Ina Jens
Das Geheimnis der Götter
Ina Jens

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Ein Schulkamerad

Meine Eltern waren Deutschchilenen und führten ein kleines Hotel in einem hübschen Badeorte am Meer. Unser Haus stand auf einem Hügel und bot eine wunderbare Aussicht auf die unermessliche, weithin schimmernde Fläche des Stillen Ozeans und auf den Strand.

Dieser Strand war im Norden sandig und flach und eignete sich vorzüglich zum Baden. Im Süden aber bildete er eine Viertelstunde weit und ungefähr zweihundert Meter ins Meer hinein ein einziges Klippenfeld. Grosse und kleine Felsblöcke, riesige Platten, Spalten, schroffe Wände und bis zehn Meter hohe Felsspitzen reihten sich in bunter Abwechslung aneinander. Weit draussen aber, gleichsam als Abschluss dieser Gesteinsmassen, erhob sich ein einzelner Felskopf wie ein mächtiger Turm aus der dort ewig brandenden Flut.

Dieser Fels barg auf der dem Meere abgewandten Seite eine Höhle, in der man wie in einer Stube herumgehen konnte und trefflich gegen Wind und Wetter geschützt war. Wir Knaben verweilten in ihr manchen lieben Nachmittag und nannten sie phantasievoll »Das Piratenloch«.

An windstillen, klaren Tagen und wenn Ebbe war, lagen die Klippen und Felsplatten vollständig trocken und sonnendurchwärmt da und boten den vielen Kindern des Badeortes einen einzigartigen und anziehenden Spielplatz. Sobald aber Flut eintrat, oder der Nordwind das Meer aufwühlte, verschwanden die Felsen bis auf das Piratenloch tief unter dem Wasser.

Wo die Klippen aufhörten und wieder flacher Strand war, lag ein kleines Fischerdorf, das etwa fünfzehn armselige Hütten zählte, und in dessen Mitte ein einfaches Gasthaus stand, das sich sehr poetisch »Flor de Arauco« nannte.

Zwischen diesem Fischerdorfe und dem Badeorte befand sich auf einer Anhöhe ein langes, niedriges Haus mit sechs grossen Fenstern nach der Meeresseite zu. In diesem Hause war die Schule für die Kinder der Umgegend. Sie wurde von ungefähr vierzig Schülern besucht, die in vier Klassen verteilt waren und von einem einzigen Lehrer unterrichtet wurden.

Roberto Moreno war ein junger, freundlicher Chilene, bei dem die Kinder zwar nicht allzu viel lernten, der sie aber ausgezeichnet für die Geschichte des Landes zu begeistern wusste. 22

Da meine beiden älteren Brüder bereits aus dem Hause und in Stellung waren, wollten meine Eltern mich als den einzigen nicht so früh in die Stadt auf die Schule schicken, und so kam es, dass ich, obwohl schon zwölf Jahre alt, immer noch in diese kleine Volksschule ging.

Wir waren elf Knaben in der letzten Abteilung, fast alles Kinder unbemittelter, einfacher Leute und boten als Schüler derselben Klasse ein höchst seltsames Bild. Fünf standen in meinem Alter, drei überragten den Lehrer schon um Haupteslänge. Sie trugen lange Hosen und rauchten in den Pausen wie Erwachsene. Vier waren erst zehn Jahre alt, leicht im Auffassen und Lernen, aber im Vergleich mit den andern doch noch Kinder.

Moreno hatte einen nicht zu unterschätzenden, guten Einfluss auf die Knaben aller Jahrgänge, und wir liebten ihn insgesamt. An den freien Nachmittagen spielte er mit uns auf den Wiesen hinter den Hügeln Fussball oder gab uns Unterricht in allerlei Handfertigkeiten.

Eines Morgens hatten wir in der letzten Stunde Geschichte. Moreno war ein leidenschaftlicher Patriot, und die historischen Ereignisse aus Chiles Vergangenheit gewannen durch seinen Vortrag Leben und Feuer.

Wir hatten damals in der spanischen Stunde gerade ein Gedicht gelernt, das von dem markantesten Helden der chilenischen Eingeborenen, von dem indianischen Häuptling Caupolican handelte. Der Inhalt stellte jene eigentümliche Kraftprobe dar, durch die einst Caupolican sich zum Führer über viele mächtige Kaziken emporgeschwungen hatte, und Moreno vervollständigte das Gedicht schwungvoll und beredt.

Wir folgten seinem Vortrage mit ungeteilter Aufmerksamkeit. Die Fenster standen weit offen, und das Donnern des Meeres drang machtvoll zu uns herein, aber es störte uns nicht, im Gegenteil, es passte zu dem Heldenliede, dem wir lauschten. Caupolican stand scharf umrissen und als eindrucksvolle Persönlichkeit vor unseren Seelen.

An der Wand hinter dem Lehrer hing ein Bild von dem grossen Helden, sicher nicht so wie er in Wirklichkeit war, aber von einem chilenischen Künstler wunderbar richtig erfasst und so dargestellt, wie er heute in der gesamten chilenischen Jugend weiterlebt: Ein Bild gebändigter Kraft, die aber keine Schranken kennt, wenn es gilt, die Heimaterde zu verteidigen, kühn und furchtlos in der Gefahr und Körperqualen mit antiker Seelengrösse ertragend: Caupolican, der Indianer, auf die krumme Keule gestützt und den wilden Blick in die Ferne gerichtet.

Als wir am nächsten Tag in die Schule kamen, war dieses Bild sinnreich und lieblich geschmückt. Auf beiden Seiten des Rahmens hingen wie Blutstropfen feuerfarbene Copihues herunter, deren Ranken sich unter dem Bilde in einem Zweig vom Canelo, dem heiligen Baume der Indianer, vereinigten. 23

Moreno besah sich lächelnd die stumme Huldigung und fand sie, wie er sich lobend ausdrückte, schön und künstlerisch. Die seltsame Bekränzung des Bildes wechselte in den folgenden acht Tagen noch zweimal. Wer aber der glühende Verehrer des Helden war, erfuhren wir nicht.

Eines Morgens jedoch war das Bild plötzlich verschwunden, und an seiner Stelle hing ein anderes, ein viel grösseres und schöneres, das aber nicht Caupolican sondern den chilenischen Nationalhelden Arturo Prat darstellte.

Der Lehrer bemerkte den Wechsel sofort und forschte nach dem Täter, aber einer blickte unschuldiger drein als der andere, und jeder beteuerte, das Bild nicht vertauscht zu haben.

Moreno hielt darauf eine eindringliche Rede. Er sagte, er könne es sich zwar gut vorstellen, warum das Bild des araukanischen Helden verschwunden sei, aber wenn der Betreffende auch dafür ein anderes, vielleicht wertvolleres hergegeben habe, so komme die Tat doch einem Diebstahl gleich. Er fordere darum den Missetäter auf, sich bei ihm zu melden, damit nicht eine peinliche Untersuchung vorgenommen werden müsse, die vielleicht unnötigerweise eine harte Strafe zur Folge haben würde.

Wir waren an diesem Tage in den Pausen still und gedrückt. Es war kein einziger unter uns, dem wir die Handlung weder im Guten noch im Bösen zugetraut hätten, auch keiner, der sich durch ein Wort oder durch sein Benehmen verdächtig machte. Und doch musste es einer von uns sein! Wir waren wirklich bestürzt und ratlos, umsomehr als ein paar Tage später das Bild von Caupolican wieder wie sonst, aber ohne den schönen Blumenschmuck an der Wand hing.

Auch der Lehrer stutzte, blickte dann ernst von einem zum andern, trat ans Fenster und sah eine ganze Weile aufs Meer hinaus. Dann setzte er den Unterricht fort, als ob nichts geschehen wäre und erwähnte die Angelegenheit nie mehr.

Angeregt durch die Geschichtsstunden waren wir in jenen Tagen in eine Art kriegerische Stimmung geraten und besprachen eifrig, wie wir den Kampf zwischen den Indianern und den Spaniern selbst darstellen könnten.

Wir beschlossen, uns in zwei gleich grosse Parteien zu teilen und bestimmten als Kampfplatz die Schluchten in den Wäldern hinter den Wiesen. Jede Partei sollte sich eine Festung bauen und einen Führer wählen.

An einem Sonnabendnachmittage zogen wir los. Wir waren zwar mit Beilen und Messern reichlich versehen, sprachen auf dem Wege aber äusserst friedlich von den bevorstehenden Schlachten, die wir liefern wollten. Das einzige, was wir voreinander geheimhielten, waren die Orte, wo wir uns zu verschanzen gedachten.

Im Walde trennten wir uns. Es war nicht schwer, einen geeigneten Platz für eine Festung zu finden. Höhlen und Buschwerk, Abgründe, Verstecke und Schleichwege gab es genug. Wir verschanzten uns an einem Abhang im dichtesten Gestrüpp, von wo aus wir das ganze Revier 24 übersehen konnten, die Halde zu unseren Füssen, den Pfad, der sich durch die Schlucht wand, und jenseits den mit Büschen bestandenen Hügelrücken.

Wir bauten eine feste Mauer aus Felsblöcken und Astwerk und schoben als Kanonenrohre die stacheligen Säulen von Kakteen dazwischen, die überall auf den Höhen wuchsen.

Nach einigen Stunden fanden wir uns auf einen verabredeten Pfiff hin an einer Quelle wieder zusammen, wo wir lagerten, unsere mitgebrachten Essvorräte, Brot und Bananen, verzehrten und sehr wichtig über die Kämpfe sprachen, die wir gegeneinander führen wollten.

Wir waren im ganzen zwölf Knaben. Darunter war einer, der ein wenig andere Wege ging als wir. Er hiess Carlos. Wir nannten ihn aber abgekürzt Cato. Er war das einzige Kind des Ehepaares Pereda, dem das Gasthaus »Flor de Arauco« im Fischerdorf gehörte. Der Vater war Chilene, die Mutter aber stammte von einer araukanischen Familie aus dem Süden. Infolgedessen kreiste in dem Knaben auch indianisches Blut.

Cato war vierzehn Jahre alt, mittelgross, untersetzt und breitschultrig Sein Gesicht war bis auf die grossen, dunklen, etwas melancholischen Augen unschön, ausdruckslos und immer gleichmässig ernst.

Cato lachte selten und sprach wenig, aber er war ein guter Kamerad, zuverlässig und treu. In der Schule gehörte er nicht zu den guten Schülern, aber sein ganzes Wesen und Verhalten machte ihn zu einem Knaben, den ein Lehrer nicht übersieht, sondern ernst nimmt und achtet.

Als wir nun in der Stille des Waldes so gemütlich beisammen sassen und auch über die grossen indianischen Häuptlinge Lautaro, Galvarino und Caupolican sprachen, sagte Cato plötzlich: »Wenn ich gross bin, werde ich genau wie Caupolican sein.«

Es klang seltsam, wie der Abschluss langer Überlegungen oder wie ein Versprechen, und daher kam es wohl auch, dass wir alle ein paar Sekunden den Worten nachlauschten.

Dann aber sprang der, den wir als Führer der Spanier gewählt und dem wir den Namen Pedro de Valdivia gegeben hatten, auf und höhnte: »Du armseliges Indianerblut! Mit wem willst du denn Krieg führen? Und wer soll dich pfählen, wie sie es mit Caupolican getan haben, wenn doch kein Feind im Lande ist?«

Cato sah den Spötter an und erwiderte ernst und ruhig: »Ich denke nicht daran, Krieg zu führen und habe auch keine Lust, gepfählt zu werden. Ich werde aber doch wie Caupolican sein, denn ich werde wie Caupolican nie Angst in Gefahren haben.«

Der andere meinte darauf zwar nicht mehr so höhnisch, aber immerhin mit versteckter Bosheit: »So kann jeder sein, wenn er zu dumm ist, Gefahren zu erkennen.«

Cato antwortete überlegen: »Ich kann eine Gefahr schon erkennen. Dazu braucht es nur offene Augen und gar keine Klugheit. Wenn zum Beispiel bei einem furchtbaren Sturm ein Boot auf hoher See am 25 Untergehen ist und die Fischer hinausfahren, um es zu retten, geraten sie in Gefahr, selbst zu ertrinken. Das sieht jedes Kind. Ich würde aber trotzdem ohne jede Angst mit ihnen hinausfahren. Du kannst es mir wirklich glauben, ich fürchte mich nie in der Gefahr.«

So viel hatte Cato noch nie hintereinander gesprochen, und wir waren ihm plötzlich innerlich eigen zugetan und glaubten an das, was er gesagt hatte.

Sogar der überhebende »Pedro de Valdivia« liess seinen Spott und sagte einlenkend und scherzend, indem er aufstand und sich tief vor Cato verneigte: »Also Cato! Von heute ab bist du nicht mehr Cato Pereda, sondern der grosse Häuptling Caupolican, der Führer von fünf ebenso unerschrockenen Indianern wie du und stehst mit mir in offener Feindschaft. Gott helfe dir, dass du nicht gepfählt wirst wie dein mächtiger Vorfahre!«

Wir klatschten und lachten und waren freudig einverstanden, dass Cato unser Häuptling sein sollte, und wir nannten ihn von da an nur noch Caupolican.

In den folgenden Tagen kämpften wir heiss. Spanier und Indianer wurden abwechselnd als Gefangene durch die Schlucht hinüber und herüber geschleppt, und an Beulen am Kopf und an Schrammen im Gesicht fehlte es nicht.

Einmal erbot sich Cato, den Kampf ganz allein gegen alle übrigen zu führen. Wir lernten dabei seine Kräfte und seine erstaunliche Geschicklichkeit im Abwehren so handgreiflich kennen, dass er mächtig an Ansehen und Achtung bei uns gewann.

Nach solchen aufregenden Schlägereien trafen wir aber immer wieder in bestem Frieden bei der Quelle zusammen, wo wir stets den Rest des Nachmittages verbrachten.

Da geschah es, dass wir eines Tages länger als sonst in der geheimnisvollen Wildnis geblieben waren. Wir plauderten und hatten nicht bemerkt, dass die Sonne längst untergegangen war und dass die Schatten der Dämmerung bereits durch die einsame Schlucht krochen.

Plötzlich hörten wir ein seltsames Geräusch. Es war, wie wenn jemand an der jenseitigen Halde durchs Gebüsch streifte. Wir horchten ein paar Augenblicke, aber nichts regte sich. Ringsum war es still wie zuvor. Da schwatzten wir weiter.

Auf einmal aber stiess einer der Knaben einen dumpfen Laut aus und zeigte auf den gegenüberliegenden Hang. Wir folgten seinem Blick und erschraken zu Tode.

Dort schlich zwischen den Büschen ein grosser Puma daher, ganz ohne jede Hast, so, als ob er von einem Raubzug in seine Höhle zurückkehrte. Grosser Gott! Die meisten von uns waren Kinder, mit deren Hilfe man nicht rechnen konnte. Und wir? Wir waren vollständig wehrlos. Nicht einmal Knüppel hatten wir, denn die lagen alle oben in den Festungen.

Immer weiter herunter kam das Tier. Wenn es auf dem Pfad in der 26 Schlucht war, konnte es uns mit zwei Sprüngen erreichen. »Rührt euch nicht!« warnte einer mit gedämpfter Stimme, worauf ein anderer zitternd flüsterte: »Der riecht uns . . .«

»Katzen riechen nicht so leicht . . .«, gab ein dritter ebenso leise zurück. Dann sprachen wir kein Wort mehr und sassen wie versteint da, während uns die Angst das Blut siedend heiss in den Kopf jagte.

Jetzt war der Löwe auf dem Weg in der Schlucht angelangt und sah sich um. Die Entfernung zwischen ihm und uns betrug nicht mehr als vierzig Schritte.

Cato schnellte auf. Er hatte einen grossen Stein in der Hand und sagte, das Gesicht dem Tiere zugewandt: »Verhaltet euch ruhig! Entweder schlage ich den Puma tot oder jage ihn davon.«

»Bleib hier!«, schrie einer entsetzt, aber Cato rannte mit erhobenem Arm auf den Löwen zu, der ihn jetzt erst zu bemerken schien. Er stutzte sekundenlang und war dann mit ein paar gewaltigen Sätzen auf und davon.

Erregt sprangen wir auf und riefen Cato. Der kehrte ruhig zurück und sagte verächtlich: »Was für Feiglinge sind doch diese Tiere!«

»Mensch, sei froh, dass er Reissaus genommen hat!«, erwiderte ich.

Cato sah mich an und erklärte: »Wenn ein Puma nicht Hunger hat, ist er nie gefährlich.«

»Du konntest aber doch nicht wissen, ob der hungrig oder satt war.« 27

»Nein, das nicht«, antwortete er. »Ich hätte ihn aber auf jeden Fall umgebracht«, setzte er grimmig hinzu.

Nein! Dieser Cato! Er war wirklich so etwas wie ein zweiter Caupolican, schoss es mir durch den Kopf, und auch die übrigen mussten Ähnliches denken; denn sie sprachen auf dem ganzen Heimweg, den wir nun fluchtartig antraten, ganz eigentümlich mit ihm. Sie lobten ihn laut und behaupteten, nicht einmal ein Mann hätte solchen Mut gehabt.

Cato machte sich aus diesen Reden aber nicht das geringste. Er sagte nur einmal so nebenbei: »Ich habe euch doch gesagt, dass ich in der Gefahr nie Angst fühle.«

Nach dieser unheimlichen Begegnung im Walde war uns die Lust, Indianer und Spanier zu spielen, vergangen, und wir wandten uns wieder dem Piratenloche zu.

Es war an einem Nachmittage kurz vor Ostern, als wir uns entschlossen, die Höhle aufzusuchen. Wir versahen uns mit Brot und Melonen, mit Holz und Messern; denn wir wollten Pfeile schnitzen.

Der Tag war trübe und nebelverhangen. Der Horizont schien eigentümlich nahe gerückt, und das Meer kräuselte sich in lauter kleinen, schmutzigen Wellen. Die Brandung aber war schwach und die Luft unbewegt.

Wir liessen uns in der Höhle häuslich nieder und entfachten als echte Seeräuber ein grosses Feuer. Dann setzten wir uns rund herum und begannen zu schnitzen und zu plaudern und vergassen die ganze Welt.

Hinter uns schlugen die Wellen an die Felsen, und wir fühlten uns äusserst gemütlich und geborgen. Vor der Höhle klaffte eine tiefe Spalte, aus der senkrecht eine Felswand aufstieg und in uns die Vorstellung erweckte, als seien wir mutterseelenallein auf einer weltfernen Insel.

Stunden mochten vergangen sein, als wir plötzlich erschrocken auffuhren. Eine riesige Welle schlug mit Brausen in die Spalte vor der Höhle, eine zweite folgte fast unmittelbar, und als wir hinaussprangen, tobte bereits der Sturm ringsum. Die Nebelwolken jagten mit Windeseile über die entfesselte Wasserfläche daher. Das Meer wogte und wallte weit über die Klippen hin, und die Wogen zerschlugen so gewaltig an dem Felsen hinter uns, dass der Gischt hoch über ihn hinweg spritzte. Ein einziger Blick auf das tobende Element überzeugte uns, dass uns von allen Seiten Tod und Verderben drohte.

Das Land schwimmend zu erreichen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Wir kletterten an den Felsen empor, klammerten uns oben zwischen den Zacken fest und begannen verzweifelt um Hilfe zu rufen. Aber kein Mensch war weit und breit und der Strand vor dem Fischerdorf wie ausgestorben.

Wir waren nicht mehr als fünf Knaben, darunter auch Cato. Aufrecht, die Hände in den Hosentaschen, stand er auf dem höchsten Punkt des Felsens und sah vollkommen ruhig auf das stürmische Meer hinaus. 28

Die Flut stieg zusehends. Der Wind heulte, und wir weinten und schrien wie Irrsinnige in das Tosen hinein.

Plötzlich zog Cato seine Jacke aus und sagte: »Ich werde hinüberschwimmen und Hilfe holen.«

»Cato! Nein! Nein! Um Gotteswillen nicht! Cato! Du versinkst!« Wir schrien es in wahnsinniger Angst. Wir wollten uns auf ihn stürzen, ihn zurückhalten . . . es war zu spät!

Der Knabe schoss wie ein Pfeil von der Höhe des Felsens in die rauschenden und brausenden Wasser hinunter.

»Cato!!!« Ein wilder Aufschrei von uns folgte ihm. Unsere Augen starrten entsetzt in die Tiefe . . . Der Knabe arbeitete wie verzweifelt. Seine Arme holten weit aus . . . Einen Augenblick war sein Gesicht uns zugekehrt . . . Dann kam eine Riesenwoge daher, schlug über ihn weg, donnerte zum Strande und rauschte gewaltig wieder zurück . . . Cato war verschwunden . . .

Ein namenloses Grauen überfiel uns, aber da sahen wir plötzlich, wie drüben auf der einsamen Strasse ein Auto hielt. Ein Mann sprang heraus und machte uns lebhafte Zeichen mit den Armen.

Lieber Gott! Vielleicht wurden wir doch noch gerettet!! Wir winkten und schrien. Das Auto fuhr ins Dorf hinein, und in wenigen Minuten waren Männer am Strande, die ein Boot in die Flut stiessen und zu uns herüberfuhren. 29

Nur mit grosser Mühe gelang es ihnen, uns von dem Felsen herunterzuholen und ans Land zu bringen. Die Nachricht von dem schrecklichen Ereignis mit Cato alarmierte sofort das ganze Dorf, und in wenigen Minuten standen viele Männer und Frauen am Strande. Ungeachtet des furchtbaren Sturmes fuhren die Fischer ohne Zögern wieder hinaus, um den Knaben zu suchen, und alle meinten, sie würden ihn bestimmt finden, denn so schnell verschwinde und ertrinke keiner da draussen.

Meine Freunde und ich aber wurden von dem Herrn, der uns zuerst in der Gefahr gesehen hatte, im Auto nach Hause gebracht. Als meine Eltern hörten, was vorgefallen war, erschraken sie zu Tode. Ich musste sofort ins Bett und wurde wie ein Schwerkranker behandelt.

Ich befand mich ja auch durch die ausgestandene Angst und durch das kalte Wasserbad in einem bejammernswerten Zustande und war kaum imstande, in zusammenhängenden Sätzen zu sprechen. Andauernd rief ich nach Cato und weinte so bitterlich, bis ich darüber einschlief.

Als ich aufwachte, war es Nacht. Das Licht brannte im Zimmer, und die Mutter sass an meinem Bett.

»Haben sie den Cato gefunden?« stiess ich in jäh aufsteigendem Schrecken hervor, und alles stand in furchtbarer Deutlichkeit vor meiner Seele.

»Ich weiss es nicht, mein Kind. Wir wohnen ja nicht so nahe, dass wir es im ersten Augenblick erfahren können«, antwortete sie beruhigend. 30

Da barg ich mein Gesicht in den Kissen und weinte und bat: »Oh, Mutter, Mutter! Jemand soll hingehen und fragen! Bitte, bitte, ich muss es doch wissen . . . Ich kann nicht die ganze Nacht warten.«

Auf dieses schreckliche Jammern hin ging die Mutter hinaus, und als sie zurückkam, sagte sie ruhig: »Der Vater ist selbst hingefahren.«

Ich wartete und wartete, schlief ein wenig ein und wachte wieder auf. Da war es schon weit nach Mitternacht. »Mutter!« schrie ich. Eine grenzenlose Angst schnürte mir die Brust zusammen: »Mutter, ist der Vater noch nicht zurück? . . . Und warum sagst du mir nichts!!«

Sie sah mich an, und da jammerte ich auf: »Oh, ich weiss alles! Sie haben ihn nicht gefunden! . . . Nicht wahr? . . . Oh, Cato! . . . Cato! . . . Armer Cato! . . .«

Ich weinte jetzt still in die Decke hinein. Da nahm die Mutter meine Hand in ihre und sagte: »Wenn der liebe Gott den Cato wirklich zu sich genommen hat, so weiss er warum, und wir dürfen uns nicht gegen sein Tun so kindisch aufbäumen. Du musst dir vorstellen, dass, wenn das Traurige geschehen ist, dein Freund längst alles überstanden hat und keine Leiden und keine Schmerzen mehr kennt. Denke an ihn ruhig und wie an einen guten und tapferen Kameraden und versuche, ein wenig so zu werden wie er . . . gefasst und still . . . auch wenn es stürmt.«

Die Nacht verging, und der Morgen kam. Der Sturm hatte sich gelegt, und das Meer lag friedlich in blau schimmerndem Glanze da. Ich stand am Fenster und sah sinnend auf die trügerischen Wasser hinaus.

Da trat die Mutter zu mir und erzählte traurig: »Heute früh haben sie Cato gefunden. Er war in der Spalte vor der Höhle eingeklemmt. Die Wucht der Wellen hat ihn dort hineingeschleudert, und man darf annehmen, dass er gar nicht gelitten hat. Der Schlag gegen den Felsen hat ihn augenblicklich betäubt.«

Ich lauschte den Worten und verstand, dass sie ein Trost in diesem furchtbaren Unglück sein sollten, aber ich empfand ihn nicht. Meine junge Seele wusste im Augenblicke nur eines: »Cato, mein Freund, war gestorben, elend gestorben, weil er uns hatte retten wollen.«

»Wann wird er begraben?«, fragte ich nach einer Weile, und die Mutter meinte: »Wahrscheinlich schon heute nachmittag.«

»Nicht wahr, Mutter, ich darf auch zum Begräbnis?«, fragte ich, und die Tränen stiegen mir wieder in die Augen.

Da sagte sie: »Nein, ich möchte es nicht. Du darfst mich aber ein wenig später zu Peredas begleiten. Wir bringen ihnen einen Kranz, und dann kannst du Deinen Freund noch einmal sehen.«

Ich wandte mich ab und sagte nichts mehr. Eine Stunde nachher fuhren wir im Auto in das Dorf. Überall herrschte Totenstille. Es war, als trauerten alle um den verunglückten Knaben. Wo ein Gesicht erschien, verschwand es sofort wieder.

In dem Garten vor Peredas Haus blühten die roten Geranien. Wir schritten zwischen der leuchtenden Pracht dahin. Alles war wie ausgestorben. Nur eine alte Frau kam daher und führte uns in das Totenzimmer. 31

Es war Catos Schlafstube, die ich von früher her gut kannte. Aber wie verändert war alles! In der Mitte lag Cato zwischen vielen Blumen aufgebahrt, das Gesicht mit einem weissen Tuche zugedeckt, und die Gestalt grösser als ich sie in der Erinnerung hatte. Ihm zur Seite sass ganz in Schwarz gehüllt die Mutter. Ihr Kopf lag auf der Brust des Knaben, und ihr rechter Arm umschlang seinen Körper. Ein grenzenloses Weh sprach aus der Haltung der Frau.

Meine Mutter trat leise neben sie und legte die Hand auf ihre Schulter, aber sie rührte sich nicht. Nur ein schwaches Stöhnen antwortete . . . weiter nichts.

Verlegen und beklommen stand ich da, hielt den Kranz in den Händen und wusste nicht, was damit anfangen.

Plötzlich aber war meine Aufmerksamkeit durch einen kleinen Gegenstand im Zimmer abgelenkt, und seltsame Gedanken und Verbindungen stiegen in meinem Herzen auf. Auf dem Bücherbrett an der Wand sah ich die wunderhübsche Bronzestatue von Caupolican, und mir war es auf einmal, als ob in diesem Raume niemand anderes sein dürfte als der Tote und die eindrucksvolle Statue dort oben, die den Helden jenes Stammes darstellte, dessen seelische und körperliche Eigenschaften so eigenartig tief in diesem Knaben vereinigt gewesen waren.

Die Mutter machte mir ein stummes Zeichen. Da legte ich meinen Kranz aus Zypressen und roten Copihues ein wenig unbeholfen zu Catos Füssen nieder, verrichtete still ein kurzes Gebet und schlich hinaus.

Dann kehrte ich allein und zu Fuss nach Hause zurück. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich den Tod so nahe gefühlt und 32 gesehen hatte, und deshalb war der Eindruck auch so übermächtig gross und nachhaltig.

Ein paar Tage nach diesem traurigen Ereignis war Moreno bei uns eingeladen, und wir sassen zusammen in unserer Wohnstube. Draussen rauschte und brauste wie immer die Brandung des Meeres, und wir sprachen nur von Cato. Ich musste alles noch einmal erzählen, von dem kleinen Erlebnis oben im Walde an bis zu dem grossen Unglück bei der Piratenhöhle. Auch der Lehrer erinnerte sich an besondere Begebenheiten aus dem Leben des Jungen, und da erfuhr ich, dass es damals Cato gewesen war, der das Bild von Caupolican mit dem von Arturo Prat vertauscht hatte. Auf Morenos Rede hin aber hatte er es wieder an die Schulwand gehängt und nachher dem Lehrer alles gestanden und ihm um Verzeihung gebeten. Daraufhin hatte Moreno ihm die Bronzestatue geschenkt.

Nachdem der Lehrer dieses erzählt hatte, fügte er nachdenklich hinzu: »Merkwürdig ist es doch, wie der Geist wirklich grosser Männer durch die Jahrhunderte in einem Volke weiterlebt, und wie er plötzlich eines Tages in dieser oder jener Form wieder Gestalt annimmt, sei es im Zusammenschluss grosser Massen, sei es in einzelnen Männern, die Führer werden . . . oder auch nur in empfänglichen Knabenseelen.« Ich wurde still und bewegt und hätte Moreno am liebsten die Hand gedrückt, denn ich fühlte mit inniger Dankbarkeit, dass er mit diesen Worten den grossen Caupolican und meinen Kameraden, den kleinen, tapferen Cato in eine Reihe stellte.

 


 


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