Adam Karrillon
Sechs Schwaben und ein halber
Adam Karrillon

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Der Schwabe Nr. 1

(Der Überschwabe)

Mit der Gelenkigkeit eines lahmen Droschkenpferdes war der alte Frachtdampfer Pantellaria innerhalb eines Zeitraumes von zwanzig Tagen aus dem Atlantischen Ozean ins Mittelmeer hineingeschlingert. Ebenich war in einem Zwischenhafen, einerlei welches sein Name ist, an Bord gegangen, schlief schon die dritte Nacht recht gut unter Deck und wurde nur wach, weil die Schiffsschraube aus irgendeinem Grunde ihre Umdrehungen nicht mehr machte. Er setzte sich im schneeweißen Bette der weißgestrichenen Kabine auf und sah nach dem Bullenauge hinüber. Grau und nichtssagend wie ein Blechdeckel glotzte es ausdruckslos zu ihm herüber. »Noch kann die Sonne nicht am Himmel sein,« sagte sich der Doktor, »warum stoppt das Schiff?« und er rieb sich die schlaftrunkenen Augendeckel. In. selben Augenblick heulte die Sirene in die Luft hinaus, als ob sie die Pharaone aus ihren viertausendjährigen Pyramidengräbern aufstöbern wolle, einmal, zweimal, dreimal in ohrenzerreißenden Schmerzensrufen.

»Sollten wir am Ende gar schon vor der Einfahrt zum Suezkanal angekommen sein und den Kanallotsen nötig haben?« überlegte sich der Doktor, stand auf und tauchte den Kopf ins Waschbecken.

Eine Viertelstunde später saß er im Rauchsalon des Promenadendecks vor einer Tasse Mokka und wartete 2 auf die ägyptischen Zigaretten, die er bei der Stuardesse bestellt hatte. Er hielt sich an die Landesprodukte. In Lappland genügte ihm der Lebertran. Am Rhein trank er den Wein; am Ätna aß er den Hybläahonig und in Ägypten rauchte er Zigaretten. »Wenn erst der feine Tabaksduft mich umschmeichelt, dann wird mit ihm sich die ägyptische Stimmung ganz von selber einstellen,« sprach er vor sich hin. Indessen hörte man den vom weichen Läufer gedämpften Tritt des Mädchens, und ihre schlanke Gestalt trat über die Schwelle des braun getäfelten Raumes. Hätte sie ein dunkelgelbes Gesicht mitgebracht und schräggestellte Augen, wie man sie an Pharaonentöchtern zu sehen gewohnt ist, wahrhaftig, Ebenich hätte, vielleicht ein zweiter Antonius, an eine Kleopatra sein Herz verloren. So sehr wirkte der Genius Loci auf ihn ein, daß ihm das an sich hübsche niederdeutsche Gesichtchen zwischen zwei Haubenbändern hier am Nil eher miß- als gefiel. Drei Tage schon schlingerte Dr. Ebenich mit der Kleinen auf den Wogen herum, aber er hatte ihr seither keine Aufmerksamkeit geschenkt und jetzt in dem Augenblick, wo er sie anzusehen gezwungen war, störte sie ihm die Illusion der Fremde. Sie genierte ihn förmlich, wie ihn des Abends der große Bär am Himmel genierte, wenn seine schwärmerischen Blicke das südliche Kreuz suchten. »Weibsstück,« herrschte er das Mädchen an, »warum haben Sie die Rübenfelder von Ritzebüttel im Stich gelassen und fahren hier herunter, wo die Mannsbilder so scheu sind, daß sie nicht einmal in den vorgehaltenen Apfel einer Königin beißen? Kennen Sie nicht die Geschichte von dem ägyptischen Joseph? Wären 3 Sie nicht besser in einem Lande geblieben, wo die Männer das Zugreifen verstehen, wie die Schwalben das Fliegenfangen?«

»Gemach, Herr Doktor,« erwiderte die Angeredete, »nicht jedes Weib braucht mannstoll zu sein, wie Pharaos Gattin. Es gibt auch solche, die vor ihren Männern fliehen und unter hundert verheirateten täten's fünfundneunzig, wenn ihnen nicht wie den Chinesinnen die Füße verkrüppelt wären.«

»Die Ihrigen scheinen übrigens wohlversorgt in ihren Schuhen zu stecken. Ich will nicht hoffen, daß Sie dieselben mißbraucht haben, um irgendeinem Mannsbild aus dem Wege zu gehen,« bemerkte der Doktor mit einem Blick nach dem Rocksaum der Stuardeß.

»An den Schuhen hat's nicht gelegen, an den Füßen auch nicht, daß ich nicht vor Jahren schon auf und davon ging. Nur ein Kind hat mich an dem verhindert. Ach und was erträgt eine Mutter nicht alles um ihres Kindes willen! Gefesselt neben einem Aussätzigen herschreiten müssen, bedeutet nichts gegen den Ekel, den ein Weib herunterschlucken muß, die von der Seite eines rohen Mannes nicht loszukommen vermag. Nun ich bin durch diese Lappen wie eine Hirschkuh durchgebrochen, aber erst, als mein Kind auf dem Hamburger Waldfriedhof eingescharrt war. Da hab' ich angefangen, zwischen meinen Mann und mich die Kilometer zu legen, und wenn wir heute schon nach Ägypten kommen, so begreifen Sie wohl, daß ich mich dessen freue. Am liebsten würde ich auf den Mond gehen, so lange ich meinen Mann noch auf der Erde weiß.«

»Soeben steigt der Lotse über die Reling,« hörte 4 man einen vorübereilenden Matrosen sagen. »In einer halben Stunde werden wir im Hafen sein.«

»Ob der Alte uns wohl an Land gehen läßt?« fügte Frau Hölderlin – so hieß die Stuardeß – bei.

»Warum sollte er nicht erlauben, daß die Besatzung das Schiff verläßt? Der Dampfer hat zwölf Stunden Aufenthalt und nimmt Kohlen ein,« bemerkte der Doktor.

»Schon recht, aber der Kapitän ist ein knitzer Württemberger und hat wie alle Schwaben einen dicken Kopf. Sieht er übrigens nicht aus, als ob sein Großvater ein Eisbär gewesen wäre? So viel ist sicher, daß er von einem bayrischen Raubmörder über die Taufe gehoben worden ist, wie käme er sonst dazu, Hiesel zu heißen.«

»Wenn er nur ein guter Kerl ist, Frau Hölderlin, dann kann er Namen haben, welchen er will. Wir aber müssen wohl die Fortsetzung unserer Unterhaltung auf einen späteren Termin verlegen,« bemerkte der Doktor und trat hinaus aufs Promenadendeck, als eben eine kräftige Seemannsgestalt mit rotem Fez auf dem kurzgeschorenen Schädel den Fuß aus der Strickleiter löste und auf Deck trat. Kräftigen Schrittes eilte die untersetzte Gestalt die eiserne Treppe hinauf zur Kommandobrücke, während über die ostwärts gelegene Salzsteppe die feuerrote Kuppel der aufgehenden Morgensonne emporzusteigen trachtete. In leiser Andacht zitterte das Schiff dem erhabenen Bilde entgegen. Oder war es an dem, daß bereits wieder die Schraube unter dem Hintersteven wühlte und den Kiel nach südwärts weiterschob? Das letztere war der Fall und das Schiff bewegte sich langsam zwischen Seezeichen hindurch dem 5 elektrischen Blitzfeuer des Leuchtturmes entgegen. Zwei riesige, weit ins flache Meer hineingebaute Molen nehmen den Dampfer zwischen die ungeheuren Steinquader und zwingen ihn, schön langsam und bescheiden, am gußeisernen Lesseps vorüber zu gleiten, der mit fliegendem Mantel im Winde steht und mit ausgestrecktem Arm den Orient vom Okzident scheidet.

Auf dem Schiffe hatte inzwischen mit zunehmender Helle der neue Tag alle Gemütlichkeit verscheucht. Auf Gängen und Korridoren lief man wider Matrosen, die mit Kleistertöpfen beladen, Streifen alten Zeitungspapiers über Türspalten und Schlüssellöcher klebten. Wer diese bescheidenen Kunsterprobungen kennt und weiß, was »kohlen« heißt, schließt seine Kabine ab, und macht, daß er soweit wie möglich vom Dampfer wegkommt. Das Schiff war inzwischen von einem geradezu mörderischen Geschrei umtobt, in eines der Hafenbassins eingelaufen und hatte den Anker fallen lassen. In diesem Augenblick wälzte sich eine Woge schwarzen Menschenfleisches über die Reling. An langen Bambusstecken, an der Ankerkette und allem, was von Stricken und Tauen an den Bordwänden niederhing, kletterte mit affenartiger Geschwindigkeit empor, was Vorderasiens und Afrikas heiße Tropensonne gedörrt, gekocht, gebräunt, geröstet und geschwärzt hatte. Im Nu 6 war alles, was europäische Rasse und Art verriet, in der schwarzen Flut untergegangen. Mit Mühe bahnte sich Dr. Ebenich durch die Nachkommenschaft von Sem & Japhet einen Weg nach dem Fallreep hin und gewann einen Sitz in einem der vielen Nachen, die längs der Steuerbordseite in wildem Kampfe um Fahrgäste einander stießen, drängten und drückten. Glücklich war von den Bootsleuten, wer seinen Nachen besetzt hatte, ein Ruder erwischte und sein bewegliches Fuhrwerk abstoßen konnte, der Kaimauer entgegen. Einmal wieder festen Boden unter den Füßen fühlend, eilte Dr. Ebenich die Granittreppen des Bassins empor und verlor sich in den geraden Straßen mit den leichtgebauten Häuserfassaden auf dem beweglichen Wüstensand. Hier und da ein mit dem Kübel in den Boden versenkter Oleanderstrauch. Hier und da die Blätter eines saftgrünen Feigenbaumes, aber überall zwischen vereinzelten Kamelen und Eseln Menschen, nichts wie Menschen. Menschen von allen Farben, Menschen von allen nur denkbaren Formen der Gesichtsbildung. Kahlköpfe, gekräuselte und bezopfte. Zwischen die roten Feze drängte sich der Tropenhelm, der Zylinderhut, der Turban und die Reisemütze. Gelbe Khakianzüge neben breiten Pluderhosen, neben dem wehenden Burnus des Beduinen, neben der ebenholzglänzenden Nacktheit des Nubiers und den blau und gelb gestreiften Gewändern verschleierter Haremsdamen. Dazwischen hinein in dem gepfefferten Gulasch auf vier Beinen wanderndes Hammel- und Schweinefleisch auf dem Marsch nach einer Garküche. Auf einem Prellstein steht eine Löffelgans und reißt den gebeutelten Schnabel auf, als ob sie Handwerksburschen verschlingen wollte. 7 Hunde, die irgendwo einen Hammeldarm aufgetrieben haben, zerren ihn durch den Sand über nackte und schuhbekleidete Menschenfüße hinweg nach einem stillen Winkel, wo sie ihn in Seelenruhe verzehren können.

Dr. Ebenich, der von einer früheren Reise her diese gemischte Gesellschaft gut genug kannte, suchte nach dem Firmenschild eines Zigarettenhändlers und trat in den Laden. Ein magerer Mann mit ledernen, pfirsichgelben Backen schaute hinter einem Berge von kleingeschnittenem Tabak herüber und streckte alsbald dem Doktor die harte, grobknochige Rechte entgegen. »Salem aleikum,« sagte er. »Wenn Sie nach dem Lande der Pharaonen gekommen sind, um nach Ihrem Freunde Hornstein zu sehen, so dürfte dies verlorene Liebesmühe sein. Der Tod, der ihn bei Karthum noch aus den Händen des Mahdis entschlüpfen ließ, hat ihn kurze Zeit später doch eingefordert. Er liegt in Kairo begraben. Schade um ihn, er war ein tüchtiger Dragoman.«

8 »Und ein energischer, verwegener Führer. Noch sehe ich ihn vor mir, wie er, in gelben Ledergamaschen auf dem feingliedrigen Araber sitzend, die Reitpeitsche niedersausen ließ auf die Köpfe zerlumpter Beduinen, die mir einstens bei Jericho am Toten Meer den Weg sperrten. Gott habe ihn selig; er war ein rechtschaffener Jude.«

»Das war er. Viel echtes Jordanwasser hat er nach Jaffa gebracht und viel Neugeborene sind damit zu Christen gemacht worden, obwohl er den Transport vermeiden und seine Krüge ebensogut in Jaffa hätte füllen können, wie an der Taufstelle des Vorläufers Johannes. Ich hoffe, daß ihm um dieses Verdienstes willen der Himmel nicht verschlossen bleibt, der allen offen steht, die guten Willens sind. Allein, mein guter Doktor, wohin soll Sie diesmal Ihre Straße führen? Etwa nach dem Sinai, um die Frage zu entscheiden, welches der Berg der Gesetzgebung ist: der Serbal oder der Dschebel Katharin?«

»Etwas weiter, mein Verehrter! Richten Sie mein Tabakquantum danach ein. Es geht über die Straße von Bab-el-Mandeb hinaus in den Indischen Ozean hinein.«

»Sie werden schlechtes Wetter da unten antreffen. Der Monsun bläst schon seit Wochen heftig aus Süd-West. Die Schiffe, die durch den Kanal kommend im hiesigen Hafen einlaufen, sehen teufelmäßig mitgenommen aus. Ich hoffe, daß Sie auf einem guten Schiffe fahren?«

»Es ist die Pantellaria,« erwiderte der Doktor, »außer dem, daß er gut versichert ist, wird sich dem alten Kasten nicht viel Rühmenswertes nachsagen lassen.«

9 »Doch sein Kapitän gilt für einen tüchtigen Seemann, außerdem hilft er dem Herrgott die Welt regieren und ist etwas nörgelsüchtig wie alle Schwaben. Es ist doch Hiesel, der das Schiff führt?«

»Ganz recht, und der zweite Offizier heißt Seelengut.«

»Seelengut, ja Seelengut bei allen sieben Todsünden, die gute Seele wird heute einen schlechten Tag haben. Wissen Sie schon, daß hinter dem Herrn eine Depesche von Hamburg nachgelaufen ist, die ihm den Tod seiner Frau meldet? Sollten Sie dieselbe etwa gekannt haben?«

»Aber sicher,« entgegnete traurig der Doktor. »Ich sah, wie die blondhaarige schlanke Dame zu Hamburg vor dem Rödingsmarkt weinend am Halse ihres Mannes hing. Sie war so jung und schön und jetzt schon tot!«

»Ja, ja, mein Freund, der Tod wartet nicht immer, bis die Haare spärlich und weiß geworden sind. Er hat oft sonderbare Ausreden, weshalb er diese oder jene vor dem Herbst in den Keller holt, um sie einzuwintern für den Tag der Auferstehung. Im übrigen, wieviel Zigaretten wünschen Sie, daß ich Ihrem Pakete beilegen soll? Fünfzehnhundert bis zweitausend etwa? Sie haben ein anständiges Format und Sie können mit diesem Vorrat, wenn Sie von keinem Haifisch geschluckt werden, die ganze Erde umsegeln.«

Der Kaufmann brach die Unterredung ab und wandte sich einer Dame zu, die unterdessen mit der Frage, ob Straußenfedern zu kaufen seien, in den Laden eingetreten war. Farbe, Länge und Preis der Federn wurden lebhaft besprochen, aber das Gerede lohnte sich. Es kam 10 ein Geschäft zustande, das den Verkäufer in gute Laune versetzte. Er bot seinen Kunden eine Schale Mokka an, und während man sich um den Ladentisch herumgruppierte, bemerkte Dr. Ebenich, daß er in der stark herausgeputzten Dame Frau Hölderlin, die Stuardesse seines Dampfers vor sich hatte.

»Gehen wir zusammen an Bord,« bemerkte der Doktor. »Ehe die Sonne sinkt, muß die Pantellaria im Kanal sein.«

»Zu überhasten brauchen wir uns nicht. Als ich von Bord ging, waren die Kohlenträger noch in voller Tätigkeit, und dann ist doch auch die andere noch an Land. Herr Seelengut wird ohne sie nicht ausfahren, geben Sie sich keiner Sorge hin.«

»Ich vermute, daß unser Zweiter die Reise überhaupt nicht weiter mitmacht, sondern nach Hamburg zurückkehrt. Haben Sie nicht vernommen, daß eine Depesche aus der Heimat ihm den plötzlichen Tod seiner Frau mitgeteilt hat?«

»Gewiß, ich weiß so viel und so wenig, als Sie auch wissen, aber ich weiß über dies hinaus, daß ein Seemann wegen einer toten Frau eine lebendige nicht im Stiche läßt. Haben Sie nicht während der ganzen Reise bemerkt, mit welcher Ausdauer Herr Seelengut dem Fräulein den Hof machte? Was da auf dem Feuer der Liebe gekocht wurde, konnte doch ein mit dem Heuschnupfen behafteter Schafsknecht riechen.«

»Sie sprechen von einem Fräulein. Ich hätte unsere Reisegenossin ihrem ganzen äußeren Habitus nach eher für eine Frau gehalten.«

»Einen anderen Beweis für ihre Jungfernschaft habe 11 ich auch nicht als die Schiffsliste. Da steht sie eingetragen als Frl. Österle mit dem Reiseziel Hongkong. Aus Briefen, die sie so in der Kabine und auf dem Liegestuhl herumfahren läßt, weiß ich, daß sie eine Frankfurterin ist und hinter einem jungen Manne herreist, mit dem sie einmal in Baden-Baden getanzt hat. Er schrieb ihr, daß er in einer chinesisch-semitischen Häutefirma eine gut bezahlte Position gefunden habe Wenn sie sich noch des Herrn erinnere, der auf dem rechten Fuße ein wenig lahme, so möge sie kommen, und sie wollten Hochzeit machen.«

»Und da hat sie nun ihre Brocken zusammengerafft und ist hinter dem Fellchristen her? Sie ist eine Dame von guter Erziehung und Bildung, wie ihre Unterhaltung beweist. Wie kann man nur, auf so unbestimmte Erfüllung bauend, das Risiko einer so weiten Reise und die Vereinsamung in einem absolut fremden Lande übernehmen?«

»Wer so fragen kann wie Sie, kennt die Frauennatur schlecht. Ein Weib, das von der Sinnlichkeit gestochen wird, läuft durch des Teufels Zähne in den offenen Höllenrachen hinein und verliert dabei die Absätze an den Schuhen.«

»Ich werde mich hüten, mit Ihnen über weibliche Ansichten zu streiten. Sie müssen Ihre Schwestern und deren Art besser kennen wie ich und scheinen bei Fräulein Österle eine gewisse Weitherzigkeit vorauszusetzen. Na, uns kann es einerlei sein, wenn wir nur Herrn Seelengut behalten, er ist ein zuverlässiger Navigationsoffizier. Übrigens, die Schatten wachsen. Es wird Zeit, daß wir an Bord gehen.«

12 Als die zwei Leutchen auf die Straße traten, kam Fräulein Österle strahlenden Gesichts auf einem Esel trabend daher. In der Rechten hielt sie den Zügel des Langohrs, während die Linke eine Pappdeckelrolle wie ein Reichszepter aufs Knie drückte. »Da hätten wir sie, die Königin von Saba,« sagte die Stuardesse giftig; »sie hat sich gleichfalls Straußenfedern gekauft, um ihren Salomo zu berücken.«

»Ihr ›gleichfalls‹ verrät mehr, als Sie eigentlich offenbaren wollten,« bemerkte der Doktor lachend. »Schließen wir lieber vorläufig die Akten über eine Untersuchung, die den Zeugen zum Angeklagten machen könnte und wenden wir uns dem Schiffe wieder zu, das wie Noahs Arche Freund und Feind wieder mit seinen Brettern umschließen soll.«

Sie gingen durch eine Seitenstraße und gewannen einen freien, kiesbedeckten Platz. Hinter diesem schaukelte das Hafenbassin viel hochmastige Schiffe auf seinem grünen Spiegel. Da lag auch die Pantellaria noch immer fest umschlossen von dem schwarzen Ring der Kohlenschlepper. Schmale Bretter führten von Brustwehr zu Brustwehr, und auf diesen schiefen Brücken liefen halbnackte über und über mit schweißigem Kohlenstaub überklebte Gestalten, die schwarzen Diamanten in kleinen Körbchen auf den Köpfen tragend, mit affenartiger Geschwindigkeit hin und her. In jedem Augenblick fast lief eines der kleinen Teufelchen wider ein anderes und fiel ins schwarze Innere der schwarzen Schiffe hinein. Ein unbeschreibliches Geschrei, aus Klagetönen, Vorwürfen und Kommandoworten gemischt, erschütterte die Luft, während der blecherne Schall der Schiffssirene immer wieder und 13 wieder zur Eile antrieb. Hier und da war ein Nachen leer geworden und suchte sich aus der Umklammerung der anderen loszulösen. Man stieß auf Widersprüche und Widerstand. Die Ruder hoben sich in die Luft und fuhren klatschend nieder. Die Phantasie des Beschauers rechnet mit eingeschlagenen Schädeln und sieht, wie blutbefleckte Leiber aus dem Bauche des Schiffes herausgetragen werden. So schlimm kommt es selten. Alles löst sich zuletzt in Wohlgefallen auf. Während die geleerten Nachen einer nach dem andern von dem Dampfer abstoßen und die Kohlenträger am Bassinrand stehen und ihren Verdienst von einer ausgestreckten Hand in die andere zählen, werfen Dutzende von Schaufeln das brocklige Heizmaterial durch die Luken in die Bunker hinunter. Die Kohlenberge auf Deck werden kleiner und kleiner. Die Holzbohlen gucken durch und schon fahren Scheuerlappen und quellensprudelnde Wasserschläuche über die festgefügte Dielung hin. Das – »Kohlen« – ist beendet, das Reinmachen hat begonnen.

Dr. Ebenich und seine Begleiterin warteten noch einen Augenblick, bis die Schiffsschraube unterm Heck ein kleines Probeschaumschlagen veranstaltete, dann warfen sie sich eilig in einen Nachen und kamen an die Steuerbordseite der Pantellaria, als eben ein Strang des Ladebaumes das Geländer des Fallreeps erfaßte, um letzteres an die Schiffsreling hinaufzuziehen. Nun war's geschehen. Des Schiffes kaltes Verhältnis zum Festland war abgebrochen, und der Kiel pflügte aufs neue die Meeresflut dem fernen Ziele entgegen.

Schön war der Abend, der einem heißem Tage folgte. Diamantstrahlend hatte die Milchstraße eine Brücke 14 gespannt, über das Flachland hin, über dessen Flugsand einst die Söhne Jakobs mit ihren Kamelen zogen, um aus den Silos ihres schlauen Bruders Getreide zu kaufen, das der geriebene Spekulant in den Jahren des Überflusses aufgespeichert hatte für die Jahre des Mangels. Ja, da haben wir sie vor uns die Wasserscheide zwischen dem Roten Meer und dem Mittelmeere, ganz wie sie war vor Jahrtausenden mit dem harten, vertrockneten Wüstengesicht, mit dem armseligen Tamariskengrün seines spärlichen Buschwerks, mit seinen stachelichten Disteln, seinen schwankenden Kamelen in den Nomadenzügen seiner heimatlosen Bevölkerung. Gerade als ob es uns zuliebe extra geschehen wäre, hatte nämlich am Ostufer des Kanales ein Karawanenzug sein Lager aufgeschlagen. Über senfgelbem Sande erhoben sich staubgrüne Zelte, zwischen deren Gassen mit rötlichem Scheine die Lagerfeuer brannten, während schwarzgraue, klumpige Wolkensäulen das sternenbesäte Firmament überschleierten. Abseits vom Lager schwankten, den Kopf der Erde zugeneigt, hochbeinige Dromedare, um für ihre trockenen Zungen nach dem Wort der Bibel »unbekümmert um alle Welt von den Disteln Feigen zu pflücken«. Kleine Esel und magere Hunde nähern sich neugierig dem Ufer des Kanals, um das geheimnisvolle, seltsame Gebilde zu betrachten, das da mit gespenstischen Rahen und Masten auf dünnem Wasserfaden geheimnisvoll unterm Sternenhimmel durch die Wüste zieht. Stumm, unbeweglich, farblos, ist es ein Holz, ein Stein, der morsche Stumpf eines abgebrochenen Baumes, macht sich da ein Ding im Wüstensand bemerkbar, von dem alles Leben längst geschwunden scheint. Und doch bemerkt das Auge beim 15 näheren Hinsehen, daß ein dünner Rauchfaden sich von dem Gegenstande wegstiehlt . . . Ja, er ist es, im faltenreichen Burnus, der noch immer flüchtige Sohn der Hagar, wie er es vor viertausend Jahren war, und die Kultur hat ihn nur insoweit verändert, daß er heute die lange Araberflinte zwischen die Knie zwängt und Zigaretten raucht. Was mag das fernere Ziel seiner beschwerlichen Reise sein? Ist es der beim Timsahsee gelegene Djebel Marjam, wo Mirjam, die Schwester des Bruderpaares Moses und Aaron, mit den ihrigen zerfallen, sieben Tage lang fern vom Lager Israels schmollte? Oder ist es das ferne Mekka mit seiner allen Araberstämmen hochheiligen Kaaba?

Dr. Ebenich schüttelte den Kopf und sagte sich: »Ich weiß es nicht,« aber das, was er jetzt gefragt wurde, wußte er gerade so wenig.

Die Stuardeß war nämlich in seine Nähe gekommen und flüsterte ihm leise ins Ohr: »Haben Sie eine Ahnung, wo die Königin von Saba im Augenblicke weilt?«

»Ich denke, in der Nähe Salomos,« war die ausweichende Antwort.

»Ganz den Nagel auf den Kopf getroffen und beide sind da vornen in der Offizierskabine. Sie spielt heute die Samariterin und wird wohl wissen, mit welchen Dingen man einen trauernden Witwer trösten kann.«

»Keine Frage, denn noch immer ist der Apfel nicht ganz aufgegessen, den einst die Eva dem Adam reichte. Allein, meine Gnädige, es will mir scheinen, ganz satt ist die noch nicht, die in die Küche schleicht, wennschon sie scheinbar den Löffel weggelegt hat. Seien Sie ehrlich, 16 Sie möchten mit jener Ihre Freiheit austauschen, die dort hinter dem Kabinenriegel eingesperrt ist.«

»Ich werde mir keine Mühe geben, um Ihnen zu beweisen, daß es Frauen gibt, die ohne Männer leben können. Ganz freilich hab' ich's ja auch nicht fertig gebracht, allein ich sage Ihnen: ›Kein kluger Hund beißt zum zweitenmal in einen Igel.‹«

»Wenn Sie in Ihrer bilderreichen Sprache den Mann herabsetzten, indem Sie ihn einen Igel nannten, so haben Sie ihn in dem Augenblick wieder erhoben, als Sie das Weib mit einem Hunde verglichen. Nehmen wir an, daß damit beiden Geschlechtern Satisfaktion geworden sei und sagen Sie mir dafür lieber, durch welche Eigenschaften Ihr Mann sich die mindere Wertschätzung seiner Frau zugezogen hat.«

»Erstens dadurch, daß er überhaupt als Mensch auf die Welt gekommen ist. Denn ein guter Rennreiter hätte er auch als Halbaffe werden können. Zweitens dadurch, daß er nicht mehr Verstand mitgebracht hat als nötig war, ein Weib zu betören und mich zur Mutter zu machen und drittens nicht mehr Gefühl, als man braucht, um ein Kind sterben zu sehen, ohne den Durst zu verlieren. Sein erster Gang vom Sterbebett unserer Kleinen weg war nach der Weinflasche.«

»Ich muß zugeben, daß Sie keine Perle wegwarfen, als Sie Ihrem Seligen oder Unseligen den Laufpaß gaben. Allein, welcher böse Geist treibt Sie jetzt, daß Sie einer anderen einen Versuch wehren wollen, den Sie doch auch gewagt haben, ja den Sie, wie mir scheint, zu wiederholen im Begriffe sind mit der stillen Hoffnung auf einen besseren Erfolg?«

17 Die Angeredete lachte laut auf. »Hab' ich mir's nicht gedacht,« fuhr sie heraus, »Sie nehmen an, daß ich den Karpfen in meinen Kochtopf haben will, nach dem ich die Angel auswerfe. Können Sie sich nicht denken, daß das Angeln an sich schon ein Vergnügen ist, und dann erst recht, wenn ein Fisch herausgeschnappt wird aus dem Wasser, das ein anderer gepachtet zu haben glaubt? O und in unserem Falle gar handelt es sich um ein schädliches Raubtier, denn der junge Witwer steht im Begriff, einen Hering zu verschlucken, der doch dem chinesischen Fellchristen zugesprochen ist. Können Sie sich nicht denken, daß ich mir selber wie eine halbe Heilige vorkommen muß, wenn ich dem armen Teufel rette, was doch sein werden soll, und als eine ganze Heldin, wenn ich nach errungenem Erfolg mein Geschlecht an dem Lümmel räche, indem ich ihm sage, daß ich ihn verachte? Wird sich in diesem Augenblick nicht auch eine andere mit mir freuen, die, kaum gestorben, schon vergessen war?«

»Mir scheint, Sie belasten sich stark mit Reisegepäck und spinnen am Rocken einer gefährlichen Intrige,« sagte der Doktor; »aber vielleicht haben Sie recht mit dem, was Sie vorhaben. Liegt erst das Rote Meer hinter uns, und fehlen dem Wasser die Ufer, dann wird zwischen Himmel und Erde alles willkommen sein, was einigermaßen Abwechslung verspricht. Dann soll mein Auge wieder auf Ihre schlimmen Pfade leuchten. Doch für heute lassen Sie uns die Unterredung beendigen. Sehen Sie, wie da drüben das Mondlicht über die Trümmer alter Denksteine rieselt? An dieser Stelle, wo Sie über kleine Kabalen sinnen, hat Darius an sein 18 Weltenreich gedacht. Gehen Sie schlafen, bevor die Leuchtfeuer von Suez Ihnen mit ihren Blitzen in die Augen stechen und der schäumende Teekessel Sie an Ihr Amt erinnert.«

›Man schlafe zu Hause, weil man da nichts versäumt oder Versäumtes leicht wieder nachholen kann.‹ So dachte Dr. Ebenich für seine Person, und er widmete dem Ruhebedürfnis nur soviel Zeit, als unbedingt nötig war, um seinen Körper für die Aufnahme von neuen Eindrücken empfänglich zu erhalten. Als er nach kurzer Ruhe im weißen Tropenanzug wieder auf Deck erschien, glitt das Schiff an Suez vorüber. Breite Dächer, hier und da von Palmen überragt, geben der kleinen Stadt ein behagliches Ansehen. Der Mensch liebt die Breite, weil sie ihm die Freiheit bedeutet, die Freiheit zum Gebrauch seiner Beine und seiner Ellenbogen, und die Möglichkeit, seinen Körper auszustrecken, ohne daß Kopf und Füße irgendwo an eine Mauer stoßen. Auch dem freien Ausblick bereitet die Breite kein Hindernis, sie trägt den beweglichen Geist sogar über die Linie des Horizontes hinaus und malt ihm jenseits desselben eine phantastische Landschaft ins leere Himmelsblau hinein. Hier bei Suez war diese Arbeit der Einbildungskraft kaum nötig, denn mit dem Vorwärtstreiben des Schiffes schrumpfte der flache Häuserkomplex immer mehr zu einem blaugrauen, kaum über den Wasserspiegel des Golfes hervorragenden Fleck zusammen, während im Westen die gewaltigen Wände des Djebel Ataka hervortraten. Ohne eine Spur von Vegetation liegen sie da, nackt, hellgelb, mit brennenden, spiegelnden Flächen, als ob sie sagen wollten: Ziehe deine Schuhe von 19 den Füßen, nur das Weiche, Schmiegsame kann auf mir haften, die Katzenpfote der Hyäne und allenfalls noch die Kralle des Löwen. Und in der Tat, der Maler, der einen Hintergrund sucht für die erschütternde Kraft des Königs der Tiere, muß vor das Atakagebirge treten und ihn da mit erhobener Pranke vorwärtsschreiten lassen auf dem schmalen Felsenband, den Blick gerichtet über Felsengerölle und Meer hinweg bis zum tausendfach gegipfelten Sinai hinüber, während die glattpolierten Felsenschliffe seine ganze Kraft und Schönheit wie aus einem Spiegel zurückzuwerfen scheinen. Der Gedanke, daß auf solchem Pfade jemals die Menschenkraft sich mit der Stärke des Tieres zu messen gezwungen sein könne, hat etwas an sich, das wie ein schauerndes Frieren an unserer Wirbelsäule emporspringt und unser Kopfhaar aufrichtet, daß es steil steht wie die Borsten auf der Schwarte eines verwundeten Keilers.

Bald aber bleibt dies Bild schauervoller Großartigkeit hinter uns, und an der Küste der Sinaihalbinsel steigt über dem Sand des Vorlandes eine baumreiche Oase herauf, eine grüne Insel inmitten von Sand und Dürre. Das ist Ain Musa, die Mosesquelle. Die Gläser aller Reisenden steigen aus ihren Futteralen und richten sich nach diesem grünen Labsal.

Pindar hat recht! »Das Beste ist das Wasser,« weil es Gärten aus der Wüste zu zaubern vermag!

Bald aber umschleiert sich das Bild. Die Sonne ist hinter die Berge der Libyschen Wüste getreten und ihre schrägen Strahlen übergolden die ungezählten Gipfel des zerrissenen Sinaigebirges, während das Meer und der Fuß der Berge in nasses Dunkel versinken. Nun 20 beginnt um die Spitzen und Abgründe der wahre Feuerzauber. Aus einer Unterschicht von sattem Dunkelrot und Grün heben sich gelbrote bis weißglühende Spitzen in das satte Blau des Abendhimmels hinein. Eine Zeitlang steht alles ruhig und still, nur ein für die Ewigkeit erschaffener Göttersitz. Dann kommt ein unruhiges Wallen und Wogen in diese Märchenwelt hinein. Wahrhaftig, eine Esse, aus deren Glut sich Welten schleudern ließen und viel zu großartig für einen Katheder, von dem so armselige Gesetzesparagraphen verkündet wurden, an deren Gängelband ein Teil und nur ein Teil der stolpernden Menschheit geführt wird. Dunkelrote Schleier steigen wie eine jungfräuliche Schamröte höher und verlöschen die weißglühenden Zacken. Rosafarbene Schwaden mit schwefelgelbem Einschlag treiben aneinandergereiht über die Kämme hin, während ein tiefes Schwarz von den Tälern und Schluchten her immer höher und höher steigt. Immer schemenhafter und durchsichtiger wird oben das Scheinen, während unten das Sein mit brutalem Wirklichkeitssinn hervortritt. Zu guter Letzt sind Glanz und Herrlichkeit verflogen und eine schwere Gebirgsmauer dehnt sich nord- und südwärts ins Unendliche und starrt mit zerrissenen Zinnen ins Blaue des sternenübersäten Abendhimmels hinein. Nur noch eine kleine Weile Geduld und der Mond, ein recht islamischer Mond, einer Silbersichel ähnlich, schwimmt lustig unter den klaren Sternenbildern herum.

»Nun ist der Moment gekommen, wo einer für einen Liegestuhl ein Königreich von mir einhandeln kann,« sagte Dr. Ebenich und warf sich seiner ganzen 21 Länge nach über einen Madeirasessel. Eine leichte Decke verhüllte Leib und Glieder, während die Augen weitgeöffnet ins Nachtgewölbe des Himmels starrten, wo aus schwarzblauem Grunde die Sternbilder heller und klarer ausgemalt waren, als er sie je in seiner nordischen Heimat gesehen hatte. Glänzender und ruhiger schwamm auch das Silberschifflein des Mondes zwischen den glitzernden Fixsternen hin und ein zaubervoller Himmelsfriede strahlte von ihm auf die Erde nieder und wiegte die Seele im Halbschlaf hinüber, in eine Wunschlosigkeit hinein, die mit das Süßeste ist, was der Mensch genießen kann.

Im Rauschen des Kielwassers schlugen leise plätschernd kleine Wellen wider die Schiffswand, und aus dem Halbschlaf wurde ein ganzer. Dr. Ebenich träumte, aber nicht vom brennenden Dornbusch, nicht vom Paradies, sondern von Ratten. Als er nach einiger Zeit wieder zum Bewußtsein seiner Lage kam, war sein Traum Wirklichkeit geworden. Zwei von diesen langgeschwänzten Nagetieren vertrieben sich die Zeit mit Männchenmachen auf seiner Schlafdecke. Diese Frechheit ging nun doch dem guten Doktor über die Hutschnur. Mt einem plötzlichen Ruck seiner Arme schleuderte er die Unverschämten über die Reling hinüber ins Meer hinein, wo sie voraussichtlich alsbald die Schnabelbeute irgendeines Raubfisches geworden sind. Die sparsame Mutter Natur läßt nichts umkommen. Das Häßlichste ist immer noch schön genug, um dem Hunger irgendeines Genügsamen als Leckerbissen zu erscheinen.

Zu dieser Methode der Leichenbestattung erklang dem 22 Doktor eine seltsame Art von Musik. In dünnen, klagenden Tönen schwebte eine heimatliche Melodie durch die Luft. Wo mochte sie nur herkommen? Der Horcher im Liegestuhl richtete sich etwas auf und sah sich um. Schon drang in den höheren Luftschichten das Licht des neuen Tages über die Sinaigipfel und löschte langsam das Sternenlicht aus. So war es nicht allzuschwer, auf der Kommandobrücke den Matrosen zu entdecken, der, die dritte Wache haltend, schweigend auf- und niederschritt. Der gute Mann hatte sich, um die Langeweile zu vertreiben, eine Spieldose neben den Kompaß gestellt. So lag vor seinem geistigen Auge »eine Krone im funkelnden Rhein« zur gleichen Zeit, wo vor seinem leiblichen das klippenreiche Tor der Djobal-Straße sich auftat, womit dann die Spitze der Sinaihalbinsel glücklich umschifft war.

Von hier ab geht es direkt in die Glutpfanne des Roten Meeres hinein. Wo immer noch die Ahnung von einem alten Hemd oder der Schimmer von einem zerrissenen Segel vorhanden ist, wird es aufgespannt und Menschen retten sich vor den glühenden Sonnenpfeilen in seinen eingebildeten Schatten. Wehe dem Finger, der nach einer Messingschraube tippt! Wehe der Hand, die sich an einem Eisenstabe vergreift! Beide Versuche sind strafbar, und die Schuld wird zwar nicht durch ein schlechtes Gewissen, wohl aber durch eine kleine schmerzhafte Brandblase bestraft. Das sind Tage, an denen sogar der kraushaarige Somalineger und der langgezopfte Südchinese am Kesselfeuer manchmal den Verstand verlieren, aufs Deck stürmen und sich Hals über Kopf, trotz der das Schiff umschwärmenden Haifische ins Meer stürzen.

23 Dr. Ebenich ließ sich von einem die Wäsche besorgenden Hindu den Schädel kahlscheren und kroch mit dem Schiffshund zusammen unter ein Stück Bettleinen, das auf der imaginären Schattenseite des Rauchsalons lag. Von diesem heimlichen Winkel aus beobachtete er mit dem Glase die Stadt Djidda, den Hafenplatz Mekkas. Weiße Häuser, die Zinnen einer langgestreckten Stadtmauer, breitgewölbte Kuppeln und spitzgeschliffene Minaretts machen, in der hellen Tropensonne gesehen, einen gewaltigen Eindruck, sind aber, wie vieles im Orient, wahrscheinlich nur die übermalte Attrappe, hinter der sich schmutzige Winkel mit krummen Gassen verbergen, in deren trüben Rinnsalen sich fette Weiber, der Geschmack des Türken, wie gemästete Schweine sielen.

Während der Doktor vor seinem Opernglase wie vor einem Guckkasten lag, versperrten ihm plötzlich zwei 24 Weiberbeine die Aussicht. Erst als er den Kopf ins Genick bog, konnte er erkennen, daß dieses ungetretene Pedal zur Stuardeß gehörte, die denn auch alsbald zu orgeln anfing: »Nein, aber Doktor, wie Sie nur daliegen mit dem Azorl! In Hamburg würden die Schutzleute Ihre Gurgel untersuchen, ob Sie auch eine Hundemarke tragen. Stehen Sie auf, und ich werde Ihnen Dinge vorsetzen, die Ihren Gaumen kitzeln sollen.«

»Vier Tage haben Sie, wie ich annehme, an dieser Speise herumgekocht, von Port Said bis auf die Höhe von Suakin. Nun, ich will gerne glauben, daß sie weich ist, zumal es Aufgewärmtes von dem sein wird was Sie damals vor Port Said frisch gebraten servierten.«

»Riechen Sie bereits den Braten? Ganz die richtige Witterung in der Nase. Man sieht, Sie haben nicht umsonst neben dem Hunde in der Hütte gelegen. Ich kann mir also die lange Einleitung sparen und geradehinaus sagen, wer unsere Königin von Saba ist. Nun, sie ist eine von den vielen, die hungrig auf die Männerjagd gehen, nachdem zu Hause das Schwarzwild knapp geworden ist. Der Vater, ein ehemaliger Husarenleutnant, verrauchte seine Pension, verjeute das Vermögen einer reichen Erbin und verlor sein Leben bei einem Rennen in Baden-Baden. Die Witwe zog mit zwei erwachsenen Töchtern nach Frankfurt. Man macht aus sich, was man kann, besucht Gesellschaften, aber immer im Singularis, denn der eine Spitzenunterrock und das Paar Atlasschuhe genügen nicht, um dreien gleichzeitig soviel Glanz und Ansehen zu verleihen, daß sie als gute Partien erscheinen könnten. Die 25 Mutter zwar tritt bescheiden in den Hintergrund. Sie könnte zwar, sie will aber dem Glück der Kinder nicht im Wege stehen. Numero eins der Töchter bändelt mit einem Rittergutsbesitzer an. Der vorsichtige Mann erhält von einem Auskunftsbureau eine Nachricht, die ihn verschnupft und zieht sich zurück. Ein Bankdirektor, der sich angeblich für Numero zwei zu interessieren scheint, wird nach Königsberg versetzt und schreibt nicht mehr. Man sieht ein, daß sich die Heiratsaussichten auf der höchsten Sprosse der sozialen Leiter verschleiern. Man steigt eine Stufe tiefer und tanzt auf kaufmännischen Bällen. Da trifft man mit einem forschen Menschen zusammen, der frech zu tanzen versteht. Er knausert nicht mit Austern und Champagner und man gewöhnt sich am ersten Abend des Zusammenseins schon an den Gedanken, daß man ihn nicht ausschlagen würde, wenn er kommen sollte. Aber er kommt nicht. Nun geht man seinen Spuren nach und erfährt, daß er vor Wochen bereits wieder nach Kanton abgereist ist, wo er bei einer Häutefirma eine gut bezahlte Vertrauensstellung einnimmt. Die Sache riecht ein wenig nach Proletarierpack, aber man glaubt, daß man am Ende doch zugreifen könnte, wenn er nur schreiben wollte. Da, eines schönes Tages, schreibt das Subjekt wirklich, und nun wird plötzlich Ereignis, was kurz zuvor noch als eine Unmöglichkeit erschienen war. Man hat sich in der Tat entschlossen. Die Freundinnen kommen zusammen. Man feiert einen Polterabend, nimmt Gratulationen und Hochzeitsgeschenke entgegen, packt die Brocken ein und fährt nach dem nächsten Hafen.«

»Nun bitt' ich Sie aber,« unterbrach hier der Doktor 26 »auf welchem Wege sind Sie in den Besitz von all diesen Kenntnissen gelangt?«

»Das erste Drittel meiner Weisheit las ich aus ihrem Gesichte, das zweite aus ihrer Garderobe und das dritte, nun das dritte direkt aus ihren Briefen. So ein Muster hat ja vor Gott und einem Kammermädchen nie ein Geheimnis, weil sie zu bequem ist, ihre Sachen unter Verschluß zu halten. So kam auf die natürlichste Weise von der Welt der Brief des Häutehändlers in meine Hände und noch ein anderer, der aus den Wolken gefallen zu sein scheint.«

»Trägt er vielleicht den Abgangsstempel des Himmels? Womit begründen Sie die Annahme, daß er aus höheren Regionen stammen müsse?«

»Weil er von unten nicht gekommen sein kann. Schweben wir nicht schon seit fünf Tagen wie der Geist Gottes über den Gewässern? Schenken Sie mir einen Moment nur Ihre Aufmerksamkeit und Sie werden verstehen, wie der Brief nur aus der Höhe gekommen sein kann. Der gedielte Plafond von des Fräuleins Kabine ist der Fußboden der Kommandobrücke. Sagen Sie: wie käme der Specht zu einem Nest, wenn die Bäume keine Astlöcher hätten? Und eben einem solchen Loch verdankt unsere Königin von Saba ihre Briefe. Daß sie ihr gerade aufs Bett fallen, ist ein glücklicher Umstand, der mir das Bücken spart und ein langes Suchen auf dem Fußboden.«

»Schade, daß Sie nicht in einem Detektivbureau bei ›Greif und Haltefest‹ etwa nach Verwendung gesucht haben. Sie wären ein zweiter Sherlock Holmes geworden. Ohne ein Kilo Morphium im Magen hätte 27 unter Ihren Späheraugen kein Verbrecher mehr geschlafen.«

»Mag sein,« bemerkte die Stuardeß so obenhin. »Jedenfalls wäre ich auf der Spur der Weiber ein besserer Jagdhund geworden, als je einer in den Kartoffelfurchen vor einem Rebhuhn gestanden hat. Was ich Ihnen übrigens noch sagen wollte, Herr Doktor! Ist es Ihnen nicht aufgefallen, daß der Zweite über Tisch ab und zu das Wort ›Ratte‹ gebraucht? Er sagte z. B.: ›Mein verehrtes Fräulein, haben Sie heute in Ihrer Kabine keine Ratte entdeckt?‹ und meinte damit einen Brief.

»Und sie antwortete: ›Ja, es ist unglaublich, was diese Bestien sich hier auf dem Schiff herausnehmen.‹ Sie hatte sich unter die Kuverts verkrochen.«

Dem Doktor war es unterdessen langweilig geworden, den Diogenes zu spielen, zumal da doch nur der Hitze wegen, schmalhüftig im Singular von Unterröcken, ein weiblicher Alexander vor ihm stand. Er kroch deshalb mit Azor unter seiner Leinwand hervor und schüttelte die Gedanken von sich, über deren kleinliche Nichtigkeit er sich zu ärgern anfing. Auch der Hund schüttelte sich obwohl ihn keine Bedenken quälten, sondern nur kleine braune Ungeheuer, die in südlichen Breitegraden mehr noch als im Norden ein angestammtes Besitzrecht auf Hunde- und Menschenfelle geltend machen. So kamen denn beide schlingernd wie eine Fregatte im Sturm im Speisesaal an, als schon die Abendmahlzeit und solche, die sie erwartet hatten, die Tafel zierten. Außerdem erfüllte nur noch eine unglaubliche Schwüle den hellen, scheibenreichen Raum. Ebenich nahm seinen gewohnten 28 Platz ein auf dem gewohnten schwarzen Drehstuhl, aß aber nichts als Apfelsinen und einige goldbraune Bananen. Sprechen mochte er auch nicht und er hätte von dem Tischgespräch wohl auch nichts gehört, wenn nicht das wenig appetitliche Wort »Ratten« ein paarmal gefallen wäre. »Ratten meinen Sie,« sagte Fräulein Österle. »Nun, mögen sie in dieser Nacht nur kommen. Ich habe mich an diese Tierchen bereits gewöhnt und finde, daß sie lange nicht die abstoßend häßlichen Gäste sind, wie sie mir im Anfang erschienen.«

Na, ›die ich rief, die Geister‹ usw. dachte der Doktor, steckte eine Zigarre in Brand und begab sich auf Deck, wo der bereits durch die Bab el Mandeb-Straße hereinblasende Südwestmonsun seine Gegenwart durch eine sanfte Abendkühle verriet. Lang hingestreckt über den Liegesessel, schaute Ebenich dem Rauch seiner Zigarre nach, der mit seinen wehenden Kringeln bald einen Fixstern einfing und bald die Mondsichel ans Himmelsgewölbe festzubinden schien. Es war eine weiche Nacht, deren müdes Halbdunkel mit leisem Streicheln über die Lider hinfuhr, bis sie sich zu einem Schlummer schlossen, der alles war, nur kein Schlaf. Alle die Sinne waren der Wirklichkeit noch nicht ganz entrückt, schwebten aber über dem Gegenständlichen und schienen sich für dasselbe kaum, zum mindesten aber ohne jede Leidenschaftlichkeit zu interessieren. In diesem Zustand sah die Seele des Doktors, als eben der Beginn einer frischen Nachtwache geglast wurde, einen Schatten, der dem zweiten Offizier ungefähr soviel glich, wie das Gespenst auf der Terrasse von Helsingör dem gestorbenen Dänenkönig, von der Kommandobrücke niedersteigen und hinter der 29 Kabinentür des Fräuleins Österle verschwinden. Es gibt Dinge, die Tatsachen sind, obwohl sie von niemand beschworen werden können, und schließlich, wer schlägt nach einer Fliege, wenn sie vor dem geöffneten Rachen eines Tigers schwebt?

Gestärkt von der langen Ruhe und gekräftet von der kühlen Brise des Südwestmonsuns betrat Dr. Ebenich am nächsten Morgen das Steuerhäuschen. Er findet den Mitinhaber des berüchtigten Namens Hiesel, den Beherrscher der Pantellaria, mit ernsten Falten im Gesicht über das »Segelhandbuch für das Rote Meer und den Golf von Aden« geneigt. Während nämlich an Backbordseite das durch seinen Kaffee weltberühmte Mokka gesichtet wird, bleibt dem Kapitän die Entscheidung überlassen, ob er sich zur Durchfahrt für die kleine oder große Straße von Bab el Mandeb entscheiden will. Erstere liegt östlich, letztere westlich der Insel Perim. Beide Wege sind wie Szylla und Charybdis mit Bedenklichkeiten gepflastert. Erstere ist von gefährlichen Stromversetzungen und Riffen bedroht und in letzterer strecken die gefürchteten Klippen der sechs Brüder ihre stahlharten, kupferbraunen Schädel aus der weißen Halskrause einer ewig schäumenden Brandung heraus. Wehe dem Kiel, der ihren eisernen Stirnen zu nahe kommt! Wer von einem erprobten Räuberhauptmann irgend etwas geerbt hat, und wenn es auch nur der Name wäre, forcht sich nicht. Auch Hiesel tut dies nicht. Er läßt im Volldampf die Schraube wirbeln und das Ruder treibt pfeilgerade unseren Kiel links an den Brüdern vorbei.

Das nautische Manöver war vortrefflich gelungen, 30 und der Kapitän streckte seine Wirbelsäule und sah dem Doktor schmunzelnd ins Gesicht.

»Nun haben wir den Suezkanal hinter uns,« bemerkte er und sah so aus, wie einer, der erwartete, daß man ihm widersprechen werde.

»Ich denke, der liegt schon seit fünf Tagen hinter unserem Rücken,« sagte Ebenich.

»Danken Sie dem Himmel, daß Sie Ihr Maturum in der Tasche haben, und daß ich nicht der Schulrat bin, der Sie zu examinieren hat. Aber sie wissen ja alle nichts, die bebrillten Herren, die bei uns zu Hause von den Kathedern reden. ›Siebzig Kilometer ist der Suezkanal lang,‹ diktiert so einer, ›reicht von Port Said bis Suez‹ und meint wunder, was er gesagt hätte. Dabei weiß er nicht, daß er zwanzig Breitegrade südlicher beim Kap Gardafui endet – denn welchen Zweck hätte der Kanal, wenn er nicht den Ausgang zum Indischen Ozean vermittelte? Im Roten Meere ist doch nichts zu holen! Was brauchen und liefern die paar Häfen Djidda, Suakin und Port Sudan und was will einer mit dem Roten Meere machen, ohne die Straße von Bab el Mandeb? Glauben Sie nur, die Engländer wußten, was sie taten, als sie die Insel Perim nahmen und die Somaliküste, als sie Aden befestigten und ihre Schanzen auf der Insel Sokotra aufwarfen. Keine Nußschale schwimmt heute am Kap Gardafui vorbei, wenn England sie aufhalten will. Dort, wo das Rote Meer aufhört, so seht mir doch hin, meine Brüder, seht ihr ihn nicht, dort bei der Straße der Tränen liegt der Schlüssel zur indischen Schatzkammer. Wer das Genick des englischen Weltreiches brechen will, muß zum 31 Suezkanal das Rote Meer erwerben. Eines ohne das andere ist Schwert ohne Griff oder Griff ohne Schwert.«

»Sie glauben, daß England eine glückliche Hand hatte, als es zugriff und beide nahm?«

»Warum hätte es zögern sollen! Hat nicht Bismarck, der deutsche Vordenker, noch im Jahre 1867 im preußischen Landtag vor dem Ankauf der Suezkanalaktien gewarnt. Welch ein Schwabenstreich, wenn Bismarck in Stuttgart auf die Welt gekommen wäre! Damals standen die Aktien zweihundertfünfzig Franken, und wissen Sie, wie sie heute stehen? Viertausend, und sie tragen dreißig Prozent Dividende. Ahnen Sie, daß die Pantellaria vierzigtausend Franken Kanalgebühren zu zahlen hatte und jeder einzelne Passagier noch extra einmal zwanzig Franken?«

»Sie werden zugeben, daß diese Frucht erst mit der Entwicklung des Weltverkehrs gereift ist, und daß man dieses Resultat von vornherein nicht vermuten konnte.«

»Das ist es, was ich nicht zugebe. Was in Kairo ein jeder Clerk, der auf einem Drehstuhl sitzt, wußte, hätte in Berlin wenigstens einer wissen sollen. Aber so ist es einmal in Deutschland, ohne einen Propheten tun wir's nicht, und wenn der sich geirrt hat, tappt die Herde im Dunkel.«

»Bis es doch irgendwo einmal hell wird. Wie lange glauben Sie, Herr Kapitän, daß Ägypten das englische Joch noch tragen wird?«

»So lange, wie es die Cheopspyramide schon trägt. Leichter wird sich das Lamm von der Mutter trennen und weiterleben, als Ägypten von England. Bedenken Sie doch, daß es in seiner Ernährung von der britischen 32 Zufuhr abhängig ist. Eine raffiniert schlaue Verwaltung hat es zuwege gebracht, daß der goldgierige Fellache nur noch Baumwolle pflanzt und keine Brotfrucht mehr. Der Ertrag seiner Felder geht auf die Spindeln von Manchester, und was der Bauer außer dem Zahnstocher in den Mund stecken will, muß ihm auf englischen Schiffen über Alexandria, Port Said und Damiette zugeführt werden. Begreifen Sie jetzt, daß Ägypten wie ein Strohmann im Felde steht und sich mit dem Knüppel in der Hand nicht einmal gegen die Spatzen wehren kann?« Nach diesen Worten ging Herr Hiesel in seine Kabine und schlug die Tür hinter sich zu.

Ebenich sah ihm nach und dachte für sich: ›Bei Gott, ein knitzer Schwabe, schon beinahe der Überschwabe. Man hätte ihn zu Hause behalten und zum Reichskanzler machen sollen.‹

Nach diesem Ausblick ins Weite sah er sich in der Nähe um. Vor Steuerbord stand die Nordküste von Sokotra, während links der Fahrtrichtung zwei mächtige schneeweiße Felskolosse wie treibende Eisblöcke seltsam genug aus der blaugrünen Meerflut herüberleuchteten. Für dieses Rätsel eine Lösung suchend, eilte Dr. Ebenich auf die Kommandobrücke. Der Kapitän lachte, als er ihn kommen sah. »Weiß schon, was Sie sagen wollen,« rief er dem Heranstürmenden entgegen. »Gehen Sie zunächst nach der Apotheke und holen Sie eines der Gewehre herauf, die dort im Schrank hängen Geladen sind Sie eigentlich für chinesische Seeräuber, allein es schadet nichts, wenn mal wieder einer der alten Feuerhähne auf die Zündpfanne brennt.«

Der Doktor tat, was man ihm geheißen hatte, und 33 der Kapitän legte den Kolben an die Backe. Paff, knallte der Schuß los, und paff, spottete ein schwaches Echo von den Felsen herüber. Dann aber begann ein gewaltiges Rauschen, als ob ferne Gewitterwolken ineinanderrollten, Wasserströme sich in die Tiefe stürzten und eine weiße Wand richtete sich zur Seite des Schiffes auf, als ob die Felsgebirge des Yemen in Bewegung gekommen wären und in der Richtung nach dem Südpol hin voranwanderten. Wenig fehlte und man sah für einen Augenblick den Himmel nicht mehr.

»Sie sehen aus wie eine Köchin, der die Milch geronnen ist, Doktor,« bemerkte der Kapitän mit Lachen. »Nur keine Furcht! Nur keine Furcht, eine Gänseherde hat noch keinen Deutschen gefressen und einen Schwaben erst recht nicht. Freuen Sie sich doch, daß diese Guanofabrikanten da, die für den Böblinger Rapsbauer hinterrücks fabrizieren, Ihnen noch einmal eine überraschende Abwechslung gegeben haben. Von nun ab sitzen wir für lange acht Tage vor dem leeren Theatervorhang des Himmels mit seiner aufgemalten Sonne und seinen Sternen, und wenn nicht einmal ein Schiff unseren Kurs schneidet, oder Polypen und Medusen ihre Leuchtkugeln aus den kämmenden Bugwellen werfen, so ist von nun ab bis zur Nordspitze von Sumatra außer fliegenden Fischen kein Schwanz mehr zu sehen.«

Damit drehte sich der schwäbische Hiesel um und ließ den Doktor mit seinem Gewehr und seinen Gedanken allein.

Gewiß, wer zwischen weißgekalkten Kerkermauern sitzt, der ist allein. Vereinsamt ist auch, wer in wolldickem Nebel durch die verschneite Heide irrt. Aber was will 34 diese trostlose Vereinsamung besagen gegenüber der Verlassenheit, in der man steckt, wenn man die Möglichkeit besitzt, nach allen Seiten hin über die Rundung der Erde hinwegzuschauen und man doch nichts sieht als den bläulichen Glasschimmer einer Käseglocke, die über einem gestülpt ist und über deren Wölbung hier und da, wie eine weiße Ratte, zuweilen eine kämmende Welle hinhuscht. Ebenich las in sitzender Stellung »Schönwolfs Briefe eines früh Vollendeten« und wurde trauriger, als er vorher war. Da legte er sich auf den Rücken und sah planlos ins Gestänge und Gestrick des Fockmastes hinein. Und wie sein Auge so suchend hinaufglühte, glühte von dem Bramsegel ein anderes zu ihm herunter. Ein scharfgeschnäbelter Falke hatte sich da oben im Tauwerk versteckt und sah scheu und verlegen den Doktor an und dann fragend in alle Richtungen der Windrose hinaus. Hatte er sich zu weit von seinem Felsenneste entfernt und den Rückweg nicht mehr gefunden? Waren seine Fittiche auf der öden Reise übers trostlose Meer müde geworden, und hatte er sich da oben ein Plätzchen zum Ausruhen gesucht? Wußte er überhaupt nicht, wo aus oder ein und blieb ihm nur die eine Wahl, entweder aufs Wasser niederzufallen und im Bauche eines Raubfisches zu enden, oder sich von dem Schiffe nach einem Ziele hintragen zu lassen, das er vielleicht nicht suchte, das aber immerhin seinem Fuße einen Ruhepunkt bot und seinem Schnabel Futter, wenn es auch ein ungewohntes war. Aus Mangel an anderem Stoff beschäftigte sich Ebenich den ganzen Tag über mit diesem Problem. Das Schicksal des Verschlagenen wurde ihm eine Herzenssache und 35 bevor er am Abend nach seinem Lager ging, sammelte er Küchenabfälle und legte sie aufs Puppdeck, damit der arme Verirrte nicht hungrig zu schlafen brauche. In der Tat, der barmherzige Samariter erlebte die Freude, daß die hingestreute Nahrung am nächsten Morgen verschwunden war. So lohnte während mehrerer Tage ein guter Erfolg die gute Absicht und gab dem leeren Dasein wenigstens irgendeinen Inhalt, bis der Falke am fünften Abend von der Toppe verschwunden war. Sein Auge wird die Koralleninseln der Malediven und Lakediven erspäht haben und sein Schnabel wird Austern speisen. Der Doktor tröstete sich über den Verlust seines Schützlings hinweg, und der Himmel belohnte seine Taten und schickte ihm einen anderen Vogel, der nun dem einsamen Mann nach seiner Art die Langeweile verkürzte.

Herr Seelengut, dem kein Mensch mehr ansah, daß er mit Witwentrauer belastet war, hatte sich dem Stuhle des Doktors genähert.

»Wollte ich von Ihnen einen Pelzmantel verlangen,« sagte er höflich, »so weiß ich, daß Sie außerstande wären, einen solchen zu liefern. Aber ein paar Liebesgedichte, so etwas wie Hanfsamen, womit der Förster die Meisen fängt, so etwas dürfte doch ein geborener Dichter, wie Sie wohl einer sind, beständig auf Lager haben.«

»Meinen Dank fürs Kompliment. Das ›geboren‹ stimmt auf jeden Fall, denn wie sonst wäre ich wohl da? Und was mein Lager von Gedichten angeht, so soll es Ihrer Auswahl zur Verfügung gestellt sein. Sagen Sie nur, ob Sie abgelagerte Ware wünschen 36 oder solche, die noch nach der Kelter riecht, aus der sie soeben geflossen ist?«

»Mir ganz egal, wann und wie Sie die Musen gepreßt haben, bis der Saft von ihnen lief. Wenn sich aus der eingekochten Brühe nur etwas formen läßt, was auf Versfüßen krabbeln kann und sich gegen den Schwanz zu reimt, dann haben Sie mehr als Ihre Schuldigkeit getan und mir haben Sie einen Freiwerber erspart. Oder sollten Sie meinem Gestelle nicht ansehen, daß es auf Freiersfüßen dahinschwankt?«

»Und aus dem Leim geht, wenn es nicht in irgendeiner Form genagelt oder verdiebelt wird. Gewiß, an meiner Arznei soll's nicht fehlen, wenn irgendeinem Kranken noch geholfen werden kann. Ich habe hier einiges, Kinder der Stimmung, wie sie der Augenblick geboren hat und nadelwarm, sagen die Schneider, wenn sie einen Anzug abliefern. Darf ich Ihnen Offerten machen?«

Dabei richtete sich der Doktor auf, griff in die Seitentasche seines Rockes und begann aus seinem Notizbuch vorzulesen:

              Elbestimmung

Stöhnend in den Weidenzweigen
Streicht der Ostwind übers Land,
Hier und da durch Nebelfetzen
Schäumt der Elbe flacher Strand.

Hier und da ein blähend Segel
Flieht mit Geisterhast vorbei,
Ab und zu ein Wellenplätschern,
Dann und wann ein Möwenschrei. 37

Ach, mir ist, wohin ich schaue,
Überall der Blick verhängt,
Und das Herz mit seinem Hoffen
Zwischen Zweifeln eingezwängt.

Eh' mich das Verzagen packet,
Guter Gott, ich bitte dich,
Schick' den liebsten deiner Engel,
Schick' Elvira her für mich.

»Nicht übel, nicht übel,« unterbrach Seelengut den Vorleser, »nur Elvira, Elvira will mir nicht passen. Könnte man nicht Marianne sagen? Im übrigen, ich will nicht unterbrechen. Fahren Sie fort, den Markt auszukramen.«

Und Ebenich las weiter:

            Am Suezkanal

Träge durch das trockne Land
Führt der Schleusen lange Kette,
Und der Mastbaum malt auf Sand
Seine mag're Silhouette.

Rechts und links im müden Lauf
lendenlahme Dromedare,
Ihre Führer schlafend auf
Hochgepackter Kaufmannsware.

Hier und da auf magerm Schimmel
Eines Reiters flücht'ge Fährte,
Über sich den blauen Himmel,
Unter sich die gelbe Erde.

Blendend helles Sonnenlicht
Zeigt mir nur die weite Ferne,
Selbst die Nacht verhüllt mir nicht
Ihre neuen, fremden Sterne. 38

Senkt der Abend nieder sich,
Predigt mir das Kreuz des Süden,
Wieviel tausend Meilen ich
Bin von meinem Glück geschieden.

»Gut gereimt, diese Gedichte, man muß das zugeben, aber nichts für ungut, Herr Doktor, sie sind gebaut wie ein Holzlöffel, der in jedes Maul passen muß, glatt und rund. Haben Sie nicht so was, das, ohne gekaut, geschluckt werden kann und direkt zum Herzen geht?«

Ebenich las weiter:

Sehnsuchtskrank nach deinen Küssen
Kann ich dichten nicht, noch reimen
Und die Seele ist zerrissen
Und das Auge blind vom Weinen.

Meine Wangen will ich bleichen
Mit dem Tau betrübter Stunden,
Bis die Sterne nordwärts steigen
Und ich heimwärts hab' gefunden.

Streut das Veilchen seinen Duft
Lockend über Moos und Steine
In der frühlingswarmen Luft,
Bist du wiederum die meine.

»Bravo, Doktor,« sagte Seelengut. »Das letzte Gedicht muß einschlagen wie ein Juligewitter. Ehe es noch Pfingsten wird, habe ich wieder eine Frau und Sie ein Paar neue Rohrstiefel als Lohn für Ihre Bemühungen. Sie gestatten doch, daß ich das Poem mitnehme und auswendig lerne?«

39 Ebenich hatte gegen diesen Vorschlag nichts einzuwenden, und hoch beglückt ging der Zweite von dannen.

Der Doktor war froh, daß wieder einmal die Langeweile eines ganzen Tages mit dem Geplauder glücklich totgeschlagen war, ging zeitig schlafen und wachte zu später Stunde am nächsten Morgen auf. Kaum hatte er sich am Frühstückstische niedergelassen, als die Stuardesse erschien.

»Nicht zu sagen, Herr Doktor, so was hätten Sie miterleben sollen. Wenn der Blitz in eine Geschirrkammer schlägt, kann es kein größeres Gerappel und Gepolter geben, als es heute morgen in der Kabine unseres Fräuleins niederging. Sie wissen doch, daß sie auf Numero 2 wohnt, und daß nebenan die Kammer Numero 1 unbesetzt ist. Nun ja, ich will zugeben, daß zur Ausbewahrung alter Seegraskissen sich auch ein anderer Raum geeignet hätte; aber wem bin ich schließlich, wenn die Räume leer stehen, Rechenschaft darüber schuldig, wo ich mein Gerümpel verstauen will? Obwohl es nun in diesem Loche so unwohnlich aussieht wie in einem Pfandhaus, so halte ich mich doch gerne darin auf, vor allem zu der Zeit, wenn die Königin von Saba ihren Salomo empfängt. Wer in aller Welt ist in Liebesangelegenheiten so klug, daß er nicht gerne zu dem, was er schon weiß, noch einiges hinzulernen möchte?«

»Nun haben Sie, wie ich denke, die Kulissen lange genug hin- und hergeschoben, bringen Sie jetzt die Schauspieler auf die Bühne,« unterbrach der Doktor mit Ungeduld.

»Schon sind sie da. Zunächst mit aller ihrer 40 Herrlichkeit die Königin von Saba. Aber kein tausendstimmiger Chorgesang empfängt sie, sondern was man um sie hört, sind Seufzer nur und erbärmliches Beklagen. ›So hab' ich mich also doch in Dir getäuscht! Bis die Veilchen blühen, soll ich warten. Aber ich bitte dich um alles in der Welt, wo denn? In Hongkong etwa, während du mit dem Schiffe nach Japan weiterreisest? Überlege doch einmal, ich allein, fremd in der Welt, ohne einen Menschen, bei dem ich Trost und Hilfe erwarten könnte, vom Oktober bis in den März hinein. Wie bring' ich nur die langen Tage hin und erst gar die Nächte?‹

›Aber ich bitte dich, wer in aller Welt hat denn von einem März geredet?‹

›Du, du selber, da steht es doch in dem Gedicht, das du mir überreicht hast

Streut das Veilchen seinen Duft
In die frühlingswarme Luft.

Damit kann doch nur der März gemeint sein, und was wird bis dahin aus mir geworden sein?«

»Ei, so fahr doch bis Schanghai mit und warte dort auf meine Rückkehr. So genau ist ja das alles nicht zu nehmen. Der Teufel mag das Dichten holen, erst wird es einem riesig sauer und dann, wenn man's glücklich zuwege gebracht hat, macht's dort noch einen schlechten Eindruck, wo man gefallen möchte.«

›Nach Schanghai hast du gesagt? Ich will hoffen, ich hab' dich falsch verstanden. In Schanghai sollte ich bleiben, wo er doch sitzt, für den ich die weite Reise eigentlich angetreten habe? Wird er mich nicht 41 aufstöbern? Wird er mich nicht einzufangen suchen oder gar mir Vorwürfe machen? Nein, daß ich in dieser Stadt herumsitzen sollte, daraus kann nie und nimmer etwas werden.‹

›Nun bin ich zu Ende mit meinem Latein, fang du nun an und mache Vorschläge. Da ich zwei Ohren habe, so kann ich, was nicht paßt, zum einen herausgehen lassen, was zum andern hereinging.‹

›Ach, ich Unselige! So redest du heute mit mir. Hätte ich nie auf dich gehört. Ach, vielleicht ist das Meer barmherziger wie du und nimmt mich auf in seine weichen Arme. Gott, wie ich mich sehne, unterzugehen. Musik soll es mir sein, wenn ich den Kiel der Pantellaria im Sande knirschen höre.‹«

»Und was denken Sie, daß nun das Ungetüm zu solch herzbeweglicher Klage gesagt hat? ›Mir auch,‹ hat er gesagt, ›wenn's nur so nahe am Ufer ist, daß ich ans Land schwimmen kann,‹ griff nach der Klinke, verschwand und warf die Tür ins Schloß.«

»Und sie ließ nichts weiter mehr von sich hören?«

»Doch, noch das schöne Wort: ›So ein Aas!‹«

Ebenich lachte und fuhr nach einer Weile fort. »Da wäre nun ein Spalt entstanden, den der Schnabel eines klugen Spechtes noch erweitern würde. Wer will denn sagen, ob nicht noch ein neuer Mirza Schaffy zum Vorschein kommt, wenn in dem Loche weitergegraben wird?«

»Was an mir liegt, soll geschehen, damit die Dame den Buben sticht,« sagte die Stuardeß, machte einen Knicks und verschwand.

Sie war nicht allzulange fort, als Herr Seelengut neben dem Dichter auftauchte.

42 »Ich denke, Doktor, es ist leichter, Holzschuhe zu fabrizieren, wie sie hausieren zu tragen. Man riskiert, daß einem ein solches Möbel um die Ohren geschlagen wird, und dann sitzt man da und weiß doch wenigstens, warum einem der Schädel brummt. Wenn Sie übrigens wieder einmal einen Vorrat von Gedichten haben, dann machen Sie Melodien dazu, vielleicht singen sie sich leichter, als sie sich vom Blatt herunterlesen.«

»Ich will nicht hoffen, daß Sie mit dem Fabrikat meiner Dichtkunst irgendwo eine schlechte Aufnahme erlebt haben.«

»Daß Sie sich durch meine Erfahrungen nicht entmutigen lassen. Ich beabsichtige nicht, Ihnen den Sockel von Ihrem Dichtermonument wegzukratzen. Es liegt nur in Ihrem Interesse, wenn Sie künftighin berücksichtigen, daß einer, der ein lyrisches Gedicht bestellt, keinen Kalender braucht. Im übrigen hole der Teufel das ewige Einerlei, wenn das Steuerruder festgebunden ist, und das Schiff zwischen Himmel und Wasser einfach nur so ins Blaßblaue hineinläuft. Gott sei Dank, wir machen zurzeit fünfzehn Knoten in der Stunde und ich denke, daß wir morgen nach der Malakkastraße kommen.«

Schnaken geigten in der Abendluft und verrieten, daß das Land nicht fern sein könne. Ebenich hoffte, daß mit der Morgensonne die Nikobaren in Sicht kommen würden. Er schlief deshalb nur wenig und unruhig. Aus verworrenen Träumen weckte ihn der schauerliche Sirenengesang. Er steckte die nackten Füße in leichte Stoffpantoffeln und eilte auf die Kommandobrücke. Im Aufsteigen fiel sein erstauntes Auge auf eine saftgrüne 43 Wand, die wie eine Kulisse vor den Schiffsbug und seine weißaufschäumenden Wogen geschoben war. Glatt wie Samt stieg ein imponierender Bergrücken aus der kräuselnden Brandung heraus in den blauen Himmel hinein. Wie ein Wunder war es anzusehen, plötzlich aus den Wolken gefallen, um das Einerlei von Meer und Himmel zu beleben. Schier zur Bildsäule versteinert stand Ebenich da und hätte wohl noch eine Weile so gestanden, wenn ihm nicht die breite Hand des Kapitäns zwischen die Schultern und seine Worte ins Ohr gefahren wären.

»Kann sich sehen lassen, dieses Atchin-Head mit seinem Goldberg da. Nicht wahr, Doktor? Auf der Lüneburger Heide wäre die Quadratrute solcher Kleefelder wie die da eine halbe Million wert und hier streckt keine Ziege ihren Hals nach diesem Futter aus. Ist übrigens keine Matte, was Sie da sehen, sondern nur der dicke, filzige Vegetationsmantel, der um das Bergmassiv geworfen ist. Was so aussieht, als ob Sie sich darauflegen und vom Gipfel bis zum Meeresufer hinabrutschen könnten, sind hochstämmige Urwälder, die in der Nähe des Meeres über Bambushaine bis zum stelzfüßigen Mangrovegebüsch, in dem der Tiger watet, abflachen. Ein Paradies, dieses Land an der Nordspitze von Sumatra mitsamt den vorgelagerten Inseln, ein Paradies für die Vogelwelt und die Affen, für die Menschen eine Hölle, für den Europäer zum mindesten. Glauben Sie mir, da drüben ist vor allem auch ein Kirchhof für solche, die sonst nur Kirchhofslieferanten waren. Da ist Holland zuhause, unser frommer Nachbarstaat. Das hat in früheren Jahren, wo die Ärzte noch nicht so aus den 44 Universitäten herauswuchsen wie der Schimmel aus dem Käse, durch auffallende Reklame in den Zeitungen deutsche Heilkünstler für seinen Kolonialdienst gesucht. Die Bezahlung war ausreichend, wenn auch nicht glänzend. Bestechend aber war die Pension, die nach zwanzig Jahren Kolonialdienst gewährt werden sollte. Genau hundert Prozent des Aktivgehaltes sollte sie betragen. Ein junger Mann, der den biederen Mynheer und seinen Freimaurerstriefelbart nicht kannte, konnte sich also ausrechnen, daß er in seinem fünfundvierzigsten Lebensjahre zu Oppenheim in einer Villa säße und zusähe, wie das Wasser im Rhein nach den Niederlanden fließt und der Wein in seinen gutversorgten Magen.

»So sah es aus. So sollte es auch aussehen, aber das dicke Ende war wie beim Knüppel des Viehtreibers unten.

»Wenn die Zeit kam, daß die Regierung fürchten mußte, die Narrenkappen könnten die Fastnacht überdauern, dann gab sie die Abgenützten den Moskitos und den Fieberbazillen zum Fraße. Mit dem Patent seiner Versetzung nach Atchin in der Tasche konnte so ein Sanitätsoffizier direkt zum Pastor gehen und sich die letzte Ölung geben lassen. Wenn Mynheer einmal wird Rechenschaft geben sollen über alle, die er so geprellt hat und über die hunderttausende chinesischer Kulis, die in seinen Bleibergwerken sterben, dann wird er wohl sehr kleinlaut werden. Einstweilen aber singt er noch:

›Wir treten zum Beten
Vor Gott den Gerechten.‹

Sehen Sie übrigens da drüben auf der Klippe den Leuchtturm? Nicht wahr, sein Feuer ist aus. Der 45 Herrenhuter von Wächter schläft einmal wieder. Er soll geweckt werden.«

»Schießen Sie die Alarmkanone ab!« rief der Überschwabe von der Brücke nach dem Puppdeck hinunter.

Ein Schuß krachte los und weckte außer dem Echo vielleicht auch noch eine Affenherde, die auf den Bäumen schlief. Man hörte Geschrei, das auch der Leuchtturmhüter nicht überhören konnte. An seinem Signalmast stieg die Flagge in die Höhe. Vom Maste der Pantellaria antworteten sofort die bunten Wimpel. Nun war die Unterhaltung hergestellt. Herr Hiesel fragte an, warum das Feuer erloschen sei. Der Wächter suchte sein Versehen zu entschuldigen. »Schlafen Sie weiter, bis wir wiederkommen,« war der letzte Satz, der nach der Nordspitze der vielgepriesenen Insel Sumatra hinübergegeben wurde, dann versank Atchin Head in unserm Rücken mit seinem Goldberge wieder geheimnisvoll, wie es aus den Fluten aufgestiegen war.

Von jetzt ab ging es in langsamer Fahrt schräg über die Malakkastraße hinüber auf die Insel Pinang zu. Das Meer war spiegelglatt. Schon sah man leichte Nachen, die sich zum Fischfang herausgewagt hatten, dann sah man im flachen Wasser aufgestellte Netze und nackte Eingeborene, die sich in ausgehöhlten Baumstämmen von den Wogen, die unser Schiff hinter sich warf, schaukeln ließen. Das Ganze spielte sich ab vor einer dunklen Linie, die ins Himmelsblau hineingezeichnet schien.

Wie das Schiff weiter auf seiner Fahrt vorrückte, traten aus der dunklen Horizontalen Vertikalen ans Licht, die über sich das fächerförmige Laubdach der 46 Palmen trugen. Soweit das Auge den Strand überschauen konnte, stand Baum an Baum und aus den schwarzen Schatten all der grünen Wipfel guckten Ziegen mit gerade so neugierigen Gesichtern zu uns herüber, wie sie jene hochedlen Hörnerträger hatten, die einst vom Strande der Insel Sankt Salvator dem Schiffe des Kolumbus entgegenschauten.

Aus weichen Nebelschleiern sind indessen grüne Bergketten herausgewachsen, die mit stolzen Felsenstirnen das Meer überschauen und den flachen Palmenhain zu ihren Füßen. Welch ein Anblick! Wahrhaftig, wer von den Reisenden soviel Phantasie aufbringen konnte, daß er Adam und Eva zwischen die vornehmen, gefürsteten Bäume von Gottes Gnaden setzen konnte, hatte das Paradies leibhaftig vor sich.

Die Pantellaria umsteuert die Insel und macht zwischen ihr und dem Festland am Kai fest. Man muß die Wollust kennen, die den Menschen durchströmt, wenn ihm nach tagelanger Seefahrt die Aussicht winkt, wieder einmal die Mutter Erde mit Fußtritten mißhandeln zu können, um zu begreifen, mit welcher Hast ein jeder von den Seefahrern nach dem Laufsteg eilte, um so schnell wie möglich an Land zu kommen. Dem Dr. Ebenich gelang dieser Versuch nicht unmittelbar. Er wurde aufgehalten, und zwar von der Stuardesse.

»Rennen Sie Ihre besten Freunde nicht über den Haufen,« flüsterte diese ihm zu. »Hören Sie zunächst noch eine Neuigkeit, bevor Sie sich unter diese Menschenfresser stürzen, die da drüben am Lande stehen. Wissen Sie schon, daß der Teekessel des Zweiten kocht und Blasen treibt, diesmal geheizt von meiner 47 Spiritusflamme. Er schwängert die Poesie und sie hat ihm ein Gedicht geboren. Hören Sie nur, so fängt es an:

Katharina seufzet, die Luft, die mit der Rose kost.«

»Halten Sie mich nicht auf, meine Verehrte. Ich bin landhungrig und überdies könnte ich Ihnen die noch folgenden fünf Zeilen auswendig sagen.«

»Alle Wetter,« entgegnete das Weib, »ich will nicht hoffen, daß er die paar Federn, mit denen er sich schmückt, einem anderen Hahne aus dem Schwanz gerissen hat. Im übrigen hat er mir versprochen, mich mit an Land zu nehmen, und wenn der Champagner, den wir trinken werden, nur gut ist, so soll's mir einerlei sein, wer ihn zahlt.«

Herr Ebenich hatte die letzten Worte kaum mehr recht verstanden. Der Waldesschatten, der über die Häuser hinwegsehend von den grünen Hängen niederströmte, lockte ihn unwiderstehlich. Er stürmte voran, mittendurch durch eine Mauer von Menschenleibern, zu deren Errichtung alle Rassen der Erde, vom Mongolen, über den Malaien und Inder hinweg bis zum Kalmücken und Botokuden, Bausteine geliefert hatten. Er kam vor eine drohende Barrikade von Kutschen. Er überwand sie, indem er auf Backbordseite einstieg und auf Steuerbord wieder aus. Nicht ebenso leicht war es, das Kleinzeug der Rikschakulis loszuwerden. Diese unermüdlichen Blutsauger umsummten ihn wie die Schweißfliegen ein dampfendes Pferd. Es half nichts, daß er nach dem nächsten schlug, dem zweitnächsten einen Tritt gab. Hätte er einen dritten in die Erde geschlagen, ein vierter wäre wie ein Spargel daraus hervorgeschossen. Zuletzt entschloß er sich, eben doch sein 48 Selbst einem dieser zweirädrigen Fuhrwerke mit seinem zweibeinigen Zugtiere anzuvertrauen. Nun ging's in einem raschen Hundetrab bequem genug über wohlgepflegte Kieswege durch breitschattige Alleen hin. Ein Gefühl namenlosen Glückes schlich sich in die Seele des Doktors ein, inmitten all der tropischen Blütenpracht, inmitten der Lianen, die von den Bäumen niederglühten, inmitten der Orchideen, die von der Erde leuchteten. Ach, und all der Rosen, die von Gittern und Spalieren zu ihm herüberwinkten. Und dann der berauschende Duft, der die Luft erfüllte! Nehmt aus den Gärten von Schiras alle Wohlgerüche, nehmt sie von den immergrünen Ufern des Barada, nehmt Myrrhen und Ambra noch hinzu, und ihr habt doch nur den Speisezettel von der Mahlzeit, die der Nase hier auf der Insel Pinang vorgesetzt ist.

Im Apfel, der dem Doktor heute geboten war, befand sich ungeachtet seiner vollsten Schönheit doch ein Wurm und der bestand für sein Gewissen in dem nagenden Gedanken, daß er durch all die Reize hier von einem Menschen, der seinesgleichen war, wie von einem Zugtiere geschleppt wurde. Eine fromme Scham wie vor einer unsauberen Handlung quälte ihn. Merkwürdig, wie rasch sich dies edlere Empfinden durch den tagtäglichen Anblick der gleichen Rücksichtslosigkeit abstumpft. Als er wenige Tage später Singapor verließ, war er an diese Art von Beförderung schon gewöhnt. Als er aus Hongkong abreiste, vermißte er den Sänftenträger, und in Kanton war der europäische Übermut in ihm bereits zu einer solchen Höhe herangezüchtet, daß er sich ohne Bedenken auf die Schultern eines Eingeborenen 49 gesetzt und diesem mit gesporntem Stiefel die Lenden bearbeitet hätte. Wie wenig hat doch das Christentum das Tier in uns zu überwinden vermocht.

»Botanischer Garten,« sagte der Kuli, ließ die Scherendeichsel seines Wägelchens zur Erde fallen und wischte sich mit dem Ärmel seiner blauen Leinenjacke den Schweiß aus dem blaurot gedunsenen Gesicht.

Dr. Ebenich stieg aus und trat durch ein anspruchsloses Tor in einen umfriedeten Raum. Zuerst wunderte er sich über die Anmaßung des Zaunes, der hier, wo alles Garten war, noch einmal einen Garten im Garten abzugrenzen sich herausnahm. Wie sich der Doktor auch bemühte, herauszufinden, wodurch sich der umgrenzte Raum von seiner Umgebung unterscheide, er konnte nur entdecken, daß der Kies der Wege etwas dichter lag und von Radspuren nicht durchschnitten war. Bäume, Sträucher, Gräser intra muros die gleichen wie extra. Dem Tauben klingt ein Konzert wie das andere, und wer nicht gerade Pflanzenkenner von Fach ist, sieht im Botanischen Garten nicht viel mehr, als der Blinde in der Gemäldegalerie. Ebenich stolperte hindurch, kam, 50 an einem Wasserfall höher und höher steigend, zu einem im Felsen ausgewaschenen breiten Becken. Hier, bei dem bewegten Spiegel des flüchtigen Elementes, traf er auf eine Gruppe Menschen beiderlei Geschlechts, die halb oder ganz entkleidet mit bebenden Lippen und frommen Gesichtern offenbar irgendeine von ihrer Religion vorgeschriebene rituelle Reinigung vornahmen. So lange sie den fremden Wanderer nicht bemerkten, gaben sie sich untereinander harmlos wie badende Kinder, wurden aber aufgeregt und warfen wütende Blicke um sich, als Ebenich mit jedem Schritte vorwärts der Gruppe näher kam. Der Doktor zog es deshalb vor, in das Geheimnis dieser Parsen nicht weiter einzudringen, sondern sich mit dem flüchtig Erschauten zu begnügen, und er ging wieder am schäumenden Bergstrome talwärts, kaum ahnend, daß er jetzt einer anderen halbnackten Gesellschaft abermals ungelegen kam. Plötzlich hörte er nämlich über sich in den Zweigen einen kurz aufgellenden Schrei, dem ein vielstimmiges knurrendes Murren folgte. Dann, als ob ein Gewittersturm plötzlich in die Baumkronen gefahren wäre, ein Rascheln, Rauschen und Brechen der Zweige, das schier gewaltsam den Augapfel aus seiner Höhle nach oben riß, einer Erscheinung entgegen, die vielleicht dem eingeborenen Südländer gleichgültig ist, den zugezogenen Nordländer aber mit staunendem Schrecken erfüllt. Gewöhnt, den Menschen nur auf der Erde wandern zu sehen, fällt man schier in Ohnmacht, wenn man ihn plötzlich wie auf einer Prozession begriffen in geschlossener Schar mit der Schnelligkeit eines Gedankens sich durch Äste und Zweige hindurch vorwärts arbeiten sieht. Bringt uns unser verehrter Halbbruder im 51 Affenkäfig eines zoologischen Gartens schon in Verlegenheit, so erfüllt er uns in seiner Heimat, zumal, wenn er in Massen auftritt, mit Schrecken. Man wird den Gedanken nicht los, daß diesen haarigen Esau der Linsensuppenhandel gereuen könne, und daß er seinen Teil aus Abrahams Nachlaß von uns zurückzufordern berechtigt wäre.

Da bei der Lage des Rechtsstreites ein hervorragend gutes Gewissen den Doktor nicht beruhigen konnte, so machte er, daß er in Sprungschritten weiterkam, bis er seinen vorm Gartenzaun wartenden Rikschakuli erreicht hatte. Nun mochte der ihn auf der Flucht vor seinen Feinden retten, und er tat es auch und setzte nach rascher Fahrt seinen Fahrgast im Kieshof eines einem Holländer gehörigen Hotels ab. Dann nahm der Parse statt des Pour le mérite einen halben Dollar entgegen und pfiff sich seelenvergnügt, schwitzend von dannen.

Ebenich hatte sich nach raschem Überblick auf einer Terrasse des Erdgeschosses einen blühendweiß gedeckten Tisch ausgesucht, streckte unter dessen vier Beine seine zwei und sah mit Behagen über den blühenden Garten hinweg nach einem sonderbaren Phänomen hin, das extra seinethalben da hinten aufgeführt zu werden schien. Gegen das offene Meer zu, in dessen blauem Spiegel das grüne Buschwerk der Bäume sich mit scharfen Konturen hineinzeichnete, war nämlich der Garten mit einer starken Mauer abgeschlossen. Nun kletterte alle zwei bis drei Minuten von außen die ewig unruhige Brandung herauf, bildete in Stockwerkhöhe eine schäumende Brause und fiel, den ganzen Regenbogen in all seinen Farben widerspiegelnd, in sich zusammen. Man denke 52 sich zwischen diesem glorreichen Phänomen und dem Beschauer einen mit Speisen, Blumen und Obst reichbeladenen Tisch und eine eisgekühlte Flasche Moselwein, und man wird begreifen, daß Ebenich von dem Wellenrauschen eingesungen, nach der Mahlzeit in dem bequemen Bambusstuhl hineingeschmiegt, sanft entschlief und erst eine Auferstehung erlebte, als der Wirt ihn rüttelte mit den Worten: »Es wird Zeit, verehrter Mitteleuropäer, wenn Sie noch nach Ayer Itam wollen. Der bayerische Hiesel hat hier einen Frühschoppen gemacht und gesagt, daß er noch vor Dunkelheit mit dem Äppelkahn Pantellaria weiterpaddeln wolle.«

»Was Teufel, wieviel Uhr ist's denn? Drei Uhr? Na, dann aber los.«

Fünf Minuten später saß der Doktor im grunzenden Wagen einer wackeligen Straßenbahn und fuhr auf billardebenem Plane in den schönsten aller Palmenhaine hinein. Wie Kerzen standen die spiegelnden Riesenstämme da und trugen die Traubenlast ihrer Früchte mit Stolz über dem grünen Laub immergrüner Kamelien und Rhododendronhecken. Im Dunkel des Haines versteckt hier und da die palmstrohgedeckte Hütte eines Eingeborenen, von buntgefiederten Hühnern umgackert, von Ziegen und Schafen umblökt, überragt von einer dünnen Rauchsäule, die sich wie ein Verbrecher durch die grünen Blätterwolken stiehlt. In der Tat, man begreift nicht recht, was hier das Feuer soll, wo die Erde alles genußfertig darbietet. Ananas, Melonen, Orangen, Feigen, Datteln usw. Wahrhaftig, ein Verbrecher ist jener, welcher diesen frohen Naturkindern das bringt, was wir die Kultur nennen, und ein größerer Verbrecher und ein 53 Lügner nebenbei ist jener, der behauptet, daß wir ihnen überhaupt etwas bringen. Wer die Wahrheit liebt, muß bekennen, daß wir zu den Unglücklichen gekommen sind, nicht als Gebende, sondern als Nehmende.

»Ayer Itam.«

Eine Stunde Fahrzeit war vergangen. Das Ferkelbähnchen war an der Endstation. Man ahnte das, als es stillstand. Ein Bahnhof mit seiner Klasseneinteilung der Menschen und seinem Fürstensalon für die Übermenschen war nicht da. Wozu auch an einem Orte, wo jeder so urwüchsig und hochwohlgeboren war wie Adam im Paradies.

Ebenich betrachtete das, was von Menschen da herumstand, und fand, daß es die Tracht vom Stammvater unserer Rasse so ziemlich beibehalten hatte. Mehr, als was in ein Brillenfutteral hereingegangen wäre, hatte kaum einer um sich hängen. Mit Rücksicht auf die Temperatur der umgebenden Luft waren solche Gewänder praktisch und kleidsam. Der Doktor ärgerte sich über das viele Zeug, das von seinem Skelett niederhing, tat einen Sprung über einen klaren Bach, der rauschend und schäumend von einem Hügel niederströmte und stand nun auf einem, von Barfüßen glattgetretenen Pfade, der zum großen Chinesentempel hinaufleitet. Ebenich stieg hoch und höher; betrachtete in kleinen Teichen die heiligen Schildkröten, wie sie mit ihren breiten Schilden plump und träge übereinanderkrochen, die Köpfe vorstreckend und nach Fliegen züngelnd. Er konnte wenig Verehrenswertes an ihnen finden. Auch an dem fetten Buddha nicht, der weiß angestrichen, klotzköpfig auf seinem Altare saß und blöde auf Blumensträuße niederlächelte, 54 die ihn umstanden. Ein Chinesenpriester hatte sich herangepirscht und dem frommen Pilger zur Labsal des Leibes eine Tasse Kaffee angeboten. Das war angebracht und menschenfreundlich von ihm. Als er aber eine Silberschale vorstreckte und einen Obolus verlangte, sah die Sache minder menschenfreundlich aus.

Der enttäuschte Pilger genoß nun rasch noch, was umsonst zu haben war: nämlich vom Hügel die Aussicht über Meer und Land und stieg dann rasch hernieder, weil ein Hasten und Stampfen und Quietschen aus den Palmenhainen herauf ihm verriet, daß das Ferkelbähnchen im Anfahren sei. Richtig, eben erreichte er es noch, bevor es losdampfte, stieg ein und war eine Stunde später wieder in Georgetown, wie die Hafenstadt der Betelkauer von den Engländern getauft wurde.

Ebenich suchte einen Barbier auf. Der vielgewandte Künstler nahm ihm die Stoppeln aus dem Gesicht und gab ihm die Adresse eines benachbarten Wirtshauses, wo Pilsener Bier vom Faß verschenkt werde. Wenn den Deutschen alles in der Welt so leicht wäre, wie die Entdeckung einer Bierquelle, wahrhaftig, wir Germanen hätten längst den Stein der Weisen gefunden. Nun, so saß denn auch Ebenich alsbald im Halbdunkel eines überdachten Holzschuppens und hatte das schäumende Produkt Böhmens aus dessen Malz- und Hopfenfeldern vor sich auf dem Tisch.

Während nun seine Nase sich in den weißen Schaum versenkte, gingen seine Augen über den Rand des Glases hinweg in dem Halbdunkel des öden Raumes spazieren und entdeckten in einer trüben Ecke eine fröhliche Gruppe von Menschen, die dem Gambrinus eifrig zu opfern 55 schienen. Sie sprachen laut und lebhaft aufeinander ein, belachten zuweilen hellauf einen Witz und fingen sogar zu singen an:

»Ein nigelnagelneues Häuschen,
Ein nigelnagelneues Bett,
Ein nigelnagelneues Liebchen,
Heut schläferts mich nett«

hallte es durch den Schuppen hin.

Ebenich besann sich, wem die Stimmen wohl angehören konnten, guckte näher nach der Gruppe hin und entdeckte unter anderen Zechkumpanen das Seitenstück zur »Lustigen Witwe«, den Zweiten, die Stuardesse im Arm. Zwei gebrochene Herzen, die rechnungsgemäß hinter ihm lagen, schienen dem feudalen Schlemmer den Appetit nach einem dritten, das vor ihm lag, nicht verdorben zu haben, denn er drückte, knutschte und küßte an der neuesten Geliebten lebhaft herum. Plötzlich entdeckte Frau Hölderlin den Doktor, wurde verlegen und fing an, die Spröde zu spielen. Die Ziererei schien dem Zweiten eine alberne Komödie und er wurde grob, bis ihn einige Rippenstöße belehrten, daß er sich nicht ganz vergessen dürfe. Nun guckte er wie verwundert um sich. Ebenich hatte indessen beschlossen, das Feld zu räumen. Schon war er aufgestanden und eilte dem Ausgang der Spelunke zu. Was sollte er sich zum Mitwisser von Dingen machen, die ihn nichts angingen? Mochte Frau Hölderlin den Zweiten zum Narren halten oder der Zweite die Frau Hölderlin. Wenn dem schönen Tage eine ruhige Nacht folgte, so mußte man morgen zwischen Sumatra und der Malakkahalbinsel eine prächtige Fahrt haben und übermorgen war man in Singapor. Von 56 solch fröhlichen Gedanken erhoben, schritt er dem Hafen zu. Hunderte von heimatlosen Menschen standen am Kai und schienen sehnsuchtsvoll auf die Rückkehr des Doktors gewartet zu haben. Wenn er sich das nun einbildete, war er gleichwohl im Irrtum. Sie stehen nämlich immer da, so oft ein Schiff kommt und geht, und sie werden noch dastehen, wenn alle Kultur versunken sein wird, und kein Kiel mehr die Fluten durchschneidet. Sie sind Hungrige nach der kleinsten Münze, in die sich ein Dollar zersägen läßt und haben doch außer der Backentasche keine andere an sich, in der sich das Stückchen Metall verbergen ließe. Einigen von ihnen hat die Anwesenheit der Pantellaria einen Gewinn gebracht, anderen nicht. Erfüllte Wünsche, getäuschte Hoffnungen, einerlei, die Masse steht und erwartet von einem andern Zufall ihr Glück. Die Namenlosen sind in keinem Taufprotokoll verzeichnet, sie stehen in keinem Standesamtsregister, in keinem Hofkalender, sie sind die biblischen Lilien des Feldes, wenngleich sie nicht durchweg so schön gekleidet sind wie Salomo in seiner Herrlichkeit. Was sollte ihnen ein Königsmantel? Er würde sie nur im Bücken hindern, und das hatten sie dringend nötig, als Ebenich eine Handvoll Zigaretten in den Haufen hineinwarf. Kein dankbareres Feld für die Aktstudien kann sich einem Maler bieten, als dieser bewegliche Berg von übereinander gelagerten begehrlichen Leibern, aus dem Arme und Beine zappelnd in die Lüfte greifen. Im nächsten Augenblick sind einige wenige im Besitze der vielgeliebten Glimmstengel und blasen, überglücklich, den Rauch aus Mund und Nase, während andere dastehen und neiderfüllt zusehen.

57 Schon war der Doktor über die Laufplanke gegangen, hatte sich an die Reling des Schiffes gelehnt und schaute dem zu, was sich am Lande abspielte, da kam auch der Zweite von der Stadt herangeschlenkert. Er hatte die Stuardesse am Arme hängen und schien gut gelaunt, denn er verteilte freigebig Fußtritte unter die Menge und aus besonderer Huld hier und da auch einige Ohrfeigen. Glücklicher Fürst, dem solche Gaben die Herzen gewinnen, glücklich das Volk, das mit solchen Beweisen fürstlicher Munifizenz zufrieden ist!

Eine freilich gab es, der das, was sie zu sehen bekam, gleichwohl nicht gefiel, und das war Fräulein Österle. Sie stand am Eingang zum Rauchsalon, als das erlauchte Paar seinen Einzug durch die Menge hielt. Der Doktor hatte sie bemerkt und war hinter einen der Schornsteine getreten, um sie ungestört beobachten zu können. Ihr von der Sonne des Südens gebräuntes Gesicht war von einer fahlen Blässe angekränkelt, so daß sie trotz der runden Formen von einem inneren Leid zernagt aussah. Ihr stechender Blick schien wie ein glühender Speer das Herz der Rivalin zu suchen, obwohl ihre Schritte rückwärts gingen und sie sich und ihren Schmerz in der Kabine zu verbergen suchte.

Als der Zweite das Deck betrat, war's, als ob ein Teufel aus ihm ausgefahren wäre und der Geist der Dienstpflicht eingekehrt in sein Herz. Das Weib hatte er wie Winterschnee von seiner Schulter geschüttelt, und er war nichts anderes mehr als nur Seemann.

»Vorne klar?« fragte er von der Brücke herunter nach dem Bugspriet zu. »Hinten klar?« nach dem Heck. 58 »Anker hoch!« ging der Befehl ans Gangspill. Die Schraube schnitt ins Wasser. Der Kiel drehte sich vom Lande ab. Leb' wohl, du glückliche Insel der Betelpalme!

Klar und voll stand der Mond mit träumerischem Lichte am Himmel und betrachtete mit Wohlgefallen sein Abbild, wie es ihm aus der bleichen Meerflut lächelnd entgegen schaute. Mit funkelnden Augen schossen die Buglaternen ins Leere vor und warfen rote und grüne Polypenarme über das Wasser hin, mit denen sie den Mond zu fangen suchten.

Ebenich hatte sich auf die vordere Back begeben und blickte, von süßen Träumen umgaukelt, dem wechselnden Spiele der Lichter zu, als ihm unerwartet ein Bild vors Auge trat, das er nicht gesucht hatte und das mit scharfer Schere die lyrische Stimmung zerschnitt, die seine Seele wie ein heiliges Gewand umhüllte. Die Arme steif von sich gestreckt, die Beine in gespreizter Stellung kam, wie ein Holzklotz, schwerfällig von den Wogen geschaukelt eine Leiche angeschwommen und stieß wider die Schiffswand. Ebenich glaubte im Zittern des Dampfers den Stoß zu fühlen. Er wollte aufschreien, nach der Kommandobrücke hinaufrasen, er vermochte es nicht. Mit Grausen sah er das, was einmal Ebenbild der Gottheit war, an der schwarzen Schiffswand hingleiten und er wußte, was im nächsten Augenblick geschehen würde. Die Flügel der Schiffsschraube mußten den toten Körper erfassen, mit scharfen Schnitten die Glieder abschneiden, den Bauch zerreißen und die Gase freigeben. So trennte sich, was nach oben strebte vom Fleisch, und die Schwere wurde das herrschende Gesetz. 59 Am Grunde des Meeres kehrte zur Erde zurück, was aus der Erde Schoß geboren war. Das namenlose Menschenschicksal eines Namenlosen hatte sich erfüllt. Noch schrieb man das Jahr 1912. Noch war es nicht die entmenschte Zeit, wo die Journale an jedem Tage den Tod von Zehntausenden meldeten und keinem mehr mit dieser Botschaft eine Träne erpreßten. Ebenich stand während des Abendessens unter dem lähmenden Eindrucke des Geschauten, ohne den Mut zu finden, das Ereignis irgendeinem mitzuteilen.

»Drückt Sie ein Hühnerauge oder hindert Sie ein hohler Zahn am Kauen? Sie sollten zugreifen, wir haben doch nicht alle Tage Reis mit Hühnerfleisch?« fragte übern Tisch herüber der schwäbische Hiesel.

Ebenich hatte keine Zeit, die Frage zu beantworten, denn auf der Schwelle zum Salon stand ein Matrose, der mit allen Zeichen seelischer Erregung den Doktor zu sich heranwinkte.

»Auf dem Verdeck liegt Fräulein Österle,« flüsterte er dem Näherkommenden zu. »Sie windet sich in Krämpfen. Sie scheint dem Sterben nahe zu sein. Sie schnappt nach Luft und kollert wie ein Truthahn.«

Ebenich ging und fand das Fräulein halb hingestreckt auf den Bohlen, steif und ungelenk, so wie er vor einer halben Stunde erst die schwimmende Leiche im blassen Sternenlichte gesehen hatte. Zaghaft, ängstlich, daß er auch hier nichts anderes vor sich haben möchte, als ein dem Tode geweihtes Wesen, griff er nach der ausgestreckten Hand und fand Wärme, fand bei näherem Zufühlen den hämmernden Puls und wurde ruhiger.

»Bringt die Kranke nach ihrem Bett!« befahl er 60 der umstehenden Schiffsmannschaft. Man gehorchte und der Arzt schloß von innen die Kabinentür. Er löste die Kleider vom Halse und schaffte dem Brustkorb freie Bewegung, indem er das Taillenband aufknöpfte. Dann blieb er ruhig sitzen und wartete geduldig, ab und zu einen Blick werfend auf das von einer elektrischen Glühbirne erleuchtete bleiche Gesicht. Es dauerte eine Weile, da schien, wie vom Blatt der wilden Rose entliehen, eine zarte Röte auf Stirn und Wange. Der bläuliche Ton des Lippensaumes schwand, und die Cilien der Augenlider fingen leise zu zittern an, während ein feuchter Glanz wie von matten Diamanten sich unter ihnen hervorstahl und seinen Weg über die Wangen suchte. »Sie weint,« sagte sich der Arzt, »also arbeitet ihre Seele wieder und ihr Verhältnis zur Außenwelt ist ihr klar geworden.« Wie der Priester im Beichtstuhl war er Menschenkenner genug, um zu wissen, daß diesen Tränen die Konfession folgen würde; er brauchte nur zu warten und seinem Beichtkind Zeit zu lassen. Also wartete er, wartete über ein konvulsives Aufstoßen hinweg auf abgrundtiefe Seufzer, die von lautem Schluchzen abgelöst wurden. Dann folgte eine ängstliche Stille, die einen sanften Tränenregen aufs Kissen niedergehen ließ. Nun war der Moment gekommen, wo das befreiende Wort einsetzen konnte. Aber es kam noch nicht.

»Daß ich doch älter wäre, graues Haar um meine Schultern hinge und das heilige Band der Stola,« sagte Ebenich. »Ich glaube, mein Fräulein, der Priester täte Ihnen nötiger als der Arzt.«

»Noch nötiger als dieser wäre mir eine Mutter. Ach, ich entbehrte sie als Kind so sehr und nun, wo 61 ich erwachsen bin, fehlt sie mir erst recht. Ach, auch meinem Vater fehlte meine Mutter. Hätte er sie an der Seite behalten, wie hätte es soweit kommen können, daß eines seiner Kinder wie ein Stück Möbel über See geschickt wird, um als Kanapee in einem fremden Hause aufgestellt zu werden?«

»Sie wollen damit sagen, daß Sie dem nicht gerne folgen, für den Sie sich doch selber entschieden haben. Warum widersetzen Sie sich nicht, wenn Ihnen diese Verbindung nicht paßt? Wer könnte Sie zwingen?«

»Zwingen, ja zwingen, gewiß, man hatte mich nicht mit Stricken gebunden, man hatte mich nicht in eine Kiste genagelt und dem Spediteur abgeliefert. Aber gerne geht, wer sich abgestoßen fühlt. Das Rad rollt ohne dich und mehr wie etwas Erde geht nicht verloren, wenn du von den Speichen fällst; das fühlte ich, o wie sehr doch fühlte ich, daß ich im Haushalt meiner Schwester nur ein nutzloser Esser war. Sie konnte ihre Überredungskünste sparen, als der Brief aus China kam. Stärker als der Osten Asiens mich anzog, hatte der grausame Westen Europas mich abgestoßen.«

Sie legte die Hände über die Augen und weinte bitterlich. Der Doktor ehrte ihre heiligen Gefühle durch geduldiges Schweigen.

Nach tränenreicher Pause fuhr sie fort: »Was sollte mir ein Mann, mit dem ich auch einmal getanzt hatte, an einem Abend, dessen Walzermelodien mich nacheinander an die Brust von zwanzig Männern geworfen hatten! So sehr ich auch meine Phantasie quälte, sie vermochte nicht, als das Schreiben eintraf, mir nur sein Bild in bestimmten Linien vor die Seele zu stellen. 62 Mein Auge sah nicht seine Gestalt und mein Ohr hörte nicht die Klangfarbe seiner Stimme. Wenn ich mich prüfte, so fand ich, daß ich in das verliebt war, was andere um ihn herumschwätzten. In ein orientalisch aufgeputztes Haus, in einen Liegestuhl, eine Tragsänfte, in dienende Musmis, in schweigend gehorsame Kulis. So mit mir selber scheinbar im reinen und mein Glück in dem suchend, was die Ehe ja jedem Weibe bringen soll, im Kinde, fuhr ich ab und war mit meinem Schicksal ausgesöhnt.«

Der Doktor merkte, daß der Wagen auf halbem Wege stecken bleiben würde, wenn keine Vorspann käme, und deshalb legte er sich mit der Frage in die Speichen: »Und was wars denn nun, das den schönen Gleichgewichtszustand Ihrer Seele störte?«

»Sie fragen, und ich weiß doch, daß Sie die Antwort kennen, bevor ich noch den Mund öffne. Ach, daß sich uns das Glück erst naht, wenn wir es nicht brauchen können. Was wußte ich denn, was Liebe heißt, bevor ich ihn gesehen habe? Gott ist mein Zeuge, daß ich nie ein ander Weib um ihren Besitz beneidete, bis zu dem Augenblick, wo ich den zweiten unserer Offiziere von seiner Frau in Rotterdam Abschied nehmen sah. Sie wissen, daß sie ihm gegen seinen Willen von Hamburg aus nachgefahren war, um ihn in dem letzten ihr erreichbaren Hafen noch einmal zu sehen. Hatte sie die Ahnung, daß sie ihn nie mehr sehen werde, auf die Eisenbahn gezwungen? War es mein Schicksal, das sie zwang, mir ein Bild vorzuzaubern, das mich seitdem bei Tag und Nacht nie mehr verlassen hat? Wehe mir, daß ich gerade dazu kommen mußte, 63 als das unglückliche Weib, in Tränen aufgelöst, an seinem Halse hing, um auf ewig von ihm Abschied zu nehmen. War es Sünde, so mag der Himmel mir verzeihn, daß da, gerade da zum ersten Male in mir das Verständnis erwachte, was Liebe sei, und daß ich wünschte, an ihrer Stelle zu stehen.«

Als ob sie ein Urteil erwartete, das sie freisprach, schwieg sie einen Augenblick, dann aber fuhr sie fort:

»Wenn ich gesündigt habe gegen jenes Gebot, das da sagt: ›Du sollst nicht begehren‹, o so habe ich dafür zwölf Tage lang schmerzlich gebüßt. Können Sie es verstehen, wenn ich Ihnen sage, daß in dieser Zeit mein ganzes Wesen sich umgestaltet hat, so daß ich mein Herz fühlte und meine Rechte über meine Person. Ein Grausen packte mich vor dem, was ich zu tun im Begriffe war. Durfte ich mich selber wie Strumpfwaren auf den Markt werfen und sehen, wer kam und Geld für mich bot? Glauben Sie mir, in diesen Tagen zerschmolz der Traum meiner chinesischen Herrlichkeit wie der Morgentau vor der Sonne und diese Sonne eben, mochte ich mich gegen diese Erkenntnis noch so sehr sträuben, diese Sonne war Herr Seelengut, der Zweite. Ihn liebte ich, ja, ich konnte nicht anders, ich mußte ihn lieben, trotzdem ich mir sagte, daß ich ihn nicht besitzen könne. Und doch wieder erschien mir dieses Nichtkönnen auch nicht ganz als absolute Unmöglichkeit. Unmöglich schien mir nur dies eine, daß ich dem gehören könne, für den ich doch die Reise angetreten hatte, und ich kam zu dem Schlusse, in Port Said das Schiff zu verlassen und heimzureisen. Mir war es, als ob ich mich für den, dem nun einmal meine 64 Liebe gehörte, in einen Glasschrank verschließen müsse, um unversehrt zu bleiben, bis zu dem Tage, wo er kommen mußte, mich zu holen. Und doch, je näher die Stunde kam, in der mein Entschluß zur Tat werden sollte, um so schwächer wurde der Wille. Unmöglichkeit wurde, was schon Entschluß war. Ich konnte nicht von Bord gehen. Ich konnte ihn nicht fliehen, ja mehr noch, ich suchte ihn, schmückte mich für ihn und dachte doch mit Zagen und Gewissensbissen an die, der ich ihn rauben mußte, wenn ich ihn besitzen wollte. So quälte ich mich durch die Tage und erst recht durch die Nächte hindurch, war beunruhigt und gequält, wenn ich allein war, beunruhigt und gequält, wenn ich mit ihm zusammen war. O, es waren Tage innerer Zerrissenheit, wo Pflicht und Liebe mich auf eine Folter spannten, schmerzvoller als Rad und Rost.« Sie schwieg.

»Und er?« griff Dr. Ebenich nach einer kleinen Weile das Gesprächsthema wieder auf.

»Und er? Nun er war gefällig gegen mich und zuvorkommend wie gegen Sie und jedermann und nichts berechtigte mich anzunehmen, daß ich vor anderen eine Bevorzugung von ihm erfahre. Sogar als ich ihm von der Möglichkeit sprach, daß ich im Hafen von Port Said das Schiff verlassen wolle, blieb er kühl und geschäftsmäßig und rechnete mir sogar aus, wieviel des eingezahlten Fahrgeldes mir zurückvergütet werden könnte. Das reizte mich, ihn für mich zu interessieren. Mich spornte die Eitelkeit, zu versuchen, was meine Reize vermöchten. Die Frucht, die heute noch fest am Zweige hing, konnte morgen am Boden liegen. So setzte ich denn die Reise fort, und wir fuhren langsam durch den 65 Kanal von Suez. Da kam, wie Sie wissen, die Depesche und änderte alles mit einem Schlag. Nicht, daß ich sie gewünscht hatte. Nicht, daß ich den Himmel auch nur mit dem Gedanken einer Bitte beschwert hatte, er möge mir zulieb die Frau und Mutter zu sich nehmen. Allein, da der Tod nun doch einmal gekommen war, warum sollte ich nicht nehmen, was er mir unbestellt eingebracht hatte? Frei war ich von der Zentnerlast, die mich drückte. Nicht mehr brauchte ich vor der Drohung des zehnten Gebotes zu zittern. Erlöst konnte ich zum Sinai emporschauen und seinen Flammenzacken, als unser Schiff an seinem Fuße vorbeifuhr. Um wie viel mehr, als ich merkte, daß meine Neigung Erwiderung fand. Selig, dreimal selig waren jene Tage in den Fluten des Roten Meeres. Ach, daß sie kurz waren, daß die Nacht schon über mich hereinbrach, als der Mittag nicht erreicht schien. Wie das Glück mir unverhofft wie Sonnenregen in den Schoß fiel, so war in dem andern Weibe wie Hagelwetter das Unglück über mich hingebraust und hat meine schönsten Hoffnungen vernichtet. Was könnten wohl meine Worte dem noch hinzuerzählen, was Ihre eigenen Augen gesehen haben? Nur einen Ausweg gibt es noch, und den einzuschlagen bin ich bereit. O, daß mich nicht ein Zufall gehindert hätte, zu vollenden, was ich begonnen hatte.«

Sie weinte heftig, und der Doktor versuchte nicht, sie zu trösten, zumal da in ihrer Rede manches ihm unklar war. Er wartete, bis neue Worte den dunkeln Sinn der letzten Sätze klären würden. Und es kam, wie er erwartet hatte.

»Ich bin in meiner Kabine; ich lieg' in meinem 66 Bett. Erklären Sie mir, Doktor, wie ging das zu? Als ich noch im Besitz meiner Sinne war, stand ich an der Reling und schaute in das Meer hinein.«

»Und wollten sich hinunterstürzen und taten es doch nicht,« ergänzte der Doktor.

»Sie haben recht. Ich entsinne mich dieser meiner Absicht und weiß auch genau, ja ganz genau von einer sonderbaren Erscheinung, die mich hinderte, meinen Vorsatz auszuführen. Halten Sie's für möglich, war es Täuschung meiner Sinne, und doch, so kann es nicht gewesen sein. Wie wäre mein Auge so falsch zu mir, daß es mich derart betrügen könnte! Denken Sie sich, Doktor, wie ich so in die Flut starre und in dem beweglichen Element die Stelle suche, die mich mit nassen Armen einfangen soll, da sehe ich und seh' es mit Entsetzen, daß meine eigene Leiche dahergetrieben kommt. Ich erkenne im fahlen Mondlicht meine Züge. Sehe mit Entsetzen, wie entstellt sie sind. Sehe den aufgetriebenen Leib, die starr abstehenden Glieder. Ein grauenvoll Entsetzen vor mir selber packt mich.«

Mit irren Augen schaute Fräulein Österle um sich und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als ob sie ein Bild wegwischen müsse, das ihr unsägliche Qual bereitete.

»Und dann haben Sie wohl die Besinnung verloren,« fuhr der Doktor fort, »und Sie wissen nicht, wie Sie in diesen Raum gekommen sind?«

»Nichts, gar nichts mehr weiß ich, außer dem einen, daß mir Gott oder der Satan die Ruhe nicht gönnten und mich durch jenes Schauerbild von dem letzten Schritt zurückschreckten.«

»Vielleicht war es aber auch Wirklichkeit, was Sie 67 sahen,« bemerkte der Doktor. »Werden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sage, daß ich die gleiche Leiche im Kielwasser treibend gesehen habe?«

»Dann verdanke ich mein Weiterleben einem Zufall. Sie sind grausam, Doktor, daß Sie mir den letzten Trost rauben, den Trost, Himmel oder Hölle wenigstens könnten sich um mich verlassene Arme kümmern.«

»Wer macht das Fenster auf und ruft den Tod von der Straße herauf? Ist's denn nicht Zeit genug, ›Herein‹ zu sagen, wenn er an die Türe klopft? Sind Sie nicht noch jung, und kann Ihnen nicht zum zweiten Male ein Hase über den Weg laufen, der dem ersten so ähnlich sieht wie ein Sperling dem andern?«

»Sie meinen's gut mit Ihrem Scherz, Herr Ebenich, aber Sie kennen die Tiefe weiblichen Empfindens oder mich nicht, wenn Sie mit einer solchen Möglichkeit rechnen. Wie eine Krankheit ist diese Liebe über mich gekommen. Nur Gegenliebe kann sie heilen, und um diese betrog mich eine Dirne. Seit heute bin ich mir dessen bewußt, und nun verzehrt mich die Scham, daß ich weggeworfen habe, was des Weibes höchstes Gut ist.«

»Ich will gewiß in Liebessachen kein Paradigma aufstellen, nach dem man alle Verhältnisse deklinieren könnte, aber an Ihrer Stelle würde ich den Kampf mit der Konkurrenz aufnehmen, dem ersten Pfeil einen zweiten nachschicken. Wer kann wissen, an welchem Eisen der Hirsch verbluten wird? Am Schluß der Jagd können Sie immer noch ins Wasser gehen. Die Erde hat daran ja keinen Mangel.«

Der Doktor hatte sich bei diesen Worten vom Bettrand erhoben, um zu gehen.

68 »Einstweilen danke ich Ihnen,« sagte Fräulein Österle und streckte ihm die Hand entgegen. Dann schloß sich die Kabinentür hinter dem Arzt. Er war allein.

›Eine ernste Sache,‹ sprach er zu sich selber. ›Wer zum Teufel hätte aber auch denken sollen, daß hinter dieser Liebeskomödie so viel tragischer Ernst stecken könne? Am Ende hätte auch ich meine Verse besser ungeschrieben gelassen.‹

Doch es blieb ihm keine Zeit, den quälenden Gedankenfaden weiterzuspinnen, denn er stieß direkt auf den Kapitän, der etwas angeheitert vom Nachtessen kam.

»Wie steht's, Doktor?« herrschte der Überschwabe ihn an. »Hält das Weibsgestell noch bis Singapor zusammen? Das Blei wird knapp und ist zu teuer, ums nur so, mir nichts, dir nichts mit einem Kadaver zusammen ins Meer zu werfen.«

»Keine Sorge, Kapitän. Kennen Sie nicht den Spruch: »Cur moritur homo

»Dum salvia crescit in horto,« ergänzte der Angeredete. »Daß ich Ihnen nur gleich das Wasser abgrabe, sonst ersaufen Sie gar noch in Ihrem flüssigen Latein. Übrigens hoffe ich, daß Ihre Salbenbüchsen noch gefüllt sind.«

»Ausreichend für mehr als ein Regiment Soldaten,« ergänzte der Doktor und stieg zum Promenadendeck hinauf. An Backbord lief, vom Monde beschienen, ein schwarzer Streifen mit dem Schiff, der ab und zu von glühenden Feuern, die in helle Rauchsäulen hinein ihren Widerschein warfen, unterbrochen war. Dieser Streifen stellt die Straits Settlements der Halbinsel Malakka vor, und die Feuer zeigen an, daß fleißige Farmer an 69 der Arbeit sind, den Urwald zu roden und die Scholle für den Pflug vorzubereiten. Bei diesem Anblick war's dem Doktor, als ob der Geist eines Sehers über ihn gekommen wäre. Sein Spekulieren wuchs ins Große hinaus, und er sagte sich: ›Was ist der kleine Kampf des einzelnen mit seinem eigensinnigen Denken wert gegenüber den Zielen, die der Menschheit gesteckt sind? Späne gibt es auf den Zimmerplätzen und Span wird, was zum Balken nicht werden konnte. Mag Fräulein Österle sehen, wie sie mit ihrem Begehren fertig wird.‹ In diesem Augenblick rieselte das Mitleid mit dem Liebeskummer wie etwas Überflüssiges, ja Schädliches von ihm nieder. Er ging in seine Kammer und schlief ruhig, als ob er in der Loge eines Schauspielhauses gesessen und das verlogene Theatergewinsel einer Primadonna mit angehört hätte.

Als Ebenich am nächsten Morgen auf Deck kam, war das Schiff in einen wahren Archipelagus von Eilanden hineingefahren, die da groß und klein herumlagen, wie Tintenflecken auf einem Löschkarton. An die grün überwucherten Felsen waren kleine palmstrohüberdeckte Häuschen angeklebt, die wie Mangrovebüsche auf Stelzwurzeln standen. Pfahlbauten, wie sie vor Jahrtausenden am Neuenburger See zu finden waren und an den Ufern des Vierwaldstätter. Die Hüttchen waren nach der See zu offen, und das Leben in ihnen lag vor den Seefahrern wie eine Szene auf dem Kasperletheater. Da saß eine schwarze Frau, von nackten Kindern umwimmelt, und nähte. Wenn ihr der Fingerhut entglitt, so hatte er nur über wenige Bambusstäbe zu rollen und er lag auf dem Grunde des Meeres. Über ein solch katastrophales 70 Unglück gerät keine der schwarzen Ladies in Aufregung. Drei, vier ihrer ebenholzfarbigen Ableger stürzen sich, nackt wie sie sind, ins Wasser, und ehe die Mutter nur von ihrer Arbeit aufgeguckt hat, sind sie wieder da, den verlorenen Gegenstand aus einer ihrer Backentaschen der Mutter in den Schoß spuckend.

An langen Gerten sieht man Angelschnüre nach dem Wasserspiegel niederhängen. Sobald der Faden zuckt, wird er hochgezogen, und der erste Gang des Menus nach der Suppe ist ohne große Auslagen herbeigeschafft. Rambutans, Brotfrucht, Zuckerrohr, Mango und Mangustins wachsen auf den Bäumen, welche die Hütte überschatten. Austern pflückt man von den Sumpfwurzeln des Mangrovegebüsches herunter. Woher diese Pfahlbauern den Champagner nehmen, wußte Ebenich bis zur Stunde noch nicht. Hätte er es gewußt, so wäre dies Buch ungeschrieben geblieben, und kein europäischer Schneider hätte jemals wieder von ihm einen einzigen Groschen für Hosenmachen verdient. Er wäre ins Meer gesprungen und nach einer dieser Hütten hinübergeschwommen und dort geblieben trotz der einhundertundfünfzig Mark Altersrente, die ihm das dankbare Deutschland für seine späten Tage in ziemlich sichere Aussicht stellte. Einzig nur Mangel an Weltkenntnis war es also, was ihn auf dem Schiffe festhielt und ihn mit diesem dem Kohlenschuppen von Singapor, »der Löwenstadt«, entgegentrug.

Noch war es früh am Morgen, als das Schiff, zwischen vielen andern sich durchwindend, am Tanjong Pagar-Kai festmachte. Eine schmutzige Wand von Lagerschuppen sperrte jede Aussicht ab, und nur hier 71 und da verriet eine numerierte Brettertür, daß durch sie hindurch ein beschränkter Verkehr mit der Menschheit möglich wäre, vorausgesetzt, daß man ohne weitere Waffen, so etwa wie David vor Goliath nur mit einem Stecken ausgerüstet, die »Löwenhöhle« betreten wolle. Viele der Schiffsbemannung hatten es eilig, über die Laufplanke zu kommen. Sie waren landhungrig. Ebenich stand an der Reling und sah ihnen nach, wie sie mit Parsivalschritten unbekannten Abenteuern entgegengingen. So sah er den Zweiten ausrücken und hinter ihm drein in wallendem Federhut die Stuardeß. 72 Wo mochte Fräulein Österle sein? Vermutlich schlief sie noch in ihrer Kammer, denn das Bullenauge ihrer Kabine war noch geschlossen und sah mit verschleiertem Glanze dem Pärchen nach. Der Kapitän tat das gleiche und schien gar keine Lust nach einem Landspaziergang zu haben. Er hatte sich eine Zigarre angesteckt und ging in großer Uniform auf der Kommandobrücke auf und nieder. Plötzlich rief er nach dem Deck herunter:

»Was Teufel, Doktor! 's ist doch kein Freitag heut! Keine Lust nach frischem Menschenfleisch? In der Malaienstraße, wo alle sieben Todsünden ihre Jahrmarktsbuden aufgeschlagen haben, ist ein gut gekühltes Whisky-Sodawasser in allen Farben des Regenbogens zu haben.«

»Ich will mir's überlegen,« antwortete Ebenich.

»Warten Sie vielleicht noch, bis Ihr Patient von gestern das Bett verläßt? Als galanter Mann sollten Sie der Kranken die Langeweile vertreiben. Rufen Sie einen Rikschakuli herbei und fahren Sie mit dem Fräulein nach der Stadt. Im Hotel van Wyk finden Sie eine gute Küche, wenn Sie einen wohlgefüllten Beutel mitnehmen und seinen Inhalt auszugeben verstehen.«

»Sie sollen mich nicht knauserig finden, Kapitän, vorausgesetzt, daß Sie dem Fräulein den Vorschlag machen.«

»Sie geht soeben nach dem Frühstückszimmer und sieht bleich und übernächtlich aus, wie eine Nonne in der Fastenzeit. Sie kann Ihnen ein Schutzengel werden, auch wenn sie keine Flügel hat. Gott befohlen, Doktor.«

Er winkte mit der Hand einen Abschiedsgruß und trat ins Kartenhäuschen.

73 Ebenich ging nach dem Frühstückszimmer. Er fand das Fräulein betrübt und niedergeschlagen, trotzdem aber bereit, ihm nach der Stadt zu folgen. Es schien, als ob sie die Zerstreuung suche, um ihren Gedanken entfliehen zu können.

Die beiden Leutchen arbeiteten sich mit Mühe durch die Schar der Rikschakulis hindurch und suchten sich führerlos am Ariadnefaden der Straßenbahnschienen ins Labyrinth der Dreihügelstadt hineinzutasten. Sie kamen an Arabern, Persern, Juden, Birmanen und Siamesen vorüber. Pferde, Kamele, Giraffen, Zebras und Elefanten kreuzten ihren Weg. Holzgepflasterte Straßen führten über sandige Plätze hinweg und Brücken über Wasseradern, die mit Baumwollkähnen mehr als überfüllt waren. Ein Mittagessen zwischen Bananen- und Feigenbäumen ersetzte die im Sonnenbrand verlorenen Kräfte, und der kühle Schatten der Sankt Andreas-Kathedrale hätte unsere, in einem Beichtstuhl sitzenden Wanderer sicher in einen sanften Mittagsschlaf hinübergeleitet, wenn nicht das Tantum ergo sacramentum, aus den rauchschwarzen Kehlen unterschiedlicher Negerrassen hervorgequetscht, jeden Gefühlsnerven in schmerzliche Erregung versetzt hätte. Mehr noch als der Doktor, der bis auf die Knochen unmusikalisch war, hatte offenbar Fräulein Österle unter dieser Gesangsproduktion zu leiden. Sie war blaß geworden wie eine Sterbende und verlangte ins Freie. Eine Weihrauchwolke gab den beiden das Geleit bis vor die Kirchentür. Dann ging es in eine Droschke hinein und hinaus in den Schatten der Sago- und Kokospalmen, der Muskat- und Kaffeebäume, der Farne und Lianen des botanischen 74 Gartens. Ananasfelder wechselten mit Zuckerrohr, Mais- und Bananenbeständen. Immer weiter eilten die kleinen Pferdchen vor dem Wägelchen. Zur Rechten tat sich ein weiter Ausblick auf, über die spiegelglatte blaue See hin. Ein Dampfer mit grauer Rauchfahne furchte die azurne Flur und, ostwärts steuernd, schien er in einen ebenen Palmenwald mitten hinein fahren zu wollen. Dort am flachen Strand, wo Grün und Blau durch die weiße Litze einer schmalen Brandung geschieden waren, schien das Ende aller Dinge zu sein. Kein Berg, kein Hügel, keine Wolke, die über die grüne Horizontallinie der Palmen ragte. Kein Fels, keine Sandbank, keine Bucht, durch welche die schnurgerade Abschlußlinie der See landeinwärts unterbrochen worden wäre. Wie zwei Aktendeckel, grün und blau, durch einen Briefmarkenrand aneinandergeklebt. Die Monotonie dieses Landschaftsbildes wirkte beruhigend auf alle Sinne. Der Doktor Ebenich fühlte sie wie einen Luftzug um seine Schläfen, wie eine schmeichelnde Hand auf seiner Wange. Er warf einen fragenden Seitenblick auf das Gesicht seiner Begleiterin. Weitgeöffnete Seheraugen schienen ins ewig Leere, in die Nirvana selber zu starren. Zwischen Freud und Leid schien das Nichts zu liegen, das mit den rätselvollen Blicken einer Sphinx über die Geschehnisse von Jahrtausenden schaut.

›Sie vergißt, was hinter ihr liegt,‹ dachte der Doktor und freute sich seiner Beobachtung. Da hielt der Kutscher plötzlich still. Das Fuhrwerk war vor einer weitläufigen Gebäudeanlage angekommen, die Sea View Hotel hieß. Welch ein Gegensatz! Soeben noch die absolute Ruhe und hier in der Lichtung des 75 Palmenhaines ein wimmelndes Jahrmarkttreiben. Menschen mit Billardqueues und Tennisschlägern laufen da herum. Wie die Affen rennen die Fußballspieler auf und ab. Kinder klettern an Stangen in die Höhe. An Reck und Barren schwingen sich Knaben und Mädchen, während überreife Matronen in Hängematten faul zwischen den Palmenstämmen pendeln. Dazwischen hinein Kegelgerappel, Kindergeschrei und Orchestrionmusik. »Hier ist des Volkes wahrer Himmel.« Zum mindesten des europäischen Volkes von Singapor. Hier in der Abendkühle ißt man, ruht man sich aus von der Mittagshitze, lebt man, liebt man. Hier zwischen der überlauten Freude verhätschelter Genußmenschen war für den Schmerz eines enttäuschten Mädchenherzens kein Platz. Ebenich fühlte das, und ließ die Pferde weiterlaufen, zurück nach der Hafenstadt.

Derselbe volle Mond, der gestern abend noch die treibende Leiche beschienen hatte, stand über den Häusergiebeln. Ragende Mastbäume, mit Rahen und Segeln belastet, warfen ihren phantastischen Schatten auf Mauern und Dächer der dem Flusse benachbarten Gebäude, während hochbeladene Kamele neben dem ihrigen hertrabend über den Flußkies freier Plätze hinschritten. Chaisen und Wagen der elektrischen Bahnen huschten ins Halbdunkel enger Straßen hinein und lautlos hinter ihnen her auf ihren Barfüßen und Gummirädern Hunderte von Rikschafuhrwerken. In all dem Durcheinander von Mensch und Vieh ging dem trauernden Mädchen im Mondenschein das Herz auf, wie der Kelch der Lotosblume, wenn die Nacht da ist. Sie wurde gesprächig, fragte, warum dies so sei und jenes so und 76 verlangte plötzlich, daß Ebenich den sicheren Wegweiser der Eisenbahnschienen verlasse und sich mit ihr in den Wirrwarr der Seitenstraßen hinein wagen solle. Ungern gab dieser dem Drängen seiner Begleiterin nach. Ermüdend war das ziellose Herumirren in Winkeln und Gäßchen, und als der Doktor zwischen Kanälen und Kaimauern keinen Ausweg mehr zu finden wußte, rief er zwei Rikschakulis an. Eilig kamen diese herbei und neigten sich und die Scherendeichseln zur Erde nieder. Ebenich und Fräulein Österle stiegen ein. Stolz wie eine Fürstin richtete sich das Mädchen in dem Thronsessel des Wägelchens auf. Dreiviertel Meter über das Straßenpflaster erhoben, fühlte sie sich als Herrin der Erde. Dies lautlose Hingetragenwerden über den schwerfälligen Boden gab ihr das stolze Freiheitsgefühl eines Halbgottes. Allgegenwärtig konnte sie sein, wenn sie wollte, und allwissend wollte sie werden, so wie die Schlange es einst der Eva vorgegaukelt hatte. Die sündigen Mysterien der Malaienstraße zogen sie an. Wer weiß, vielleicht, daß sie dort einen im Schmutz des Lasters fand und ihn so zu verachten lernte. Sie fühlte, daß sie genesen war, wenn ihr dies gelang. Aus dem Rachen des Verderbens konnte sie entrinnen, wenn sie den andern darin versinken sah.

Niemand braucht in Singapor einem Rikschaführer zu sagen, daß er nach der Malaienstraße wolle. Wer nichts sagt, wird hingeschleppt, und wer eine andere Straße oder gar einen andern Weltteil als Wegziel bezeichnet, auch. So hielten denn nach kurzer Zeit Fräulein Österle und der Doktor vor den Höhlen des Lasters. Grell und bunt genug beleuchtet bot sich das 77 letztere den Blicken dar. Meterhohe Firmenschilder in schreienden Farben luden zum Eintritt in die »Geheimnisse einer Weltstadt«. Ein glühender Teufelsrachen, mit Haifischzähnen besetzt, tat sich auf und hieß »Café infer«. Da sah man in eine Opiumrauchstube hinein, vollgepfropft mit ausgemergelten, lederfarbenen Gestalten. Der Seziersaal einer Anatomie mit seinen Spiritusleichen konnte kein abstoßenderes Bild darbieten. Und doch, es kamen neue Gäste, griffen zu dem Gift der Pfeife und wurden Mumien wie die andern. Da waren die Säufer nach Kammern geschieden. Hier in dieser Bude die Whiskytrinker, die Wein- und Biertrinker dort. Hier saßen, vom Feuerwasser zur Siedeglut erhitzt, die Spieler beim knöchernen Gerappel der Würfel. Da hörte man den surrenden Ton der rollenden Roulettekugel, dort den hammerharten Knöchelschlag kartenspielender Hände auf den schweren Platten rotweinbeschmutzter Eichentische. Blinkende Messer und drohende Revolver bildeten die Grenzscheide zwischen Mein und Dein in dem Wirrwarr aufgestapelter Goldhäufchen.

Und dieser ganze angefaulte Heringssalat der Verkommenheit war überpfeffert mit liederlichen Weibern. Da schlüpften jugendliche, halbnackte Gestalten mit lüsternen Blicken hinter teppichschwere Portieren, dort lagen Veteranen der Gemeinheit, die Zigarre im Mund, zentnerschwer auf schaukelnden Liegestühlen. Zwischen den Spielenden trieben sich die abgemergelten Halbinvaliden des horizontalen Handwerks herum und riskierten den Messerstich, der zwischen ihre Handwurzeln fuhr, wenn die Finger um den geringsten Bruchteil einer Sekunde 78 zu lang bei den angehäuften Spielergewinnen verweilten. Da lag eine lachend im Arme eines besoffenen Matrosen, dort lag eine heulend in der Stubenecke, hier eine trunken zwischen Melonenschalen und zertretenen Bananen vor der Haustür auf dem Pflaster. Kreischende Musik und der Walzertakt tanzender Paare erschütterten alle die Hunderte von leichten Buden, so daß man glaubte, auf dem zitternden Boden eines nimmermüden Vulkans zu stehen.

Fräulein Österle war voller Unruhe. Sie lief die Straße auf und ab und guckte Löcher in die Scheiben von Türen und Fenstern. Der Doktor, der dafür, daß er einmal A gesagt hatte, nun das ganze Alphabet herunterleiern mußte, übel oder wohl hinter ihr drein. Bald bückte sie sich und guckte durch eine Vorhangspalte, bald streckte sie sich, um über eine vorgeklebte Reklame hinweg ins Innere eines dieser Venustempel sehen zu können. Nach langem Suchen blieb sie wie angewurzelt stehen. Keine Sintflut hätte sie hinweggeschwemmt von dem Fensterkreuz, das sie umfaßt hatte.

Doktor Ebenich bemerkte, daß sie von einem starken Magneten angezogen, ja fast plattgedrückt an der Hauswand hing und trat hinter sie. Über ihre Schultern hinweg sah er in ein stark verräuchertes Weinlokal hinein. Bauchige Karaffen mit burgunderrotem Inhalt spiegelten das Licht elektrischer Glühbirnen wider, während über weißgescheuerten Tischplatten rote Kringel standen, die da und dort ineinander liefen und um übervolle Aschenschalen eine Kette bildeten. Hinter einem dieser Tische sah man vor halbgeleertem Glase den Zweiten sitzen. Die Zigarre zwischen seinen Fingern schwelte wie eine Tranfunsel und verhüllte hinter einer Rauchsäule ein 79 Gesicht, das nicht mit dem Ausdruck der sieben Seligkeiten in die Welt sah. Wer seiner Blickrichtung folgte, konnte bald, auch wenn er nur wie Habakuck zu den kleinen Propheten gehörte, die Ursache seiner Verdrossenheit ergründen. In einer andern Zimmerecke nämlich saß auf rotem Plüschsofa, zwischen weiße Atlaswesten und Smokingsjoppen eingezwängt, mit mehr als lebhafter Gesichtsfarbe die Stuardeß. Wie eine Windfahne drehte sie den Kopf und blies bald dem einen, bald dem andern ihrer Verehrer mit spitzem Mäulchen den dünnen Faden ihres Zigarettenrauches ins Gesicht. Wer von den beiden in der Art königlich ausgezeichnet wurde, gewann an kühnem Selbstgefühl, schlug seinen Arm um die Taille der Nachbarin und zog deren Kopf zu einem Kusse auf Stirn oder Nase an seine steif gestärkte Hemdenbrust herüber. Manchmal hatten beide Partner zur gleichen Zeit den gleichen Einfall, und dann war mit einem Male das vielverehrte Gnadenbild zwischen zwei bis zum Nacken durchgescheitelten Männerköpfen verschwunden. Was in solchen Augenblicken unterm Tisch die Hände leisteten, dies sich auszumalen, blieb der Phantasie des Beschauers überlassen. Entrée wurde für die Vorstellung nicht erhoben, weder von den Zaungästen am Fenster noch von dem Zweiten, für den im Gegenteil die Diva ein herablassendes Zuwinken mit dem perlenden Champagnerglas übrig hatte. Die Blicke des Doktors hingen natürlich an der Stuardeß, die heute als »neue Nummer« eine abgöttische Verehrung genoß, während Fräulein Österle im Gesicht des Zweiten wie in einem frommen Erbauungsbuch zu lesen suchte. Schien es ihr anfangs, als ob alle Furien der Eifersucht in den Falten 80 seiner Stirne hausten, so wollte es sie späterhin bedünken, als ob Verachtung vor sich selber und Scham darüber, daß er sich an eine Minderwertige weggeworfen, seine Züge umformten. Das Fräulein freute sich dieser Beobachtung, denn sie hoffte, daß Reue und Geringschätzung das Schlammbad sein sollten, aus dem die Seele des Seemannes nicht etwa nur gereinigt, sondern genesen heraussteigen sollte.

Indessen beobachtete sie, daß Herr Seelengut die Zigarre unter den Tisch warf und den Geldbeutel zog. Nun war es Zeit, vom Fenster zu verschwinden. Rasch drehte die Lauscherin sich um und stieß mit beiden Handflächen ihren Begleiter übers Trottoir auf den Fahrdamm hinunter.

»Sorgen Sie dafür, daß wir Räder unter den Körper bekommen, wir müssen vor dem Herrn Seelengut an Bord der Pantellaria sein,« herrschte sie ihren Begleiter an, als ob sie hier nur zu kommandieren hätte.

Eben hatte der Doktor mit kaum verstärkter Stimme die Worte »Rikscha, Rikscha« ausgesprochen. Da war es, als ob diese kleinen Fuhrwerke vom Himmel heruntergeregnet oder aus der Erde gewachsen wären. Zu Dutzenden füllten sie die Straße und umdrängten unser Paar derart, daß diesem schier der Atem ausging.

»German Steamer, Tanjong Pagar Kai« diese fünf Worte ließ Ebenich unter die Menge der zweibeinigen Lasttiere fallen. Sie waren sein »Sesam öffne dich«, die einzige Formel, mit der er hoffen konnte, seine Kammer auf dem Dampfer jemals wieder zu sehen. Er war auf die göttliche Vorsehung und den guten Willen schuftiger Kulis angewiesen. Die Nacht und das 81 Häusergewirr um die Malaienstraße hatten ihm jede Möglichkeit einer Orientierung genommen.

»Yes Master, German Steamer, Tanjong Pagar-Kai,« erscholl es wie ein vielstimmiges Echo aus der Menge heraus und das Gedränge um die beiden nächtlichen Wanderer wurde womöglich noch bedrohlicher, als es schon war. Da gab es nur noch eine Rettung. Nur ein rascher Entschluß konnte den erstickenden Ring sprengen. Mit einem energischen Schritt zwängte sich Ebenich in den Haufen hinein und ließ sich in den weichen Sessel des Rikschas fallen. Seine Begleiterin tat das gleiche. Nun mochten die Kulis sehen, wie sie sich aus der Menge mit ihrem Fuhrwerk herausarbeiteten. Dies Manöver vollzog sich leichter, als man hätte ahnen sollen. Wer einmal im Besitz ist, hat immer recht und wer eben noch ein Gegner des Erwerbenden war, geht dem Besitzenden respektvoll aus dem Wege. So war denn alsbald die Gasse frei und die beiden Kulis trabten mit ihren Hintersassen durch Schatten und Mondenschein flott in die Nacht hinaus. Schon fühlten sich die Nachtschwärmer in Gedanken auf ihrem weichen Kopfkissen geborgen und fingen schlaftrunken an, mit den Köpfen zu nicken, als die Scherendeichsel sich zur Erde neigte, so daß der Körper der Fahrgäste fast aufs Pflaster gefallen wäre. Verwundert schlugen Fräulein Österle und Ebenich, die sich am Ziele glaubten, die Augen auf. Da war weit und breit kein Schiff zu sehen. Nur die hell erleuchteten Scheiben und die schreienden Plakate der Malaienstraße standen genau so, wie sie dies vor einer Stunde getan hatten, frech und aufdringlich da. Das war nun doch unerhört. Hatten die Kulis 82 sich einen Scherz mit ihren Fahrgästen erlaubt? Hatten sie die Worte Tanjong Pagar und German Steamer falsch verstanden? Wenn das letztere der Fall war, dann war's mit der Nachtruhe der Schwärmer vorbei. Denn andere Worte hatten sie nicht zu verschwenden. Aber warum hatten die Schurken als sie ihren Auftrag entgegennahmen Yes gesagt und mit dem Kopf genickt, als ob sie wußten, was die Absicht ihrer Gäste war? Dem Doktor stieg die Galle ins Blut. »Tanjong Pagar Kai, tausend Donnerwetter!« schrie er die zweibeinigen Zugtiere an, indem er sich selber mit dem Zeigefinger vor die Stirne stieß, daß ihm der Kopf schmerzte. Trotz dieser angedrohten Realinjurie und trotz der tausend Donnerwetter blieben beide Missetäter ungerührt wie das hölzerne Antlitz eines Buddhabildes. »Inaschalla,« sagten sie nur und streckten die Hände aus um einen unverschämt hohen Fuhrlohn zu verlangen. Fast schien es, als ob die Strolche deutschen Kassenärzten die Nachttaxe abgeguckt hätten. Des Doktors Zorn steigerte sich zu einem Hagelwetter von Verbalinjurien, die aber niemanden Schaden zufügten, am allerwenigsten den beiden Kulis. Gleichwohl hatte das Gewitter sein Gutes. Es lockte nämlich einen einsamen Bummler herbei, der sich, als er deutsche Flüche hörte, als Landsmann vorstellte. Er war Leiter einer mechanischen Werkstätte und der malaiischen Sprache mächtig. Bereitwillig vermittelte er zwischen den streitenden Parteien, brachte einen beiderseitigen Verzichtfrieden zustande und gab einem neuangeworbenen Kulipaar in klaren Worten die bestimmte Order, wohin sie fahren sollten. Keine Frage mehr. Die neuengagierten hatten 83 verstanden. Sie hatten Yes gesagt und mehr wie ein Dutzendmal mit den Köpfen genickt. Tobias und seine Genossin mußten den Weg nach Hause finden. Der Erzengel Gabriel konnte gehen und er ging auch. Und das Resultat der landsmännischen Bemühung? Fräulein Österle und Dr. Ebenich hielten nach Ablauf einer weiteren Stunde abermals mit den Zugtieren in der Malaienstraße.

Nun aber zog Ebenich den Geldbeutel mit dem Vorsatz, es zum letztenmal zu tun. Während der verzweifelten Irrfahrt hatte er die Augen offen gehalten und die Schienen der Straßenbahn entdeckt. Nun waren diese der Kompaß, nach dem er steuerte. Vergnüglich war die Reise des Paares nicht. Fräulein Österle mußte manchen Vorwurf dafür einstecken, daß sie den Ausflug nach der Malaienstraße veranlaßt hatte, und dagegen rächte sie sich durch fortwährendes Klagen über Müdigkeit in den Beinen. So kamen beide lahm und hinkend vor den Schuppen des Kais an und suchten die Brettertür des Eingangs 28. Ein mühsamer Weg war es noch, bis der hölzernen Wand entlang die hohe Hausnummer gefunden war. Auch den richtigen Schiffsrumpf unter der Menge der am Kai liegenden Dampfer herauszusuchen, war nicht leicht, denn der Mond war untergegangen und vor dem ostwärts heraufziehenden Tage verblaßten die Sterne. Die Schiffswache glaste die vierte Stunde; als der Doktor auf dem Hauptdeck sich von dem Fräulein verabschiedete und mit ähnlichen Gedanken wie des heiligen Antonius frommer Bär in seine Kabine ging.

»Mein Leben lang bekümmere ich mich um keinen Esel mehr.« 84

 


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