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XII.
Rückkehr und Abschied.

In den ersten Tagen des Septembers im Jahre 1852 saßen Beata und ich nach vollbrachter Tagesarbeit traulich bei einander in unserm Stübchen. Die kleine Cornelia – jetzt schon zwölf Jahre alt – hatte ihre Schularbeiten gemacht und schlief nun seit einer Stunde den sorglosen Kinderschlaf.

Beata hatte in die Zeitung geblickt und nach den angekommenen Schiffen gesehen; dann sagte sie: »Jetzt kann ich bald wieder einen Brief von Robert erwarten. In seinem letzten Briefe fragte er mich, ob es mir lieb sein würde, wenn er wieder hierher zurückkehrte. Mit Gottes Hilfe sei er ein anderer Mensch geworden, das dürfe er von sich bekennen; aber hier laste noch sein Ruf von ehedem auf ihm, und deshalb werde er nicht ohne meinen ausdrücklichen Wunsch zurückkehren. Ein paar Mal habe er daran gedacht, mich zu bitten, mit Cornelia zu ihm nach Amerika zu kommen; aber bei ruhiger Überlegung könne er diesen Wunsch doch nicht aussprechen, denn er wisse, daß ich mich in den dortigen Verhältnissen nicht werde glücklich fühlen können; habe doch auch er ein lebhaftes Heimweh nach Europa nie zu überwinden vermocht. Ich schrieb ihm darauf, daß es meine einzige Lebenshoffnung sei, noch einmal wieder mit ihm vereint zu werden. Da sein Ruf in Gottes Namen jetzt hergestellt sei, so werde derselbe in den Augen der Menschen auch bald ein besserer werden; daraufhin solle er seine Rückkehr nur wagen. Ich bin nun doppelt gespannt auf seinen nächsten Brief. Ich glaube, Cornelia, er kehrt bald hierher zurück.«

Ich wollte antworten, da ließen sich feste Schritte auf unserer Treppe vernehmen. Wir horchten. Es klopfte an unsere Tür, und ehe wir »herein« rufen konnten, ward dieselbe schon geöffnet. Ein unbekannter Mann trat ein. Wir waren beide aufgestanden und sahen den Fremden erwartungsvoll an, denn ein fremder Mann in dieser späten Abendstunde in unserm kleinen Stübchen war eine noch nicht dagewesene Erscheinung. Das Gesicht des Fremden war gebräunt, und sein dunkles Haupthaar, sowie sein dichter Vollbart spielten beide schon stark ins Graue. Der Fremde öffnete den Mund und schien uns anreden zu wollen, aber die Stimme versagte ihm. Beata, welche indessen nahe an ihn herangetreten war und ihn scharf anblickte, rief Plötzlich: »Robert!« und lag in seinen Armen.

Ja, es war Doktor Rinnstein, der, wie ich später erfuhr, nach Empfang von Beatas letztem Briefe rasch entschlossen seine dortigen Verbindlichkeiten gelöst hatte und statt eines Briefes selbst gekommen war. Ich ging unbemerkt in meine Kammer, um das erste Wiedersehen der Ehegatten nicht zu stören. Als ich etwa nach einer Stunde wieder ins Zimmer trat, saßen beide Hand in Hand im Sofa, und ihre Augen strahlten von dem reinsten irdischen Glück. Es war mir, als sähe ich über ihnen den Himmel offen und die heiligen Engel Gottes voll Lust auf dies Bild irdischen Glücks hernieder schauen.

Wir saßen bis tief in die Nacht hinein, dann trennte sich Doktor Rinnstein von uns, um in ein nahe gelegenes Gasthaus, in welchem er schon Quartier genommen, zurückzukehren. In unserer kleinen Behausung war kein Raum für ihn.

Als ich vor dem Einschlafen diesen ereignisreichen Tag noch einmal überblickte, mußte ich des Traumes gedenken, den ich in der ersten Nacht hier gehabt. Ja, jetzt war das Ende der Leiter erreicht, wir fühlten wieder festen Grund unter unseren Füßen, die Sonne eines neuen häuslichen Glückes ging für Beata auf, und ich? – Ja, ich mußte den Platz, den ich elf Jahre hindurch eingenommen hatte, räumen. Ich mußte sinken; wo würde ich wieder eine Stätte finden?

Als Cornelia am andern Morgen hörte, der Papa sei über Nacht unerwartet aus Amerika gekommen, war sie anfangs sprachlos vor Überraschung, dann aber fiel sie ihrer Mutter um den Hals und rief: »O, Mama, jetzt wird es schön werden!«

Doktor Rinnstein ließ nicht lange auf sich warten; wir saßen noch beim Kaffee, als er schon wieder ins Zimmer trat. Das Wiedersehen zwischen Vater und Tochter war tief ergreifend; er hielt das aufblühende Mägdelein in seinen Armen und konnte sich an dem lieben Gesichtchen nicht satt sehen.

Darauf wurden Pläne für die Zukunft gemacht; d. h. gemacht hatte Doktor Rinnstein dieselben schon, er legte sie seiner Frau nur zur Genehmigung vor. Das erste, was geschehen mußte, war eine größere Wohnung mieten. »Und dann werde ich versuchen,« fuhr Doktor Rinnstein fort, »ein kleines Speditionsgeschäft zu etablieren, an überseeischen Empfehlungen fehlt es mir nicht, und eine kleine Summe, welche für den Anfang genügen wird, habe ich mir erspart.«

Da holte Beata ihr Sparkassenbuch und legte es ihrem erstaunten Manne vor. »Du brauchst Dich gar nicht zu verwundern, lieber Robert,« sagte sie, »denn es ist das Geld, welches Du nach und nach aus Amerika geschickt hast.«

Beide lachten und weinten vor Freude, und Doktor Rinnstein sagte: »Mit einer solchen Frau kann es mir nicht fehlen!«

Eine passende Wohnung war bald gefunden und wurde von uns schon nach einigen Tagen bezogen. Aus Wunsch ihres Mannes gab Beata ihre Stunden auf. »Mit Gottes Hilfe werde ich jetzt Weib und Kind ernähren können,« sagte Doktor Rinnstein.

Was nun aus mir werden würde, das war die Frage, die sich mir jetzt unabweislich aufdrängte. Zwar bot mir Beatas Mann auf die liebenswürdigste Weise an, bei ihnen zu bleiben, und Beata und Cornelia unterstützten seinen Vorschlag mit ihren Bitten; aber dazu konnte ich mich nicht entschließen, denn ich war jetzt im Hause überflüssig geworden, und zu einem halbmüßigen Dahinleben war ich noch zu jung und kräftig. Die Zeit der Ruhe war noch nicht für mich gekommen. Eigentliche Sorge machte mir meine Zukunft nicht, denn ich wußte sie ja in den besten Händen; der bis dahin Führer und Berater gewesen war, der würde mir auch jetzt den Weg zeigen, den ich wandeln sollte, das wußte ich gewiß. Nichtsdestoweniger verursacht jede Ungewißheit dem menschlichen Herzen ein Unbehagen: und mit diesem unbehaglichen Gefühl nahm ich eines Morgens die Zeitung und durchlas den Annoncenteil derselben. Mein Auge traf auf viele Stellensuchende; eine solche war auch ich. Ich las weiter. Halt, was war das?

»Gesucht auf sogleich ein Mädchen oder eine Witwe gesetzten Alters mit bescheidenen Ansprüchen zur Führung des Haushaltes und Beaufsichtigung der Kinder von Dr. med. Rhabarber in B. im Hannoverschen.«

Das war ja wie eigens für mich hierher gesetzt. Ich schrieb sogleich, und nach wenigen Tagen war die Sache in Ordnung. Nach Doktor Rhabarbers Wunsch sollte ich schon am nächsten Sonnabend die Stelle in seinem Hause antreten. Meine Anstalten waren auch bald getroffen und meine Koffer schnell gepackt. Das Äußere ließ sich schnell besorgen; nicht so leicht ging das innere Loslösen. Ich stand abermals an einem Scheidepunkte in meinem Leben, und Scheiden ist etwas sehr Schweres. Beata und Cornelia waren mir beide fest an das Herz gewachsen, eine Trennung von ihnen mußte daher sehr wehe tun. Zwar wurde ausgemacht, daß ich, wenn irgend möglich, sie mindestens einmal im Jahre besuchen solle, – ich habe sie auch ein paar Mal wiedergesehen und mich ihres Glückes von Herzen mitgefreut, – aber das Bittere der Trennung konnte dadurch nicht hinweggenommen werden.

»Gut, daß es im Himmel keine Trennung mehr gibt!« Dieser Gedanke ist mir bei jedem schmerzlichen Abschied der beste Trost gewesen, und war es auch hier.

Beata und ihr Mann haben noch achtzehn Jahre miteinander ein stilles, häusliches Glück genossen. Das unternommene Geschäft gelang und gewährte ihnen ein hinreichendes, wenn auch bescheidenes Auskommen. Und das genügte ihnen; sie trachteten nicht nach hohen Dingen, denn das Höchste war ihr Ziel. Im Jahre 1870, als die deutschen Heere zum Kriege gegen Frankreich sich rüsteten, durfte Beata eingehen zum ewigen Frieden, ihr Mann folgte ihr zwei Jahre später nach.

Meine liebe Cornelia, seit vierzehn Jahren Frau Doktor Franz Reischau, lebt in einer glücklichen Häuslichkeit, umgeben von einer blühenden Kinderschar. Sie schreibt mir regelmäßig zweimal im Jahre: zu meinem Geburtstage und an ihrem Tauftage. Mehr Zeit zum Schreiben an mich kann sie nicht wohl erübrigen, denn sie ist eine tätige Hausfrau und gewissenhafte Mutter. Es schadet auch nicht, daß wir nicht öfter von einander hören, denn uns umschlingt ein Band der Liebe, dessen beide Enden der Herr Jesus selbst in Seiner Hand hält; das zerreißt also nicht.

Auf ihren Wunsch habe ich meiner Cornelia in meinem Testament das Kruzifix und meine kleine Bildergalerie vermacht. Das Indianerkästchen befindet sich schon lange in ihrem Besitz. Kruzifix und Bilder sind auf das innigste mit dem Leben ihrer Kindheit verwachsen. Die glücklichsten Stunden miteinander haben wir in meiner Kammer verlebt, wenn sie auf meinem Schoße saß und ich ihr aus der heiligen Geschichte, oder alte, nie veraltende Märchen erzählte. Während ihr Ohr meinen Worten lauschte und ihr Geist sich mit dem Gehörten beschäftigte, hafteten ihre Augen unverwandt auf den Schattenrissen vor ihr an der Wand, und die kleinen, schwarzen Gesichter verwoben sich in ihrem Geiste mit in die Geschichten. So war z. B. mein Vater Noah und ließ die Taube aus der Arche fliegen; er war Abraham und redete mit dem Herrn; er war Moses und führte sein Volk aus dem Diensthause Ägypten; ja, er war sogar König David und sang den dreiundzwanzigsten Psalm. In den Märchen wurden ihm nicht minder ehrenvolle Rollen zugeteilt. Das Beten hat meine liebe Cornelia ebenfalls in meiner Kammer vor dem Kruzifix gelernt.

Sollten diese Blätter ihr später vielleicht einmal zu Gesicht kommen, so wird sie mir nicht zürnen, daß ich die Geschichte ihrer Familie zum warnenden Exempel hier mitgeteilt habe, ich weiß es; denn sie hat – und das gleichfalls in meiner Kammer – gelernt, die Dinge dieser Welt im Lichte von Oben zu betrachten.

Herr Benno lebt noch. Er ist viele Jahre ein beliebter und gesuchter Sprachlehrer gewesen und hat sich soviel erübrigt, daß er das Arbeiten ums Brot hat aufgeben und sich wieder in die höhere Gesellschaft seines Olymps zurückziehen können. Seit längerer Zeit schon schreibt er an einem Buche, welches nach Andeutungen von ihm den Kern aller Wissenschaften enthalten wird; doch soll dasselbe erst nach seinem Tode veröffentlicht werden, und seine größte Sorge ist, daß er vor Vollendung dieses viel verheißenden Werkes sterben könnte.

Das Haus Bruno Greifmüller hat eine Geschichte, deren Überschrift sich in die Worte des dreiundsiebenzigsten Psalms fassen läßt: »Es verdroß mich auf die [Ruhmpredigen], da ich sähe, daß es den Gottlosen so wohl ging, denn sie sind in keiner Gefahr des Todes, sondern stehen fest wie ein Palast. Sie sind nicht im Unglück wie andere Leute und werden nicht wie andere Menschen geplaget. Darum muß ihr Trotzen köstlich Ding sein, und ihr Frevel muß wohlgetan heißen. Ich dachte ihm nach, daß ich es begreifen möchte; aber es war mir zu schwer, bis daß ich ging in das Heiligtum Gottes und merkte auf ihr Ende

Gott hat dem Ehepaar drei Kinder geschenkt, zwei Knaben und ein Mädchen; aber aus diesem Geschenk erblühte dem Hause kein Glück. Es war überhaupt in diesem Hause wenig wahres Glück zu finden. Die Entfremdung, welche schon gleich nach der Hochzeit zwischen den Eheleuten eingetreten war, hatte sich im Laufe der Zeit zu einer förmlichen Kluft erweitert, ja, sie war in eine feindliche Stellung zueinander übergegangen. Das Haus war sozusagen in zwei feindliche Heerlager geteilt; auf der einen Seite stand die katholische Mutter mit der gleichfalls katholisch erzogenen Tochter, auf der anderen Seite der religionslose Vater mit den beiden Söhnen, welche in dieser Beziehung ganz in seine Fußstapfen traten. Der Beichtvater der Frau scheint auch nicht bemüht gewesen zu sein, den häuslichen Zwist zu schlichten, vielmehr muß er noch Öl ins Feuer gegossen haben. Als sämtliche Kinder bereits erwachsen waren, verließ Madame Bruno Greifmüller plötzlich heimlich Mann und Kinder und kehrte nach den Rheinlanden zurück, um dort in einem Kloster durch Büßungen und Kasteiungen aller Art »die große Schuld ihres Lebens, einen Ketzer geheiratet zu haben,« zu sühnen. Die Tochter folgte ihr nach kurzer Zeit nach mit Hinterlassung eines Briefes an ihren Vater, worin sie schrieb: »Meine Füße können nicht länger in Sodom stehen, ich muß eilen, meine Seele zu erretten.«

In bezug auf das Fortgehen seiner Frau und Tochter hat Herr Bruno Greifmüller beide Male nur das eine Wort gehabt: »Reisende Leute muß man nicht aufhalten.«

Der älteste Sohn mußte nach dem Willen des Vaters gegen seine Neigung Kaufmann werden. Er hatte für sich große Summen verbraucht und außerdem durch seinen Leichtsinn und seine Gewissenlosigkeit dem Geschäfte vielen Schaden zugefügt. Einst, nach einem heftigen Streite mit dem Vater, tat er einen besonders kühnen Griff in die väterliche Kasse und ging zu Schiff ins Weite; seitdem ist er verschollen.

Der zweite Sohn, der Liebling des Vaters, war Offizier und hat durch seine großartige Verschwendung dem Vater noch größere Summen gekostet, als der ältere. In einem Jahre hatte er einst über hunderttausend Mark Banco durchgebracht. Dies war dem Vater, der bis dahin alle Schulden seines Lieblings bezahlt hatte, doch zu viel gewesen; mit einem fürchterlichen Fluch, den niederzuschreiben meine Feder sich sträubt, hatte er den Sohn enterbt. Von da an sank derselbe rasch von Stufe zu Stufe und starb einige Jahre darauf in einem Armenspital seiner Vaterstadt.

So steht nun Herr Bruno Greifmüller ganz einsam, ein entblätterter Baum auf ödem Gestein. Seit zehn Jahren ist er erblindet. Sein großes, fürstlich eingerichtetes Haus ist unbewohnt; er selbst hat nur ein Zimmer in Benutzung. Seine Dienerschaft veruntreut das Seinige und bestiehlt ihn; er ahnt es, ja, er weiß es, aber ihm fehlen die Mittel, es zu verhindern: er selbst kann nicht sehen, und er hat niemand, der für ihn sehen möchte. So bleibt ihm nur der Schmerz, das mühsam und teuer Erworbene – er hat ja darum das Glück seines Lebens und den Frieden seiner Seele gegeben – nach und nach unter seinen Händen verschwinden zu fühlen. Dieses schmerzliche Bewußtsein verläßt ihn nie, es nagt, vorbildlich des Wurms, der nicht stirbt, unausgesetzt an seinem Leben. In seinem Schlafgemache hat er zwei große Kisten stehen, die sind bis obenhin mit Gold- und Silbermünzen gefüllt. Und abends, wenn der Diener ihn verlassen, steht der blinde Greis wieder von seinem Lager auf, sucht tastend die Truhen und schließt sie auf. Er setzt sich davor, und seine Hände wühlen sich tief in das edle Metall. Er drückt die Goldstücke an seine erblindeten Augen; aber das Gold hat kein Mitleid mit ihm. Es ist hart und kalt und gefühllos; und die verzehrende Glut in seinem Innern, die Gier nach immer größerem Reichtum, kann durch Gold und Silber nicht gelöscht werden. Mitten zwischen seinen Schätzen sehnt sich seine verschmachtende Seele vergebens nach einem Tropfen Erquickung.

So lohnt der Götze Mammon seinen treuesten Dienern! – »Kindlein, hütet Euch vor den Abgöttern!« (1. Joh. 5,21.)


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