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[Iris und Genziane]

Der Doctor der Philosophie Friedrich Lautenschläger war der Sohn eines sehr vermögenden Mannes und lediglich zu seiner geistigen Ausbildung vier Jahre lang auf der Universität Hörer in verschiedenen Fächern der philosophischen Fakultät gewesen. Nach dem frühen Tode seines Vaters hatte er sich noch jung sehr glücklich verheiratet, in der Nachbarschaft einer größeren Provinzstadt ein hübsches Landgut gekauft und lebte dort, mit Privatstudien mancher Art beschäftigt, als ein unabhängiger Mann völlig seinen Vergnügungen nach. Besondere Vorliebe verwandte er auf die Pflege seines großen Gartens und kehrte von häufigen ausgedehnten Fußwanderungen in der Umgegend niemals zurück, ohne dies oder jenes seltene Gewächs zum Einpflanzen mit heimzubringen. Begünstigt wurden derartige Funde durch die geographische Lage seines Besitztums; der Blick reichte vom Hause bis zu einem Teil der Alpenkette hinaus, und wenn diese auch ein halbes Dutzend von Meilen entfernt lag, so trugen doch Wasserläufe mannigfachen Samen alpiner Blumen mit ins Vorland herunter, wo diese sich unter ihnen zusagenden Bedingungen da und dort dauernd ansiedelten. Die Auffindung solcher bereitete Lautenschläger stets eine Hauptfreude, und am meisten war er eines Frühlingstages entzückt, als er an einem Bachrand unter entholztem Waldabhang Blätter und Knospen der droben im Hochgebirge heimischen großen stengellosen Genziane entdeckte. Aufs Sorgfältigste hob er sie mit einem beträchtlichen Stück ihres kurzüberrasten Erdreichs aus, belud sich willig mit der ziemlich schweren Last für den langen Heimweg und brachte die Pflanze an einer für ihr Gedeihen geeigneten Stelle seines Gartens unter. Sie lohnte ihm seine Mühsal und Fürsorge nach kurzem auch durch herrlichen Anblick, öffnete die großen Glockenkelche in köstlicher Frische und Pracht und grüßte ihm wochenlang schon von weitem mit ihrem wundervollen dunkelblauen Geleucht entgegen.

Ebenso sehr, oder mehr noch, als Blumenfreund, aber war er auch Kinderfreund und nach Ablauf des ersten Jahres seiner Ehe durch die Geburt eines Knäbleins aufs Höchste beglückt worden. Doch Sorgen und Kummer gesellten sich hinterdrein; infolge der schweren Entbindung erkrankte die junge Mutter bedenklich und ließ durch Monate das Schlimmste befürchten. Dann besserte sich zwar ihr Zustand, sie geriet außer Lebensgefahr, und die Sorge schwand von ihrem Bett und aus dem Herzen ihres Mannes ab. Aber der Kummer blieb, denn der Arzt konnte auf Befragen nicht verhehlen, daß der Ausgang der Krankheit jede Aussicht auf eine weitere Vergrößerung der Familie abgeschnitten habe.

Diese Erklärung betrübte die beiden noch jungen Gatten ungemein; sie suchten sich vielleicht gegenseitig ihr schmerzliches Gefühl zu verbergen, doch konnten nur einem Lautwerden desselben vorbeugen, im Innern empfand jeder es bei dem anderen, wie in sich selbst. Gleichmäßig hatten sie gehofft und gewünscht, daß der Erstling ein Töchterchen sein möge, oft diese freudige Erwartung miteinander ausgetauscht und waren im ersten Augenblick durch den Ankömmling enttäuscht gewesen. Die Mehrzahl anderer Eltern pflegte wohl ihren Wunsch auf einen Sohn zu richten, bei ihnen indes fand dies nicht statt. Sie waren auch darin gleichartig und glücklich – oder in diesem Fall eigentlich unglücklich – zusammengekommen, daß ihnen ein kleines Mädchen als das Schönste, wie ein ins Haus hereinfallender lichter und erwärmender Sonnenstrahl vorgeschwebt. Doch ingleichem hatte verständig vorausblickende Erwägung damit überein gestimmt, da sie sich von einer erstgeborenen Tochter einer vorteilhaften, sanft die Oberhand behauptenden Einwirkung auf den ungestümeren Sinn eines nachfolgenden jüngeren Bruders versichert gehalten.

Nun war diese Hoffnung, und zwar weit bitterer als bei dem Erscheinen des Knaben, völlig vereitelt und der Gang ihrer Tage trotz allen sonstigen Glückesbedingungen von einer schweigsamen Trauer begleitet. Sie liebten sich von Herzen, es ward von keiner Seite je ihres Mißgeschickes Erwähnung getan, allein dennoch glaubte die junge Frau zuweilen im Gesicht ihres Mannes einen stummen Vorwurf zu lesen, daß sie daran Schuld trage. Seinerseits aber kam ihm öfter ein Gefühl, sie müsse denken, er sei nicht sorglich vorbedacht genug gewesen, die Gefahr rechtzeitig zu erkennen und das Unglück, das sie betroffen, durch Zuziehung eines berühmten Frauenarztes möglicherweise noch zu verhüten. So fügten sie ihrem gemeinsamen Leid wechselseitig noch eine eigene tiefe Bedrückung hinzu, eine Scheu vor verschwiegenen Gedanken des anderen, und wenn ihre Liebe dadurch auch keine wirkliche Einbuße erlitt, ward doch nach und nach ihr Vertrauen zueinander ein minder offenes, und es drohte eine unausgesprochene Entfremdung sich zwischen sie zu legen.

An einem Spätsommerabende kehrten sie in noch voller Tageshelle von einem schweigsamen Spaziergang durch das nah ihrem Landsitz belegene Dorf heim, wo sie vor der kleinen Wirtschaft auf eine Ansammlung von Bewohnern desselben, hauptsächlich Frauen und Kindern trafen. Es stellte sich heraus, eine fremde junge Weibsperson sei dicht vor der Ortschaft auf der Landstraße von Kindsnöten befallen, hierher gebracht und ihr von der Schmiedsfrau, die in dringlichen Fallen bis zur Ankunft der entfernten städtischen Hebamme eintrat, Beistand geleistet worden. Der tüchtigen Helferin ließ sich auch keinerlei Vorwurf machen, das Kind lag glücklich zur Welt gebracht, von den teilnehmenden Wirtsleuten rasch in ein Leintuch gewickelt, kräftig und gesund da, doch die Mutter hatte, von Entbehrung und langer Fußwanderung zu erschöpft, die Geburt nicht überstanden, sondern gleich nach dem Eintreffen eines aus der Stadt herbeigeholten Arztes kaum merklich ihren letzten Atem ausgehaucht. Vollständig blutlos, weißen Gesichts lag sie, einem marmornen Bild ähnelnd, auf dem Bett, in noch jugendlichem Alter, mit eingesunkenen und darum wohl etwas scharfen, doch fraglos schön geschnittenen Zügen; das bei den heftigen Wehen aufgegangene dichte schwarze Haar ließ durch den Gegensatz die Totenfarbe noch greller hervortreten. Der Anblick erweckte die Empfindung, der Tod sei für sie ein Befreier aus schwerer Lebensnot gewesen, die Bekleidungsstücke sprachen von äußerster Dürftigkeit, über ihre Zugehörigkeit, ihren Stand und Namen gab nichts Auskunft. Indes ging schwerlich die allgemeine Vermutung fehl, sie sei keine verheiratete Frau, sondern ein von einem Liebhaber im Stich gelassenes Mädchen das vielleicht früher einer auf Jahrmärkten umherziehenden Gesellschaft als Mitglied angehört. Darauf schienen einige Ueberreste an ihrer herabgekommenen Kleidung hinzudeuten.

So fanden Friedrich und Anna Lautenschläger den Sachverhalt in der Wirtschaftsstube vor und die Dorfältesten mit dem Pfarrer zur Beratung versammelt. An dem Geschehenen war nichts abzuändern und zweifellos, daß das Dorf die Beerdigungskosten tragen mußte; doch im Frage kam, ob es gleichfalls gesetzlich genötigt sei, sich wenigstens vorläufig aus seinen geringfügigen Mitteln der Beschaffung des Notwendigen für das Kind und seinen Unterhalt anzunehmen. Bei der Stadtgemeinde stand keine Bereitwilligkeit nach dieser Richtung zu erwarten, und die staatlichen Behörden schoben ebenfalls gern eine derartige Verpflichtung von sich ab oder mindestens auf die lange Bank.

Dem hörten Lautenschlägers zu, hielten ein Weilchen den Blick auf die Verstorbene gerichtet und traten danach an den Tisch, auf dem das Kind lag. Durchs Fenster her fiel noch die Abendsonne herein und ihm jetzt grad' auf die geschlossenen Lider, so daß es sie weit öffnete und dadurch den Eindruck veranlaßte, als habe der Strahlenglanz plötzlich ein paar blaublühende Genzianenblüten aus dem Boden hervorgelockt. Jemand bewegte sich schattenwerfend nach dem Fenster, das Kind ließ die Augen wieder zufallen, und die Schmiedsfrau sagte mitleidigen Tons: »Es ist ein Mädchen, das arme Ding, was soll aus ihm werden?«

Bei diesen Worten hoben Mann und Frau gleichzeitig ihre Gesichter auf, sahen sich an und lasen sich den nämlichen Gedanken in den Augen, so klar, daß es keines Ausspruches bedurfte, er faßte nur mit herzlichem Druck nach ihrer Hand, wandte sich dann zum Dorfvorstand um und äußerte kurz, er sei erbötig, das Begräbnis auf seine Kosten veranstalten zu lassen, sowie das Kind bis zur gesetzlichen Regelung der Angelegenheit unter seine Fürsorge ins Haus zu nehmen. Dies Anerbieten fand begreiflich ein höchst bereitwilliges und dankbares Entgegenkommen; die Dorfleute atmeten von einer Last befreit auf, der Pastor sprach seinem Beruf gemäß, doch hörbar auch aus dem Herzen kommend, einige Worte von dem Segen Gottes, der für die gute Tat nicht ausbleiben werde. Anna Lautenschläger aber hatte schon das schlafende kleine Geschöpf behutsam aufgehoben und ließ sich nicht nehmen, selbst es den noch viertelstündigen Weg nach Haus zu tragen; hier richtete sie sogleich für das fremde Kind eine Bettstelle neben der ihres bald zweijährigen Germar her. Beihelfend legte ihr Mann mit Hand an und wich nicht von ihrer Seite, bis alles fertiggestellt worden. Danach indes blieben beide noch eine ganze Zeitlang vor dem Bettchen stehen und betrachteten, sich an den Händen haltend, stumm das mit ruhig geschlossenen Augen in seinen Windeln daliegende kleine Mädchen, bis allmählich die Dämmerung ihren verhüllenden Schleier über das schmale Gesichtchen deckte.

Von diesem Abend an aber war das ehemalige schattenlose Glück wieder im Hause eingekehrt. Um der Vorschrift zu genügen, machte Lautenschläger am nächsten Tage bei der städtischen Behörde Anzeige, und es wurden Nachforschungen nach der Herkunft der im Dorf Verstorbenen angestellt. Doch ohne Erfolg; sie mußte als eine fremde Staatsangehörige vermutlich aus erheblicher Weite des Weges dahergekommen sein, und es ließen sich keinerlei Spuren, wer sie gewesen, auffinden, denn sie waren verlöscht, wie ihre Fußspuren im Staub der Landstraße. Mit besonderem Eifer ward begreiflicherweise die Untersuchung auch nicht betrieben, eine verbrecherische Tat war ausgeschlossen und der Fall ein sehr gleichgültiger, an dem niemand ein weiteres Interesse nahm, als daß vom Gericht entschieden werden mußte, wer zur Erhaltung des Kindes verpflichtet sei. Auch diese Nötigung jedoch geriet aufs erfreulichste in Wegfall, da Doktor Lautenschläger sich gewillt erklärte, das verwaiste Mädchen, auf das kein Verwandter irgend welchen Anspruch erhob, durch gesetzliche Adoption als sein eigenes Kind aufzunehmen. So wurde die Tote auf dem Dorffriedhof als »unbekannt« bestattet und danach ihre hinterlassene Leibesfrucht in der Sakristei getauft und als »Xenia Lautenschläger« in das Kirchenbuch eingetragen. Diesen ungewöhnlichen Vornamen wählten ihre Füreltern für sie, weil in ihrer Vorstellung unsichtbar ein freundlicher Götterbote bei ihnen im Hause eingekehrt war und ihnen die Kleine als ein köstliches Gastgeschenk hinterlassen hatte. Und wie Götter, wenn sie Huldgaben ausspenden, dies mit verschwendender Hand tun, so hatte der Geber seinem Sonnenstrahl-Geschenk als schöne Zugift noch die wieder erneuerte Lebensfreudigkeit, Liebeswärme und unbeschränkte Vertrauensfülle zwischen den Gatten beigesellt.

Infolge davon erwachte bei Friedrich Lautenschläger jetzt auch wieder das botanische Interesse, das ihm in den letzten Monaten unvermerkt mehr und mehr abhanden gekommen war. Er hatte seinen Garten völlig vernachlässigt und fand ihn, wie mit plötzlich dafür sehend gewordenem Blick in verwildertem Zustand. Das heischte viel Arbeit, der er sich freudig unterzog; dabei kam ihm eines Tages die Genziana acaulis ins Gedächtnis, die er im Frühling von einer Wanderung mitgebracht. Er vermochte sich nicht mehr genau zu erinnern, wo er sie eingepflanzt habe, und suchte eine Weile umsonst. Dann entdeckte er den Platz, oder erkannte ihn vielmehr an einigen Merkmalen, deren er sich entsann, denn die blauen Blüten waren natürlich längst verschwunden, und das aufgewucherte Gras hatte auch die Blätter unsichtbar überdeckt. Statt dessen war zwischen den Halmen etwa anderthalb Fuß hoch eine andere, staudenhafte Pflanze emporgeschossen, mit kräftigem, rundem Stengel und ziemlich großen, elliptischen, dunkelgrünen, auf der Unterseite mattergefärbten und feinbehaarten Blättern. Sie mußte aus einem im Erdreich von der Waldblöße mitgenommenen Samen entsprossen sein und war Lautenschläger unbekannt; augenscheinlich kam sie in diesem Jahr nicht zur Blüte. Aber er trug einen Respekt vor dem Daseinsrecht und Lebensdrang jedes Wachstums in sich und beließ das schmucklose fremde Gewächs an seiner Stelle.

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Mit gleicher oder fast noch größerer Fürsorge und Zärtlichkeit, als bei ihrem eigenen Kinde, gab sich Anna Lautenschläger der Aufnährung des hilflosen fremden Mädchens hin, an dessen Bett Tag und Nacht ihre Liebe, vereint mit der ihres Mannes, wachte. Beiden war ihr sehnlichster Lebenswunsch erfüllt worden, und ehe noch das Jahr zu Ende ging, dachten sie kaum mehr daran, in welch anderer Weise es geschehen sei, als sie früher erhofft hatten. Sie besaßen ein Töchterchen, das ebenso vollkommen ihnen allein angehörte, wie wenn es sein Leben von ihnen empfangen hätte, und sie wurden nie von einem Gedanken angerührt, daß sie an der Kleinen als Wohltäter handelten, sondern waren nur ganz von einem Dankgefühl für die Wohltat durchdrungen, die das Kind ihnen täglich ausspende. Nicht einen berechtigt erhofften Lohn ihres zugleich übereinstimmend gefaßten Entschlusses sahen sie in der Fremde über das ununterbrochene Weitergedeihen ihres Pfleglings, vielmehr ein unverdient ihnen vom Himmel zugefallenes Glück. Ihre sonst alle Dinge klar, mit einer ruhigen Verständigkeit anblickenden Augen blieben des Gebrauchs dieser Naturmitgift nicht fähig, sobald sie sich auf das Mädchen gerichtet hielten, wie durch ein mit rosigem Schimmer gefärbtes Verstärkungsglas nahmen sie die körperliche und geistige Entwickelung der kleinen Xenia gewahr.

Ohne Frage aber besaß diese auch Anspruch darauf, als ein reizendes Geschöpf betrachtet zu werden, das sich rasch zu einem auffällig schönen gestaltete. Sehr früh bildeten sich aus der Allgemeinähnlichkeit kleiner Kindergesichter, bei ihr individuell hervortretende Züge aus, denen man ansah, daß sie bleibende sein würden. Auf dem Arm der Mutter griff sie bald nach jedem ihr vorgehaltenen Gegenstand, ihn fest mit den geschmeidigen Fingern umklammernd; mit Klugheit, manchmal mit Kraftanwendung mußte man ihr für sie nicht Geeignetes entziehen. Ihre Glieder zitterten dabei vor Erregung, und weit mit der Hand ausfassend, suchte sie das ihr Fortgenommene wieder zu erlangen; doch schrie sie niemals nach der Art anderer Kinder, trachtete immer nur lautlos der Erreichung ihres Zweckes nach. Ueberhaupt verhielt sie sich schweigsam; es war kein Zurückbleiben in dieser Richtung, denn sie lernte zeitig »Mama« und »Papa« nachsprechen, aber aus sich selbst brachte sie die Worte nicht vom Mund. Ihr eigener Name dagegen ward ihr in vereinfachter Lautform »Inna« früh geläufig; sie deutete auf das, wonach ihr Verlangen ging, mit »Inna da! – Inna das! – Inna will!« Wies nicht selten geschieht, bestimmte sie selbst damit ihren Rufnamen; das für sie noch nicht sprechbare »Xenia« geriet völlig in Wegfall, ihre Eltern wie ihr Bruder gewöhnten sich, sie Inna zu nennen und anzureden.

Vor Ablauf eines Jahres stand sie nicht nur fest auf den Füßen, sondern begann schon zu laufen, und zwar so geschickt oder mit Umsicht berechnend, daß sie fast niemals hinfiel, da sie stets sich vorher vergewisserte, an etwas eine Stütze zu finden, wenn ihre Kraft nicht weiter reiche; mißriet es ihr indes doch einmal, so stand sie, ohne einen Ton von sich zu geben, hurtig auf, obwohl ihre Bewegungen erkennen ließen, sie habe sich wehgetan. Ihrem Vater kam keine Freude derjenigen gleich, sie an seiner Hand die ersten Gänge auf den ebenen Wegen des Gartens machen zu lassen; er selbst hatte sich um diesen den Sommer hindurch beinahe gar nicht bekümmert, sondern einem Gärtnerburschen die Instandhaltung anheimgegeben. Nun aber in den köstlichen Vorherbsttagen gab es nichts Schöneres, als die kleine, jetzt vierzehn Monate alte Inna unter den gelb werdenden Bäumen zwischen Beeten und Bäumen herumzuführen. Im Vorbeigehen griff sie nach allem und erhaschte so auch einmal ein sich noch auf einer Aster wiegendes buntes Pfauenauge, das sie im Nu, ehe Lautenschläger es ihr wegnehmen konnte, zwischen den Fingerchen zerdrückt hatte. Mit Bedauern sah er auf den Schmetterling und sagte: »Das muß Inna nicht, du hast ihm wehgetan und ihn tot gemacht.« Allein er empfand gleich, daß in seiner Verweisung nicht Gerechtfertigtes und Törichtes liege, da sie noch kein Verständnis für das von ihr Begangene besitze. Das legte sie an den Tag, denn sie hatte das von ihm gesprochene fremde Wort aufgefaßt und sagte, den Falter aus der Hand fallen lassend und vergnügt dazu lachend: »Tot!«

Doch ihr kinderhaftes Greifen nach den Dingen am Wege konnte Gefahr mit sich bringen und tat's auch eines Tages. Zum erstenmal mit ihr ganz bis an den Gartenrand gehend, sah Lautenschläger überrascht eine fremde wohl vier Fuß hohe und vielzweigig ausgebuchtete Staude mit dunkelgrünem Blattwerk aufragen und entsann sich nach einiger Betrachtung, es sei die nämliche, die er, nur klein emporgetrieben, im vorigen Jahr hier angetroffen, und die er seinerzeit in der Erdscholle der Genziane als Samen mit hergebracht haben mußte. Doch erkannte er die Pflanze jetzt an einer Fülle sie überdeckender, zum Teil noch grüner, zum Teil glänzend schwarz gefärbter großer Kugelbeeren als eine Belladonna, erschrak aber zugleich heftig, denn Inna hatte unvermerkt eine der tiefer unten sitzenden Beeren abgerissen und stand im Begriff, sie nach dem Munde zu führen. Glücklicherweise vermochte er dies noch eben rechtzeitig zu hindern, doch sie war von dem Anblick der schwarzen Glanzkugeln wie fasziniert und wehrte sich aus allen Kräften, diese herzugeben. Um einem Unheil vorzubeugen, erteilte deshalb Lautenschläger dem Gärtner Auftrag, die Giftpflanze mit der Wurzel auszugraben, aber der nächste Sommer zeigte, daß sie trotzdem nicht verschwunden sei. Sie mußte Samen hierher und dorthin ausgestreut haben, der in dem Boden günstige Wachstumsbedingungen fand, denn an verschiedenen Stellen zwischen Gebüsch und Gerank wucherte ungesehen die Tollkirsche bis zur Reifung ihrer Früchte auf und war aus dem Garten nicht mehr auszurotten.

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Von Sonnenschein in wirklichem und bildlichem Sinne umfangen, gediehen Bruder und Schwester miteinander im Haus und Garten höher auf; er war ihr um zwei Jahre voraus und blieb es bezüglich des körperlichen Wuchses, hatte überhaupt merkbar die Einlage zu größerem Emporschießen. Doch sonst, sowohl in leiblicher Sicherheit und Gewandtheit, wie in geistiger Entwickelung holte sie ihn schnell ein, so daß man nach wenigen Jahren keinen Altersunterschied mehr bei ihnen vermutete; an Gelenkigkeit der Gliedmaßen und Findigkeit bei Gedanken überbot sie ihn sogar bald. Er hatte die Natur des Vaters überkommen, äußerlich ein wenig Hölzernes in Haltung und Bewegung, daneben von klein auf in den Augen und im Behaben etwas Träumerisches und Unschlüssiges. Dazu stand der geschmeidig-graziöse Bau Innas in vollem Gegensatz, doch ebenso ihr niemals ungewiß schwankendes, immer zielbewußtes Treiben. Wollte man die beiden Kinder mit zwei Tierarten in Vergleich bringen, so nahmen sie sich nebeneinander aus wie ein hochbeiniger junger Jagdhund und ein reizvoll-zierliches Angorakätzchen, an welches das Mädchen auch sonst durch sein langes und schwarzes, seidenweiches Haar etwas erinnerte. Auf das Verhältnis zwischen ihnen ließ indeß der Vergleich sich nicht ausdehnen, sie lebten nie miteinander in Unfrieden. Ueberraschender Weise ging die frühere Erwartung der Eltern von dem Einfluß einer Schwester auf den Bruder auch jetzt in Erfüllung, obwohl sie nicht die Aeltere war und eher das Gegenteil vorauszusetzen gewesen. Doch ein Zwist konnte niemals entstehen, da er Nichts tat, was ihr mißfiel, und Alles tat, was sie von ihm verlangte. Er besaß ein weich-biegsames, sich ihr willig unterordnendes Wesen, jedes seiner Spielzeuge, nach dem ihr ein Begehren kam, durfte sie an sich nehmen und behalten, ohne daß er ein Wort des Einwandes dagegen erhob. Auch an ein Dankwort von ihr dachte er nicht, ihm erschien selbstverständlich, daß Inna Alles zukam. Sie stand über ihm, war mehr als er, etwas Höheres; mit gleichen Augen sah er sie, wie seine Eltern, die unwillentlich und unbewußt ihn gegen die Schwester zurücksetzten. Was sie tat und sprach, umgab ein anderes Licht, oder richtiger sie trug eine angeborene Leuchtkraft in sich, mit der sie jeden Blick bezauberte. Nicht nur alles ihm Gehörige, sich selbst hätte Germar ohne Besinnen für sie hingegeben; vor seiner Knabenphantasie stand als das Höchste, daß er sie einmal aus Lebensgefahr rettete und selbst dabei umkomme. Dann würde sie um ihn weinen, Schöneres konnte er nicht erdenken; noch wunderbarer als Tautropfen auf Blumen in der Morgensonne mußten Tränen in ihren Augen sein. Gleichfalls nur eine einbildnerische Vorstellung von ihm war's, gesehen hatte er's noch nicht, denn sie weinte nie. Daß sie dazu einmal Grund habe, konnte er auch nicht wünschen, zürnte sich selbst deshalb, doch einen anderen Wunsch durfte er hegen. Er trug einen zärtlichen Drang in sich, ein Verlangen nach Liebkosung, solche zu erweisen und zu empfangen. Aber wenn er im Gehen oder beim Zusammensitzen dann und wann den Arm um sie legte, schüttelte sie seine Hand gleichsam von sich ab und zog ihren Hals darunter weg. Ihrer Neigung entsprach's nicht, sie bedurfte keiner derartigen Betätigung und erwies sie deshalb auch selbst nicht. Schon als kleines Ding hatte sie nie ein Trachten danach gezeigt, von der Mutter geküßt zu werden, dies nur reglos geschehen lassen, ohne mit den eigenen Lippen darauf zu erwidern. Ihre Natur war nicht auf Begehren und Bezeigen von Zärtlichkeit angelegt.

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Wie bevorzugt ihre geistigen Anlagen seien, trat erst deutlich zu Tage, als sie begonnen, die Mädchenschule in der benachbarten Stadt zu besuchen. Sie lernte mit außerordentlicher Leichtigkeit, unterstützt von einer bewundernswerten Gedächtniskraft, und erwarb sich bald regelmäßig die kleinen Preise, die von der Lehrerin zur Anspornung des Wetteifers ausgesetzt wurden; vorzüglich im Rechnen tat sie sich hervor, löste auch die manchmal für alle Anderen nicht überwindlichen Aufgaben. Es fiel begreiflich, daß der Neid sich deshalb an sie heftete, von ihr zischelte, sie habe sich das Buch zu verschaffen gewußt, aus dem die Aufgaben erteilt wurden; der Verdruß über ihre Beliebtheit bei der Lehrerin ging weiter, hin und wieder, wie es überall geschieht, kamen ihren Bankgenossinnen wahrscheinlich durch eigene Achtlosigkeit kleine Schultaschengegenstände abhanden, und sie einigten sich untereinander, Inna Lautenschläger zu verdächtigen, daß sie ihnen die Dinge entwendet habe. Doch eine, natürlich nur mit Widerstreben angestellte Untersuchung ergab selbstverständlich die völlige Unschuld der fälschlich Bezichtigten und zog in gerechter Folge nur strenge Bestrafung der böswilligen Verleumderinnen nach sich, auf der Doktor Lautenschläger trotz seiner milden Sinnesart, durch die Kränkung seiner Tochter in zornige Aufwallung versetzt, mit Nachdruck bestanden. So erklärte sich's, daß Inna unter ihren Schulgefährtinnen keine Freundinnen besaß, mit keiner in einem näheren Verbande stand; sie kam und ging, fast ohne ein Wort mit einer auszutauschen. Aufs heftigste erbittert war Germar über das seiner Schwester angetane schimpfliche Unrecht, und als diese ihm eines Tages eine Mitschülerin bezeichnete, von der sie neuerdings wieder eine Unbill erfahren, konnte er sich nicht beherrschen, das Mädchen auf offener Straße mehrfach zu ohrfeigen. Darüber erhob ihr Vater bei Lautenschlager Klage, doch der Letztere wies sie kurz, beinahe schroff zurück, er sei stolz darauf, da sein Sohn sich derartig tatkräftig der Ehre seiner Schwester angenommen, habe ihn dafür belobt und angespornt, jeder Verleumderin derselben gegenüber das Gleiche zu tun.

Ueber solche Mißhelligkeiten auf der Schulbank konnte Inna sich trösten, als sie aufrückend in eine Klasse gelangte, wo auch bereits von Lehrern Unterricht erteilt wurde. Bei diesen stand sie bald ausnahmslos in höchster Gunst, brachte nur Zeugnisse von ihnen nach Hause, für die sie jedesmal von den Eltern die Erfüllung eines besonderen Wunsches oder ein ihr schon vorbehaltenes Geschenk empfing. Germar konnte sich in seinen Schulerfolgen nicht entfernt mit ihr messen, und ihrem Vater kam einmal vom Munde, es sei bedauerlich, daß er nicht ein Mädchen und sie nicht ein Knabe sei, damit sie es zu etwas Bedeutendem in der Welt bringen könne. Doch mit dem Blick entzückt auf ihrem Gesicht haftend, verbesserte er selbst sogleich innerlich diesen flüchtigen Gedanken, denn er hätte dadurch sein kostbarstes Besitztum, das reizvollste Geschöpf, das er sich vorzustellen vermochte, als Tochter eingebüßt. Das Gleiche empfanden die Lehrer Innas; sie brauchte eigentlich keine Beweise ihres Lerneifers und Zeugnisse ihres Fleißes darzulegen, sondern nur ihre Augen aufzuschlagen, um Jeden von ihrer Begabung und Vorrangsberechtigung unter allen Anderen zu überzeugen.

Der Schulweg zur Stadt betrug, durch einen Fußsteig über einige Felder die Landstraße erheblich abkürzend, nur eine starke Viertelstunde, und die Geschwister machten ihn täglich zweimal zusammen hin und zurück. Das tat Germar mit Stolz, seine Schwester als Beschützer zu begleiten, und wartete, wenn sein Unterricht auf dem Gymnasium einmal früher endete, geduldig eine volle Stunde lang auf sie, nicht nur weil die Eltern es so vorgeschrieben, ihm selbst wär's unmöglich gewesen, heimzugehen und sie allein nachkommen zu lassen. Doch als in der Tat zufällig einmal eine Gefahr eintrat, hätte nicht sie, sondern er des Schutzes bedurft. An einem nicht breiten, doch tiefen Wasserlauf hingehend, wurden sie durch ein zorniges Brüllen erst aufmerksam gemacht, daß ein bösgewordener Stier hinter ihrem Rücken sei, als das Tier kaum ein Dutzend Schritte mehr entfernt auf sie zurannte. Ihnen zur Linken überkreuzte das Gewässer ein schmaler Holzsteg, auf den Inna sich mit dem Sprung eines Eichhorns hinschnellte und, darüber weggeflogen, kraftvoll das morsche Pfahlwerk zur Seite riß, so daß fortrutschend das Brett nicht mehr betretbar schräg herabhing. Im Nu und zwiefach unbedacht war's geschehen, der Stier hätte doch vor dem Steg halt machen müssen, und Germar war noch nicht mit herübergekommen. So schwebte er in größter Todesgefahr; zum Glück indes wurde die Achtsamkeit des Tieres von ihm durch das Krachen des Holzes abgelenkt, es rannte mit den Hörnern auf die umsinkende kleine Brücke los, stürzte sie völlig nieder, und der Knabe fand Zeit, sich hinter einen Busch zu flüchten und, geduckt weiter fortlaufend, sich ebenfalls in Sicherheit zu bringen. Als er, nach weiter Umholung über das Wasser gelangt, jenseits zu Inna zurückkam, stand diese und warf lachend dem Tier drüben aufgeraffte Steine gegen die weißrollenden Augen, es ob seiner ohnmächtigen Wut laut verspottend. In der Beleuchtung erschienen ihre eigenen Augen eigentümlich von dunklerer Färbung als sonst, nicht blau, sondern auch fast gleich denen eines Eichhorns, mit dem sie im behenden Sprung gewetteifert.

*

Bei dem Umreißen des Stegs hatte sie für ein zehnjähriges Mädchen und besonders für ihre zierliche Erscheinung eine unvermutete Stärke an den Tag gelegt, und ihrer Fortentwicklung verblieb diese Vereinigung zarten Aussehens mit ungewöhnlicher Kraft; ihre Arme erregten den Eindruck, weiß und weich überkleideten Stahl in sich zu bergen. Doch war ihr Nahrungsbedarf nicht groß, sie mußte am Tisch zumeist zum Mehressen ermahnt werden; in der schulfreien Zeit ging sie bereits der Mutter bei mancher Besorgung des Hauswesens eifrig zur Hand. Rasch eignete sie sich Kenntnis alles darin Vorhandenen an, und es beglückte die Eltern, welch' umsichtige künftige Hausfrau sich früh in ihr herausbilde. Ein verläßlicher Beistand, wie sie es zu werden verhieß, wäre ihrer Mutter schon jetzt höchst erwünscht gewesen, denn sie vermochte trotz aller Bemühung die Aufsicht im Hause nicht mehr mit dem Erfolg wie vordem auszuüben. Aus der Vorratskammer kamen fortgesetzt Eßwaren, aus verschlossenen Schränken in nicht begreiflicher Weise allerlei Gegenstände abhanden; bei den ersteren hätte man an nächtlich eindringende Tiere denken können, doch das Fehlen der letzteren wies unverkennbar auf Menschenhände hin. Die Mägde standen schon lange im Dienst, hatten sich stets als ehrlich bewährt, so daß es schwer fiel, gegen sie einen Verdacht zu fassen. Aber schließlich mußte zur Erklärung doch ein solcher aufkeimen, es kam hinzu, daß Frau Lautenschläger kleinere und größere Beträge aus ihrer Geldtasche entwendet wurden, und der länger im stillen gehegte Argwohn gelangte in der Familie zur Aussprache. Inna war dabei zugegen, nahm die Bekümmernis der Mutter drüber gewahr, und um einige Tage später offenbarte sich, daß sie deshalb in den letzten Nächten sich den Schlaf verkürzt und acht gegeben habe, der Täterin auf die Spur zu kommen. Das war ihr auch gelungen, sie hatte die älteste Magd leise die Vorratskammer mit einem anderen Schlüssel, der schon seit Jahr und Tag in Verlust geraten, öffnen gehört. Daraufhin stellte Lautenschläger eine Nachsuchung in der Schlafstube der Betreffenden an, wo er, im Strohpfühl des Bettes versteckt, auch mehrere der gestohlenen Dinge auffand; augenscheinlich besaß sie ebenfalls zu dem Schrank einen Nachschlüssel. So war die Diebin entlarvt, die natürlich, dem Brauch solcher Leute gemäß, unter Tränen ihre Unschuld beteuerte und beschwor und nicht wissen wollte, wie die Sachen in ihr Bett gekommen seien. Doch lag ihre Täterschaft klar zutage, um ihrer langjährigen guten Dienstleistungen willen und besonders auf eine Fürbitte Innas hin stand der Doktor von einer gerichtlichen Anzeige ab und schickte sie nur sofort aus dem Hause. Dankerfüllt aber und mit berechtigtem Stolz priesen die Eltern nicht nur das erfolgreich kluge Handeln ihrer Tochter, sondern vor allem ihre liebevolle Aufopferung, mit der sie sich selbst schlaflose Nächte bereitet hatte, um dem Kummer der Mutter ein Ende machen zu können.

Doch zog diese Obachtgabe für Inna zur Folge nach sich, daß nur wenige Monate später der Haß der entlassenen, im Dorf verbliebenen Magd sich auf sie entlud. Im Herbst ging ein mit Stroh gedecktes, unweit entlegenes Bauerngehöft, nachdem die Bewohner sich erst kurz vorher zu Bett gelegt, in Flammen auf, so daß kaum die Menschen ihr Leben zu retten vermochten, während ihr sämtliches Vieh im Feuer umkam. Man vermutete böswillige Brandstiftung, obgleich andererseits eine leichtfertige Hantierung mit offenem Licht stattgefunden hatte, und es kam ein Gerede auf, die Frau des abgebrannten Hofs habe einige Tage vorher Inna Lautenschläger in ihrem Garten betroffen, wie diese sich die Taschen mit einer besonders wohlschmeckenden Birnensorte angefüllt, und ihr deshalb mit heftigen Scheltworten gedroht. Aus Rachsucht habe das Mädchen dafür im Abenddunkel das Strohdach des Hauses angezündet; dieser Verdacht sollte wenigstens von der Bäuerin geäußert worden sein. Lautenschläger hatte sich am anderen Tag nach der Brandstätte begeben und seiner mildtätigen Natur gemäß den vom Unglück heimgesuchten einen erheblichen Unterstützungsbeitrag zum Wiederaufbau verheißen; erst nachher vernahm er von dem über seine Tochter aufgebrachten Geschwätz, forschte nach und kündete aus, daß es von der bei ihm des Diebstahls überwiesenen Magd in Umlauf gesetzt sei. Ihr habe die Bauersfrau den Verdacht ausgesprochen und sie selbst beigefügt, er komme ihr glaubhaft vor, da sie sich nichts anderes vorstellen könne, als daß damals das Kind selbst mit Nachschlüsseln die Sachen gestohlen und, um einer Entdeckung zu entgehen, ihr ins Bett gelegt habe. In höchstem Grade empört, beschied Lautenschläger die Bäuerin zu sich und fuhr sie rauh an, wie es möglich sei, daß sie, nachdem er ihr solche Teilnahme und Beistandsbereitwilligkeit gezeigt, ein derartiges sinn- und ruchloses Geschwätz über seine Tochter aussprenge. Erst stumm und dunkel errötend, stand die Frau da, bis sie stockend hervorbrachte, sie wisse nichts und habe kein Wort davon gesagt; er möge doch um Gotteswillen deshalb keinen Zorn auf sie werfen und ihr seine Beihilfe versagen. Auf weiteres Befragen verneinte sie auch, daß sie Inna jemals in ihrem Garten gesehen habe; das alles war also von der lügenhaften, rachsüchtigen Magd erfunden worden, und der Doktor verlangte und erreichte diesmal zur gerechten Strafe für sie, daß die bösgefährliche Person aus dem Dorf ausgewiesen und vom Büttel eine Strecke weit auf der Landstraße forttransportiert wurde. Die Verleumdungssaat aber, einmal in den Boden gestreut, war nicht auszuroden, ähnlich wie die Tollkirschen im Lautenschlägerschen Garten. Um ein Jahr später ward, allerdings nur durch vorsichtig verstohlene Andeutungen Inna Lautenschläger in noch schwereren Verdacht gesetzt. Sie war eines Nachmittags mit der ihr ungefähr gleichalterigen Schullehrerstochter aus dem Dorf, mit der sie hin und wieder verkehrte, im Felde zusammen gewesen, kam aufgeregt nach Haus gelaufen und rief, die Lisa Schuchard sei, als sie am steilen Rand eines Teiches eine rote Nelke pflücken gewollt, ausgeglitten, ins Wasser hinuntergestürzt und nicht wieder zum Vorschein gekommen. Eilfertig begab Lautenschläger mit dem Lehrer und einer Anzahl von anderen Männern sich an die Unglücksstelle hinaus, man fand die Ertrunkene in dem kleinen Gewässer auf, und Inna schilderte unter Wehklagen genau, wie und wo das Schreckliche geschehen sei. An dem Steilabhang zeigten sich deutliche Fußeindrücke, die erkennen ließen, daß die Gestürzte noch alle Kraft angestrengt, sich zu halten, und einen Haidestrauch dabei abgerissen habe; er schwamm noch mit der roten Nelke auf der Oberfläche. Man trug die Tote heim und beerdigte sie; ihre Mutter aber, die untröstlich war, heftete nach Frauenart all' ihr Denken an eine Kleinigkeit und suchte das ganze Haus nach einem Ring mit einem roten Steinchen ab, den ihre Tochter am Tag vorher zum Geschenk bekommen und an dem sie sich außerordentlich gefreut hatte. Doch er fand sich nirgendwo, und es war der Frau ganz so, als habe sie ihn beim Weggang des Mädchens am Finger desselben gesehen, an dem er sich indes beim Heraufholen der Leiche nicht mehr befunden. So mußte er von der Hand abgestreift am Teichgrunde liegen, dessen sorgfältige Untersuchung ihn jedoch auch nicht zutage förderte, und infolge davon setzte die Phantasie der Frau sich eine Geschichte zusammen, Inna Lautenschläger habe es auf den Ring abgesehen gehabt, ihn der Lisa, nachdem sie diese ans Wasser gelockt, mit Gewalt genommen und die Beraubte danach hinuntergestoßen, damit sie nichts aussagen könne; einer Brandstifterin, die aus Rachsucht ein Haus angezündet, sei auch das zuzutrauen. Allerdings zuckten die Besonnenen im Dorf dazu die Achsel, ein so kleiner Gegenstand könne leicht spurlos verschwinden, und vermutlich habe das Mädchen den Ring vorher auf dem Feld verloren. Allein die Geschichte ging doch von Mund zu Mund weiter und kam schließlich auch Lautenschläger zu Gehör, der indes, Mitleid mit der durch ihren Schmerz offenbar unzurechnungsfähig gewordenen Mutter fühlend, aus ihrer Faselei nichts machte, sondern ebenfalls nur bedauernd die Schulter zuckte.

*

Schon mit dreizehn Jahren begann die Erscheinung Inna Lautenschlägers darauf hinzuweisen, daß sie kein Kind mehr sei, und im fünfzehnten war sie unverkennbar ein voll erwachsenes und entwickeltes Mädchen, wenn sie sich in den Straßen der Stadt zeigte, wurde sie zum Zielpunkt der Augen aller jungen Männer wie keine Zweite, denn unbestritten nahm sie den ersten Schönheitsrang im Ort und in weiter Umgegend ein. Das war dazu angetan, ihren Eltern Besorgnis einzuflößen, es könne jemand, der ihnen nicht genehm sei, die Unerfahrenheit Innas benutzen, sie vorzeitig in eine Herzensneigung zu verstricken. Jedoch Beobachtung ihres Verhaltens gegen die Jugend des anderen Geschlechts ergab beruhigend, daß keine derartige Gefahr drohe. Sie erwies sich der Schmeichelei und Beeinflussung durch ihr erzeigte Huldigungen völlig unzugänglich; ihre hervorragende Verstandesbegabung schloß aus, daß sie nichts von ihnen wahrgenommen, allein sie brachte den männlichen Bestrebungen in sich keine weibliche Empfindung entgegen. Wohl war sie sichtlich kein Kind mehr, doch sie schien die Reife ohne deren sonstige Mitgift erlangt zu haben, ein kühles, nur nach geistiger Befriedigung trachtendes Naturell im Blut zu tragen; besonderes Interesse hegte sie für Botanik und beschäftigte sich am liebsten mit den mannigfachen Büchern über Pflanzenkunde aus der Bibliothek ihres Vaters. Eine Ueberwältigung durch aufwallendes Temperament, ein leidenschaftliches sich Vergessen hatte sie von frühauf nie gekannt, das bildete bei dem von ihr nach allen Richtungen ausgeübten Reiz für sie eine äußerst glückliche, die Eltern beschwichtigende Schutzwehr; sie bedurfte, wie von jeher, auch jetzt keiner Ueberwachung, konnte ruhig sich selbst anheimgegeben werden. Immer stärker war die Ausprägung des vollständigsten äußeren Gegensatzes zwischen ihr und Germar vorgeschritten; die bei aller Gesundheit blasse Farbe ihres länglich-schmalen Gesichtes gab diesem etwas wie aus Alabaster Gemeißeltes, doch lebensvoll durch den strahlenwerfenden Blick und nächtig umdunkelt von fast bläulichschwarzem, schwerem und trotzdem auch duftig die Stirn überflockendem Haar. Der Knabe dagegen oder vielmehr der junge Mensch, denn er war zur Prima des Gymnasiums vorgerückt, trug mit rundlichem, hellblondem Kopf und blaßblauen Augen ein wenig Fades zur Schau. Lang und mager aufgeschossen, über seine Kraft hinaus, hatte er von Kindheitstagen her in seiner Haltung und Bewegung das Hölzerne bewahrt, mit dem sich indes zugleich auch etwas Schlaffes verband, ebenso war das Träumerische in seinen Zügen geblieben. Auf den ersten Blick erkannte man, daß die beiden keine leiblichen Geschwister sein könnten, doch sie waren gewöhnt, sich ganz als solche anzusehen, und ihrem Vater lag es dringend am Herzen, Germar einzuprägen, daß seine Schwester ihm völlig gleichberechtigt sei. Lautenschläger war nicht unbedenklich erkrankt gewesen und hatte während seines Daniederliegens mehrfach ausgesprochen und nachdrücklich betont, Inna habe, als seine gesetzliche anerkannte Tochter, im Falle seines Todes genau den gleichen Anspruch auf seine Hinterlassenschaft, wie ihr Bruder; so stehe es auch in dem von ihm abgefaßten, beim Notar deponierten Testament noch ausdrücklich bekräftigt. Er trachtete offenbar vor allem danach, die Zukunft des Mädchens, das er wie seine Frau oft merkbar vor dem eigenen Sohn bevorzugte, unumstößlich sicher zu stellen, das veranlaßte ihn, dem letzteren gegenüber öfter die Einschärfung des gleichen Anrechts Innas zu wiederholen.

Wenn er dies übrigens aus einer heimlichen Besorgnis tat, Germar könne vielleicht später einmal das Testament anfechten, so lag zu solchem der Natur Lautenschlägers sonst vollständig fremden, nur durch übergroße Liebe für seine Tochter wachgerufenen Mißtrauen nicht die leiseste Begründung vor; jeder klar Sehende hätte dies täglich als zweifellos erkannt. Wie als Knabe, war der werdende junge Mann ganz von Bewunderung und Hingabe für die Schwester erfüllt, stand eigensuchts- und willenlos wie von kleinauf unter ihrer Herrschaft. Er tat nicht allein, was sie ihn tun hieß, sondern was er ihr an den Augen abzusehen vermochte; unverkennbar bildete sie für ihn noch weit mehr als früher etwas Höheres, vor dem er sich als nichtsbedeutend und als selbstverständlich empfand, daß er dagegen auch von den Eltern geringer geschätzt werden müsse. Nur hielt er sich seit längerer Zeit körperlich von ihr ferner, widerstand dem Drang, den er als Knabe gehegt, den Arm um ihren Nacken zu legen; etwas Schüchternes, fast scheu zu Nennendes war über ihn gekommen, das seine Augen, wenn er sie ansah, mit befangenem Ausdruck rasch an ihr vorbeigehen ließ. So erkennbar ward's, daß sie darüber lachen mußte und einmal, ihren Arm in den seinigen hängend, sagte: »Fürchtest du eigentlich, daß ich dich kneife oder beiße?« Da er als Antwort darauf sich jetzt so benahm, wie sie es in früherer Zeit getan, stumm seinen Arm von ihr losmachte und in der Tat etwas einfältigen Gesichtsausdrucks dastand, ward sie ärgerlich, spottete ihn ziemlich unverhohlen wegen seines linkischen Wesens aus und drehte fortgehend ihm den Rücken. Doch tat's ihr am Abend augenscheinlich leid, ihn so behandelt zu haben, so daß sie's wieder gut zu machen bestrebt war. Die Zimmer der beiden lagen unfern voneinander im oberen Stockwerk, und Inna hatte sich in dem ihrigen bereits zum Schlafengehen ausgekleidet, als ihr der Antrieb kam, auf bloßen Füßen geräuschlos noch zu Germar hinüberzugehen. Er befand sich schon im Bett, und ihm flog ein schreckhafter Ton vom Mund, wie in der leicht vom Sternenlicht angehellten Stube die ungewiß weißlich schimmernde Gestalt auf ihn zukam. Indes erklärend und beruhigend klang ihm freundlich ihre Stimme entgegen: »Hab' nicht Angst, es ist kein Gespenst, ich bin's, deine Schwester.« Sie setzte sich zu ihm auf den Bettrand, faßte nach seiner Hand und fuhr fort: »Wenn du auch nicht wirklich mein Bruder bist, bin ich doch deine Schwester, die heute nachmittag häßlich mit dir war und dich auslachte. Ich konnt' nicht schlafen, eh' Du's mir verziehen hast und nicht bös mehr bist. Es ist ja dunkel, daß du nichts von mir siehst, darum kam ich so herüber, dir noch gute Nacht zu sagen. Schlaf' gut und träume schön!« Sie bückte sich über, ihn nach den letzten Worten kurz auf die Stirn zu küssen, dann begab sie sich zur Tür zurück, unhörbaren Ganges, nur ein leis knackender Ton ihrer Fußgelenke kam noch aus dem über sie fallenden Dunkel. Germar horchte auf, das ließ vernehmen, sie sei wirklich und leibhaftig dagewesen, ihm war's sonst, als müsse er bereits geträumt haben. Mit so weichem Klang hatte sie noch nie zu ihm gesprochen und auch noch niemals ihn mit ihren Lippen berührt; er war sehr glücklich, daß sie gefühlt, sie habe ihm am Nachmittag weh getan, und daß es ihr nicht Ruhe gelassen, sie noch einmal kommen gemußt, ihm gute Nacht zu sagen. Aber einschlafen konnte er ziemlich lange noch nicht, obwohl er vorher recht müde gewesen. Sein Bett mußte nicht gut hergerichtet sein, oder er hatte zu lange auf der linken Seite gelegen und Herzklopfen davon bekommen, das auch dann noch nicht vergehen wollte, als er sich auf die rechte umwendete. So blieb er wach liegen und hörte ab und zu etwas im Zimmer, wie das leise Knacken eines bloß auftretenden Fußes. Doch eine Gehör- und Phantasietäuschung war's, draußen vom Flur klang manchmal das Ticken der Wanduhr mit ein paar Pendelschlägen vernehmlicher herüber.

*

Um einige Zeit später, als der Sommer seine Höhe überschritten, stellte sich bei Frau Lautenschläger eine Unpäßlichkeit ein, die, anfänglich leicht, sich doch länger hinzog, so allmählich eine Schwächung verursachte und sie nötigte, das Bett zu hüten. Es hatte sehr anhaltend stark geregnet, unfern vom Hause eine muldenartige Bodeneinsenkung zur Sumpfniederung verwandelt, und die Gegend war von alters etwas malariaverdächtig; dem maß der Arzt die hartnäckige Fortdauer des Zustandes bei, verschrieb täglich Chinindosen und ordnete hauptsächlich eine zweckdienliche Diät an. Sichtlich offenbarte die Einwirkung einer Schädlichkeit sich gleichfalls, wenn auch in anderer Weise, an Germar, in dessen Augen öfter ein fieberhafter Glanz aufflackerte; seine gesunde Farbe nahm ab, er ward hohlgesichtig, und zuweilen durchlief ihm ein Zittern die Glieder. Auch ein geistiges Niedergedrücktsein gesellte sich hinzu, sein Aussehen sprach von Schlaflosigkeit, wortlos ging und saß er, fuhr schreckhaft zusammen, wenn er angeredet wurde; daß an ihm ebenfalls etwas zehre, ihn leiblich und gemütlich herunter bringe, konnte nicht Zweifel leiden, nur trat die Malaria bei ihm in anderer Form, als bei seiner Mutter, auf. Diese aber empfand jetzt in vollstem Maße den Segen, der ihr durch den Besitz einer Tochter zuteil geworden. Eben erst sechzehnjährig, führte Inna musterhaft den Hausstand, gab sich unermüdlich der Pflege der Bettlägerigen hin, der sie mit eigener Hand jede Speise nach der ärztlichen Vorschrift zubereitete. Das alles tat sie in ihrer ruhig bedachtsamen, stets von kaltblütiger Ueberlegung zeugenden Art, tröstete die Mutter mit der zuversichtlichen Erwartung eines baldigen Besserwerdens und ermahnte den Bruder zum besten Mittel gegen den Angriff aus seine Kraft, ordentlich zu essen und zu trinken; sein Zustand bedurfte nach ihrer Meinung hauptsächlich eines kräftigen Weins, der am vorteilhaftesten während der Nachtruhe wirkte. So holte sie allabendlich als Letztes auch eine Flasche für ihn aus dem Keller, die sie in sein Zimmer brachte, und neben ihm am Bett sitzend achtgab, daß er ausreichend davon trinke. Er stotterte wohl, ob sie wirklich glaube, daß es gut für ihn sei, aber in allem ihrem Geheiß untertan, nahm er gehorchend auch das Glas aus ihrer Hand und leerte es, so oft sie's ihm reichte. Die beabsichtigte Wirkung blieb auch nicht aus, sein blasses Gesicht färbte sich rot, und sein ganzes Wesen belebte sich. Er verlor das Stumme, Bedrückte und Schreckhafte des Tages, sprach hastig und zu schnellen Atemzügen die Brust erhebend, mit ihr. Bevor sie fortging, ordnete ihre Hand noch mit schwesterlicher Sorglichkeit seine Kissen und seine Decke, daß er sich nicht erkälte; danach bückte sie sich über ihn und gab ihm einen Kuß zur Belohnung für seine Folgsamkeit, die ihn bald wiederherstellen werde. Wenn sie sich so auf ihn neigte, wobei aus ihrem in der Eilfertigkeit nicht ganz festgeschlossenen Nachtkleide meistens ein rosiger Schimmer hervordrang, ging ihm ein Rütteln durch den Körper, zeigte an, das Fieber trotze dennoch dem Heilmittel, sei keineswegs herabgemindert, und das nämliche verrieten seine heißglühenden Lippen, während die ihrigen sich bei dem Abschiedskuß völlig gesund-kühl, beinahe kalt anfühlten. Und der nächste Morgen ergab deutlich stets das nur Scheinbare der kurzen Besserung; im Gegenteil wies eine noch erhöhte leibliche und geistige Abspannung des Jünglings, sein manchmal wie halbirrer Blick eher noch auf eine angesteigerte Verschlimmerung, eine Zunahme des in ihn hineingeratenen Giftstoffes hin.

Inna blieb, von diesem verschont, in unangefochtener Gesundheit und ebenso ihr Vater, wenigstens mehrere Wochen lang. Eines Nachmittags jedoch meldeten sich auch bei ihm Anzeichen einer Störung; ihn überkam ein leichter Schwindelanfall, der sich mit einem Trockenheitsgefühl im Munde und starkem Durst verband. Der grad' zu seinem täglichen Besuch eintreffende Arzt konnte indes darin keine Symptome einer Malariainfektion sehen, betrachtete bei der Untersuchung auch die Augen des neuen Patienten, die eine ungewöhnliche Erweiterung der Pupillen zeigten, und fragte, ob vielleicht Beerenfrüchte auf den Mittagtisch gekommen seien. Das bestätigte sich und ließ ihn nachfügen, wahrscheinlich habe sich durch unglücklichen Zufall darunter eine Belladonnabeere befunden, die gerade auf den Teller Lautenschlägers geraten und die Erscheinung hervorgerufen; doch sei jedenfalls die Quantität des Giftes eine zu geringe gewesen, um mehr als eine rasch vorübergehende Unpäßlichkeit zu veranlassen. Die Erklärung ward durch das vielfache Vorhandensein von Tollkirschen im Garten sehr glaubhaft gemacht, und Inna äußerte, über die Unzuverlässigkeit der Magd höchst entrüstet, dazu, sie habe, von der Pflege der Mutter in Anspruch genommen, leider die Früchte nicht vorher besichtigen können. Der Arzt fand die kranke Frau entschieden zum Bessern vorschreitend, so daß er eine günstige Aussicht eröffnete, und auch seine Vorhersage in betreff des Hausherrn bewährte sich. Die Vergiftungsmerkmale schwanden bis zum Abend wieder fort, ohne eine üble Folge zu hinterlassen.

Am andern Morgen, dem eines Sonntags, wollte Lautenschläger einen Auftrag an Germar erteilen, allein dieser war im Haus und Garten nicht zu finden und stellte sich auch am Frühstückstisch nicht ein. Da er nicht zur Schule fort sein konnte, war sein Ausbleiben, jeder Gewohnheit zuwider, nicht recht begreiflich, und der Vater fragte im Hause, ob jemand ihn früh ausgehen gesehen. Doch nur eine der Mägde konnte darauf erwidern, sie habe, da sie schon sehr zeitig aufgestanden gewesen, im ersten Morgengrauen die Schlafzimmertür des Fräulein Inna leise knarren gehört und meine, gleich danach den jungen Herrn halb angekleidet eilig über den Flur nach, seiner Stube huschend gewahrt zu haben. Die Befragte hatte ein Weilchen mit der Antwort gezögert, die sie dann niedergeschlagenen Blickes mit einem eigentümlich verhaltenen Gesichtsausdruck gegeben; weiter wußte sie nichts, oder vielmehr es schien, als wolle sie nichts weiter äußern. Der Hörer entgegnete kurz, sie habe sich jedenfalls getäuscht; Germar hatte zu der nächtlichen Seit sicherlich den Schlaf seiner, von der Tagesanstrengung ruhebedürftigen Schwester nicht gestört, nach der ihr Vater jetzt suchte, um sie zu befragen, ob sie wisse, wohin ihr Bruder fortgegangen sei. In diesem Augenblick kam eine andere Magd bleich herbeigelaufen, sie sei behutsam, um die Frau Doktor nicht zu wecken, in ihr Schlafzimmer gegangen, habe indes grade aus zu großer Vorsicht etwas geräuschvoll fallen lassen, von welchem Lärm jedoch die Kranke nicht wach geworden, sondern so sonderbar still und unbeweglich daliege. Eilig begab Lautenschläger sich in die Stube und fand seine Frau atem- und leblos, schon völlig erkaltet im Bett. In der Nacht mußte sie von einer Herzlähmung betroffen sein; auf eine solche plötzliche Möglichkeit bei ihrer Schwäche hatte der Arzt früher einmal hingedeutet. Am Bett befand sich ein Glas, das einen Nachttrunk enthalten, der ausgeleert worden war, nur ein leiser aromatischer Geruch, dem von Sellerie ähnlich, kam noch daraus herauf.

Der so jählings Verwitwete stand von dem Schlage wie erstarrt. Dann stürzte er die Treppe zu den Zimmern seiner Kinder hinan, vergessend, daß Germar nicht zu Hause sei, riß er die Stube desselben auf; sie war leer, nur auf dem Tisch lag ein weißes Stück Papier, ein Kuvert, das mit Bleistift die Aufschrift trug: »An meinen Vater.« Sinnverworren griff Lautenschläger nach dem Umschlag, drin ein Blatt steckte, auf dem kaum lesbar mit zitternd-fliegender Hand geschrieben stand:

»Lieber Vater – lebet wohl, lieber Vater, liebe Mutter. Ihr seht mich nie wieder – ich habe mich heute Nacht so furchtbar vergangen, daß ich Euch nicht mehr vor Augen kommen kann. Es ist ein Verbrechen, welches Ihr mir nie verzeihen könntet und ich selbst mir auch nicht. Aber ich wäre wahnsinnig geworden und war zum Wahnsinn gekommen. Nun bleibt mir nichts anderes, als zu sterben. Niemand als ich hat Schuld daran und niemand wird mich finden. Wär's nur erst vorüber, die Marter, die Reue in mir ist zu entsetzlich. – O wäre sie nicht so ahnungslos gewesen, nicht so oft zu mir gekommen. Ich kann nicht mehr – vergebt Eurem unglücklichen Sohn, der seine Schandtat mit dem Leben büßen muß und will.«

Schrift und Inhalt des Blattes sprachen von fast bewußtlosem Tun des Schreibers, es fiel Lautenschläger aus der Hand, der beim Lesen auf einen Stuhl niedergesunken war, saß und vor sich hinstarrte. Die Denkfähigkeit in seinem Kopf war ausgelöscht, kreisend drehten die Wände sich um ihn herum, und ihm war's, als lege sich, oder als liege mit einem dichten Gewebe über seinen Augen eine Blindheit, die zu durchreißen er nicht die Macht habe. Und doch lebte das einzige, was er noch empfand, ein dumpfes Gefühl in ihm, er müsse es – müsse es –

Da war er aufgestanden, über den Flur gegangen und stand in dem gleichfalls leeren Zimmer seiner Tochter. Sein Blick ging irr drin umher, er wußte nicht, was ihn hergeführt, was er wollte. Doch dann blieben seine Augen auf einem kleinen Schrank haften, konnten sich nicht mehr davon losmachen. Er trat darauf zu, das Schränkchen war abgeschlossen, und mechanisch rüttelte er mit der Hand daran. Plötzlich hob er diese zu einem hartdröhnenden Faustschlag und sprengte die zerbrochene Tür auf. Aus Fächern sahen ihm allerhand Besitztümer Innas entgegen, in Schachteln und Kästchen bewahrt, die er hervornahm, öffnete, den Inhalt anblickte und zu Boden fallen ließ. Das tat er wie ein bewußtlos handelnder Nachtwandler: dann durchfuhr ihm einmal, wie wenn ein solcher jäh zum Aufwachen kam, den ganzen Körper ein stoßhafter Ruck. Fast als Letztes hatte er einen kleinen Behälter herausgezogen, und unter Watte flimmerte am Grund ein schmaler, für Kinderhand bestimmter Ring mit einem roten Steinchen. Aus einem tieferen Fach aber zog ein aromatischer Selleriegeruch gleich dem aus dem Glase drunten im Sterbezimmer herauf, nur weit stärker; seine Finger tasteten dorthin in die dunkle Höhlung und brachten einen dicken, rübenförmigen, mit eigentümlichen weißen Fasern bedeckten Wurzelstock zum Vorschein, der dicht an die Nase geführt, fast betäubend wirkte. Trotzdem biß er hastig mit den Zähnen hinein; ein scharfer bitterer Geschmack ätzte die Zunge und ließ dem pflanzenkundigen keinen Zweifel, es sei eine Wurzel des Wasserschierlings, des gefährlichsten aller Giftkräuter, das durch seinen Genuß, wenn nicht schleunigst Gegenmittel angewandt wurden, unfehlbar Hirnbetäubung und durch Herzlähmung den Tod herbeiführte.

Plötzlich ging eine seltsame Veränderung in den Augen Friedrich Lautenschlägers vor. Es war, als sei etwas von ihnen heruntergefallen, was sie mit Blindheit überdeckt gehalten; zwischen unbeweglich starr aufgerissenen Lidern richteten sie sich grell wie in eine ferne Weite hinaus. So stand er regungslos, leichenweißen Gesichts, wie wenn Herzschlag und Blut in ihm stockte. Minutenlang unveränderlich, nur die geisterhaften Augensterne starrten auf etwas Unsichtbares hin.

Dann verließ er die Stube, stieg die Treppe wieder hinunter und trat in sein Zimmer, wo er die Hand mit kurzem Zugriff in eine Ecke nach der Wand streckte und durch die Tür zurück zum Hause hinausging. In seinem Tun, Gang und Haltung lag etwas Automatenhaftes, als bewege nicht er selbst sich, sondern werde von einer fremden Kraft fortbewegt; aber alles an ihm hatte eine unwankbare, wie eherne Festigkeit, und immer suchten die weit offenen, wie zu reglosen Steinen gewordenen Augen mit der gleichen grellen Sehschärfe vor sich hinaus.

So durchschritt er den Garten bis zum äußersten Rand hin, breite und schmale Wege, und nun hielt er den Fuß an. Eine Buschwand umbiegend, gewahrte er etwa zwanzig Schritte entfernt Inna vor sich, sie stand an einem Belladonnastrauch und hielt eine Anzahl abgepflückter schwarzer Beeren in der Hand. Sichtlich hatte ihr Ohr seinen Fußtritt vernommen, denn ihr Kopf richtete sich auf und blickte ihm entgegen. Sie sah, daß er etwas trug und an sein Gesicht emporhob, etwas metallisch in der Sonne Glitzerndes. Aber sie regte kein Glied, nur ihre Augensterne funkelten in die seinigen, doch nicht blauleuchtend wie eine Genziane, sondern mit schwarzem Glanz, den Tollkirschen in ihrer Hand gleich, und von ihren Lippen kam nur ein leis fauchender Ton, wie der einer Giftschlange. Unverkennbar baute sie auf den bestrickenden Zauber, der von ihr ausging, ein feiner Zug eines satanischen triumphierenden Hohnes umspielte ihren Mund. Aber die sechzehn Jahre lang blind gewesenen Augen ihres Vaters waren sehend geworden und wider jedes Blendwerk gefeit. Eine Sekunde noch, und ein kurzer scharfer Knall erschütterte die Luft. Er war ein sicherer Schütze und mußte sie grad' ins Herz getroffen haben, denn sie schlug lautlos um, auf den Tollkirschenstrauch zurück und zerbrach ihn im Fall. Kurz wandte Friedrich Lautenschläger sich, ging festen Schrittes zur Stadt und zeigte dem Gericht an, er habe soeben vorsätzlich seine Adoptivtochter erschossen.

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