Ricarda Huch
Der letzte Sommer
Ricarda Huch

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Lju an Konstantin

Kremskoje, 29. Juni

Lieber Konstantin! Ich habe Frau von Rasimkara gebeten, daß sie mich entlassen möchte. Ich sagte, der Vorfall mit dem Briefe hätte mich davon überzeugt, daß meine Anwesenheit nutzlos wäre. Ich hätte Tag und Nacht darüber nachgedacht, wie es hätte geschehen können, und wäre zu keinem Ergebnis gekommen. Durch das Fenster könnte bei Nacht niemand gekommen sein, dessen wäre ich sicher, ich würde es gehört haben. Die Dienstboten könnte man meiner Ansicht nach nicht verdächtigen, ich hielte sie für unbestechlich treu. Sie unterbrach mich und sagte lebhaft, in diesem Punkte hätte sie keinen Zweifel. 91 Ich sagte, die einzige Möglichkeit wäre, daß ein Dienstbote es in der Hypnose getan hätte. Immerhin wäre es nicht wahrscheinlich. So etwas interessiert sie sehr, und wir sprachen eine Weile darüber. Übrigens, sagte sie, wollte sie die Sache mit dem Briefe ruhen lassen, es käme doch nichts dabei heraus. Eine eigentliche Untersuchung wollte ihr Mann nicht anstellen, er pflegte Drohbriefe immer zu ignorieren und mäße ihnen keine große Bedeutung bei. Bis jetzt hätten die Erfahrungen ihm ja auch recht gegeben. Ich bestritt dies weder, noch bestätigte ich es. Jedenfalls, sagte ich, wäre die Lage so, daß sie meiner nicht mehr bedürfte, sei es nun, weil keine Gefahr vorhanden sei oder weil ich nicht dafür einstehen könnte, daß ich sie abzuwenden imstande wäre.

Sie fragte, wohin ich mich zu wenden und was ich zu tun gedächte. Ich sagte, ich wollte mein Werk vollenden, das läge mir zumeist am Herzen. Wenn ich mich mit meinem Vater aussöhnte, würde ich bis auf weiteres zu Hause bleiben; er hätte mir kürzlich einen entgegenkommenden Brief geschrieben. Sonst würde ich bei einem Freunde Zuflucht finden. Sie sagte, daß sie und ihr Mann mir zu Dank verpflichtet wären und daß ich ihnen gestatten müßte, mir zu Hilfe zu kommen, wenn ich Hilfe brauchte; das würde keine Wohltat, sondern Erstatten einer Schuld sein. Sie war ernst, liebenswürdig, von gewähltester Feinheit. Wenn es mir paßte, sagte sie, wäre ich frei, sofort zu gehen; wenn ich aber über meinen künftigen Aufenthalt noch nicht im klaren wäre, sollte ich 92 bleiben, solange ich möchte. Ich sagte, ich wollte versuchen, ein Verständnis mit meinem Vater zu erzielen, und würde ihr dankbar sein, wenn ich ihre Gastfreundschaft noch etwa vierzehn Tage in Anspruch nehmen dürfte; bis dahin würde sich das entschieden haben. Ich wollte ihre Hand küssen, die sehr schön ist; aber ich dachte plötzlich daran, was ich ihr anzutun willens bin, und unterließ es.

Ich habe den Eindruck, daß meine Mitteilung sie froh gemacht hat, wahrscheinlich Jessikas wegen. Ich glaube sogar, sie denkt, ich hielte es Jessikas wegen für meine Pflicht zu gehen, und hat deswegen ein Gefühl der Dankbarkeit für mich. Lebe wohl!

Lju

 

Jessika an Tatjana

Kremskoje, 29. Juni

Liebste, holdeste Tante! Ich glaube, ich komme bald zu Dir. Die paar Tage, wo Du hier warest, waren so schön! Alle waren heiter und zufrieden durch Deine Gegenwart. Jetzt ist es schrecklich. Lju wird fortgehen, er sagt, er müsse fort, weil es sich gezeigt hätte, daß er überflüssig wäre, und weil Mama ihn nicht mehr brauchte. Zuerst sagte Mama doch, sie hätte noch niemals ein solches Sicherheitsgefühl gehabt wie jetzt, weil Lju da wäre. Aber Papa hatte es niemals gern, und er wird zu Mama gesagt haben, daß er es nun nicht länger möchte. Du weißt ja, daß Papa nicht gern fremde Menschen um sich hat; sogar daß 93 Du hier warest, hat seine Nerven angegriffen. Mama ist gewiß im Grunde sehr unglücklich, daß Lju fortgeht. Und wenn nun Welja und Katja auch noch fortgehen! Papa ist schon beinahe überzeugt, daß es am besten ist, wenn sie in Berlin oder Paris die Universität besuchen. Welja freut sich schrecklich und Katja natürlich auch, ich gönne es ihnen, sie mögen ja so gern reisen. Aber nimm mich dann zu Dir, Tante Tatjana, bis wir wieder in die Stadt ziehen. Es ist mir hier zu traurig so allein, nachdem es im Mai so schön war wie noch nie. Die Stimmung hier ist so erdrückend. Papa und Mama werden ganz einverstanden sein, vielleicht tut es ihnen gut, einmal allein zu sein. Dann kann Papa sich am besten ausruhen, und die Arbeit, die für die beiden zu machen ist, können unsre Dienstboten ja bequem ohne mich ausrichten. Lju weiß noch nicht, wohin er geht. Er sagte mir, wenn er nach Petersburg ginge, würde er Dich besuchen, falls Du es erlaubtest. Er schwärmt oft von Deiner Schönheit und Deinem Geist. Wer täte das nicht? Am meisten

Deine kleine Jessika

 

Welja an Katja

Kremskoje, 1. Juli

Nun, mein süßer Spatz, Deine Schopffedern sind wohl noch zornig gesträubt gegen Deinen Bruder, weil er Dir, wie es seine Pflicht ist, die Wahrheit gesagt hat? Unterdessen arbeitet er für Dein und sein 94 und unser aller Wohl. Seit Papa sich überzeugt hat, daß wir die tiefere Bildung nur erlangen können, wenn wir ein paar Semester im kultivierten Westen studieren, ist seine Laune wieder sehr gestiegen. Er findet es jetzt auch besser, daß wir mit dem mehr äußerlichen Paris beginnen, um später zum gründlichen philosophischen Deutschland fortzuschreiten. Wir sollen bald fort; denn Papa begreift auf einmal, daß alle unsre Unzulänglichkeiten nur davon kommen, daß wir den Einfluß der alten westlichen Kultur noch nicht durchgemacht haben. Du mußt also Dein Studium sofort aufgeben und für unsre Ausrüstung sorgen, das heißt dabeistehen, wenn Tante Tatjana es tut.

Lju geht fort, vielleicht schon vor uns. Ich denke mir, er wird auch nach Paris kommen, wenn wir da sind, obgleich er sich nicht bestimmt darüber ausspricht. Wir fahren oft Automobil zusammen. Ich habe Mama mein Wort geben müssen, ihn möglichst selten mit Jessika allein zu lassen – ganz überflüssig, denn er hat selbst gar keine Lust dazu. Auf Papa nehme ich auch viel Rücksicht, ich spiele nie mehr Wagner, weil ihn das nervös macht. Übrigens geht es ihm wirklich viel besser, außer seiner Scharteke hat er jetzt noch unsre Reise, die ihn angenehm beschäftigt, er gibt mir Anweisungen, welche Züge wir nehmen müssen, in welchen Hotels wir absteigen sollen, und hat dabei fast das Gefühl, er könnte selbst mit. Sei Deinem Bruder dankbar, anstatt zu schmollen, was überhaupt kindisch ist.

Welja 95

 

Welja an Peter

Kremskoje, 1. Juli

Lieber Peter! Das beste wäre, Du gingst mit nach Paris. Meine Mutter wünscht es, weil sie Dich für verständiger hält als uns, denn sie ist auch einverstanden, und mir mußt Du nur versprechen, kein verliebtes Gedusel mit Katja anzufangen. So bist Du ja aber auch nicht; was Du im Innern fühlst, ist mir natürlich einerlei. Wenn Deine Kurse sich durch Deine Abreise auflösen, ist es um so besser. Papa hat noch Schererei genug, er kann einem wirklich leid tun. Mit der Gesinnungsmeierei kann es ja dann wieder losgehen, wenn wir zurückkommen. Ich meinerseits mache sehr gern mal eine Pause. In Paris wirst Du Dich auch noch politisch entwickeln, ich sehe Dich schon als gereiften Robespierre ins heilige Rußland einbrechen.

Unbedingt Dein Welja

 

Lusinja an Katja

Kremskoje, 2. Juli

Mein Herzenskind! Es ist beschlossen, daß Ihr, Du und Welja, nach Paris geht. Du freust Dich, nicht wahr? Ich denke, Ihr werdet vernünftig sein und nicht gar zu viel Geld ausgeben, Ihr seid doch alt genug, um die Verhältnisse zu begreifen und Euch in sie zu schicken. Ihr habt den besten Vater, der sich niemals auf unrechtmäßige oder auch nur unfeine Weise bereichert hat, wie so viele tun, und ich hoffe, Ihr ehrt und liebt ihn deswegen um so mehr und seid 96 stolz auf die verhältnismäßige Beschränktheit unsrer Mittel. Er hat trotzdem immer mit verschwenderischer Güte für Euch gesorgt, mißbraucht es nicht. Das Überschreiten eines gewissen Maßes würde ihm nicht nur Kummer, sondern sehr ernste Widerwärtigkeiten bereiten. Innerhalb dieser Begrenzung, mein Liebling, sollt Ihr Eure Freiheit herzhaft genießen und die Euch gebotenen Mittel, Euch zu ganzen Menschen zu bilden, benutzen.

Ich denke mir, daß Jessika, wenn Lju und Ihr fort sein werdet, zu Tante Tatjana gehen wird. Ihr armes, zärtliches Herz muß noch viel durchmachen, sie wird dort weniger leiden als hier, deshalb lege ich ihr nichts in den Weg. Daß Lju fortgeht, ist ihretwegen notwendig. Seine anregende Art, zu sprechen, die naheliegenden mit entfernten und interessanten Vorstellungen zu verbinden, werde ich vermissen. Er läßt nie ein Wort, das man sagt, fallen, sondern fängt es auf und spinnt daran weiter. Das lieb ich sehr an ihm; am meisten aber, daß er eine Persönlichkeit ist, ein Mensch mit einem intensiven Bewußtsein von allen Dingen und mit einem klaren Willen. Anderseits erleichtert es mein Gemüt, daß er fortgeht, und nicht nur Jessikas wegen. Er hat etwas Fremdartiges und Unergründliches für mich, das mich zuzeiten sehr aufgeregt hat. Er hat einen sonderbaren Blick; vielleicht hat er auch damit solche Macht über Jessika gewonnen. Das Rätselhafte zieht an und ängstigt zugleich. Er gehört nun einmal nicht zu uns, und all sein Sinn für die verschiedenartigsten Menschen 97 kann das nicht überbrücken. Und dann nachtwandelt er; darüber kann ich nicht wegkommen. Nach allen Erregungen dieses Sommers freue ich mich darauf, mit Papa allein zu sein. Wirklich, ich freue mich darauf – macht Euch also keine Gedanken unsertwegen. Ihr werdet uns viele schöne Briefe schreiben, und wir werden Euch im Geiste zur Mona Lisa und zur Place de la Concorde und zu den Springbrunnen von Versailles begleiten. Dabei fällt mir ein, daß wir dazu nicht einmal den Hut aufzusetzen brauchen, daß Ihr aber Reisekleider und sonst noch allerlei haben müßt. Vieles werdet Ihr gewiß geschmackvoller und billiger in Paris besorgen. Wäret Ihr nur praktischer! Kann ich es Euch überlassen? Jedenfalls, eine gewisse kleine Ausrüstung müßt Ihr doch von hier mitnehmen, damit beschäftige Dich jetzt, Du hast ja Tante Tatjana, die beste Ratgeberin, zur Seite. Lebe wohl, mein Herzenskind, schreibe Deinem Vater bald, daß Du Dich auf Paris freust.

Deine Mama

 

Katja an Jegor

Petersburg, 4. Juli

Lieber Papa! Es ist fabelhaft anständig von Dir, daß Du uns nach Paris gehen läßt. Du hast aber auch etwas Gutes davon, indem Du uns loswirst. Peter will vielleicht auch mit, es ist mir ganz recht, denn er ist so praktisch, daß man ihn eigentlich gar nicht entbehren kann. Zum Beispiel ein Automobil 98 heilmachen, weswegen Lju damals eigens in die Stadt fuhr, das kann er selbst und wenn es noch so kompliziert ist. Er ersetzt einem Dienstmann, Schlosser, Tapezierer, Schneider, Koch und sogar Putzmacherin, nur ist sein Geschmack etwas veraltet. Er ist jetzt auch sehr zurückhaltend gegen mich, es scheint mir beinahe, als wäre er nicht mehr verliebt; das ist eigentlich schade, obgleich es mir manchmal lästig war. Für die Reise ist es aber besser so, das sehe ich ein. Und gefällig ist er auch doch noch ebenso wie früher, gestern hat er mir erst ein Buch sehr schön eingebunden und einen Schlüssel gemacht für einen, den ich verloren hatte, was Tante Tatjana nicht erfahren sollte.

Wenn Peter mitgeht, werden wir viel Geld sparen, auch weil er immer aufpaßt. Soll ich noch einmal kommen und Euch adieu sagen? Ich tue es sehr gern, dann müßt Ihr aber Lju vorher wegschicken, ich kann ihn nicht ausstehen, und seine Gegenwart würde mir alles verleiden.

Deine allerkleinste Katja

 

Lusinja an Tatjana

Kremskoje, 5. Juli

Liebste Tatjana! Ich habe die melancholischen Anwandlungen ganz überwunden, das muß ich Dir doch erzählen. Weil es einfach so nicht weiterging, hat sich in mir ein Umschwung vollzogen. Man entdeckt oft platte Wahrheiten, so ist es mir mit dem 99 Sprichwort gegangen, daß Gott dem Mutigen hilft. Zuerst kostete es mich Anstrengung, die Furchtgedanken zu unterdrücken und zuversichtlich in die Zukunft zu sehen, aber nachdem ich dies ein paarmal gemacht hatte, schien mich auf einmal eine unbekannte Kraft zu tragen, und von selbst überströmte mich Heiterkeit. Zum Teil kommt es allerdings auch daher, daß Jegor wieder in guter Stimmung ist, seit er den Entschluß gefaßt hat, die Kinder nach Paris gehen zu lassen. Das ist mir der größte Schmerz, ihn so gedrückt und ohnmächtig traurig zu sehen. Nun freue ich mich ordentlich auf die Zeit, wo wir allein sein werden. Ich glaube, so ganz allein waren wir noch niemals, seit die Kinder auf der Welt sind. Und auf dem Lande, ohne etwas zu tun, in schöner Umgebung! Es muß jetzt alles schnell gehen, sonst ist die Zeit des Urlaubs zu Ende, bevor sie alle fort sind. Jegor freut sich auch darauf, er meint nur immer, ich könnte gar nicht mehr für ihn und in ihm allein leben, weil ich gewohnt wäre, mich für viele und vieles auszugeben, aber im Herzen weiß er genau, daß ich mit ihm allein erst in meinem Elemente sein werde. Wann wird man wohl einmal älter? Bis jetzt bin ich seit meinem zwanzigsten Jahre immer jünger geworden – ich! Meine Haare und meine Haut natürlich nicht.

Liebe Tatjana! Hilfst Du meiner kleinen Katja besorgen, was sie zur Reise braucht? Du hast ja so viel Geschmack und Einsicht. Wenn Dein Peter mitginge nach Paris, das wäre eine große Beruhigung für uns. 100 Obwohl er nur so wenig älter ist als Welja, wäre es mir doch, als wenn ein Mentor mitginge. Ich dachte erst an Lju in diesem Sinne, aber Katjas Abneigung ist ja nicht zu besiegen. Und wenn ich denke, wie sie zuerst für ihn schwärmte! Er war ein Orakel für alle drei Kinder. Da nannte er sie einmal Katinka statt Katja, und aus war es für immer. Ein bißchen verrückt kommen mir meine Kinder zuweilen vor, Gott weiß, woher sie es haben. Natürlich, Tatjana, glaube ich nicht, daß diese Namensirrung der einzige Grund ist. Es wird wohl allerlei zwischen den Kindern vorgefallen sein, Eifersucht und dergleichen. Im Charakter würden ja Lju und Katja ganz gut zusammenpassen, wenigstens eher als Lju und Jessika; aber es pflegen sich nun einmal die Gegensätze anzuziehen. Jedenfalls ist mir die Abneigung, und wenn sie noch so ungerecht wäre, lieber als das Gegenteil. Es ist mir auch viel lieber, wenn Peter mitgeht. Ich weiß, daß Lju die Kinder liebt und versteht, er hat etwas Imponierendes, etwas Gewandtes, und wäre insofern geeignet, ihr Führer zu sein. Aber ich glaube, ich würde zuweilen davon träumen, daß er in somnambulem Zustande in ihr Schlafzimmer ginge und an ihrem Bett stände und sie mit dem rätselhaften Blick, der ihm eigen ist, betrachtete.

Ach, Tatjana, das muß ich Dir doch erzählen! Als ich damals den Drohbrief unter meinem Kopfkissen gefunden hatte, sagte Lju, es könnte auch jemand im Hause getan haben, den ein andrer daraufhin hypnotisiert hätte, so etwas wäre möglich. Da dachte ich an 101 seinen rätselhaften Blick und sein nächtliches Wandern, und es kam mir in den Sinn, er selbst könnte ja von einem fremden, dämonischen Willen besessen sein. Ich wäre damals nicht imstande gewesen, mit jemand darüber zu sprechen oder Dir davon zu schreiben, so grausig war mir die Vorstellung. Jetzt kann ich es ganz ruhig und lache sogar dabei. Neulich erzählte ich es Jegor, der amüsierte sich so darüber, daß ich jetzt immer lachen muß, wenn ich daran denke. Er sagte, je aberwitziger eine Geschichte wäre, desto bereitwilliger glaubte ich sie. Für ganz unmöglich halte ich so etwas aber doch an sich nicht, sonst hätte auch Lju es nicht gesagt.

Du bist also einverstanden, liebe Tatjana, daß Jessika zu Dir kommt? Wenn Peter fortgeht, wärest Du ja sonst allein, und Jessika ist so gern bei Dir. Uns freut es, wenn sie Dir etwas sein kann.

Deine Lusinja

 

Jessika an Katja

Kremskoje, 8. Juli

Liebes Kleines! Werde nicht böse, aber es ist doch sehr häßlich von Dir, daß Du nicht kommen willst, solange Lju hier ist, und ihn dadurch aus dem Hause treibst. Das hat er doch nicht um uns verdient. Ich glaube, Du denkst, er handelte schlecht gegen mich, und das ist doch gar nicht richtig. Er liebt mich, aber er hat mir von Anfang an gesagt, daß er nicht wüßte, ob er mich jemals heiraten könnte, weil er zu stolz ist, und daß ich meinen Gefühlen den Charakter der 102 Freundschaft geben müßte. Das tue ich doch auch, und was ist denn dabei, daß er mein Freund ist? Er ist doch auch Weljas Freund und war auch Deiner, bis Du Dich so abstoßend gegen ihn benahmest. Er kann sich ja so einrichten, daß er den ganzen Tag nicht zu Hause ist, wenn Du hier bist. Für Papa und Mama ist die Geschichte doch auch peinlich, und da Du so viel Schönes vor Dir hast, könntest Du recht gut in solchen Kleinigkeiten ein wenig Rücksicht nehmen.

Bist Du böse, mein Brummerchen, daß ich Dir das sage? Ich predige Dir doch selten Moral, das mußt Du mir zugestehen. Aber Du wirst ja doch tun, was Du willst. Papa und Mama sind jetzt sehr wohl, es ist zu niedlich, wie sie sich auf ihr Alleinsein freuen. Sie sehen manchmal aus wie ein Brautpaar, das bald Hochzeit haben wird, jung und schön und geheimnisvoll beseligt. Ich freue mich, daß gerade Rosenzeit ist; in ein paar Wochen werden alle blühen, dann kann Mama alle Tage ihre Tafel mit Rosen bedecken und sich Rosen ins Haar stecken und alle Vasen vollfüllen.

Jessika

 

Welja an Peter

Kremskoje, 10. Juli

Lieber Peter! Gestern begegnete mir etwas Merkwürdiges. Ich wollte Lju in seinem Zimmer aufsuchen, und da er nicht da war, wartete ich auf ihn. Ich 103 setzte mich an seinen Schreibtisch und blätterte gedankenlos in seiner Schreibmappe, da sah ich einen Zettel, auf den mit einer Handschrift etwas geschrieben war, was mir auffiel. Erst wußte ich gar nicht, warum – dann fiel mir plötzlich ein, daß mit derselben oder einer ganz ähnlichen Handschrift der Drohbrief geschrieben war, den Mama unter ihrem Kopfkissen gefunden hat. Denke Dir, ich habe zum ersten Mal in meinem Leben einen wahnsinnigen Schrecken bekommen, es drehte sich alles um mich. Und dabei weiß ich gar nicht bestimmt, was mich eigentlich so entsetzte; aber meine Hände und meine Schläfen waren in einem Augenblick mit Schweiß bedeckt. Wahrscheinlich machte mein Unbewußtes blitzschnell eine Reihe von Schlüssen, deren Ergebnis der Schrecken war. Ich ging rasch fort und versuchte meine Gedanken zu ordnen; ich schwöre Dir, ich war so bestürzt, daß ich nicht klar denken konnte. Als Lju wieder da war, richtete ich es so ein, daß wir uns in sein Zimmer setzten, ich blätterte in seiner Mappe, spielte mit dem Zettel und sagte so beiläufig, die Handschrift wäre ja der auf dem Drohbrief ganz ähnlich. »Nicht wahr?« sagte Lju vergnügt, »ich glaube auch, daß man sie für dieselbe halten kann. Ich habe versucht, sie aus dem Gedächtnis nachzumachen, damit man eventuell damit auf die Spur des Schreibers kommen könnte; aber dein Vater will ja nicht, daß die Sache verfolgt wird.« Papa hat nämlich den Brief zerrissen, das macht er immer so mit anonymen Zuschriften. Es ist ja 104 unfaßlich, daß mir dies passieren konnte! Ich wußte, daß Lju anfangs mit dem Plan umging, herauszukriegen, wer den Brief geschrieben hat, und wußte auch, daß er sich viel mit Graphologie beschäftigt! Allerdings, sowie ich seine Stimme hörte und ihn sah, kam mir meine Aufregung schon gleich kindisch vor. Am liebsten hätte ich hernach zu Lju gesagt, wie es gewesen ist, aber ich weiß nicht warum, ich brachte es nicht über die Lippen. Er ist vollkommen ahnungslos und freut sich über seinen Erfolg; es ist ja auch eine kolossale Leistung, eine Schrift aus dem Gedächtnis so täuschend nachzuahmen.

Ich erkläre mir meine Dummheit damit, daß die Geschichte mit dem Drohbrief einen doch ein bißchen nervös gemacht hat. Wenn Papa anders wäre, würde man sich, glaube ich, tatsächlich ängstigen; aber er hat eine solche Sicherheit, daß man es für unmöglich hält, ihm könnte etwas zustoßen. Schließlich erlebt man doch auch solche Schauergeschichten nicht in Wirklichkeit, das ist höchstens Reiselektüre. Attentate sind ja allerdings oft vorgekommen. Aber Papa sagt, er wäre im allgemeinen gar nicht so verhaßt, und die Angehörigen der Studenten wären gebildete Leute, unter denen keine Mörder zu suchen wären. Dieser letzte Drohbrief sollte ihn doch nur einschüchtern, das wäre klar, und übrigens könnte man auch plötzlich krank werden und sterben, dem Tode wäre man immer ausgesetzt, man müßte dergleichen nicht beachten. Manchmal frage ich mich, ob die Furchtlosigkeit ein Vorzug oder ein 105 Mangel an Papa ist; vielleicht hat er einfach gar keine Phantasie.

Er ist jetzt ganz besonders gut aufgelegt. Seine Scharteke ist entzweigegangen, und er klütert stundenlang mit Lju daran herum, um herauszukriegen, woran es liegt. Lju betreibt die Sache auch mit Eifer und Ernst, es ist mir nicht klargeworden, ob er es tut, um Papa ein Vergnügen zu machen oder weil es ihn wirklich auch interessiert.

Herrgott, ich will froh sein, wenn wir erst in Paris sind; helfen oder ändern kann ich hier doch nichts. Erzähle Katja nichts von meiner Geschichte mit Lju. Papa sagt, in Deutschland könnte man sehr gut zweiter Klasse fahren. Vater, wie du willst, wenn wir nur überhaupt reisen.

Welja

 

Jessika an Katja

Kremskoje, 14. Juli

Katja, Du sollst auf gar keinen Fall kommen, hörst Du! Wenn Du nur noch nicht fort bist! Denke Dir, gestern ist das Väterchen plötzlich furchtbar krank geworden. Er hatte Krämpfe und wand sich und wurde blau im Gesicht, es war einfach schrecklich. Zuerst sagte Welja, er wäre betrunken, aber das merkte man bald, daß es etwas andres war, und die Mädchen sagten, er hätte die Cholera, und stellten sich unbeschreiblich an, keine wollte bei ihm bleiben. Lju nahm alles in die Hand, er sagte, Cholera könnte es nicht sein, das hätte andre Symptome, es 106 wäre wahrscheinlich ein typhöses Fieber mit irgendwelchen Komplikationen. Er verordnete allerlei und blieb bei Iwan, obgleich Papa und Mama es nicht leiden wollten, weil sie meinten, es könnte ansteckend sein; aber er sagte, erstens glaube er das nicht, und außerdem fürchtete er sich gar nicht davor und wäre deshalb auch nicht empfänglich. Iwan starrte ihn immer ganz erschrocken an, wenn er zu sich kam, ich glaube, er hatte ihn ungern bei sich, aber er wagte es nicht zu sagen. Als der Arzt kam, sagte er, alles, was Lju angeordnet hätte, wäre angemessen, er würde auch nichts andres gemacht haben, und er glaubte auch, daß es Unterleibstyphus wäre. Papa und Mama wollen durchaus nicht, daß Du kommst, wegen der Ansteckung. Wir wären nun einmal da, das wäre nicht zu ändern, Du solltest Dich aber nicht mutwillig der Gefahr aussetzen. Ich finde, sie haben ganz recht, helfen kannst Du doch nicht, und Mama würde sich ängstigen, selbst wenn es mit der Ansteckung gar nicht so schlimm ist. Zunächst kann Iwan noch nicht in die Stadt transportiert werden, weil er zu krank ist. Das arme Väterchen! Welja sagt immer, es wäre zu schade um ihn, der Wein schmeckte ihm so gut, ja, mit Branntwein war er schon glücklich.

Ich sehe Dich nun gewiß auch nicht mehr vor der Reise, mein Glühwürmchen! Aber ich komme nicht dazu, Dich zu vermissen, so viel ist jetzt zu tun!

Deine Jessika 107

 

Lju an Konstantin

Kremskoje, 16. Juli

Lieber Konstantin! Ich habe die Schreibmaschine abgeschickt. Es bleibt also dabei, daß die Explosion durch Druck auf den Buchstaben J zur Entladung kommt. Da wir uns auf einen Buchstaben einigen müssen, soll es der sein, mit dem der Vorname des Gouverneurs beginnt; es ist ausgeschlossen, daß er einen Brief schreibt, ohne ihn zu benutzen. Zunächst liegt nun die Verantwortung auf Dir. Ich bin froh, auf kurze Zeit davon frei zu sein, denn ich fühle mich krank. Es liegt mir ein Fieber in den Knochen, am liebsten würde ich mich zu Bett legen, ich glaube aber, daß ich das Entstehen einer Krankheit am ersten durch Widerstand verhindern kann. Es ist mir schon einmal gelungen. Der Kutscher Iwan hat den Unterleibstyphus in hohem Grade, er ist noch in Lebensgefahr; und weil hier Schrecken und Ratlosigkeit herrschten, denn die Dienstleute meinten, er hätte die Cholera, und ich einigermaßen Bescheid mit solchen Sachen weiß, habe ich mich seiner angenommen. Der Mann mag mich nicht leiden, er empfindet eine unklare Furcht oder Abneigung gegen mich, ich denke mir, er spürt in der Art, wie Tiere das können, die Gefahr, die seinem Herrn von mir droht. Ich habe eine besondere Vorliebe für diese noch halb tierischen, im Unbewußten lebenden Volksnaturen, es war mir eine ordentliche Freude, ihn zu behandeln und zu beobachten. Vielleicht habe ich mich bei der Pflege überanstrengt, da ich ohnehin 108 angegriffen war.

Sollte die Krankheit stärker als ich sein und sollte ich nach Petersburg ins Spital geschafft werden, das wäre sehr schlimm. Denn ich muß durchaus die Maschine selbst in Empfang nehmen und aufstellen. Ich kann aber mit Sicherheit darauf rechnen, daß Herr und Frau von Rasimkara mich im Hause behalten und bei sich verpflegen würden, selbst wenn ich mich sträubte. Vor allen Dingen rechne ich auf meine gesunde Natur und auf die Kraft meines Willens. Mauern einreißen wie Simson kann man wohl nicht mehr, aber seinen Körper aufrecht halten, wenn er einstürzen möchte, wenigstens für eine Weile. Auf alle Fälle erwarte noch ein Zeichen von mir, ehe Du handelst.

Lju

 

Lusinja an Tatjana

Kremskoje, 18. Juli

Liebste Tatjana! Wie sehr schnell wandelt sich doch das Antlitz aller irdischen Dinge, wirklich schneller als der bewölkte Himmel; das ist auch so ein Gemeinplatz, der uns plötzlich wie eine Offenbarung vorkommt, wenn wir seine Wahrheit erleben. Unserm guten alten Iwan scheint es besser gehen zu wollen; wenigstens meint der Arzt, daß, wenn die Krankheit zum Ende führte, schon eine erhebliche Verschlimmerung eingetreten wäre. Du weißt, wie eng wir mit unsern Leuten verbunden sind; andre zu haben wäre für uns geradeso traurig, wie in ein 109 andres Haus zu ziehen. Einen Menschen in Lebensgefahr, gewissermaßen sterben zu sehen ist für mich überhaupt ein schreckliches Leiden; es wird mir dann auf einmal klar, daß dies unser aller Los ist, daß die schwarze Kugel ebensogut mich hätte treffen können und mich morgen vielleicht trifft oder übermorgen vielleicht, daß sie eines Tages mich unabwendbar treffen muß. Dann kann mich eine Angst erfassen, eine Angst, die tausendmal schlimmer als der Tod ist. Ja, an Iwan scheint er diesmal vorübergegangen zu sein. Aber gestern abend mußte sich Lju hinlegen. Er hat doch Iwan so gut gepflegt und sich der Ansteckung ausgesetzt, als ob es etwas Selbstverständliches wäre. Wir bewundern ihn um so mehr, als Iwan ihn niemals hat leiden mögen und kein Hehl daraus gemacht hat. Vorgestern war er schon nicht wie sonst; aber wenn ich ihn fragte, behauptete er, vollständig wohl zu sein. Gestern mittag sah er fieberhaft aus. Jegor, der natürlich nichts merkte, sprach davon, daß er seine Schreibmaschine vermisse, an die er sich so gewöhnt hätte, und daß er hoffe, sie käme bald wieder. Da sagte Lju: »Ach, sagen Sie das nicht! Mir wäre es lieber, wenn sie noch recht lange ausbliebe!« Ich habe mal von einem berühmten Schauspieler gelesen, der sich zuweilen vor der Aufführung berauschte und so haltlos war, daß man für unmöglich hielt, er könnte spielen; wenn er aber auftreten mußte, nahm er sich mit dämonischer Willenskraft zusammen und spielte hinreißend, nur selten ließ diese Kraft etwas nach, so daß sein Zustand 110 zum Durchbruch kam. Weißt Du, daran erinnerte er mich in dem Augenblick; er war immer nahe daran zu phantasieren. Ich stellte ihm eindringlich vor, daß er Fieber hätte und daß er sich hinlegen müßte, er gab es auch zu, behauptete aber, Bewegung wäre für ihn in solchen Fällen das Beste, er wollte einen Ausflug auf dem Rade machen. Es war ihm nicht auszureden, er fuhr fort und kam nach drei Stunden ganz in Schweiß und vollständig erschöpft zurück. Dann hat er sich zu Bett gelegt, ohne etwas zu sich zu nehmen. Heute ist er vollständig ermattet liegengeblieben, aber das Fieber scheint wirklich gebrochen zu sein. Der Arzt, der Iwans wegen kam, sagte, solche Kuren könnten tatsächlich zuweilen glücken, aber er würde sie niemand vorschreiben, es wäre nicht jedermanns Sache. Ein außerordentlicher Mensch ist Lju, er fesselt einen immer wieder aufs neue.

Liebe Tatjana, wenn wir nur erst allein sind! Ich pflege gern Kranke, und es ist mir ordentlich lieb, daß ich etwas für Lju tun kann – es ist nur sehr wenig, eigentlich pflegen kann man ihn gar nicht, er ist ein Mensch, der nur geben kann, zum Empfangen fehlt ihm das Organ – ja, aber ich hatte mich nun einmal auf das Alleinsein mit Jegor gefreut, und alles Unerwartete, was jetzt geschieht, kommt mir wie ein tückisches Hemmnis vor, das sich zwischen uns und die ersehnten Feiertage schiebt. Welja und Jessika wären schon heute zu Dir gekommen, aber sie wollten durchaus nicht abreisen, bevor sich entschieden 111 hätte, ob Lju ernstlich krank würde. Gott sei Dank, daß diese Gefahr vorübergegangen ist – wie würde das in Jessikas weichem Herzen die Liebe gesteigert haben! Iwan wird, sowie er transportfähig ist, ins Spital geschafft werden; und bis er hergestellt ist, wird ein verläßlicher Mann, den wir schon mehrmals zur Aushilfe hatten, an seine Stelle treten. Ich dachte daran, mit Jegor in die Stadt zu kommen, um die Kinder abreisen zu sehen; er sagt aber, da er eigens Urlaub genommen hätte, um seiner Gesundheit wegen einen Landaufenthalt zu nehmen, möchte er sich lieber nicht in Petersburg sehen lassen, es könnte mißdeutet werden. Er meint auch, der Abschied würde mir dort viel mehr zum Bewußtsein kommen, ich würde mich sehr aufregen, weinen und so weiter. Ja, weinen werde ich wohl doch. Ein Jahr werden sie sicher fortbleiben, wenn nicht noch länger, sonst hat es kaum Zweck. Ein ganzes Jahr ohne die beiden Kinder! Wenn ich nicht Jegor gerade jetzt so für mich hätte –! Und dann bin ich auch nicht mehr so jung, daß ein Jahr mir lang schiene; sind nur zwölfmal dreißig Tage, ach, es ist eigentlich nur ein Atemzug! Wie froh bin ich, daß Peter mitgeht; ich will den Kindern auftragen, daß sie ihm folgen.

Deine Lusinja

 

Welja an Katja

Kremskoje, 20. Juli

Mein kleiner Trompetenstoß! Du kannst losschmettern, denn morgen reise ich. Solltest Du kontra 112 schmettern, so schadet es nichts, weil ich es nicht höre, es würde Dir also auch nichts helfen. Wir können Papa und Mama jetzt keine größere Wohltat erweisen, als daß wir abreisen. Es hat bereits eine Notiz in den Blättern gestanden über die ›rote Universität‹. Etwas Schlimmes kann den Leuten nicht passieren als höchstens, daß die Kurse aufgehoben werden; aber Papa ist es natürlich lieb, wenn wir nicht dabei sind, Väterchen lebt noch, er hat heute bereits nach einem Tropfen Schnaps verlangt, also scheint er mir in der Genesung begriffen zu sein. Da ich ihm nicht ade sagen soll, der Ansteckung wegen, habe ich ihm ein Abschiedsgedicht gemacht. Es fängt an:

Schon fünf Tage sind hinabgesunken,
Seit sich Väterchen zuletzt betrunken.

Und endet:

Soll ich dir die treue Hand nicht reichen,
Ohne Abschiedskuß ins Ausland weichen,
Wünsch ich unter Tränen dir hienieden
Gute Besserung oder ruh in Frieden.

Ich habe es Lju vorgelesen, der noch zu Bett liegt, er konnte gar nicht aufhören zu lachen, obgleich er wirklich sehr schwach ist. Er sagte, er wäre überzeugt, Iwan würde mich für den größten Dichter Rußlands und das Gedicht für die Ausgeburt aller Poesie halten, und er beneidete die Menschen, die noch durch den bloßen Rhythmus und den simpeln Reim in einen seelischen Rausch geraten können. Lju möchte gern mit uns nach Petersburg fahren, er 113 fürchtet aber, er würde noch zu schwach sein, und Mama wird ihn auch gar nicht gehen lassen. Du wirst ihn also nicht mehr sehen. Jessika ist ein dummer kleiner Wurm mit ihrer Liebe, trotzdem empfehle ich Dir, süßes Spätzchen, zart mit ihr umzugehen, nicht zu zetern, nicht zu picken. Sie ist gerade wie ein Tautropfen, der in der Sonne schön wie ein Edelstein funkelt und beweglich lebendig ist und, wenn die Sonne fortgeht, glanzlos wird und versiegt. Dies schreibe ich, damit Du siehst, daß ich mich auch echt dichterisch ausdrücken kann. Hör mal, Peter soll für Zigarren und Zigaretten unterwegs sorgen, der hat gern Aufgaben zu erfüllen.

Welja

 

Lju an Konstantin

Kremskoje, 23. Juli

Lieber Konstantin! Du hast mir nicht geschrieben, damit, wenn ich todkrank oder tot wäre, der Brief nicht in unrechte Hände geriete. Jetzt ist die Gefahr vorüber. Wenn Du keine weitere Nachricht von mir erhältst, laß die Schreibmaschine am 31. abgehen; melde es mir gleichzeitig. Die Krankheit ist endgültig gebrochen, aber ich bin noch sehr erschöpft, so erschöpft, daß ich gern noch ein paar Tage lang im Bett liegen würde, ohne zu denken, ohne andre Bilder in meinem Gehirn als das der dunklen Frau und des blonden Mädchens, die von Zeit zu Zeit durch mein Zimmer gleiten, sich über mich beugen und mit sanfter Stimme freundlich zu mir sprechen, 114 oder das der Tannen und Birken, die ich durch das offene Fenster sehen kann. Wird es einmal Menschen geben, die ohne Qual, ohne den göttlich-fluchwürdigen Stachel der Seele im Anschauen der Schönheit verharren können?

Welja und Jessika reisen morgen nach Petersburg, Jessika bleibt bei ihrer Tante. Wenn ich sie wiedersehe, wird sie ein schwarzes Kleid tragen. Diese Nacht, als ich den Mond, leuchtend bleich, von dunkelm Gewölk umgeben sah, mußte ich an ihren blonden Kopf über dem schwarzen Kleide denken. Ach, das ist das wenigste. Sie wird wieder rosige Wangen bekommen und lächeln und weiße Kleider tragen. Daß alles verdammt ist zu vergehen, indem es entsteht, das ist die einzige Tragik des Lebens; weil es das Wesen des Lebens ist, weil dies so geartete Leben das einzige ist, das jemals unser sein kann. Ich erwarte Deine Nachricht.

Lju

 

Lusinja an Katja

24. Juli

Mein Jüngstes! Heute reisen Welja und Jessika ab. Sie haben noch einen Tag auf Lju gewartet, ihm zuletzt aber selbst davon abgeredet, die Anstrengung des Reisens heute schon auf sich zu nehmen. Er ist aufgestanden, aber noch schwach. Etwa drei Tage wird er gewiß noch hierbleiben, also wirst Du ihn auf keinen Fall mehr sehen, wenn Ihr übermorgen fahrt. Jessika hat tapfer mit ihren Gefühlen 115 gekämpft, ich hätte ihr so viel Selbstüberwindung nicht zugetraut. Heute war sie schon in aller Frühe im Garten und pflückte Körbe voll Rosen, mit denen sie das ganze Haus geschmückt hat. »Ich finde, es ist wie ein Hochzeitshaus«, sagte sie. Dann sagte sie: »Mama, wir müssen euch doch eigentlich recht im Wege gewesen sein, als wir gleich so nacheinander anrückten?« Ich sagte: »Ja, wenn wir nicht selbst schuld gewesen wären, hätten wir uns vielleicht ein bißchen geärgert.« Dein Bruder Welja, der dazukam, sagte: »Gott, was denkst du, sie hätten sich schrecklich gelangweilt ohne uns.« Jessika entrüstet: »Anmaßender Junge! Du mit deiner Faulheit hast vor dem zweiten Jahre nicht gesprochen und vor dem zehnten keinen Witz gemacht.« Nun, Du kannst Dir denken, wie zierlich sie einander ankläfften. Und dazu das kleine Gesicht, so still und blaß unter dem alten Kinderlachen. Gebt ihr noch recht viel Liebe an dem letzten Tage, hörst Du, Herzblatt? Und kränke sie nicht dadurch, daß Du etwas gegen Lju sagst. Du bist ein viel zu junges und törichtes Glühwürmchen, als daß Du ihn richtig beurteilen könntest. Er ist jedenfalls ein bedeutender Mensch, und vor bedeutenden Menschen muß man die Achtung haben, daß man zunächst das Beste von ihnen denkt und im Zweifelsfalle mit seinem Urteil zurückhält.

Was den Chauffeur anbelangt, den Tante Tatjana statt des alten Aushilfsdieners zu nehmen vorschlägt, so kann sich Papa nicht dazu entschließen, obwohl er zugibt, daß es vielleicht angenehmer für uns wäre. Er 116 sagt, einen ganz fremden Menschen will er nicht ins Haus nehmen. Es käme nicht selten vor, daß die revolutionäre Partei auf diese Art ihre Leute in die Häuser einschmuggelte, um durch sie private Verhältnisse auszukundschaften oder sich mit der Dienerschaft in Verbindung zu setzen. Er möchte nicht gern ein zweideutiges Element zwischen unsre so treuen und zuverlässigen Dienstboten bringen. Da Papa von jeder Ängstlichkeit frei ist, wird diese Vorsicht wohl berechtigt sein. Wir bleiben also bei dem alten Kyrill, mehr als Iwan trinkt er auch nicht, und Papa sagt, Trunkenbolde hätten die treuesten Herzen.

Ich umarme Dich, Du geliebtes Kind! Habt Euch recht lieb, alle drei, und zankt Euch nicht auf der Reise, Du und Welja. Nennt Euch auch nicht Kalb oder Molch oder Spatzengehirn – das letzte geht allenfalls noch –, aus dem Scherz könnte einmal Ernst werden, und überhaupt ist es eine häßliche Gewohnheit, die bei Menschen, die Euch nicht kennen, Anstoß erregen kann. Gib auch acht auf Welja, als ob Du die Ältere wärest, aber ohne es ihn merken zu lassen; um ihn sorge ich mich mehr als um Dich – Du, mein Liebling, wirst schon das Rechte tun und etwas Rechtes werden.

Also bin ich nun eine kinderlose Frau! In meinem Herzen habe ich Euch aber, ganz fest, da seid Ihr noch klein und habt es gern, in einen winzigen Raum geschlossen dicht bei Eurer Mama zu sitzen.

Lebe wohl! 117

 

Welja und Katja an Jegor

Petersburg, 26. Juli

Lieber Papa! Als Katja in Mamas Brief Deinen Ausspruch gelesen hatte, Trunkenbolde hätten die treuesten Herzen, trompetete sie los: »Seht ihr, Lju ist kein Trinker! Er trank Wein nur wegen der schönen Farbe und des Aromas!« Es wird sich nun gewiß verbreiten, Du hättest Lju entlassen, weil er sich niemals betrunken hätte, Du wirst ein Liebling des Volkes werden, und eine Horde taumelnder Kosaken wird Dich als freiwillige Schutzgarde beständig umgeben. Wir haben vorgestern abend Tante Tatjana überzeugt, daß sie uns zum Abschiedsessen sehr feinen Wein vorsetzte, und Peter, der gerade im Begriff war, in einen Abstinenzverein einzutreten, hat das deshalb bis zu unsrer Rückkehr verschoben.

Lieber Papa! Welja schreibt doch nur Dummheiten. Es ist nicht möglich, mit ihm zu leben, ohne zuweilen Kalb oder Molch zu sagen. Mama, Du hättest ihn von vornherein besser erziehen sollen. Mit dem Trinken hast Du ganz recht, Papa, es war eine abgeschmackte Idee von Peter, in einen Abstinenzverein eintreten zu wollen. Warum soll man nicht trinken, wenn es einem schmeckt? Zu dumm! Jessika sagt, um Euch brauchte man sich keine Gedanken zu machen, Ihr sähet beide jung und glücklich aus. So wollen wir Euch uns unterwegs vorstellen. Mit Jessika bin ich sehr nett, aber ein Schaf ist sie doch. Da fährt unser Wagen vor! Morgen um diese Zeit sind 118 wir schon über die Grenze. Unterwegs schreibe ich Dir einen richtigen langen Brief, süße Mama.

Katja

 

Lju an Konstantin

Kremskoje, 1. August

Lieber Konstantin! Ich fahre morgen in der Frühe ab. Ich nehme das Automobil nach Petersburg. Von da fahre ich zu meinem Vater. Ich nehme an, daß die Schreibmaschine heute abend kommt. Es wäre mir nicht lieb, wenn sie früher käme, weil der Gouverneur dann wahrscheinlich zu schreiben verlangen würde. Die beiden Menschen freuen sich auf ihr Alleinsein wie glückliche Kinder. Sie wissen selbst nicht, was sie eigentlich erwarten – ach, mein Gott, was erwartet man überhaupt, wenn man einem Augenblick der Liebesaufwallung entgegensieht? Was findet man?

Daß jemand anders vor dem Gouverneur die Maschine benutzt, das einzige, was meinen Plan zerstören könnte, halte ich für ausgeschlossen. Die Dienstmädchen getrauen sich aus Angst vor dem Gouverneur nicht, sie anzurühren, besonders seit sie einmal entzweigegangen ist. Er hat ihnen einmal sogar verboten, sie abzustauben, er wolle das selbst tun. Auch wird er sie sehr bald in Gebrauch nehmen, einige Briefe hat er immer zu schreiben, auch wird er sie nach der Reparatur probieren wollen. Ein Tag wird nicht darüber hingehen. Vermutlich wird er an die 119 Kinder schreiben. Sie – seine Frau – was wird aus ihr werden? Das beste wäre für sie, wenn sie an seiner Seite wäre. Sie ist es ja fast immer. Wenn ich das nächste Mal nach Petersburg komme, möchte ich Dich sehen. Zunächst brauche ich Ruhe.

Lju

 

Lusinja an Jessika

Kremskoje, 1. August

Jessika, mein Blümchen, Deine schönen Rosen sind nun welk, noch ehe die Freude des Alleinseins angefangen hat. Der Garten ist aber voll neuer. Lju reist morgen in aller Frühe ab, er hat sich schon verabschiedet, weil er früher fährt, als wir aufgestanden sein werden. Vorhin, als wir von einem Spaziergang zurückkamen, stand ein Mann an der Gartentür. Ich sah ihn erst, als wir ganz nahe bei ihm waren, und fuhr unwillkürlich zusammen. Lju lachte und sagte: »Es ist gewiß wieder der Paketbote mit der Schreibmaschine.« Und wirklich, er war es. Ich sah ihn ganz entsetzt und bewundernd an, und da lachte er wieder und Papa auch; es war nämlich ganz natürlich, daß er es erriet, weil sie eigentlich schon mit der ersten Post erwartet wurde. Denke dir, Papa fiel gar nicht über die Kiste her, sondern ließ Lju auspacken und sitzt jetzt noch bei mir und spielt so schön Klavier, wie sonst niemand auf der Welt spielt. Vielleicht duftet zur selben Zeit die Lindenblüte Deiner Stimme an Tante Tatjanas Flügel. Du weißt doch, daß Lju gesagt hat, Dein Gesang wäre so zart, daß man nicht 120 sagen könnte, er klänge –: er duftete. Es ist mir gerade, als hörte ich Dich, meine kleine Holdseligkeit.

Lju sah mich wieder mit einem unergründlichen Blick an, als er mir Lebewohl sagte; ich freue mich, daß ich diesem Blick morgen nicht mehr begegnen werde. Aber sei ganz ruhig, ich habe ihm ein allerliebstes Futterkörbchen für die Reise zurechtgemacht und will ihm sehr wohl. Wenn er nicht nachtwandelte, wäre ich seine unbedingte Freundin. Denke Dir, Väterchen hat zuletzt noch die Anwandlung bekommen, außer sich zu sein, daß Lju fortginge, bevor er wieder auf den Beinen wäre; er wäre jetzt krank und hinfällig und zählte nicht, und ein Mann müßte doch im Hause sein. Da hat Papa wütend gesagt: »Bin ich denn ein Klapperstorch?« Darüber hat Iwan erst geweint, und dann hat er gesagt, er hätte Papa noch nie für einen Klapperstorch gehalten, aber er sollte doch gerade beschützt werden, und sich selber beschützen könnte man nicht, so wenig wie man sich selbst den Rücken waschen könnte. Papa fragte Mariuschka, die uns dies berichtete: »Wer wäscht ihm denn seinen? Du?« Was sie entrüstet verneinte; also ist das im dunkeln geblieben.

Gute Nacht, Liebling. Wann werde ich Dir einmal Dein Haar mit Rosen schmücken? Wer weiß, wie bald! Das Schöne kommt unverhofft über Nacht.

Deine Mama 121

 

Jegor an Welja und Katja

Kremskoje, 2. August

Nun, Ihr beiden kleinen Kinder, was für ein Unsinn ist das mit dem Trinken? Was soll ich gesagt haben? Gebildete Menschen müssen maßhalten, das ist selbstverständlich. Wenn ein russischer Bauer nicht trinkt, kann man auf Theorien und Berechnung schließen, auf den Hang zu irgendeiner Vervollkommnung; und wo der tierische Trieb einmal gebrochen ist, da tritt zunächst nichts Gutes an die Stelle. So; Ihr habt mäßig zu sein, weil Ihr für gebildete Menschen gelten wollt. Unser Schutzengel ist abgereist, ich habe augenblicklich keinen andern als Eure Mutter, unter deren Flügeln ich mich am wohlsten befinde. Eben tritt sie hinter meinen Stuhl, legt den Arm um mich und tut die nicht mehr neue, aber immer wieder gern gehörte Frage: »Warum bist du so blaß, J . . .

 


 


 << zurück