Franz Kafka
Die Acht Oktavhefte
Franz Kafka

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Das achte Oktavheft

Ich bin gewohnt, in allem meinem Kutscher zu vertrauen. Als wir an eine hohe weiße seitwärts und oben sich langsam wölbende Mauer kamen, die Vorwärtsfahrt einstellten, die Mauer entlang fahrend, sie betasteten, sagte schließlich der Kutscher: »Es ist eine Stirn.«

Wir hatten einen kleinen Fischfang eingerichtet, eine Hütte am Meer gezimmert.

Fremde Leute erkennen mich. Letzthin konnte ich mich auf einer kleinen Reise mit meiner Handtasche kaum durch den Gang eines überfüllten Waggons drängen. Da rief mich aus dem Halbdunkel eines Abteils ein mir offenbar ganz Fremder an und bot mir seinen Platz an.

Arbeit als Freude, unzugänglich den Psychologen.

Übelkeit nach zuviel Psychologie. Wenn einer gute Beine hat und an die Psychologie herangelassen wird, kann er in kurzer Zeit und in beliebigem Zickzack Strecken zurücklegen, wie auf keinem andern Feld. Da gehen einem die Augen über.

Ich stehe auf einem wüsten Stück Boden. Warum ich nicht in ein besseres Land gestellt worden bin, weiß ich nicht. Bin ich's nicht wert? Das darf man nicht sagen. Reicher als ich kann nirgends ein Strauch aufgehn.

Vom jüdischen Theater

Mit Ziffern und mit Statistiken werde ich mich im Folgenden nicht abgeben; die überlasse ich den Geschichtsschreibern des jüdischen Theaters. Meine Absicht ist ganz einfach: einige Blätter Erinnerungen an das jüdische Theater mit seinen Dramen, seinen Schauspielern, seinem Publikum, so wie ich das alles in mehr als zehn Jahren gesehen, gelernt und mitgemacht habe, hier vorzulegen oder, anders gesagt, den Vorhang zu heben und die Wunde zu zeigen. Nur nach Erkenntnis der Krankheit läßt sich ein Heilmittel finden und möglicherweise das wahre jüdische Theater schaffen.

I

Für meine frommen chassidischen Eltern in Warschau war natürlich das Theater ›trefe‹, nicht anders als ›chaser‹. Nur zu Purim gab es ein Theater, denn dann klebte Vetter Chaskel einen großen schwarzen Bart auf sein kleines blondes Bärtchen, zog den Kaftan verkehrt an und spielte einen lustigen Handelsjuden – meine kleinen Kinderaugen haben sich von ihm nicht wenden können. Von allen Vettern war er mir der liebste, sein Beispiel ließ mir keine Ruhe und, kaum acht Jahre alt, habe ich schon im Cheder wie Vetter Chaskel gespielt. War der Rebbe fort, dann war im Cheder regelmäßig Theater, ich war Direktor, Regisseur, kurz alles, auch die Prügel, die ich dann vom Rebbe bekam, waren die größten. Aber das störte uns nicht; der Rebbe hat geprügelt, wir aber haben doch jeden Tag andere Theaterspiele ausgedacht. Und das ganze Jahr war nur ein Hoffen und Beten: Purim möge kommen und ich soll wieder zusehn dürfen, wie Vetter Chaskel sich maskiert. Daß ich dann, sobald ich erwachsen bin, auch jeden Purim mich maskieren und singen und tanzen werde, wie Vetter Chaskel – das stand bei mir fest.

Daß man sich aber auch außer Purim maskiert und daß es noch viele Künstler wie Vetter Chaskel gibt, davon allerdings ahnte ich nichts. Bis ich einmal von Isruel Feldscher's Buben hörte, daß es wirklich Theater gibt, wo man spielt und singt und sich maskiert und jeden Abend, nicht nur Purim, und daß es auch in Warschau solche Theater gibt und daß sein Vater ihn schon einigemal ins Theater mitgenommen hat. Diese Neuigkeit hat mich – ich war damals ungefähr zehn Jahre alt – geradezu elektrisiert. Ein heimliches nie geahntes Verlangen ergriff mich. Ich zählte die Tage, die noch vergehen mußten, bis ich erwachsen war und endlich selbst das Theater sehen durfte. Damals wußte ich noch nicht einmal, daß das Theater eine verbotene und sündhafte Sache ist. Bald erfuhr ich, daß sich gegenüber dem Rathaus das ›Große Theater‹ befindet, das beste, das schönste von ganz Warschau, ja von der ganzen Welt. Von da an hat mich schon der äußerliche Anblick des Gebäudes, wenn ich dort vorüberging, förmlich geblendet. Als ich mich aber einmal zu Hause erkundigte, wann wir endlich ins Große Theater gehen werden, hat man mich angeschrien: ein jüdisches Kind darf vom Theater nichts wissen; das ist nicht erlaubt; das Theater ist nur für die Gojim und für die Sünder da. Diese Antwort genügte mir, ich fragte nicht weiter, aber Ruhe gab es mir nicht mehr, und ich fürchtete sehr, daß ich diese Sünde gewiß einmal begehn und, wenn ich älter sein werde, doch ins Theater werde gehen müssen.

Als ich einmal am Abend nach Jom Kippur mit zwei Vettern am Großen Theater vorbeifuhr, auf der Theaterstraße viele Leute waren und ich von dem ›unreinen‹ Theater gar nicht wegsehn konnte, fragte mich Vetter Majer: »Wolltest du auch dort oben sein?« Ich schwieg. Mein Schweigen gefiel ihm wahrscheinlich nicht und er fügte deshalb hinzu: »Jetzt, Kind, ist kein einziger Jud dort – bewahre der Himmel! Abend gleich nach Jom Kippur geht selbst der schlimmste Jud nicht ins Theater.« Dem entnahm ich aber nichts anderes, als daß zwar nach dem Ausgang des heiligen Jom Kippur kein Jude ins Theater geht, daß aber an den gewöhnlichen Abenden das ganze Jahr hindurch wohl viele Juden hingehn. In meinem vierzehnten Lebensjahr war ich zum erstenmal im Großen Theater. So wenig ich auch von der Landessprache gelernt hatte, so konnte ich doch schon die Plakate lesen und da las ich eines Tages, daß die Hugenotten gespielt werden. Von Hugenotten hatte man schon in der ›Klaus‹ gesprochen, auch war das Stück von einem Juden ›Meier Beer‹ – und so gab ich mir selbst die Erlaubnis, kaufte eine Karte und am Abend war ich zum erstenmal im Leben im Theater.

Was ich damals sah und fühlte, gehört nicht hierher, nur das eine: daß ich zur Überzeugung kam, man singe dort besser als Vetter Chaskel und maskiere sich auch viel schöner als er. Und noch eine Überraschung brachte ich mit: die Ballettmusik der Hugenotten hatte ich ja schon längst gekannt, die Melodien sang man ja in der ›Klaus‹ Freitag abends zum Lecho Dodi. Und ich konnte mir damals nicht erklären, wie es möglich sei, daß man im Großen Theater das spiele, was man in der ›Klaus‹ schon so lange singt. Von damals an wurde ich in der Oper ein häufiger Gast. Nur durfte ich nicht vergessen, zu jeder Vorstellung einen Kragen und ein Paar Manschetten zu kaufen und sie auf dem Nachhauseweg in die Weichsel zu werfen. Meine Eltern durften solche Dinge nicht sehen. Während ich mich an ›Wilhelm Tell‹ und ›Aida‹ sättigte, waren meine Eltern im sichern Glauben, ich säße in der ›Klaus‹ über den Talmudfolianten und studiere die heilige Schrift.

II

Einige Zeit nachher erfuhr ich, daß es auch ein jüdisches Theater gibt. Wie gern ich aber auch hingegangen wäre, ich getraute mich nicht, denn es hätte meinen Eltern allzu leicht verraten werden können. Ins Große Theater zur Oper dagegen ging ich häufig und später auch in das polnische dramatische Theater. In letzterem habe ich zum erstenmal die ›Räuber‹ gesehn. Sehr überrascht hat es mich, daß man auch so schön Theater spielen kann ohne Gesang und Musik – das hätte ich nie gedacht – und merkwürdigerweise war ich dem Franz nicht böse, vielmehr hat er den größten Eindruck auf mich gemacht, ihn hätte ich gern gespielt, nicht den Karl.

Von den Kameraden in der ›Klaus‹ war ich der einzige, der es gewagt hat, ins Theater zu gehn. Im übrigen aber haben wir Burschen in der ›Klaus‹ uns schon mit allen, aufgeklärten Büchern gefüttert, damals las ich zum erstenmal Shakespeare, Schiller, Lord Byron. Von der jiddischen Literatur kamen mir allerdings nur die großen Kriminalromane in die Hand, die uns Amerika in einer halb deutschen, halb jiddischen Sprache lieferte. Eine kurze Zeit verstrich, mir gab's keine Ruhe: ein jüdisches Theater in Warschau, und ich soll es nicht sehn? Und ich habe es riskiert, alles auf die Karte gesetzt und ich bin ins jüdische Theater gegangen.

Das hat mich ganz umgewandelt. Schon vor Beginn des Spiels habe ich mich ganz anders gefühlt als bei ›jenen‹. Vor allem keine Herren in Frack, keine Damen im Decollete, kein Polnisch, kein Russisch, nur Juden aller Art, langgekleidete, kurzgekleidete, Frauen und Mädchen, bürgerlich angezogen. Und man sprach laut und ungeniert in der Muttersprache, ich bin niemandem aufgefallen mit meinem langen Kaftänchen und mußte mich gar nicht schämen.

Gespielt hat man ein komisches Drama mit Gesang und Tanz in sechs Akten und zehn Bildern: Bal-Tschuwe von Schumor. Angefangen hat man nicht so pünktlich um acht Uhr wie im polnischen Theater, sondern erst gegen zehn Uhr und geendet erst spät nach Mitternacht. Der Liebhaber und der Intrigant haben ›hoch-deutsch‹ gesprochen und ich habe gestaunt, daß ich auf einmal – ohne von der deutschen Sprache eine Ahnung zu haben – so vortreffliches Deutsch so gut verstehen konnte. Nur der Komiker und die Soubrette haben jiddisch gesprochen. Im allgemeinen hat es mir besser gefallen als die Oper, das dramatische Theater und die Operette zusammengenommen. Denn erstens war es doch jiddisch, deutsch-jiddisch zwar, aber doch jiddisch, ein besseres, schöneres Jiddisch, und zweitens war doch hier alles beisammen: Drama, Tragödie, Gesang, Komödie, Tanz, alles beisammen, das Leben! Die ganze Nacht habe ich vor Aufregung nicht geschlafen, das Herz sagte mir, daß auch ich einst im Tempel der jüdischen Kunst dienen, daß ich ein jüdischer Schauspieler werden soll.

Nächsten Tag aber nachmittags schickte der Vater die Kinder ins Nebenzimmer, nur die Mutter und mich hieß er bleiben. Instinktiv fühlte ich, daß hier eine ›Kasche‹ für mich gekocht wird. Der Vater sitzt nicht mehr; immer nur geht er im Zimmer auf und ab; die Hand am kleinen schwarzen Bart spricht er, nicht zu mir, sondern nur zur Mutter: »Du sollst wissen: er wird von Tag zu Tag schlimmer, gestern hat man ihn im jüdischen Theater gesehn.« Die Mutter faltet erschrocken die Hände, der Vater, ganz bleich, geht fortwährend im Zimmer auf und ab, mir krampft sich das Herz, wie ein Verurteilter sitze ich, ich kann den Schmerz meiner treuen frommen Eltern nicht ansehn. Ich kann mich heute nicht mehr erinnern, was ich damals sagte, nur das weiß ich, daß nach einigen Minuten gedrückten Schweigens der Vater seine großen schwarzen Augen auf mich gerichtet und gesagt hat: »Mein Kind, gedenk, das wird dich weit, sehr weit führen« – und er hat recht gehabt.

Schließlich war nur noch einer außer mir im Wirtshaus geblieben. Der Wirt wollte schließen und bat mich zu zahlen. »Dort sitzt noch einer«, sagte ich mürrisch, weil ich einsah, daß es Zeit wäre zu gehn, aber keine Lust hatte, weg- oder überhaupt irgendwo hinzugehn. »Das ist die Schwierigkeit«, sagte der Wirt, »ich kann mich mit dem Mann nicht verständigen. Wollt Ihr mir helfen?« »Hallo«, rief ich zwischen den hohlen Händen durch, aber der Mann rührte sich nicht, sondern sah still wie bisher von der Seite in sein Bierglas.

Es war schon spät nachts, als ich am Tore läutete. Lange dauerte es, ehe, offenbar aus der Tiefe des Hofs, der Kastellan hervorkam und öffnete.

»Der Herr läßt bitten«, sagte der Diener, sich verbeugend und öffnete mit geräuschlosem Ruck die hohe Glastür. Der Graf in halb fliegendem Schritt eilte mir von seinem Schreibtisch, der beim offenen Fenster stand, entgegen. Wir sahen einander in die Augen, der starre Blick des Grafen befremdete mich.

Vor einer Mauer lag ich am Boden, wand mich vor Schmerz, wollte mich einwühlen in die feuchte Erde. Der Jäger stand neben mir und drückte mir einen Fuß leicht ins Kreuz. »Ein kapitales Stück«, sagte er zum Treiber, der mir den Kragen und Rock durchschnitt, um mich zu befühlen. Meiner schon müde und nach neuen Taten begierig, rannten die Hunde sinnlos gegen die Mauer an. Der Kutschwagen kam, an Händen und Beinen gefesselt wurde ich neben den Herrn über den Rücksitz geworfen, so daß ich mit Kopf und Armen außerhalb des Wagens niederhing. Die Fahrt ging flott, verdurstend mit offenem Mund sog ich den hochgewirbelten Staub in mich, hie und da spürte ich den freudigen Griff des Herrn an meinen Waden.

Was trag ich auf meinen Schultern? Was für Gespenster umhängen mich?

Es war ein stürmischer Abend, ich sah den kleinen Geist aus dem Gebüsche kriechen.

Das Tor fiel zu, ich stand ihm Aug in Auge.

Es zersprang die Lampe, ein fremder Mann mit neuem Licht trat ein, ich erhob mich, meine Familie mit mir, wir grüßten, es wurde nicht beachtet.

Die Räuber hatten mich gefesselt und da lag ich nahe beim Feuer des Hauptmanns.

Öde Felder, öde Fläche, hinter Nebeln das bleiche Grün des Mondes.

Er verläßt das Haus, er findet sich auf der Straße, ein Pferd wartet, ein Diener hält den Bügel, der Ritt geht durch hallende Öde.


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