das Bollwerk war mit den vorschriftsmäßigen Empfangsjungfern bestellt. Blechmusik setzte ein, und nach dem nahen Bahnhof zu bewegte sich der Zug all der Kampflustigen, die berufen waren, dem Vaterlande das mit dem Stimmzettel zu erhalten, was das Schwert zu behaupten nicht vermocht hatte.

Eine lange, lange Wagenschlange fraß die Menschenkarawane in sich hinein. Die leeren Fensterhöhlen füllten sich mit Köpfen. Man sah's den Gesichtern an, die Wageninsassen waren noch nach etwas lüstern. Ohne gerade viel von Seelenkunde zu verstehen, merkte ich doch, daß es ihnen außer einem Abschiedstrunk, der nicht zu beschaffen war, an einer Abschiedsrede fehlte, die zur Not ich liefern und mit den erforderlichen Begeisterungsphrasen garnieren konnte. Als ich aber mit den besten Absichten von der Welt soeben ein leeres Branntweinfaß erstiegen hatte, nahte der Bahnhofsvorstand mit seiner Signalscheibe, und die allzu vorlaute Lokomotive fing zu spautzen an. Damit nun aber der erhabene Moment wie Wasser im Sand sich nicht ganz verschlüpfte, hatte aus der Menge der Abreisenden heraus einer das Lied angestimmt: »Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben?«, und unter seinen Klängen ratterte der Zug in die sandige Niederung hinaus.

Auf die »Regina« zurückgekehrt, fand ich sie von Scheuerfrauen gekapert und von Spülwasser überschwemmt. So wendete ich mich zum weißen Dünenstrand, indem ich mir dessen Schicksale vor die Seele zauberte, von den bernsteinsuchenden Phönikern über den Großen Kurfürsten hinweg bis zum heutigen Tage, wo unsere eben abgedampften Urwähler über des Bodens Staatszugehörigkeit entscheiden sollten. Bei allen Teufeln, vor einem Lustrum noch hätte für eine Unmöglichkeit gegolten, was heute Tatsache war.

Gesäubert von Wursthäuten, Eierschalen und Heringsskeletten stach die »Regina« mit westlichem Kurs wieder in die See. Außer den Feuern von der Helahalbinsel und Rixhöft beleuchteten auch noch Mond und Sonne unsere ölglatte Bahn, bis wir die Einfahrt in das Swinemünder Becken wieder gefunden und am Kai festgemacht hatten. Wieder schleppte das Dampfroß ganze Völkerscharen heran, wieder schimpften diese in allen nur möglichen Dialekten über die Verfassung der alternden Jungfrau »Regina«, und wieder beruhigten sich die gotteslästerlichsten Krakehler unter dem kalmierenden Einfluß der Seekrankheit.

Wie oft ich damals mit und ohne Menschenladung die Ostsee gekreuzt habe, weiß ich nicht mehr. In der Erinnerung ist mir nur noch, daß unser Fuhrmanngeschäft weder durch ein freudiges noch trauriges Ereignis unterbrochen wurde, bis die Wahlen vorüber und Ostpreußen für das Reich gerettet war.

Die Mohren von Mählern hatten ihre Schuldigkeit getan, sie konnten gehen, und sie gingen auch. In welchem Zustand aber kamen sie aus dem Lande zu Pillau vor der »Regina« an? Wie Korsaren, die eine Provinz geplündert. Wer mit einer Zahnbürste in der Tasche von Bord gegangen war, kam zurück einen Scheuerkorb in jeder Hand und einen vollgestopften Rucksack auf dem Rücken. Gefensterte Hühnerställe, aus denen Federvieh der mannigfaltigsten Art die Hälse streckte, wurden aufs Deck geschoben, Fässer gerollt, Ziegen und Kälber gezogen. Wer keinen Hammel schleppen konnte, trug zum mindesten einen Kaninchenbock im Kasten oder im Käfig einen Kanarienvogel in den bergenden Schatten unseres Bramsegels. Mit unterschiedlicherm Vieh wie unser Schiff kann die Arche Noahs auch nicht gefüllt gewesen sein. Wie sind unsere biederen Urwähler in der kurzen Frist ihres Landaufenthaltes nur in den Besitz von all den Dingen gekommen? Ich kann den Gedanken nicht loswerden, Männlein und Weiblein hat die freie Überfahrtskarte nur benützt, um hinter der Bernsteinküste die ältesten ihrer Verwandtschaft zu brandschatzen. Ist ihnen da überhaupt zum Optieren noch Zeit geblieben? Sie machen ehrliche Gesichter, alle ohne Ausnahme. Lassen wir deshalb die Frage unbeantwortet, zumal da ein ergötzliches Schauspiel auf der Kaimauer unser Auge fesselt.

Ein Kaninchen ist, der Himmel mag wissen wie, seinem Gefängnis entsprungen, und hinter dem Ausreißer her bewegt sich unter lärmendem Gekläffe die krummbeinigste Gestalt eines Dackels, die ich je gesehen habe. Der Hase sucht Schutz zwischen den Beinen der Männer, unter den Röcken der Frauen, die in Haufen auf dem Bollwerk stehen. Der Dackel kennt keine Rücksichten des Anstandes. Er ist hinter seiner Beute her, wohin diese sich auch verstecken mag. Schreie werden laut. Zart besaitete Wesen fallen in Ohnmacht. Der Hundeseele ist dies einerlei. Der Halunke hat sich vorgenommen, seine Zähne in das zarte Fell des Kaninchens zu versenken, und er verfolgt sein Ziel mit verteufelter Konsequenz. Immer näher kommt der Hase auf krummen Wegen dem Wasser. Immer näher kommt sein Schwänzchen der Hundeschnauze. Ein kurzes Besinnen schon vergrößert die Gefahr. Ein Zurück gibt es nicht mehr. Der Verfolgte muß den Sprung aufs Deck der »Regina« wagen. Er tut's und springt zu kurz. Ein meterlang gezogenes Oh des Bedauerns folgte dem verwegenen Springer in die Tiefe nach. Es war vom weiblichen Teil der Zuschauer ausgegangen, während der männliche es versuchte, mit Stöcken und Schirmen auf den Dackelhalunken loszuschlagen mit dem Erfolg, daß Hüte von den Köpfen, Zwicker von den Nasen und Uhren aus den Westentaschen flogen, während der Hundestrolch im Menschengedränge ungekränkt zwischen Menschenwaden durchschlüpfte.

Über der lebhaften Freude an der Keilerei hatte ich ganz vergessen, mein Leben zu wagen und kavaliermäßig dem Hasen nachzuspringen in die Fluten. Der Seidenhaarige hatte meinen Opfermut zu seinem Glück nicht nötig, denn er war während der Schieberei oben unten bei seinen langen Ohren in einen Fischernachen hineingezogen worden. Den Schluß der Tragikomödie bildete übrigens das düstere Geheul der Schiffssirene, die mit unerbitterlicher Pünktlichkeit zur Abfahrt drängte und alle Mann an Bord beorderte.

Die Schraube wühlte im Wasser, weiße Wellenkämme leckten am Molendamm empor. Die »Regina« verließ das stille Hafenbassin und fuhr mit Volldampf direkt in einen steifen Weststurm hinein. Der Kiel hob und senkte sich, die Masten zeichneten weite Kreise in die Luft. Die Seekrankheit machte sich bemerkbar, und wer zufällig tiefer saß oder lag als ein anderer, der konnte im Neuen Testament den biblischen Mannaregen des Alten erleben.

Seit Jahren an die See gewöhnt stand ich auf der Kommandobrücke und sah mit Behagen zu, wie der Sturm die Bugwellen wie Wildgansschwärme nach der vorderen Back trieb. Immer zudringlicher, immer größer wurden die sturmgeborenen Vögel, aber noch gelang es ihnen nicht, die Schanzverkleidung des Vorderschiffes zu überflattern, in deren Schutz sich eine Gruppe von Wiedertäufern geflüchtet hatte. Die wundergläubige Gesellschaft suchte offenbar mit heiligen Gesängen den Sturm zu beschwören und riß zu diesem Zwecke in den mir zugekehrten Gesichtern die Mäuler mehr noch als klingenbeutelweit auf.

›Nun eine richtige Sturzsee über die Futterluken, und ich will sehen, was stärker ist, ihr Gottvertrauen oder ihre Wasserscheu.‹ Während ich derartig schadenfroh dachte, sah ich von der Steuerbordseite einen gewaltigen Wasserberg in majestätischer Ruhe an uns herankommen. Mit einem Zuruf hätte ich die Singbrüder warnen können. Allein ich kalkulierte: »Wenn sie schon einmal Wiedertäufer sind, dann kommt es nicht darauf an, wie oft sie naß werden,« und ließ den Dingen ihren Lauf. In stummer Ehrfurcht ersterbend hatte soeben die »Regina« vor dem Wasserriesen sich in ein grünes Wellental gesenkt, aber kein Erbarmen gefunden. Die kämmende Mähne des Ungeheuers warf sich über das spitze Bugspriet, und im Nu war Gangspill, Alarmkanone und Ankerwinde wie unter einem Lawinensturz in weißer Schaummasse verschwunden. Auch die Wiedertäufer waren trotz ihrer dicken Köpfe unauffindbar geworden, aber, dem Himmel sei's gedankt, nicht vernichtet. Ein rettender Gedanke war wie die Pfingstflamme in alle Köpfe gefahren und ließ sie unter die tiefe Stichkappe des Bugspriets kriechen. Da staken sie, Brüder und Schwestern, fest ineinander verkeilt, nur daß sie statt des Averses der wißbegierigen Welt den wohlgerundeten Revers der Medaille zeigten.

Wie das Traurige, so pflegt auch das Heitere nie allein zu kommen. Kaum hatte ich mich über die Geschehnisse auf dem Vorderschiff ausgelacht, so wurde ich nach dem Achterdeck gerufen, um eine sonderbare Rechtsüberschreitung zu begutachten. Es war nämlich eigenmächtig eine Dame dort eingedrungen, wo in deutlicher Schrift zu lesen stand: »Für Männer«. Unter den heimkehrenden Urwählern wäre gewiß keiner gewesen, der diese Wahl nicht verzeihlich gefunden hätte, wenn der weibliche Usurpator nach einem notgedrungenen Besitzergreifen sich wieder von dem angemaßten Herrensitz zurückgezogen hätte. Leider geschah dies nicht, sondern die Frauenrechtlerin auf dem Throne machte den Einwand der geschlechtlichen Gleichberechtigung geltend und erklärte, nicht eher nachgeben zu wollen, bis die Revolte in ihren Eingeweiden durch irgendein Mittel niedergeschlagen sei. Mit Hilfe von einigen Opiumtropfen konnte der Streitfall nach kurzer Frist als beigelegt angesehen werden, und das war gut, denn schon wieder war ich zu einem neuen Kranken gerufen worden.

Einer der Vaterlandsvergrößerer aus dem Zwischendeck litt an einer kindskopfgroßen Kropfgeschwulst und verlangte, daß ich ihm diese während der Fahrt wegoperieren solle, da er Rasierer sei und zu Hause keine Zeit fände, für seine Gesundheit etwas zu tun.

Mit einem Gallensteinleiden meldeten sich so viele zur Operation, daß ich befürchtet hätte, als Professor an eine Universitätsklinik berufen zu werden, wenn mir nicht bewußt gewesen wäre, daß der Arzt unbedingtes Vertrauen nur dann genießt, wenn er zum Rechnungschreiben keine Berechtigung besitzt.

Gegen Abend hatte die Windstärke abgenommen. Der Seegang war ruhiger geworden. Hammerschmiedsgesellen, die des Tags über wie die Wasserspeier mittelalterlicher Dome über die Schiffswände hinausgehangen hatten, stampften mit breiten Sohlen das Schiffsdeck und behaupteten von ihren Mägen, daß sie wie die Hölle haushälterisch wären und alles festhielten, was einmal in sie eingegangen sei. Um wieviel leichter fällt es doch so vielen Menschen sich zu einem Laster zu bekennen als zu einer natürlichen Schwäche!

Ein weiterer Beweis für diese Behauptung sollte mir noch erbracht werden. Hundsmüde hatte ich mich soeben zur Nachtruhe in meine Kammer zurückgezogen, da klopft's mit dem Fingerknöchel an meine Tür. Ich öffne und auf dem Gang steht vor mir eine Frauengestalt, deren weißes Haar und eingefallene Wangen keinen Zweifel aufkommen lassen, daß die Hebamme verfault ist, die ihr ins Leben hereingeholfen. Und was verlangt sie vor mir, die alte, abgeleierte Schraube? Man höre und staune. Tropfen will sie haben, daß sie das Singen wieder lerne, wie sie's mit achtzehn Jahren gekonnt habe. »Wat hätt' ich für e Vergnügen von die janze Reese, wo die andern mir auslachen, wenn ich, statt zu singen, krähen muß wie en Gockelhahn, der am Verrecken sein tut!« Ich gab der ausgebrannten Funsel Natronpulver und nehme an, daß sie, wenn nicht das Singen, doch das Rülpsen gelernt haben wird.

Nach Abfertigung dieses letzten Patienten verfiel ich in einen brunnentiefen Schlaf, der mich ein Gewitter und den Salutschuß vorm Swinemünder Hafenmund überhören ließ. Erst das Getrampel der ostpreußischen Ureinwohner weckte mich auf. Sie hatten dem Vaterland einen Dienst erwiesen, sich eine kostenlose Abwechslung verschafft und zogen nun wieder in die Monotonie ihres Alltagslebens hinein. Die »Regina« aber ging zur Maschinenreparatur die Oder hinauf und ich mit ihr.


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