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Ricarda Huch

Einleitung des Herausgebers.

In diesem Büchlein findet man die Erzählung einer Dichterin, welche die holde Gabe ihr eigen nennt, phantasievolle Gesichte zu blühendem Leben zu gestalten. Ja, eine Dichterin phantasievollen Lebens spricht hier zu uns, in einer ihrer frühen und graziösesten Erzählungen. Sie hat Größeres, Tieferes, Dunkleres geschrieben, sie ist in ihrem bedeutendsten Buche dem Leben bis an seine Wurzeln nachgegangen und hat die Schleier der letzten Melancholie gezeigt, die über allem Lebendigen weben. Hier aber findet man eine ihrer lieblichen Blüten.

Ricarda Huch ist im Jahre 1867 zu Braunschweig geboren. Sie studierte in der Schweiz, war dort eine der ersten Frauen, die zum Dr. phil. promoviert wurden, und bekleidete darauf in Zürich die Stelle einer Stadtbibliothekarin. Ihre späteren Aufenthaltsorte sind vor allem Triest, Florenz und München.

Mehrere Sterne haben ihr den Weg gewiesen, vor allem Gottfried Keller und die Meister der Romantik. In ihrem Buche »Aus der Triumphgasse« steht sie auf einer eigenen Höhe, die nicht minder erhaben ist als die grünenden Gipfel, auf denen die verehrten Meister stehen.

Sie begann mit einem Drama aus der italienischen Renaissance »Evoe«. Eine Dichtung von der Größe des Schicksals, reich an wundervollen Einzelheiten, aber mit einer ziemlich unwahrscheinlichen und überhäuften Handlung angefüllt, die überdies zerrinnt. Weniger ein Drama, als ein Charakterbild der Zeit in dramatischer Form. Das ganze Fühlen der Epoche ist mit schönem dichterischem Vermögen zum Ausdruck gebracht. Kunstvoll durchbildete Verse, reich an überraschend bildhaften Ausdrücken, gleiten an uns vorüber. Ein schöner Jüngling spricht, bei Nacht dem Hause der Geliebten gegenüber an einer Säule lehnend:

Wie stand ich hier so oft
Im Schatten einer mondbeglänzten Säule
Und sah zu ihrem Fenster sehnlich auf,
Bis es sich auftat und ihr Gutenacht,
Leicht wie ein Rosenblatt und so durchwürzt,
Von ihrem Mund auf meine Lippen fiel.

Es ist ein Wechsel von Vers und Prosa. Klassische Neigungen in der Weise des Ausdrucks sind nicht selten. Wenn das Volk spricht (in Prosa), wird man mehr als einmal an Shakespeare erinnert. Mit Bewußtsein werden Sentenzen geformt. – Es ist das schöne, vornehme, poetisch verklärte Bühnenspiel einer bedeutend angelegten Frau. Kein großes Drama, aber ein großer Akkord, der überrascht durch seine Fülle und durch die edle, sichere Art seines Klanges.

Bald tat sich ein viel größerer Reichtum auf: in dem ersten Roman dieser Frau, dem wundervollen Buch »Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren«. Mit diesem Werke trat die Huch in die erste Reihe der dichtenden Frauen von heute ein. Es ist ein Buch von Schönheit und Tod, das mit Bewunderung erfüllt.

Ludolf Ursleu, der letzte, etwas matte Sproß eines norddeutschen Patrizierstammes, schreibt in der Zelle eines schweizerischen Klosters, in das er sich, müde des Weltgetriebes, zurückgezogen hat, die an Schicksalen reiche Geschichte und den endlichen Untergang seiner Familie nieder. Es ist ein Buch von chronikartigem Charakter, durchströmt von einer Fülle äußeren Geschehens und von einer Flut komplizierter seelischer Bewegungen. Das Leben erscheint in einer feinen, romantischen Art stilisiert. Oft scheint es losgelöst von aller irdischen Schwere und emporgehoben in ein klareres, aber auch kühleres Licht. Die Geschehnisse des Romans kristallisieren sich um ein liebendes Paar herum, das im Mittelpunkt steht: Galeide und Ezard. Eine große, starre, fast überirdische Liebe verknüpft sie; eine verbotene, wahnwitzige Liebe, denn Ezard ist durch die Ehe an eine andere Frau gebunden; eine Liebe voll dunkler Glut, die weder Rücksicht auf die Leiden anderer nimmt, noch ein Schuldbewußtsein in den Gefühlen der Liebenden aufkommen läßt. Und diese allmächtige Liebe bricht, das Schicksal will es, in sich zusammen wie ein morsches Gerüst, und das Mädchen mit ihren verwirrten Gefühlen findet darüber den Tod.

Nicht was den Stoff anlangt, aber in sprachlicher und auch in technischer Hinsicht läßt der Roman erkennen, daß die Dichterin von Gottfried Keller gelernt hat. »Ludolf Ursleu« ist ein selbständiges und höchst persönliches Kunstwerk, aber es führen mancherlei Fäden zu Keller hinüber. Einzelne, in sich abgeschlossene Episoden von novellistischem Reiz schaukeln, gleich belebenden Kähnen, auf dem Strom der Handlung, nicht willkürlich, sondern weise verteilt. Die Dichterin liebt es, behagliche Perioden zusammenzuschweißen, Sätze mit starkem Gefühl für ihren Rhythmus ineinanderzuschachteln, wodurch mitunter eine beinahe wissenschaftlich solide Art der Darstellung erreicht wird. Sie hat eine ganz hervorragende, durch wenige prägnante Worte erzielte Bildlichkeit des Ausdrucks. Etwas Malerisches ist in der Darstellung. Bei Anwendung gewisser Worte ist sie eine Freundin des Diminutivs und sagt gern »Seelchen«, »Vögelchen«, »Herzchen«, »Flämmchen«, »Histörchen«, »Heiligenscheinchen«, »Himmelskrönlein«.

»Ludolf Ursleu« ist technisch vollendet. Die Komposition des Buches ist mit einer unheimlichen Sicherheit bewältigt, und jeder Teil des Ganzen zeigt die gleiche wundersame Gliederung. Keller ist behaglicher und krauser, – die Huch ist starrer und kühler. Sie schreibt auch bewußter, als Keller schrieb. Daher die ungleich stärkere Stilisierung von Mensch und Leben. Die Exaktheit ihrer Darstellung möchte man ehern nennen. Alles Verträumte und Verschwommene fehlt.

Eine Reife ist in dem Buch, eine Fähigkeit, Menschen zu bilden, die man bewundern muß. Die Gestalt der Galeide gehört zu dem Unvergeßlichen, das die Huch gestaltet hat. Ezard ist ein Mann wie ein Gott; in ein ruhiges, goldenes Licht gebadet; begabt mit einer Tatkraft und mit Fähigkeiten, die alles überragen. Dann ist da ein Greis, der Urgroßvater des Ludolf, der unendliches Schicksal sieht und trägt, die verkörperte Lebenskraft: eine rührende Gestalt, von einem Schleier der Wehmut umflossen. Über allem aber stehen zwei unheilvolle Figuren: die Liebe und (über ihr) das Schicksal, mit dunklem Schwert. Sie geben das Leitmotiv, den großen Grundklang dieses goldenen Buches, in dem unendlich viel dichterische Sorgfalt und Liebe beschlossen sind und Wärme des Lebens und alle Tiefen menschlichen Gefühls.

Nach dem »Ludolf Ursleu« gab die Huch einige Sammlungen von Novellen heraus; oder vielmehr von Erzählungen, denn der »Falke«, die Spitze, der novellistische Gipfel, um den sich das andere stufenweise hinlagert, geht diesen Geschichten ab. Es ist auffallend, daß, während die Dichterin im »Ludolf Ursleu« und auch in ihrem zweiten großen Hauptwerk, der »Triumphgasse«, die Komposition so straff und sicher im Zügel zu halten weiß, die kleineren Erzählungen häufig technisch zerflattern und sich auflösen. Die Rundung, die Abgeschlossenheit pflegen hier zu fehlen. Am meisten tritt das in der Erzählung »Der arme Heinrich« hervor, die ganz in zwei Teile auseinanderfällt.

Die Erzählungen, von denen eine der anmutigsten in diesem Büchlein dargeboten wird, stellen eine reizvolle Verquickung von Romantik und Wirklichkeit dar. Es sind die Dichtungen einer oft schalkhaften Phantasie, welche die wirklichen Dinge auf eine schelmische Weise einspinnt – und sich über sie erhebt. Ein reizender Humor macht sich geltend, so in den »Teufeleien« und in unserem »Mondreigen«, zwei Geschichten, in denen sie einer besonderen Vorliebe, nämlich nächtliche Tänze auf mondlichtüberfluteten Wiesen im Bilde vorzuführen, nach Herzenslust Raum gibt. Etwas Märchenhaftes ist in allen diesen Geschichten: immer wieder ranken sich die Rosen der Romantik an den Dingen der Wirklichkeit empor und drohen sie oft gänzlich zu umspinnen.

Mädchen von einer süßen, unbeschreiblichen Anmut wandern durch die Erzählungen hin; Gestalten mit feinen, duftigen Gebärden, mit schelmischem Sinn und einem lieblichen Lachen um den roten Mund, so die Trud in den »Teufeleien«, Liebheideli und Olaja im »Armen Heinrich« und Frau Sälde im »Mondreigen von Schlaraffis«. Auffallend ist schon in allen diesen Geschichten die ungeheure Selbstverständlichkeit alles Geschehenden, die später in der »Triumphgasse« so in den Vordergrund tritt. Gerade die überraschendsten Dinge werden mit einer Ruhe und, fast möchte man sagen, Gleichgültigkeit vorgetragen, die in einem wohlüberlegten Kontrast zu dem Ungewöhnlichen des Dargestellten steht. Ricarda Huch erzählt im »Armen Heinrich«, wie man einem jungen Mädchen, das wir im Laufe der Geschichte liebgewonnen haben, eines Nachts das Herz aus dem Busen schneidet –: sie erzählt es mit einigen kurzen, einfachen Worten, ohne weiteres Aufheben von der Sache, so etwa, als erzähle sie, daß man dem Mädchen ein Paar Rosen in ihr Goldhaar steckt.

Ein Band Gedichte ist von der Huch erschienen, Sachen, die formal vorzüglich durchbildet sind und nicht selten an die Lyrik Konrad Ferdinand Meyers gemahnen: sie haben zumeist eine ähnliche Präzision und Kühle. An Meyer erinnern schon die Überschriften der einzelnen Stücke, man braucht nur das Inhaltsverzeichnis zu durchlaufen; da heißt es »Die Nonne«, »Die Parze«, »Medusa«, »Camoes«, »Ankunft im Hades«, »Phidias«, »Salomo«, »Niobe«, »Die Vestalin«, »Karyatide«, »Apollo und Daphne«, – Themata, die alle auch Meyer hätte behandeln können und zum Teil auch unter den gleichen Titeln wirklich behandelt hat. Die Huch hat mehrfach Terzinen, Oden, Sonette, Distichen gebildet. Keine Form ist ihr fremd.

Das Verlangen, die ganze Fülle des Lebens auszukosten, das Begehren nach bacchantischem, überschäumendem Genuß des Daseins tritt uns aus einer Gruppe dieser Verse entgegen. Die gleiche Melodie, die aus Meyers »Genug ist nicht genug!« emporströmt, klingt auch in Gedichten der Huch, wie »Lebensfülle«, »Alles oder nichts«. In dem Sonett »Lebenswonne« sagt sie zum Dasein: »Denn du bist süß in deinen Bitternissen«, und aus einem ähnlichen Empfinden entsteht ihr das Gedicht »Unersättlich«, das zu ihren schönsten gehört:

Ganz mit Frühling und Sonnenstrahl,
Klang und duftendem Blütenguß
Mein verlangendes Herz einmal
Füll mir, seliger Überfluß!

Gib mir ewiger Jugend Glanz,
Gib mir ewigen Lebens Kraft,
Gib mir im flüchtigen Stundentanz
Ewig wirkende Leidenschaft!

Aus dem Meere des Wissens laß
Satt mich trinken in tiefem Zug!
Gib von Liebe und gib von Haß
Meiner Seele einmal genug.

Gib, daß Tau der Erfüllung mir
In die Schale des Herzens fließt,
Bis sie, selber verschwendend, ihr
Überschäumendes Glück ergießt.

Die Wertung des Schicksals beschäftigt sie. Sie spricht bald von dem fruchtlosen »Kampf mit dem Schicksal«, bald sucht sie es milde zu deuten, wie in »Prädestination«. Hier tut sie, in einem Traumgesicht, an das Schicksal die unmutige Frage:

Was hilft mir dort und hier,
Daß ich gestrebt, gewollt,
Wenn, wie du warfest, nur
Die blinde Kugel rollt?

Wenn, was ich red' und tu',
Und langer Kämpfe Schluß
Von Ewigkeit schon du
Mir zugeteilt als Muß?

Und dann:

»Nicht zwing' ich deine Bahn,«
Sprach die Gestalt darauf,
»Nur, eh' du ihn getan,
Weiß ich schon ihren Lauf.«

Bezeichnend für die Dichterin ist dies: das eigentlich lyrische Empfinden, die vom Gedanklichen losgelöste lyrische Stimmung gelangt in ihren Prosabüchern zu einem ungleich reicheren und intimeren Ausdruck als in den Versen. Der Zwang von Reim-, Vers- und Strophengebäude beeinträchtigt die Ursprünglichkeit ihrer Poetischen Gesichte. Sie findet in der erzählenden Prosa glücklichere und originellere stilistische Wendungen und bedeutendere Bilder. Ein unmittelbarerer Stimmungsgehalt stellt sich ein und eine tiefere Verklärung. In den Versen wird der eigentlich lyrische Schleier von den kunstvoll hingefügten Worten häufig verdeckt.

Gedankliche Betrachtungen zeigen sich gern und mit Vorliebe in Verbindung mit historischen Reminiszenzen. Um über die Unzulänglichkeit alles Irdischen zu philosophieren, läßt sie Peter den Großen an der Küste Britanniens stehen und, über das Meer hinschauend, einen Monolog über dieses Thema sagen, der sich, konzentriert, in die Worte drängt:

Nichts vertan und nichts verschwendet:
Neigung, Arbeit, Zeit und Kraft!
Endlos ist die Wissenschaft,
Und das Leben früh beendet.

Und in ganz ähnlicher Weise läßt sie den greisen Salomo monologisieren, der in Zorn und Mißmut auf die genossenen Freuden des schnell verflogenen Lebens zurückschaut. »Alles ist eitel.« Und:

Das Lied des Lebens könnt' ich schlafend raunen,
Sein ekler Schlußreim heißt: enttäuschter Glaube.
Fern möcht' ich ruhn von Gottes Weltenlaunen,
Staub neben Staube.

Auch Otto III., in Italien dem Tode nahe, hält ein wehmütiges Selbstgespräch, in dem ein Sehnen nach der Heimat zittert. König Saul wird vor uns hingestellt, damit wir den dunkeln Schritt des Schicksals sich an ihm erfüllen sehen. Und um uns auf die Süßigkeit gewisser idealer Güter hinzuweisen – Freiheit, Vaterland, Glauben, Liebe – läßt die Huch den einsamen Spinoza durch die Straßen des Haag hinwandeln und dort im abendlichen Schein der Laterne einen jungen, von seinem Weibe Abschied nehmenden Krieger erblicken, der nun eine Betrachtung über den Wert jener Güter, für die der Brave kämpfen will, in dem Philosophen anregt.

Manches, was die Dichterin stark bewegt, spinnt sie zu kleinen lyrischen Zyklen aus. So legt sie dem im Kerker schmachtenden Dichter Schubart nach Freiheit verlangende Lieder in den Mund. Der Tod, dem die Dichterin mit Vorliebe allerlei bildhafte Gestalten verleiht, huscht in kleinen, prägnanten Strophen vorüber. Die Empfindungen einer Kranken werden festgehalten (»Krankenlieder«). Das Schicksal eines, der mit schwärmerischen Gedanken die höchsten Berge erklimmt, wird in »Verunglückt« lyrisch gestaltet. »Aus dem Dreißigjährigen Krieg« reiht die Dichterin drei kräftige, schön bewegte Bilder aneinander; und unwirtlich winterliche Klänge werden in den sieben »Liedern des Raben« laut.

Die Freude an romantischen nächtlichen Tänzen, die wir aus den »Teufeleien« und dem »Mondreigen« her kennen, kommt in den Versen des entzückenden »Elfenreigen« zu lyrischem Ausdruck; die Sterne und Geister der Nacht drehen sich in anmutigem Tanz, während der Mond die Fiedel spielt. Humoristisches klingt nur leise an, und zwar seltsamerweise immer in Verbindung mit Erscheinungen aus dem Tierreich; so erinnert sich ein alter Salamander an die bedeutungsvollste Episode seines Lebens: als nämlich ein Gelehrter ihn auf feurige Kohlen setzte, um seine Widerstandsfähigkeit gegen die Glut zu prüfen; so hält »die alte Meeresschlange, aus dem feuchten Schlamm sich windend«, einen Monolog, in dem sie auf die letztverflossenen hundert Jahre zurückschaut; so singt ein alter Urwaldaffe ein von Verachtung getränktes Lied auf die verworfene Menschheit.

Zum Schönsten in den Gedichten der Huch gehören für mich jene kleinen, sehnsüchtigen Liebesgedichte, die sich, Arabesken gleich, anmutig durch das ganze Buch hindurchziehen. Eine verhüllte Glut waltet darin. Dabei sind sie von einer wundersamen, herben Keuschheit und Reinheit. Das ganze Bangen und Sehnen der von ihrer Liebe Überwältigten raunt uns daraus entgegen.

Ich hatte soviel dir zu berichten,
Neuigkeiten, allerhand Geschichten;
Aber nun bist du auf einmal so nah
Mit diesem Kinn und diesen Wangen,
Alle Gedanken sind mir vergangen –
Ach Gott, und dein Hals, der weiche, runde,
Nur eine Spanne von meinem Munde,
Den ich so lange, die Lippen zerbeißend, von weitem sah!

Hier, in den Liebesgedichten, gelingen ihr auch ein paar kleine, sicher gefaßte lyrische Perlen von einfacher Schönheit. Eins der bekanntesten Gedichte der Huch, »Sehnsucht«, ist darunter:

Um bei dir zu sein,
Trüg' ich Not und Fährde,
Ließ ich Freund und Haus
Und die Fülle der Erde.

Mich verlangt nach dir,
Wie die Flut nach dem Strande,
Wie die Schwalbe im Herbst
Nach dem südlichen Lande.

Wie den Alpsohn heim,
Wenn er denkt, nachts alleine,
An die Berge voll Schnee
Im Mondenscheine.

Daß die Huch, wie wir sagten, in ihrer erzählenden Prosa gemeinhin eigentümlichere und bedeutendere lyrische Akzente findet als in den Versen, beweist sehr deutlich ihr zweiter Roman »Aus der Triumphgasse«, der acht Jahre nach dem »Ludolf Ursleu« erschien. Dieses über die Maßen schöne Werk ist von einer tiefen, dunkeltönigen Lyrik ganz durchtränkt. »Aus der Triumphgasse« mutet mich an wie ein großes, wehmütiges Gedicht. Es ist ein tiefes Lied vom Dunkel des Lebens und des Todes. Eine mächtige Melodie, in der es schaurig raunt von den dunkeln Rätseln der Zeit und Ewigkeit.

Man kann dieses seltsame Buch allenfalls als einen Roman bezeichnen. Die Dichterin selber setzt als Untertitel »Lebensskizzen«. Schon rein technisch wird uns in dem Werk etwas Ungewohntes geschenkt: wir haben es mit einem Buch zu tun, das sich als ein sonderbares Konglomerat einer ganzen Reihe von kleinen, konzentrierten, geschickt ineinandergeschachtelten Romanen darstellt, die sich alle in der einen, grauen Sphäre des Verbrechens, des Leichtsinns, der Krankheit, der Armut, des Elends abspielen. In diesem Buche geschieht alles Gräßliche, das man sich denken kann, aber es geschieht nicht, eingetaucht in die gewohnte Klangfarbe des Romans, sondern unter dem Gesichtswinkel des Natürlichen, Notwendigen, Irdisch-Selbstverständlichen. Es geschieht ohne die Akzente der Verwunderung, und Kinder werden gemordet, Diebstähle begangen, Menschen verfallen in entsetzliche Krankheiten und Tod, ohne daß es den Lesenden groß erstaunt: so ist die Weise der Darstellung. Das Leben, das ohne Erbarmen ist, hat alle jene Dinge in seiner Gefolgschaft. Eine wunderbare, mit Worten nicht zu beschreibende Ruhe liegt über dem Buch. Nirgends ist Ekstase, nirgends Ereiferung, nirgends Hast oder Geschrei. Alles verrinnt in einem großen, breiten, ruhigen Strom, der das im Tiefsten nicht zu entziffernde Leben ist. Aber ein eigentümlich verklärendes Licht ist um das Dasein und seine Erscheinungen gewoben. Das Buch spielt auf der Erde, und alles Dunkle und Traurige tritt vor uns hin. Aber uns ist, als sähen wir all das Grau in einen satten goldenen Schimmer gebadet, ja zuweilen will uns dünken, als wäre es sehr leicht möglich, daß dieses alles auch in jenem milden Lande geschehen könnte, das man den Himmel heißt.

Die Ereignisse tragen sich in dem hochgelegenen Armenviertel einer Stadt am Meere zu, in der man italienisch spricht und nach Gulden rechnet, in Triest vermutlich. Das Ganze wird von einem Manne vorgetragen, der mit der eigentlichen Handlung nur in eine leise Berührung tritt. Es ist also im Grunde die gleiche Einkleidung wie im »Ludolf Ursleu«. Die Tragik der Dinge tritt nicht unmittelbar vor uns hin, sondern man erzählt uns nur von ihr, wir sehen sie aus einer gewissen Entfernung und deshalb in einem milderen Licht.

Schier unerschöpflich ist die Fülle der Gesichte und Bilder, die vor uns auftaucht. In den Mittelpunkt ist eine ältere Frau, Farfalla, gerückt, in der sich die praktische Philosophie der Armut verkörpert; ein Weib, das alle Bitternisse des Daseins kennt; von einer grauen Resignation; von einem Fühlen, das bald durch seine Dumpfheit überrascht, bald durch sein feines Verstehen; und nicht zuletzt: ein Weib von durchtriebener Schlauheit. Dann ist eine kleine Person zu nennen, die die Huch mit aller Liebe und den Gefühlen ihres teilnahmvollen Herzens verklärt hat: ein junger, leidender Krüppel, der lahme Riccardo, ein Kind jener Farfalla. Ein wundervoller junger Mensch, der seine Leiden trägt und den nahen Tod erwartet, gleich einem kleinen Heiligen. Er betrachtet das Leben mit einem stolzen, verachtenden Blick, und seine Seele hat einen großen Zug. Er vermag es, vom Tode zu sprechen, wie von einer Rose, die man am Busen trägt. – Die anderen Menschen will ich nicht nennen. Es ist eine stattliche Reihe, jeder von ihnen ist bildhaft klar umrissen, jeder ist grundverschieden vom andern und ausgestattet mit einem Reichtum von individuellen Zügen. Man kann nicht anders als staunen über diese Vielseitigkeit an Gestalten, Charakteren und Typen. Alle Geschehnisse werden zu reichen, dichterisch gesehenen Bildern, um die sich verklärende, romantische Schleier ziehen. Denn ein sprudelnder Quell dichterischer, von Phantasie durchwobener Romantik rauscht in jedem Buche dieser Frau, die sich auch theoretisch in zwei wertvollen Essaybänden über das Wesen der historischen Romantik mit weisem Verstehen verbreitet hat. – Unheimliches und tief Geheimnisvolles nimmt uns gefangen. Auch einige sonnige Episoden spielen sich ab, und ein paar Mädchenfiguren voll Liebreiz und holder Anmut wandern wieder durch das Buch. Aber der Grundton ist Düsterkeit.

Dies Werk ist voll von Weisheit und tiefem Verstehen der Gründe des Lebens. Sein Stil ist fabelhaft still, gemessen, vornehm durchbildet, von einer überraschenden Sicherheit des bildlichen Ausdrucks. Es ist ein ganz unerschöpfliches Buch, und nur ein geniales Vermögen hat es mit Aufbietung allen Fleißes und aller Liebe zustande bringen können.

Ein dritter Roman ist ein Jahr nach der »Triumphgasse« erschienen: »Vita somnium breve«. Es ist das äußerlich umfangreichste, zugleich das realste Buch der Dichterin. Ein Werk von geistiger und dichterischer Fülle, aber die Bedeutung des »Ludolf Ursleu« oder der »Triumphgasse« kann es nicht gewinnen. Dazu ist es zu stark reflektierend und stofflich zu wenig konzentriert. Es hat weder die elementare Größe und den volltonigen Einklang des »Ludolf Ursleu«, noch die verklärte Schönheit und den erhabenen Glanz der »Triumphgasse«. Die Rundung, das Insichabgeschlossensein, das notwendige Ineinandergreifen der Geschehnisse, das jene beiden andern Bücher so bedeutsam macht, ist weniger zu verspüren. Dem Roman fehlt der Kernpunkt. Es ist ein reichliches Nebeneinander. Er schildert im großen und ganzen die Schicksale eines Mannes durch die zwanzig wichtigsten Jahre seines Daseins. Er hebt da an, wo der Held des Romans noch nicht allzuviel erlebt hat, und endet da, wo er voraussichtlich nicht mehr allzuviel erleben wird. Ein eigentlicher Schluß ist nicht da, das Buch verrinnt im Alltag. Zum »Ludolf Ursleu« lassen sich vielfach Parallelen ziehen. Das Buch spielt sich in dem gleichen gesellschaftlichen Kreise ab: es handelt sich auch hier um das Schicksal der einzelnen Glieder einer alten Kaufmannsfamilie; hier wie dort geht das Geschäft zugrunde und richtet sich durch die Tatkraft des Helden wieder auf; hier wie dort steht ein verbotenes Liebesverhältnis von einer nach menschlichem Ermessen nicht zu erschütternden Tiefe im Vordergrund – und beidemal nimmt es ein klägliches Ende; den Helden Michael des Romans stellt man sich ungefähr ebenso vor wie den Helden Ezard im »Ludolf Ursleu«. Das sind einige Verbindungslinien. Natürlich gibt es mancherlei, was die Bücher trennt. In »Vita somnium breve« hat die Huch das erstemal die Einkleidung der Geschehnisse in einen Rahmen fallen lassen: alles tritt ohne Vermittelung vor uns hin. Die feine Gliederung des »Ludolf Ursleu« ist zu vermissen: die Anlage des Buches scheint zu breit geraten, es wird zuviel gesprochen und meditiert, und Längen stellen sich ein. Der Roman zerfällt in eine Reihe großer Einzelschönheiten. Von einer wundervollen Ruhe und Gemessenheit ist die Sprache, – hier wie überall. Ungemein plastische Bilder und Gleichnisse von einer ganz seltsamen Schönheit stehen dieser Frau von je in unerschöpflicher Fülle zu Gebote.

Ricarda Huch hat im Lauf der Jahre noch einige andere Romane herausgegeben. »Von den Königen und der Krone« wandert die kühnsten Wege der Romantik. »Die Eroberung Roms« ist der Anfang einer Trilogie, die sich um die Gestalt Garibaldis aufbaut. Ich habe das Gefühl, daß »Ludolf Ursleu« und die »Triumphgasse« immer die wichtigsten Bücher dieser Dichterin bleiben werden.

Was Ricarda Huch geistig umspannt, ist kaum zu begrenzen. Mit allen Verhältnissen des Lebens ist sie vertraut. Sie weiß in den Hütten des Elends ebenso Bescheid wie in den Palästen des Reichtums. Sie versteht die gewaltige Liebesglut zweier Menschen mit der gleichen Sicherheit zu schildern wie den Verlauf einer furchtbaren Krankheit, einen grauenhaften Mord oder die seelische Entfaltung eines Kindes. Ihr schöner, dem realistischen Gebaren abgewendeter Stil läutert die Geschehnisse des Lebens und rückt sie in eine höhere Sphäre. Von hoher Bedeutung sind ihre romantischen Neigungen. Wenn ich das Wesen der Huch in Kürze koloristisch ausdrücken sollte, so würde ich sagen: es ist ein dunkler Goldglanz, auf dem zuweilen das milde Blau des Himmels schimmert. Und landschaftlich: ein ernster Hain dunkler, ragender Zypressen; in ihren Wipfeln spielt das Gold der Abendsonne; zu ihren Füßen blühen viele liebliche Blumen, und aus der Ferne rauscht das Meer.

Hans Bethge.

 


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