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Dritter Abschnitt.
Christus


Denn die Erde bringet von ihr selbst zum ersten das Gras, darnach die Ähren, darnach den vollen Weizen in den Ähren. Wenn sie aber die Frucht gebracht hat, so schicket er bald die Sichel hin; denn die Ernte ist da. – Markus 4. 28. 29.

Jedes Geschöpf muß eine vorgeschriebene Bahn durchlaufen: es wird geboren, wächst, trägt Frucht und stirbt. Davon ist der Mensch nicht ausgeschlossen; denn wenn er auch zum Ebenbilde Gottes bestimmt ist, so bleibt er doch Pflanze und Tier, und das Lebensgesetz aller Kreatur gilt auch für ihn.

Aus dem ewigen Stoff, in dem die göttliche Kraft unsichtbar verborgen wohnt, trennen sich Einzelwesen ab, umgeben ihren Raub mit einer Hülle, um ihn ungeteilt für sich zu behalten. Alle diese Einzelwesen können ihr Einzeldasein nur für eine begrenzte Dauer erhalten, sie müssen sterben, weil das abgesonderte Feuer allmählich erlöschen und der von ihm durchglühte Stoff erstarren muß. Jede Bewegung innerhalb eines begrenzten Stoffes muß sich früher oder später verlieren.

Es gibt verschiedene Arten von Einzelwesen, die sich von den Elementen absondern: Körper, Individuen und Personen. Obwohl von Gott abgesondert, bleiben sie doch unter Gott: er regiert die Körper durch die Schwerkraft, die Individuen durch den Instinkt, die Personen durch den Impuls, die Stimme Gottes im Bewußtsein. Indem Gott den Personen von seiner Allwissenheit mitteilt, macht er sie zu seinen Kindern, gibt ihnen aber zugleich die Möglichkeit, sich, als Person, von ihm abzuwenden. Im Selbstbewußtsein erkennen sie sich als Einzelwesen, als welches sie vergänglich sind. Die Erkenntnis war ihnen gegeben, damit sie Gott erkennten und liebten; aber es war unumgänglich, daß sie zugleich sich selbst erkannten und ihr Selbst an der Unsterblichkeit der Gotteskraft wollten teilnehmen lassen.

 

Der du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder! – Psalm 90. 3.

Die individuelle Kraft im Stoff will Verdichtung, die göttliche Kraft will Ausdehnung. Auf dem ewigen Wechsel zwischen Verdichtung und Ausdehnung beruht das Leben. Das Verdichtete, welches nicht aufgelöst wird, geht in Erstarrung über, bewegt sich nicht mehr. Gott, der ein Gott des Lebens ist, duldet kein Erstarrtes, er löst es immer wieder auf, um es innerhalb der großen allgemeinen Bewegung, dem Kreislauf des Lebens, zu behalten.

Wie der Schlaf eine Verjüngung bringt nach der Ermüdung des Tages, so ist der Tod ein Wiederkommen zu Gott, dem unerschöpflichen Brunnen des Lebens. Das Kind und der natürliche, unbewußte Mensch wissen es auch nicht anders; sie sterben willig, dem freundlichen oder strengen Rufe des Herrn folgend, der sie ausgesandt hat. Der selbstbewußte oder eigenwillige Mensch hingegen strebt nach Selbsterhaltung; er weiß zwar, daß er sterben muß, aber er sucht es zu vergessen und sich selbst darüber zu täuschen. Die Tatsache des Todes wird in der Welt vertuscht, auch insofern, als man das Leben in willkürliche Formen, sogenannte Organisationen bringt, welche von der Person der Menschen, welche sterben muß, unabhängig gemacht werden. Indem man das Leben von der Persönlichkeit ablöst, kann man allerdings eine dauernde Bewegung, eine Art perpetuum mobile herstellen; diese Bewegung ist dauernd, aber seelenlos oder mechanisch.

Ein ferneres Mittel, sich dem Sterbenmüssen zu entziehen, ist, nicht zu wachsen und nicht Frucht zu tragen, sich vom Kampfe des Lebens möglichst zurückzuziehen. Dazu hilft Reichtum und Herrschaft oder Macht. So kommt es, daß die Menschen oft den Ruf Gottes überhören, den rechten Zeitpunkt, zu sterben, versäumen und von Gott getötet werden müssen; nein, nicht von Gott, sondern von Satan, der sie verführte, unter Zulassung Gottes.

Jedes Einzelgeschöpf ist Teil eines Ganzen, das längere Dauer hat als es selbst, durch welches und für welches es lebt, ohne welches es nicht leben kann, und das Ganze, von dem die Personen nur Teile sind, ist das Volk. Ihrerseits sind auch die Völker nur Teile der Menschheit, wie die Menschheit ein Teil, aber die Spitze, der Welt. Wenn auch die Völker eine viel längere Lebensdauer haben als der einzelne, so ist doch die der Völker gleichfalls beschränkt, und ihre Altersveränderungen stehen mit den Altersveränderungen der einzelnen als Volksglieder im engen Zusammenhänge. Der einzelne hat außer seinem persönlichen ein volksgemäßes Alter, das von der Altersstufe seines Volkes abhängt.

Das Leben eines Volkes dauert desto länger, je weniger zentralisiert es ist und desto reicher gegliedert; denn desto mehr Möglichkeit hat es, sich beständig zu verwandeln, sich neue Teile anzugliedern und einen Teil im anderen aufgehen zu lassen. Die Idee einer Weltrepublik ist deshalb durchaus vernünftig, wenn man sie derart auffaßt, wie sie schon einmal wirklich gewesen ist in dem mittelalterlichen Römischen Reich Deutscher Nation, einer Vielheit von Staatsgebilden, die verschiebbar und wandelbar, selbständig, mit eigenen Idealen, bald hier, bald da enger untereinander verbunden, zusammengewachsen und durch den gemeinsamen Glauben an eine Person zusammengehalten waren. Eine willkürlich zusammengefaßte, einheitlich zentralisierte Masse würde bald erstarren und zugrunde gehen.

Mit der Zentralisierung, der Befestigung des Mittelpunktes, beginnt das Sterben der Völker, wie mit der Vollendung des Selbstbewußtseins im Zentralnervensystem das Sterben des einzelnen Menschen beginnt. Je mehr zentralisiert ein Volk ist, desto mehr will es sich unverändert erhalten, und um so eher muß es erstarren und entarten. Die Zentralisierung muß aber eintreten, sowie der Trieb der Individualisierung oder Absonderung einen gewissen Grad erreicht hat, als zwanghaftes Zusammenhalten im Gegensatz zum Streben nach Auflösung. Beispielsweise mußten die Habsburger nach einer Hausmacht und Erblichkeit streben, weil sie sonst den Absonderungsgelüsten der Stände, namentlich des Adels und der Völkerschaften, nicht hätten entgegenwirken können. Die endgültige Auflösung wird von den gedrückten untersten Schichten des Volkes ausgehen; Schuld hat aber die Herrschsucht der oberen, die mit der Auflösung begann. Wer indessen möchte die Größe und Mannigfaltigkeit missen, die der Kampf des rebellischen Satan erzeugte?

Auch das Volk ist eine Person; das heißt soviel als: auch ein Volk hat ein Bewußtsein (oder einen Willen), das aus Selbstbewußtsein und Gottbewußtsein besteht, und von dessen Einheit sein Leben und Sterben abhängt. Sein Gottbewußtsein ist durch eine Person vertreten, in der seine gefühlsmäßige Einheit sich ausdrückt. Sowie es nur noch selbstbewußt oder eigenwillig und gar nicht mehr gottbewußt ist, nicht mehr zusammengehalten werden kann durch eine Person, an die alle glauben, weil alle sich in ihr vertreten fühlen, stirbt es ab; denn es ist ja nur dadurch, daß Gott, der Wille zum Ganzen durch einen vergänglichen Mittelpunkt, es wachsen läßt.

 

Denn ein jegliches Volk wandelt im Namen seines Gottes; aber wir wandeln im Namen des Herrn, unseres Gottes, immer und ewiglich. – Micha 4. 5.

Man findet es oft lächerlich, daß Völker, die miteinander im Kriege sind, alle Gott um Sieg anrufen, jedes vertrauend, daß sein Gott ihm den Sieg gewähren werde, während doch alle an Einen Gott glauben. Das ist aber nicht so, und die Heilige Schrift behauptet es auch nicht, vielmehr weiß sie, daß jedes Volk, wie es eine Person für sich ist, auch ein besonderes Ideal hat, das ihm vorschwebt, und nach dem es sich entwickelt. Kriege sind in Wahrheit Kriege zwischen Göttern.

Auch Jehova war zunächst der Gott des Volkes Israel, der Gott, in welchem das Volk Israel sich seiner Einheit bewußt wurde. In seinem Namen und Auftrage machte Moses die gefangenen Hebräer zu einem Volke. Aber das Volk Israel ist auch dasjenige Volk, in dem die Menschheit sich zuerst selbst erkannte als das Ebenbild Gottes, als Ziel der Schöpfung, weil die Macht der Liebe sich in ihm, und zwar in Christus, persönlich offenbarte. Deshalb ist der Gott des Volkes Israel auch der Gott, in dem die Menschheit die Einheit ihres Bewußtseins gefunden hat. Im Glauben an ihren Volksgott wandeln und wachsen die Völker, im Glauben an Christus einigen sie sich. Daher kommt es, daß jedes Volk Christus anders darstellt, entsprechend seinem eigenen Typus. Dies soll so sein: Gott will die Menschheit, aber er will auch Völker, Völker, die im Namen ihres Gottes wachsen und im Namen Christi in anderen aufgehen.

Die neue Erkenntnis, die Christus brachte, war eben die: daß Gott durchaus frei ist und sich nicht binden läßt, weder an eine Person, noch an ein Volk, noch an eine Kirche. Er offenbart sich, wie Luther es einmal ausdrückt, wie ein Platzregen; wo er am überschwenglichsten sich ergossen hat, da ist nachher eine Öde. Binden läßt er sich nur durch Gottempfänglichkeit, durch Glauben und Liebe oder, was dasselbe sagen will, durch Jugend des Gemüts, und vertreten läßt er sich nur durch Kraft. Er war Jehova für die Juden, solange sie jung waren und die Stimme der Heilande hörten, die er sandte; aber er ist der Herr für alle Welt. Er ist Einer mit Hunderten von Namen für seine Gläubigen.

 

Wenn aber der Richter starb, so wandten sie sich und verderbeten es mehr denn ihre Väter. – Richter 2. 19.

Auf den ersten Teil zurückgreifend, wiederhole ich, daß die Gottesherrschaft des Alten Testaments die Zeit der natürlichen Einheit ist, die bei beginnender Individualisierung sichtbar wird in der Person nichterblicher Führer, die durch Gottes Gnade, nämlich durch die Not der Zeit, ihre Geisteskraft und das Vertrauen des Volkes zu ihrer Stellung berufen sind. Der geniale Führer junger Völker wird zum Teil einem alten Volke entstammen, wo schon persönlicher Herrscherwille stark ausgebildet ist; durch die Vermischung mit einem Sprößling des jungen Volkes mag dieser Herrscherwille als Liebeswille verschwendet werden, der das junge Volk wachsen läßt.

Einer muß der Herr sein, wo ein Volk nicht mehr wie eine friedliche Familie ist, sondern aus verschiedenwilligen Individuen besteht: Gott ist die Einheit in der Vielheit. Viele verschiedene Menschen, mögen sie noch so klug, so tatkräftig und auch auf ihre Art gutmeinend sein, bilden keine Einheit, außer wenn sie durch Einen vertreten sind, der seinerseits frei ist, aber aus innerem Antrieb der Liebe zum Volk handelt. Wäre er denen verantwortlich, von denen abhängig, die er vertritt, könnte er nicht der Herr sein; sie leisten ihm den freiwilligen Gehorsam des Glaubens, weil sie wissen, daß er, wenn nicht ihnen, so Gott verantwortlich ist, der ihn um des Volkes willen berufen hat. Er hat ihn ja berufen, um die Einheit des Volkes zu vertreten. Es ist einleuchtend, daß, je individualistischer, je satanischer ein Volk ist, desto zwanghafter, nicht als Heiland, sondern durch Herrscher, sich auch Gott, um es wieder zu einigen, in ihm offenbaren wird.

Gott ist nicht eine Art personifizierter Weltseele, wenigstens nicht, wenn man darunter etwas Einfaches versteht: das Christentum ist kein Monismus und kein Dualismus, sondern eine Dreieinigkeitslehre. Gott ist der Wille zum Ganzen, der sich durch Einzelwillen vertreten läßt. Die beiden Willen greifen ineinander wie zwei Ringe, die sich stets runden sollen, nie schließen dürfen. Der Wille zur Vereinzelung oder Absonderung ist an sich satanisch; Gott offenbart sich also durch Satan, indem er ihn überwindet und zwingt, seinen Willen zu vertreten. Satan ist ja überhaupt nichts Selbständiges, sondern eine Abspaltung von Gott, die Gott zuläßt, um sich durch sie zu offenbaren. Sowie aber der satanische Wille in einem Volke oder in einem einzelnen überwiegt, ist das betreffende Volk oder der betreffende Einzelne dekadent und beginnt sich aufzulösen.

Die Gottesherrschaft war die Grundidee im Leben des Volkes Israel, solange es jung war, ebenso im Leben der Germanen; das Leben jedes jungen, entwicklungsfähigen Volkes beruht auf ihr. Dagegen will die römische Staatsidee die Einheit durch eine feste äußere Einrichtung herstellen, durch Zentralisation; es ist das Hilfsmittel des alternden, des überwiegend selbstsüchtigen Volkes, welches die Einheit der Gesinnung nicht mehr aufbringt.

Die natürliche Einheit des Volkes nun, von welcher die Abzweigung ausgeht, auf welcher aber auch die Möglichkeit einer Wiedervereinigung beruht, ist die Wurzel des Volkes, die Bauernschaft. Der mit der Erde verbundene, von der Natur abhängige Bauer ist der unbewußte, der natürliche Mensch, nach welchem der individualisierte, abgesonderte sich immer wieder orientieren muß, der Bauernstand ist der Quell, aus dem die abgesonderten Stände sich immer wieder erfrischen müssen.

Man hat, in der Meinung, ihn dadurch herabzusetzen, Luther einen Bauern mit Genie genannt; vielmehr war er ein Genie, weil auch ein Bauer in ihm war, und es kann kein Genie ohne einen Tropfen Bauernblut geben. Denn Genie ist Zurückführung eines durch Inzucht hochgesteigerten individuellen Typus auf den Urtypus des Menschen, auf das Kind, von dem der Mensch ausgeht, so daß in einer Person der Ring der Entwicklung geschlossen ist. Das einzige Problem jedes Volkes ist im Grunde das, wie es sich eine freie Bauernschaft erhalten könne, ein unbewußtes, freiwillig gehorsames Volk, das die Besorgung der gemeinsamen Angelegenheit freihandelnden Vertrauensmännern überläßt.

Die Sucht nach Herrschaft, Macht und Genuß ist es, die einerseits die Menschen treibt, sich über die Eintönigkeit und mühselige Arbeit des Bauern zu erheben; Trägheit und Gewinnsucht bewegen anderseits den Bauern, auf sein Waffenrecht zu verzichten und die Verteidigung des Landes einem wehrhaften Herrenstande zu überlassen. Ich weiß nicht, ob der freie Bauer innerhalb des eigenen Volkes und vom eigenen Volke zum Knecht gemacht werden könnte; jedenfalls kommt dem menschlichen Herrschergelüste die Unterwerfung fremder, schwächerer Völker entgegen, die zu unfreier Dienstbarkeit heruntergedrückt werden können.

Vermutlich aus diesem Grunde gebot Moses in gewissen Fällen die Ausrottung besiegter kanaanitischer Stämme, da sonst nur zweierlei Möglichkeiten geblieben wären: entweder ihr Einfluß hätte das Volk Israel von seinem Ziel abgelenkt, oder es hätte sich aus ihnen eine überwiegend große Sklavenschicht gemacht und dadurch seine eigene Lebenskraft abgegraben. An der Sklaverei sind alle antiken Völker zugrunde gegangen. Sowie nämlich ein Volk mit Sklaven arbeitet, beraubt es sich der Wurzel, des natürlichen Menschentums, aus dem es sich, wie vorher gesagt, stets wieder verjüngen muß, und unterbindet sich eine fremde Wurzel, aus der es keine Kraft ziehen kann, weil es nicht organisch mit ihr verbunden ist. Diese fremde Wurzel aber wird eines Tages den Stamm, der ihr Wachstum hemmt, abschütteln, sowie er aus Mangel an frischen Säften dürr und schwach genug geworden ist. Das Römische Reich gibt für alle Zeit das klassische Beispiel dieses Verlaufes; kleinere Völker, wie das altjüdische und polnische, sind noch weit schneller an diesem Grundübel zugrunde gegangen. Das Römische Reich Deutscher Nation ging zugrunde, als der Adel die freien Bauern legte, weil der Kaiser sie den Fürsten preisgab, die Fürsten sie dem Adel auslieferten. Die Neigung zur Unterjochung der freien Bauern entstand aber durch die Unterwerfung der slawischen Völker, welche dem Siegervolk rechtlos gegenüberstanden und es an Sklaverei gewöhnten. Noch immer unterscheiden sich die Ostdeutschen dadurch unheilvoll von den übrigen Deutschen, daß sie eine dünne Herrenschicht über einem fremden Sklavenvolk waren und dadurch wurzellos wurden. Als sie dieser Wurzellosigkeit und dieses Hohlwerdens inne wurden, mußten sie sich gedrängt fühlen, sich dem großen Stamme des deutschen Volkes anzuschließen, ja womöglich es zu beherrschen.

Ähnlich war die Schweiz glücklich und mächtig, solange sie ein freies Bauernvolk war, wurde aber dekadent, seit sie sich Untertanenländer machte und die eigene Bauernschaft in gleiche Hörigkeit herabzudrücken suchte. Nachdem diese Kluft gewaltsam ausgeglichen war, bestand doch das Volk nicht mehr in seiner früheren Unschuld. Das unbewußte, freiwillige Gehorchen des Kindes war nicht mehr im Volke, es gab nur noch eine Oberschicht, die nun ihrerseits nach einer künstlichen Wurzel, nach Sklaven, trachtete. Es stellt sich dann gewöhnlich die Neigung ein, fremde Arbeiter ins Land zu ziehen, die einen zugleich verhaßten, verachteten und zuletzt gefürchteten Fremdkörper im Volke bilden, dessen das Volk aber doch nicht entraten kann. Weil Spanien seit der Vertreibung der Araber und Juden nur noch aus einer Oberschicht von lauter Herrschenden bestand, mußte es zugrunde gehen. Das freie Bauerntum ist die Wurzel des Volkes, die aus dem Heimatboden Kraft saugt und den höheren Schichten, dem Stamm und der Krone, zuführt. Dieser erdgebundene Mensch ist der natürliche Mensch, der Adam, dessen Tierheit zur Gottheit verklärt werden soll. Obwohl nur das Bild Gottes in Erde, noch nicht in Marmor befestigt, so ist er doch das Urbild, das idealisiert werden, aber stets kenntlich in seinen Grundzügen bleiben soll. In ihm ist, wie im Kinde, das Göttliche verborgen, das das Leben enthüllen wird. Ein solches Unbewußtbleiben und Gehorsambleiben des Volkes hat nichts zu tun mit Volksverdummung oder Erhaltung des Aberglaubens, wie ungeschickte oder böswillige Regierungen oder Kirchen sie wohl anstreben; denn es handelt sich ja um Gehorsam gegen Gott, um die Erhaltung der angeborenen Weisheit, die wir an manchen Kindern und am Genie bewundern. Ist dieser natürliche Instinkt verloren, so kann er durch künstliche Verdummung nicht ersetzt werden, und es ist dann noch besser, mit bewußter Bildung nachzuhelfen. Jetzt allerdings haben wir nicht mehr so häufig Gelegenheit, den echten Bauern kennen zu lernen, der des unbedingten Gehorsams fähig und doch ein König auf seinem Hofe ist. In der trotzigen und wilden, in der frommen, geduldigen, schweigsamen Bauernschaft ist die Gottheit verborgen, alle Größe, Schönheit und Güte eines Volkes quillt aus ihr, wenn auch nicht aus ihr allein. Ist sie ausgesogen, erschöpft, verdorben, so ist das Volk nicht mehr entwicklungsfähig, weil kein Glaube an den Herrn, der sein wird, mehr da ist.

Man wird sagen, daß sich eine bäuerliche Grundlage des Lebens nur in kleinen Verhältnissen, wie zum Beispiel einigen Schweizer Kantonen, erhalten könne. Gewiß; aber warum auch nicht? Wenn nur diese kleinen, selbständigen Glieder wieder mit anderen verbunden wären, von einer Stufe zur anderen. Nur in kleinen, übersichtlichen Verhältnissen können die Menschen vernünftig, von innen heraus wirksam und, so widerspruchsvoll es klingt, groß sein. Denn die Größe hängt nicht ab von der Masse und Zahl, sondern von der Stärke des Eindrucks, der gegeben und empfangen wird. Wie eng und klein waren die Verhältnisse im alten Griechenland, im Volk Israel, zur Zeit Karls des Großen, zur Zeit der Renaissance und Reformation, und doch welche Menschen und Taten!

Die kleine Gemeinschaft fängt erst an zu erstarren und kleinlich zu werden, wenn sie sich absondert, sich nicht mehr an ein größeres Ganzes anschließt, und vor allen Dingen, wenn sie aufhört, zu kämpfen. Was sich nicht mehr verwandeln läßt, was keinen Widerstand mehr leidet und zu überwinden sucht, erstarrt. Darum ist gerade der aus vielen und verschiedengearteten Gliedern zusammengesetzte Staatenbund, wie das Reich war, so lebens- und entwicklungsfähig, weil er die Möglichkeit zu vielen Reibungen, Kämpfen, Verwandlungen gibt, weil er immer im Fluß ist. Ruhe und Ordnung muß man freilich in einem solchen Reich nicht suchen; aber die vielgepriesene Ruhe, das friedliche Ausarbeiten der Kultur, und wie man es sonst nennt, hat noch immer zum Tode geführt. Daß damit dem heutigen Kriege, der alle die schrecklichen Spuren der Überzivilisation an sich trägt, kein Lob gesagt sein soll, halte ich für selbstverständlich.

Es versteht sich von selbst, daß damit nicht gesagt ist, ein Volk solle nur aus Bauern bestehen. Was wäre die Menschengeschichte ohne die Herrlichkeit der antiken und mittelalterlichen Städte, die aber niemals ganz vom Lande abgetrennt waren wie die modernen Großstädte. Absonderung von den einfachen Formen der Natur soll sein; nur darf die Kultur den Zusammenhang mit der Natur und die Abhängigkeit von ihr nicht ganz verlieren, sonst wird sie Zivilisation und zuletzt Entartung. Die Abhängigkeit von der Natur macht den Bauer, den Hirten, den Schiffer, den Kaufmann, der sich mit seinen Gütern aufs offene Meer wagt, zugleich fromm und stark; die Unabhängigkeit von der Natur, die der moderne Mensch erstrebt, und die er zum Teil erreicht hat, macht ungläubig und schwach.

 

Herr, deine Augen sehen auf den Glauben.

Man kann auf verschiedene Weise eine äußerliche, künstliche Einheit herstellen; aber die lebendige, einzig fruchtbringende Einheit wurzelt in der Gesinnung, im unbewußten Willen. Weder eine despotische Regierung, noch eine ausgeklügelte Verfassung, am wenigsten können Schlagwörter und hohle Reden die fehlende brüderliche Gesinnung ersetzen. Eine republikanische und demokratische Verfassung läßt den vorhandenen Zwiespalt, aufgehäuften Reichtum auf einer, Armut auf der anderen Seite, nur um so widerwärtiger erscheinen. Abschaffung von Vorrechten nützt nichts, wenn nicht zugleich die Gesinnung geändert wird; es kann kein Adel sich hochmütiger absondern und zugleich auch bereitwilliger bewundert und beneidet werden, als es zum Beispiel stellenweise in der Schweiz geschieht. Es würde auch dadurch einmal verlorene Einheit nicht wiederhergestellt, daß alle Menschen gleich viel Geld hätten, daß alle gleich viel oder gleich wenig lernten, daß es Einheitskleidung und Einheitsessen gäbe. Allerdings werden, wo einheitliche Gesinnung ist, auch die Lebensbedingungen wenigstens ähnlich, wenigstens in den verschiedenen Volkskreisen nicht so verschieden sein, daß gegenseitiger Verkehr und gegenseitiges Verständnis ausgeschlossen wäre. Jetzt ist es so, daß die Reichen und die Armen, die Gebildeten und die Ungebildeten, die Herren und die Arbeiter sich fremder gegenüberstehen als oft fremde Völker; so daß die Angehörigen der gleichen Klasse in fremden Völkern, seien es Herren oder Arbeiter, sich untereinander besser verstehen als die Angehörigen verschiedener Klassen im gleichen Volke. Wie es ehemals nicht die Schuld der Protestanten war, daß sie sich mit Protestanten des Auslandes besser verstanden als mit den katholischen Volksgenossen, so ist es jetzt begreiflich, wenn die Arbeiter sich mit ausländischen Arbeitern enger verbunden fühlen als mit den Herren im eigenen Volke. Schuld ist die hochmütige, herrschsüchtige und genußsüchtige Absonderung, die zur Bildung der bevorrechtigten Kasten geführt hat, und die bestehen kann, auch wo es gesetzlich keine Kasten gibt.

Der Machttrieb darf nicht gewaltsam unterdrückt werden, weil damit zugleich die Lebenskraft des Volkes unterdrückt würde; aber zum Leben des Volkes gehört auch, daß ebensoviel brüderliche Gesinnung in ihm vorhanden sei, welche der Entfaltung des Machttriebes ein Maß setzt und ihn dem Volksganzen zugute kommen läßt.

Daß der Einzelne im Ganzen aufgehen soll, daß der Einzelne nur mit seinem Volke etwas bedeutet, das kann man auch jetzt genug hören; aber das ist ganz verschieden von der Gesinnung, die im Ganzen lebt. Die sogenannte Gemeinnützigkeit pflegt in dem Maße zuzunehmen, wie die im Ganzen lebende Gesinnung abnimmt. Durch die Tätigkeit für das Gemeinwohl kauft man sich los, um übrigens desto ungestörter sich selbst leben zu können, wenn nicht die gemeinnützige Tätigkeit überhaupt selbstsüchtige Zwecke verdeckt. Jedenfalls trennt man das Leben für sich und das Leben für das Gemeinwohl, während man natürlicherweise im Leben des Ganzen die höchstmögliche Steigerung des persönlichen Lebens finden sollte. Auf dieser Gesinnung beruht die organische Einheit des Volkes, welche von der durch Parteivertretung künstlich wiederhergestellten Einheit wesentlich verschieden ist.

 

Denn mein Volk hat eine zweifache Sünde: Mich, die lebendige Quelle, verlassen sie und machen sich hie und da ausgehauene Brunnen, die doch löcherig sind und kein Wasser geben. – Jer. 2. 13.

Die lebendige Quelle ist die Kraft, die freiwillig von innen herausströmt, unbewußt und unwillkürlich; die Welt dagegen ist das, was die Menschen bewußt machen, nach ihren eigenen Gedanken. Die Entfernung von Gott-Natur ist eins mit der Vertiefung in die Welt, der immer tieferen Ausbeutung der eigenen Gedanken und Verstrickung in sie. Vom einfachen Werkzeug, der schlichten Nachbildung und Unterstützung der menschlichen Organe, schreitet der Mensch zu immer verwickelteren Erfindungen vor, die den menschlichen Organismus nun nicht mehr unterstützen, sondern ersetzen sollen; die Maschine tritt an die Stelle des Menschen. Je mehr die Tätigkeit des Menschen als eines Ganzen überflüssig wird, je weniger er seine Person einzusetzen braucht, je spärlicher also die innere Quelle fließt, desto unauslöschlicher wird sein Durst; immer neue Speisen, neue Erregungen sollen ihn stillen und reizen ihn nur noch mehr. Das Mechanische, das an die Stelle der lebendigen, von innen heraus strömenden Kraft tritt, ist das Gegensatz- oder Geistlose oder Unpersönliche, man kann am besten sagen, das Bewußte. Das Lebendige und Persönliche ist das Unbewußte mit dem Gegensatze des Bewußten. Dadurch, daß die Kraft von der Persönlichkeit abgeleitet wird, unterliegt sie dem Gesetz; solange sie von der Persönlichkeit ausgeht und zurückgeworfen wird, ist sie frei, lebendig, schaffend. Wenn man falsche Zähne einsetzt, bringt man ihnen künstlich einen kleinen Schaden in Form oder Farbe bei, damit sie den Anschein des Natürlichen bekommen. Das Stigma des Lebendigen ist irgend etwas von der Regel, vom Gesetz Abweichendes; es läßt sich nicht erfinden, es ist zufällig, absichtslos, es quillt unmittelbar aus der göttlichen Natur.

Es kommt ein Gefühl von Heimweh und Reue über uns, wenn wir ein paar Seiten im Homer lesen oder etwa eine Schilderung Gotthelfs von einem Sonntag auf einem Bauernhofe: das stille, reinliche Haus, die blanken Scheiben, der feiernde Garten, die geschäftig zum Frühstück und Kirchgang sich rüstenden Bewohner: Glückesfülle der heiligen Natur. Wie beschämend für uns, die wir nicht wissen, mit was für Sensationen wir einen Feiertag, den Augenblick, wo die Maschine des äußerlichen Betriebs stille steht, vorüberhetzen sollen. Unser Geld, unsere Moden, unsere Künste, unsere Launen, unser Unrat und Zierat, alles hilft doch nicht: es ersetzt die goldene Quelle der Phantasie nicht, die hinter uns im Kinderlande liegt, und die wir für Sümpfe und Wasserkünste verlassen haben.

Man kann statt Welt auch Natur-Ersatz sagen; allmählich tritt lauter Ersatz an die Stelle des natürlich Gewachsenen: Geld an die Stelle der Güter, das Buch an die Stelle des Wortes, die Wissenschaft an die Stelle der Anschauung, der Phantasie und des Lebens, der Grundsatz oder das Schlagwort an die Stelle der lebendigen Beziehung von Mensch zu Mensch, an die Stelle von Liebe und Haß, Treue und Untreue.

Im Vergleich zu dem gigantischen Maschinentum unserer Zeit will uns die Künstlichkeit, die im Volk Israel und im Römischen Reiche zu Christus Zeit herrschte, noch ziemlich lebendig erscheinen. Wäre es jetzt noch möglich, daß ein einziger Mensch diese Welt zerstörte, wie Christus die Welt seiner Zeit? Mit anderen Worten: ist nicht unsere Zeit zu sehr von Gott abgewendet, zu sehr in der Gottes-Sonnen-Ferne, zu arm an der Kraft der Liebe und des Hasses, als daß diese Kraft Person werden könnte? Vielleicht muß Gott deshalb die Welt durch die Welt selbst, in einem Selbstmorde der Völker, zerstören.

 

Ihr Land ist voll Silber und Gold, und ihrer Schätze ist kein Ende; ihr Land ist voll Rosse, und ihrer Wagen ist kein Ende. Auch ist ihr Land voll Götzen und beten an ihrer Hände Werk, welches ihre Hände gemacht haben. Da bückt sich der Pöbel, da demütigen sich die Herren. Das wirst du ihnen nicht vergeben. – Jes. 2. 8.

Die großen Propheten, die in Israel zur Zeit der Könige auftraten, waren nicht etwa grämliche Moralprediger, die Reichtum und Luxus an sich für ein Verbrechen und Armut und Niedrigkeit für etwas Verdienstliches und Löbliches ansahen; sie waren keine sauersehenden Heuchler, die sich kasteiten und das gleiche von anderen verlangten; sie bekämpften die Zivilisation, weil das Volk durch sie entartet, und suchten es aus ihr, der Welt, zu Gott-Natur zurückzuführen. Der entartende Einfluß der Zivilisation liegt im Wegräumen der Widerstände und damit Aufhören des Kampfes. Dies gelingt zwar nur den herrschenden Klassen, dem Adel und den Reichen, welche eigentlich zusammenfallen; denn der Reiche strebt nach Adel und der Adel nach Reichtum und erhält sich auch nur als solcher, wenn er reich ist; umgekehrt wird für die beherrschten Klassen der Kampf aufgehoben, weil der Widerstand zu groß ist. Der erzwungene Gehorsam der Knechtschaft hebt die freie Bewegung des Lebens gerade so gut auf wie die Unabhängigkeit oder Selbstbeherrschung, welche der Reichtum verschafft.

Man wird einwenden, gerade in hochzivilisierten Völkern herrsche ein nur allzu scharfer Kampf ums Dasein, in den oberen Schichten um Millionen, in den unteren ums tägliche Brot. Dieser Kampf ist allerdings nicht gemeint. Der von Gott gewollte Kampf, in welchem der Mensch sich zum Gottmenschen entwickelt, ist der Kampf, in welchem der Mensch die Person einsetzt, das heißt als verantwortliches Wesen die Folgen seines aus seinem persönlichen Willen fließenden Tuns trägt. Das persönliche Handeln aber und die damit zusammenhängende Verantwortlichkeit wird innerhalb der Welt abgeschafft; teils dadurch, daß man sich durch Geld in fast allen Fällen unliebsamen Folgen seines Tuns entziehen kann, teils daß man durch Geld auf rechtmäßigem Wege seinen Willen durchsetzen kann; teils dadurch, daß die Verantwortung verteilt wird; teils durch die Konvention oder Gesellschaftsmoral, welche jedem alles erlaubt, falls nur die Gesellschaft, nämlich die herrschenden, und das sind die besitzenden Klassen, dadurch nicht angetastet werden. Zur Verantwortung gezogen werden Diebe, Räuber, Lustmörder, Brandstifter, kurz, was man im allgemeinen Verbrecher nennt, die sich natürlicherweise nur in den unteren Klassen finden können; und die Art der Bestrafung ist derart, daß sie die Höherentwicklung, zu der die Sünde und Sühne führen sollte, im Gegenteil abschneidet. Derartige Verbrechen kommen in den höheren Klassen nur vor, wenn bereits Entartung eingetreten ist, und sie werden dann nicht als solche, sondern als Krankheit betrachtet. Auch der Verbrecher der unteren Klassen ist nicht ein natürlicher Sünder, da er und sein Tun eine Frucht unnatürlicher Verhältnisse ist; er ist so wenig Naturmensch wie der Wilde. Wenn man also dazu neigt, auch den Verbrecher der unteren Klassen nicht als Sünder, sondern als unzurechnungsfähigen Kranken zu beurteilen, so hat man im Grunde recht; aber die Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden, das Gute zu lieben und das Böse zu hassen, nimmt dadurch immer mehr in den Menschen ab.

Als freies, verantwortliches Wesen die Person einsetzen, tat innerhalb der Welt eigentlich nur noch die Frau, die nicht vom Staatsbetriebe und nicht ganz von der gesellschaftlichen Konvention, sondern noch von der göttlichen Natur abhängig ist. Die Frau hatte, zum Beispiel als unverheiratete Mutter eines Kindes, allein die Folgen ihres Tuns zu tragen, überhaupt für jede Handlung, die ihrem persönlichen Willen entsprang und mit der sie aus dem üblichen Geleise heraustrat, mit ihrer Person einzustehen. Es findet sich deshalb in jedem hochzivilisierten Volke die Erscheinung, daß gleichzeitig die männliche Kraft abnimmt und die weibliche zunimmt, daß sich mehr Persönlichkeit, Tatkraft und Entschlußkraft bei den Frauen als bei den Männern findet. Indessen geht das Bestreben der Welt dahin, auch der Frau die Möglichkeit der Höherentwicklung durch Sünde und Leiden abzuschneiden, indem man ihr die Verantwortung abnehmen will und etwa gar aus dem, was für Sünde galt, ein Verdienst zu machen sucht.

Die Welt ist eine Zwangsanstalt, in der der Mensch seinen natürlichen sündigen Willen nicht mehr äußert oder nur in einer versteckten Art und Weise, so daß er sich den von Gott verhängten Folgen seiner Willensäußerungen auf jeden Fall entzieht. Er denaturiert sich freiwillig, um nicht, wie es der in der Natur sich offenbarende Gott will, kämpfen, leiden und sterben zu müssen.

Der Mensch, welcher die Äußerung des sündlichen Willens bei sich und anderen nicht mehr dulden will, ist der moralische oder werkheilige Mensch. Im Beginne der Welt behalten sich die höchsten Stände noch das Recht vor, ungestraft zu sündigen, ungestraft wenigstens vom menschlichen Gesetz. Solange aber freie persönliche Willensäußerungen stattfinden, erwecken sie auch solche, und es entspinnt sich der Kampf, durch den Gott straft, verklärt und belohnt. Immer mehr aber von dieser lebendigen Kraft wird ausgemerzt; auch die Königskraft, die allein noch mit Gott und Menschen rang, erlahmte. Nur noch in der Dichtung leben die Könige weiter, gleichsam vorsündflutliche Menschen; in der Wirklichkeit werden sie beschränkt, unverantwortlich gemacht, moralisiert, entmannt. Unpersönlichkeiten wie die Presse, die öffentliche Meinung oder irgendein Ismus, Welt oder Mammon regieren. Schon zu Goethes und Schillers Zeit wollte man die Könige, die letzten freien Menschen, auch aus der Dichtung verbannen und anstatt dessen das Leben des moralischen Bürgers zum Gegenstande der Poesie machen; diesen großen Dichtern gelang es, die neue Richtung aufzuhalten. Schiller erlaubte sich, laut zu sagen, daß dieser Misere, dem konventionellen Bürger, nichts Großes begegnen könne, deshalb nämlich, weil er nach nichts Großem strebt. Später jedoch siegte die sogenannte realistische Richtung; und jetzt kann man allerdings sagen, daß die Bühnenkönige, da in unserer Welt nichts Ähnliches mehr vorkommt und vorkommen kann, von uns auch weder richtig gedacht, noch dargestellt, noch begriffen werden und noch weniger als Beispiel dienen können.

Wo blieb aber nun die Sünde, nachdem nicht einmal die Könige und andere Häupter der Völker mehr sündigten? Sie wurde abgeschoben auf den nunmehr unpersönlich gewordenen Staat und seine nach außen gerichtete Tätigkeit, die Politik. Der Staat ist der offizielle Sünder; er darf Kriege führen, die Politik darf lügen und betrügen, ja sie muß es, wenn sie nicht als kindisch verlacht werden will. Die ungeheuren Maschinen der Großstaaten rasen als gigantische Sünder gegeneinander, um sich im Kampfe um die Macht zu ermorden.

Die Antwort, wohin die Natur und die Sünde verdrängt werden, gibt der gegenwärtige Krieg. Wir erleben das Entsetzliche, daß friedfertige Menschen, Menschen, die zu sehr von der Zivilisation durchkränkelt sind, als daß sie noch kräftige Machttriebe hätten, Menschen, die gar nicht mehr sündigen können, mit empörten Nerven wilde, kriegerische Taten begehen müssen. Daraus erklärt es sich, daß ein Volk dem anderen die Schuld am Kriege zuschiebt, sicherlich im guten Glauben; denn die Menschen sind sich keines Machttriebes bewußt, und auch der Staat, auf den der Machttrieb verdrängt ist, darf sich nicht mehr offen dazu bekennen. Man begreift nicht, daß der eigentliche Sünder die Heuchelei der Welt ist, welche den natürlichen Trieb auf einen Punkt gedrängt hat, von dem aus er sich nun wie aus einem Geschwür gewaltsam und giftig ergießt.

Inzwischen ist, wie bereits angedeutet, die Zivilisation schon in eine neue Phase eingetreten: wo nämlich auch der Staat nicht mehr sündigen darf. Die Tugend als Gegensatzlosigkeit soll der natürliche Zustand werden. Das Göttliche, welches das Freiwillige ist, soll Gesetz werden, der jüdische Gedanke oder die Erstarrung, die immer das entweichende Leben ersetzt. Es ist anzunehmen, daß, wenn der Staat nicht mehr sündigen darf, und der Machttrieb nirgends mehr einen Ausweg findet, die Menschheit alle Stadien der Geisteskrankheit von der Melancholie an durchlaufen wird.

 

Denn so die Heiden, die das Gesetz nicht haben, doch von Natur tun des Gesetzes Werk, sind dieselbigen, dieweil sie das Gesetz nicht haben, ihnen selbst ein Gesetz, als die da beweisen, des Gesetzes Werk sei beschrieben in ihrem Herzen, sintemal das Gewissen ihnen zeuget, dazu auch die Gedanken, die sich untereinander verklagen und entschuldigen. – Römer 2. 14. 15.

Man könnte in der Tat die Griechen Natur-Christen nennen, weil das Gewissen, welches das eingeborene Gefühl der Volkszusammengehörigkeit ist, in ihnen lebendig war, ohne daß es als Gesetz verkündigt wurde, wie das beim Volk Israel geschah. Als dann der Individualismus dennoch bei ihnen das Maß überschritt, an welches das Dasein eines Volkes gebunden ist, lösten sie sich auf und waren nun reif für die Idee des Christentums. Diese Idee ward Fleisch, als der Individualismus und damit die Hemmungskraft denjenigen Grad erreicht hatte, den Gott nur durch die Offenbarung der Idee von der Einheit der Menschheit überwinden konnte. Diese Idee hatten die Griechen, solange sie ein Volk waren, nicht gehabt; sie erfaßten sie erst, als ihre Volkseinheit aufgelöst war. So, von einer Klarheit zur anderen schreitend, verschwanden sie als Volk, um als Vorbild der Menschheit in das Reich Gottes einzugehen.

Das Schöne des Griechentums liegt darin, daß das Maß ihnen so natürlich war, daß es ihnen nicht als Gesetz gegeben zu werden brauchte. Hätte das Volk Israel das Gesetz nicht gehabt, so hätte es sich gleichfalls aufgelöst, als sein Individualismus das Maß überschritt; das Gesetz aber gab ihm die Möglichkeit, eine künstliche Einheit zu bilden, die nicht aus der Gesinnung hervorging, und mit der es sein Leben fristete, welches doch kein göttlich-natürliches Leben mehr war.

 

Und der Zorn des Herrn ergrimmte abermal wider Israel und reizte David wider sie, daß er sprach: Gehe hin, zähle Israel und Juda. – 2. Samuel 24. 1.

Es ist offensichtlich, warum der Herr über Davids Verbrechen an Uria zürnte; aber es wird vielen nicht einleuchten, daß ihm die Volkszählung als schwere Missetat angerechnet wurde. Man kann, so scheint mir, den Weg zur Erklärung in einer Rede finden, die Professor Moser im Jahre 1916 über Leben und Sterben in der schweizerischen Bevölkerung hielt, also über Volkszählungen und damit verbundene Berechnungen der durchschnittlichen Lebensdauer. »Hier ist ein Volk,« sagt Moser am Schlusse der Rede, »wenn auch nur ein kleines, das verstanden hat, sich selbst zu beobachten und sich selbst zu regieren.« Eben dies Sichselbstbeobachten und Sichselbstregieren ist es, was Gott nicht haben will. Er will es nicht haben heißt soviel als, er hat damit nichts zu tun: die unbewußte Kraft zieht sich vor dem bewußten Verstande zurück. Das Sichselbstbeobachten ist dem Volke gerade so verderblich wie dem einzelnen: es macht unfruchtbar. Man kann in beiden Fällen das Sprichwort anwenden: Der Horcher an der Wand hört seine eigene Schand; das Volk, das sich selbst den Puls fühlt, wird seiner Krankheit inne werden. Das Ergebnis der statistischen Berechnung ist überall der Geburtenrückgang, der »durch den gleichzeitigen Rückgang der Sterblichkeit sich weniger fühlbar gestaltet«. Der Geburtenrückgang ist ein Beweis, daß der Trieb zum Wachsen abnimmt, der Rückgang der Sterblichkeit ein Beweis, daß der Trieb zum Sterben abnimmt, also daß der natürliche Trieb zum Leben und zum Sterben von der Sucht des Menschen, das Leben zu erhalten, überwogen wird.

 

Der ganzen Gemeine sei Eine Satzung, euch sowohl als den Fremdlingen; eine ewige Satzung soll das sein euren Nachkommen, daß vor dem Herrn der Fremdling sei wie ihr. – 4. Mos. 15. 18.

Ein Volk ist immer nur Eine Ausprägung der göttlichen Allseitigkeit; sowie es unter sich bleibt, auf sich selbst angewiesen, würde es sich nach einer Richtung entwickeln und schließlich der Entartung durch Inzucht anheimfallen. Es soll also stets einen Zufluß von Fremden haben; aber diese sollten weder als Herren über ihm, noch als Sklaven unter und neben ihm abgesondert leben, sondern es sollte sie mit sich verschmelzen, denn nur dadurch können sie seine Art erweitern und frisch erhalten. Ein Volk sollte also nicht mehr Fremde aufnehmen, als es sich assimilieren kann, und nur solche, die sich assimilieren lassen, damit seine Volkseinheit gegliedert, aber nicht zerstört werde. Sobald aber ein Volk reich wird und Bedürfnis nach dem Schmuck und Überfluß des Lebens bekommt, nimmt seine Verbrauchslust zu und seine Arbeitskraft ab, und dies reizt seine Neigung, sich Zwangsarbeiter zu halten, sei es, daß es Fremde dazu gebraucht oder die eigenen Volksgenossen in Abhängigkeit herunterdrückt. Es gleicht einem Menschen, der sich gewöhnt hat, mehr zu essen, als er verdauen kann; nimmt er seine Zuflucht zu künstlichen Mitteln, um die Verdauungskraft zu unterstützen, so muß er diese Mittel fortwährend steigern, während die eigene Kraft immer schwächer wird. Darum ist das Reichwerden und der Luxus, was man auch zu seiner Verteidigung vorbringen möge, für jedes Volk eine so gefährliche Klippe und gewöhnlich der Anfang seines Niederganges. Mit dem Luxus vermehrt sich das Volk, aber nur an Zahl, nicht an Kraft: es vermehrt seine Knechte und bereichert seine Herren, die Spaltung also, die das Volk scheidet, vertieft sich.

Ich will bei dieser Gelegenheit bemerken, daß die künstliche Einfachheit, wie sie bei den reichen Familien der Schweiz üblich war und zum Teil noch ist, den Schaden nicht mildert. Wie wunderlich, daß ebensoviel Mühe, wie von den Vorfahren aufgewendet wurde, den Reichtum aufzuhäufen, die Nachkommen aufwenden, ihn zu verbergen. Es ist viel Heuchelei dabei; denn wenn ein Reicher auch täglich Rindfleisch ißt und dabei auf ungepolsterten Stühlen sitzt, so ist sein Lebensgefühl und -bewußtsein von dem des Tagelöhners oder Arbeiters, der seine Tage in Fabriken oder Bergwerken zu bringt, doch zu himmelweit verschieden, als daß ein seelischer und geistiger Zusammenhang zwischen ihnen sein könnte. Je weniger man vom Gelde Genuß will, vorausgesetzt, daß man es nicht doch heimlich hinter der Maske des Rindfleischs genießt, desto mehr will man von ihm das Herrengefühl der Unabhängigkeit gegenüber dem abhängigen Knecht. Trotz dieses verheimlichten Spalts ist die Schweiz, so wunderlich es klingen mag, zu einheitlich, das heißt zu gegensatzlos; in allen Schichten verhältnismäßig sehr gebildet, hat sie keinen genügend starken Untergrund unbewußten Volks mehr, aus dem sie sich erneuern könnte. Wenn sie trotzdem in mancher Hinsicht gesund erscheint, so ist das ihrer Kleinheit, ihrer staatenbündischen Verfassung und ihrem bäuerlichen Grundcharakter zu verdanken; sie hat noch keine eigentlichen Großstädte, die Industrie überwiegt noch nicht, das Volk ist mannhaft und verhältnismäßig wohlhabend, der müßiggängerische Literatur- und Kunstbetrieb ist noch gering. Was wäre die Schweiz, wenn sie Ideale hätte, wenn sie nicht im Selbsterhaltungstrieb erstarrt, wenn sie kriegsfähig wäre!

 

Je mehr ihrer wird, je mehr sie wider mich sündigen. – Hosea 4. 7.

Der Trieb der Individualisierung oder der Trieb des vom Ganzen abweichenden Willens, der Negativismus, nimmt zu, je mehr das Volk sich ausbreitet; der Typus, welcher gleichsam als Ausgangspunkt in der Mitte steht, wird von den Entfernteren immer mehr aus den Augen verloren. Ein kleines Volk kann sich gesund und fromm erhalten; je größer es an Zahl wird, desto mehr wird die Kultur zur Zivilisation, verzerrt sich das Natürliche zum Krankhaften, so daß den Auswüchsen der Kraft auf der einen Seite Auswüchse der Schwäche auf der anderen gegenüberstehen. Auch folgendermaßen hängt das zusammen: Das wachsende Volk hat gegen äußere Widerstände zu kämpfen; sobald diese überwunden sind und es im Besitz einer gewissen Größe und Macht ist, gehen die Widerstände ins Innere über und beginnen das Volk im Innern zu zersetzen. Dies Gesetz des Widerstandes ist so bekannt, daß häufig Regierungen gärender Völker die innere Unruhe durch Kriege zu überwinden suchen. Ein Völkerbund würde deshalb, nebenbei gesagt, nur Bestand haben können, wenn er sich gegen äußere Feinde zu verteidigen hätte, wie z. B. Abendland gegen Morgenland, Europa gegen Amerika, die germanisch-romanischen gegen die slawischen Völker; oder er würde sich durch Fehden im Innern erhalten. Fehlte der Widerstand gänzlich, so wäre der Weltbund ein Zeichen von Greisenhaftigkeit und der Beginn des Weltendes auf Erden. Unaufhaltsam ist die Individualisierung und das Bewußtwerden; während im Beginn der Kultur die Vermischung des Individuellen mit dem Typus die höchsten Vorbilder erzeugte, entstehen mit der Entfernung des Individuellen vom Typus, mit dem Überwiegen der abweichenden Phantasie über die idealisierende, immer verzerrtere, absonderlichere, mit dem Ganzen unvereinbare Einzelwesen, »gstablige Ichs«, wie Gotthelf sie nennt. Es gibt eine Grenze, jenseit welcher die Absonderung vom Typus so groß ist, daß die Verschmelzungsfähigkeit und damit die Fortpflanzungsfähigkeit aufhört.

Dieser Zersetzungsverlauf betrifft nicht nur das einzelne Volk, sondern, seit es eine Menschheit gibt, also bewußt seit Christus, auch die Menschheit. Seit der Kirchentrennung, und das ist zugleich seit der Auflösung des Reichs, hat die Menschheit keine Vertretung mehr. Das ist, wie ich sicherheitshalber hinzufüge, nicht Luthers Schuld; sondern es ist die Schuld der damaligen katholischen Kirche, daß sie sich nicht verwandeln lassen, nicht sterben wollte, um verjüngt wieder zu erstehen.

 

Und ich mochte ihrer nicht mehr, so wollten sie mein auch nicht. Und ich sprach: Ich will euch nicht hüten; was da stirbt, das sterbe; was verschmachtet, das verschmachte; und die übrigen fresse ein jegliches des andern Fleisch. – Sach. 10. 8. 9.

Je mehr sich die Individuen in der Zivilisation von dem menschlichen Urbilde entfernen, dem die Natur durch göttlichen Willen zustrebt, desto feindlicher stehen sie sich auch untereinander gegenüber, da das Mittel fehlt, das sie verbände. Je menschlicher die Menschen sind, desto leichter können sie sich untereinander verständigen, je individueller, je schärfer ausgeprägt in ihrer Eigenart, desto schwerer ist es, sie unter einen Hut zu bringen. Kinder und einfache Menschen vertragen sich leicht, wenn sie sich auch einmal zanken und streiten; Erwachsene, ausgebildete Individuen können nur, wenn nicht durch Gewalt, durch eigennützige Klugheit zusammengehalten werden. Haben sie sich einmal so weit von der Natur wegentwickelt, daß sie gar nicht mehr unter Gott stehen, so macht jedes sich selbst zum Gott, jedes vertritt seine eigene Meinung und sucht diese von der des Nächsten, sei es auch nur durch besondere Ausdrücke, zu unterscheiden, sollte auch der Sinn derselbe sein. Je höher ein Volk zivilisiert ist, desto mehr zerfällt der Einzelne und zerfällt das Volk. Die unter Gott gebundene Geisteskraft nennen wir Phantasie, die nicht mehr durch Gott gebundene zerfällt in Verstand und Sinnlichkeit. Wir finden daher bei allen dekadenten Menschen und Völkern sehr viel Verstand und sehr viel Sinnlichkeit und Sentimentalität; aber nicht Geist, das ist Phantasie, unmittelbare Urteilskraft, Liebe.

Es sind die Zeiten, wo die Menschen nicht mehr an Gott glauben, weil sie in der sie umgebenden Ungerechtigkeit, im Anblick der triumphierenden Gemeinheit und des unverschuldeten Elends, im Anblick aller erdenklichen Erniedrigung der menschlichen Art das Walten eines gerechten und gnädigen Gottes nicht mehr erkennen. Sie vergessen, daß Gott in der Tat nicht mehr unter ihnen ist, weil sie sich selbst von ihm entfernt haben. Sie sind gottlos, und die Welt ist gottlos, weil keiner mehr Gott vertritt, jeder nur auf sich selbst oder menschliche Kraft vertraut. Gottes Zorn ist am größten, wenn er schweigt; aber er schweigt nur denjenigen, die, weil sie nur sich selbst und das Sichtbare vernehmen, kein Ohr mehr für die Stimme vom Jenseits haben.

Jede Individualität, als Einzelform, kann sich nur bis zu einem gewissen Grade weiterentwickeln; nachher geht es nicht weiter. Sie ist einmal fertig, und fertig bedeutet nicht nur vollendet im Sinne von vollkommen, sondern auch im Sinne des Ausseins. Wird die fertige Individualität nicht wieder zur Natur zurückgeführt und verschmilzt sie nicht mit dieser, so muß sie sich zurückbilden, und das ist eben, was man Dekadenz nennt. Diese Zurückbildung ist aber nicht ein gerades Durchlaufen der verlassenen Stufen, wie Kindischwerden nicht Kindwerden ist, sondern diese Rückbildung findet statt in der Form von Erstarrung und Auflösung, wobei wohl frühere Stufen wiedererscheinen, aber entwertet, da der innere Trieb fehlt und es nur noch die leeren Formen sind. Wie die große Anzahl dieser erstarrten, fertigen Individualitäten geistig unverbindbar neben- und gegeneinanderstehen, so sind sie auch körperlich nicht verschmelzbar: die Menschen in äußerster Entfernung von Gott-Natur pflanzen sich überhaupt nicht mehr fort oder erzeugen mangelhafte Kinder.

Wie nun die Volksindividualitäten, aus denen die Menschheit besteht, eine der anderen Fleisch frißt, das veranschaulicht der jetzige Krieg. Durch eine ungeheure Selbstzerstörung der Zivilisation muß dem Erblühen einer neuen Erde unter einem neuen Himmel Raum gemacht werden.

 

Herr gib ihnen! Was willst du ihnen aber geben? Gib ihnen unfruchtbare Leiber und versiegte Brüste. – Hos. 9.14.

Die Dekadenz eines Volkes kündigt sich an durch das Überhandnehmen der Frau, sei es, daß mehr Mädchen geboren werden, oder daß mehr Knaben sterben; vor allen Dingen aber durch die Veränderung im Wesen der Frau, so daß sie immer mehr Eva und weniger Maria werden, mehr den Zwang als die Freiheit, mehr das Bewußte als das Unbewußte vertreten. Dadurch, daß die Frauen in ihren Söhnen den Machttrieb hemmen, schwächen sie die Männer, ohne ihren Sinn zu ändern; und je schwächer die Männer werden, desto herrschsüchtiger werden die Frauen, ohne doch kraftvoller zu werden, den natürlichen Machttrieb des Mannes zu bekommen. Denn Herrschsucht ist nicht Machttrieb, der wachsen will und wachsen läßt, sondern Herrschsucht will unterdrücken und hemmen. In einem dekadenten Volke werden die Männer schwach, feige, aber stolz und eigensinnig, die Frauen unternehmend, tätig in der Öffentlichkeit, pflichteifrig, aber phantasielos und wenig opferwillig durch Hingabe der Person in der Familie, wie ihrerseits die Männer sich dem Volke nicht mehr opfern wollen.

Die Abnahme der Fruchtbarkeit ist äußerlich kenntlich an einer Veränderung des Skeletts, welches sich dem Bau des männlichen annähert. Der Geburtenrückgang äußert sich aber nicht so, daß in allen Schichten des Volkes gleichmäßig weniger Kinder geboren werden, sondern so, daß in den höchsten Klassen wenig, in den unteren Klassen viele und minderwertige geboren werden. Große Fruchtbarkeit kann auch ein Zeichen von Schwäche, von allzu ungünstigen Lebensbedingungen, von Mangel an Widerstandskraft sein, während das Übermaß der Widerstandskraft unfruchtbar macht. Fruchtbarkeit im eigentlichen Sinne, das Erzeugen kräftiger, lebensfähiger Kinder, ist ja ein Hingeben seiner selbst, ein Kraftopfer; es kann also keine geben, wo Entkräftung und Beschränkung auf sich selbst, Selbstherrschaft bestehen. Das Bekämpfen einzelner Zivilisationslaster kann den Geburtenrückgang nicht hindern, solange die letzte Ursache bleibt: das Überwiegen des bewußten Willens über das Unbewußte, das Sichselbstregieren und damit Sichselbstunterdrücken der Menschen oder das Verdrängen von Gott-Natur durch den Menschen.

 

Ich will selbst meine Schafe weiden, und Ich will sie lagern, spricht der Herr. – Hesek. 34.15.

Aus der Rede des Professor Moser erfahren wir, daß kein einziges Volk, weder des Mittelalters noch des Altertums, brauchbare Angaben über die Lebensdauer und die Sterblichkeit hinterlassen hat. Die Bibel hat zwar herausgefunden, was die statistische Wissenschaft nur bestätigen konnte, daß das Maximum der Sterblichkeit sich bei siebzig Jahren findet; aber das war intuitive Weisheit, Eingebung von Gott. Die Neigung zur Statistik beginnt erst, wenn das Selbstbewußte stärker geworden ist als das Unbewußte, und wenn gleichzeitig sich die Schwächung des Instinktes schon durch allerhand Dekadenzmerkmale bemerkbar gemacht hat: Zunahme der Selbstmorde, der Trunksucht, des Irrsinns, Abnahme der Fortpflanzungsfähigkeit und der Willenskraft. Sowie die Übel statistisch festgestellt sind, beginnen die Reformpläne, die sie aber nur verschlimmern, da sie ja das Selbstwollen und die Selbsttätigkeit nur verstärken.

Die wunderbare Beziehung zwischen Leben und Sterben ist längst aufgefallen, daß zum Beispiel nach einem Kriege, wo die Männersterblichkeit besonders stark war, mehr Knaben als sonst geboren werden. Die göttliche Weisheit weiß, wieviel und welcher Art Kräfte sie zur Erreichung ihrer Ziele bedarf, und die göttliche Allmacht, die wachsen und welken läßt, ruft sie hervor. Der menschliche bewußte Wille kann das nicht, im Gegenteil, er wirkt als Hemmung; der Umweg über das menschliche Gehirn erschwert es Gott, seinen Willen ins Werk zu setzen: Denn der Verstand, so klug er auch ist, ist doch nur ein Schleicher, der mit den Künsten, die er Gott ablernt, Gott überbieten möchte; seine Ziele sind immer denen Gottes ganz entgegengesetzt: Gott will beständige Bewegung, beständiges Fließen und Verwandeln, der Verstand registriert und ordnet, um zu erhalten und zu mumifizieren. Scheinbar erreicht er seine Absicht, indem die Lebensdauer der Menschen unter seiner Leitung beträchtlich zunimmt; aber inzwischen vollzieht sich Gottes Wille dadurch, daß, selbst wenn der Geburtenrückgang noch nicht überwöge, die Beschaffenheit der Geborenen stets zurückgeht. Die vom Verstande geleitete Gesellschaft, deren Kräfte alle in das Bewußtsein gezogen sind, gleicht einem Gebäude auf morsch gewordenen Säulen: bei einem starken Anstoß stürzt es unversehens zusammen.

 

»Überlaß es den Göttern, dafür zu sorgen, was unser Bestes sei, und was uns ein gutes Gedeihen bereite; Lieber ist ihnen der Mensch als sich selbst.«

Ein und dieselbe Mahnung rufen uns der gläubige Heide zu und der gläubige Christ.

 

Durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein. – Jes. 30. 15.

Je kränker ein Mensch oder ein Volk durch maßlosen Eigenwillen ist, desto mehr denkt es nach, wie es sich helfen könne, wirft es sich von einer Seite auf die andere, versucht und unternimmt es dies und jenes, anstatt die Lösung Gott zu überlassen. Hätte es die Fähigkeit, sich von Gott tragen zu lassen, so wäre es ja nicht krank geworden. Es gibt einen Grad der Überanstrengung des eigenen Willens, des Selbstbewußtseins, wo nur Stillesein retten kann; aber nicht trauriges, dumpfes Hinbrüten, sondern Stillesein und Hoffen, Stillesein im Glauben, daß Gott helfen werde. Dann wird sich leise das Sausen des göttlichen Atems wieder regen. Aber auch das Stillseinkönnen ist Gnade; der Erstarrte, einzelner oder Volk, kann es nicht mehr.

 

Darum wird der Herr abhauen von Israel beide, Kopf und Schwanz. Die alten und vornehmen Leute sind der Kopf; die Propheten aber, so falsch lehren, sind der Schwanz. – Jes. 9.13.14.

Die Erstarrung, welcher die zivilisierte Welt anheimfällt, ergreift diejenigen Schichten, die sich durch irgendwelche Vorrechte oder Besonderheiten vom Volke abgetrennt und darüber erhoben haben, die sogenannten höheren Klassen. Die alten und vornehmen Leute sind die Aristokratie, sowohl die der Geburt wie die des Geldes; die Propheten, die falsch lehren, sind diejenigen, die wir heute die Intellektuellen nennen, Gelehrte, Journalisten, Schriftsteller, Künstler, die Wissenschaft und Kunst als Selbstzweck betreiben. Das Absonderungsgelüste ist bei allen gleich: die sich nicht durch Geld, Titel und Rang vom Volke trennen können, tun es durch vermeintlich höheres Denken, Reden und Sichgebärden. Nicht als ob es verwerflich sei, über das Gemeine hervorzuragen; aber das tut man nur, indem man höhere Ziele verfolgt als die Allgemeinheit, mehr wagt, mehr opfert, und zwar gerade für das Volk. Es bleibt immer wahr, daß der Starke am mächtigsten allein ist; aber er ist nur stark, wenn er aus seinem Volke und für sein Volk lebt.

Die Halbierung des Menschen geht so weit, daß die sogenannten höheren Klassen nur noch mit dem Kopfe, die unteren nur noch mit dem Körper arbeiten, abgesehen von denen, bei denen beides ausschaltet. Dies Auseinanderreißen hat im Altertum niemals einen so hohen Grad erreicht wie heute, wo man das Übel vergebens durch die Erfindung des Sports wieder gutzumachen sucht.

 

Das Wissen blähet auf. – 1. Kor. 8. 1.

Knowledge is power, sagte Bacon; er erkannte das Wissen als einen Weg zur Macht. Dies war keine neue Erkenntnis; schon in den Priesterstaaten des Altertums war das Wissen ein Vorrecht, das gewissen Kasten die Macht sicherte. Der allerärgste Machttrieb, der herrschen will, ohne zu kämpfen, weil dazu die Kraft nicht mehr vorhanden ist, also eigentlich nicht Machttrieb, sondern Herrschsucht, aus dem Bewußtsein hervorgehend, bediente sich des Wissens als des Mittels zur Absonderung und Überordnung. Nichts ist trennender im Volke als die Wissenschaft; die Trennung nach der wissenschaftlichen Ausbildung löst im Volke noch mehr auf als die Trennung nach Adel und Reichtum. Solange die Kultur auf der Phantasie beruht, ist sie dem ganzen Volke zugänglich; die Wissenschaft vereinzelt, ohne irgendeine neue Erkenntnis zu schaffen. Sie zerlegt die einheitliche Idee in Begriffe und macht damit eine Sprache, die nur vom Eingeweihten verstanden werden kann; durch die Vorherrschaft dieser bewußten Sprache verkümmert die anschauliche, die aus dem Unbewußten quillt, die bewußte wird immer dünner und lahmer, da sie des Zustroms aus der Quelle entbehrt, und putzt sich dementsprechend mit desto künstlicheren Lappen auf. Die zersetzenden Folgen der wissenschaftlichen Kultur sind leider kaum in einem Lande so bemerkbar wie in Deutschland; nirgends besteht so wie bei uns die Kluft zwischen dem Gebildeten und dem Ungebildeten, den Universitätsangehörigen und den Laien.

Die technische Wissenschaft dient geradezu der Welt, dem Mammon, sie ist insofern ehrlich; was man von den Geisteswissenschaften nicht sagen kann. Die Wissenschaft sucht Gesetze auf; für den Geist aber, Gott-Natur, gibt es keine Gesetze, er offenbart sich durch die persönliche Phantasie. Sie strömt aus dem Unbewußten und ist frei. Die Geisteswissenschaft dreht sich daher immer im Kreise und beißt sich in den Schwanz; das, wovon sie eigentlich handelt, kann sie nur beschreiben, übrigens charakterisiert sie sich selbst, nicht den Gegenstand ihrer Forschung. Für das bewußte Geistesleben lassen sich allerdings Gesetze aufstellen; wo dies allein auftritt, haben wir aber eben nur Wissenschaft, und sowie es im Kampfe und in der Versöhnung mit dem freien Geiste, mit Gott, auftritt, ist es mit diesem frei und dem Gesetz entzogen. Gerade das Große und Schöne, das, was gekannt und verehrt, was allen zugänglich gemacht werden sollte, ist auch allen verständlich; wenigstens allen nicht schon entarteten Menschen.

 

So schreibet euch nun dies Lied und lehret es die Kinder Israel, und leget's in ihren Mund, daß mir das Lied ein Zeuge sei unter den Kindern Israel. – 5. Mos. 31. 19.

Die Wiedergeburt des Volkes Israel durch Nehemia gehört zu den besonders erschütternden Geschichten, die das Alte Testament erzählt. Um die alte Kraft des Volkes wieder zu erwecken, läßt er die Gesetze des Moses und die Heldentaten des Auszugs aus Ägypten und der Eroberung Kanaans vorlesen, und die Erinnerung der einstigen Größe bewegt das gealterte Volk, daß es in Tränen ausbricht. Immer, wenn ein Volk sich aus Versunkenheit erhebt, greift es auf die großen Erinnerungen seiner Jugend zurück, erhebt und stärkt sich daran, befruchtet seinen Geist mit dem auferstandenen Geist der Vergangenheit. Darum gebietet Gott in der Heiligen Schrift immer, wenn etwas Großes getan ist, es aufzuzeichnen, mit dem ausdrücklichen Zweck, daß es einst, in Zeiten des Abfalls von Gott, für Gott zeugen und die Kraft des Glaubens neu beleben möge. In Übereinstimmung damit hat Goethe einmal gesagt, daß der Zweck der Geschichte sei, Begeisterung zu erwecken. Umgekehrt führt die Geschichte die Strafe vor Augen, die das von Gott abweichende, sich auf sich selbst verlassende Volk ereilt. Diesen doppelten Charakter, des begeisternden und strafenden, erhält die Geschichtsschreibung unwillkürlich in großen, lebendigen Zeiten; in der Zeit des Stillstandes und Niederganges dagegen wird sie skeptisch, setzt die mythische Größe der Vergangenheit herab, sucht das Wunderbare als Fabel zu enthüllen und namentlich den Einfluß des persönlichen genialen Willens herabzusetzen. Was der bewußte Wille des Menschen macht, wird wichtig; die großen Taten, in denen der göttliche Wille sich verwirklicht, begegnen dem heimlichen Wunsch, sie in Nichts aufzulösen; an den Vollstreckern des göttlichen Willens, den Propheten, wird so lange gezupft, bis sie entweder überhaupt nicht mehr da sind oder nur eine erbärmliche Menschlichkeit übriggeblieben ist, vor der sich niemand mehr klein zu fühlen braucht. Die Bibel ist das Buch der Werke, der Taten und der Weisheit Gottes und seiner großen Söhne. Jedes Volk hat Erinnerungen aus der Zeit seines Bundes mit Gott in der gläubigen Jugend; die Geschichte des Volkes Israel aber umfaßt die Jugendgeschichte der Menschheit, und die ganze Menschheit stärkt und verjüngt sich daran.

 

Ich will in dir lassen überbleiben ein arm gering Volk. – Zephanja 3. 12.

Im Volke Israel blieb nach dem Abhauen der oberen Klassen nur noch eine dünne Schicht armer, verelendeter, versklavter Menschen übrig, kein gesunder Mittelstand. Dies war der Grund, weshalb es, ähnlich wie später die Polen, aufgelöst werden konnte und in die Zerstreuung gehen mußte. Das kann niemals das Schicksal eines Volkes sein, in dem ein kräftiger Rumpf, namentlich ein kräftiger, freier Bauernstand vorhanden ist. Ein solcher kann sich stets regenerieren, den Schwanz aus sich hervorbringen, das göttliche Haupt durch den Glauben ergreifen.

Man hat Christus fälschlich nachgesagt, er habe eine Sklavenmoral geschaffen. Ach wie sehr verkennt man den größten Herrn, den Göttersohn! Als hätte der König der Könige nicht lieber über ein starkes, entwicklungsfähiges Volk geherrscht! Sieht man denn nicht die erhabene Trauer, die ihn umhüllt, die himmlische Nachsicht, durch welche doch zuweilen eine unwillkürliche Ungeduld zittert, mit der er sich zu seinen Jüngern herabläßt, die ihn oft so schlecht verstanden? Er fand eben kein Volk mehr, nichts als eine herrschende Schicht, die ihn haßte, weil er sie als die Zerstörer seines Volks brandmarkte, und eine Sklavenschicht, durch Druck und Zwang gebunden, weit ärger gebunden als einst die Hebräer in Ägypten, die Moses nach Kanaan führte. Diese Armen waren im Kampf um die Herrschaft die Schwächeren gewesen; daß sie die Besseren gewesen wären, ist damit nicht gesagt. Sie waren Sklaven, die, wenn sie die Macht gehabt hätten, sich selbst an die Stelle der Herrschenden gesetzt hätten. Deshalb ließen sie sich so leicht gegen Christus aufhetzen, denn im Grunde war ihnen doch nichts erstrebenswerter als Macht und Herrschaft, das einzige, was Christus ihnen nicht geben konnte, weil sie kein Volk mehr waren.

 

Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen. – Lukas 13. 34.

Wenn Christus ein Volk gefunden hätte, das, in sich einig, nur von der römischen Fremdherrschaft bedrückt gewesen wäre, ähnlich wie einst die gefangenen Hebräer in Ägypten, ob er es wie einst Moses jene befreit und erneut hätte? Darüber Vermutungen anzustellen, ist fruchtlos; denn es gehört zu seinem Wesen, der Heiland eines zerrissenen, aufgelösten Volkes zu sein. Sicher geht aus vielen seiner Äußerungen und aus der Grundstimmung seines Wesens hervor, daß er die tiefe Tragik seiner Bestimmung als solche erkannte, und daß er weit, weit lieber der Heiland eines der Verwandlung fähigen Volkes gewesen wäre. Dazu jedoch war sein Auge zu durchdringend und seine Liebe zu groß, als daß er, um sich beliebt und angesehen zu machen, dies entkräftete Volk in einen aussichtslosen Kampf gegen die römischen Herren geführt hätte. Bald nach seinem Tode traten falsche Heilande auf, welche dem Volk die Möglichkeit eines siegreichen Kampfes vorspiegelten und es zu dem Aufstande verleiteten, der zur Zerstörung Jerusalems und zur vollständigen Vernichtung des jüdischen Volkes als solchem führte. Zweifellos hätte, wie die Geschichte beweist, Christus mit solchen Täuschungen Anklang gefunden. Die Wahrheit, die er ihnen sagte, daß sie kein Volk mehr seien und keins mehr werden könnten, und daß ihnen nichts übrig bliebe als zu sterben, nämlich in dem sie beherrschenden Volke aufzugehen, die wollten sie nicht hören. Auch die Elenden, unter denen er gelebt, die er geliebt und geheilt hatte, fielen von ihm ab, als die höheren Stände, deren Sklaven zu sein sie gewöhnt waren, sie köderten und aufreizten. Daß es sterben muß, das verträgt ein Volk nicht zu hören, so wenig wie der einzelne es verträgt. Die Römer verstanden Christus so gut, daß sie sogar eine gewisse Sympathie für ihn hatten; denn um zu ahnen, auf welche Weise er nach seinem Tode noch ihr Reich stürzen würde, so gut verstanden sie ihn doch nicht.

 

Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunderbar, Rat, Kraft, Held, Ewig-Vater, Friedefürst. – Jes. 9. 5.

Gerade dann, wenn die Zersetzung des Volkes durch übermäßige Individualisierung bis zum äußersten vorgeschritten ist, deuten die Propheten, die in die Zukunft blicken, auf das Kind, das zur Rettung geboren wird. Nicht auf eine Revolution oder neue, höchst fein ausgedachte Verfassung hoffen sie, sondern auf das Kind, den neuen Menschen, den Retter und Befreier. Das Kind ist das Wunder der Wunder, der Keim eines neuen Willens; denn das Wort ist ein Wille und offenbart sich im Menschen. Kein geschriebenes Gesetz, kein Zwang irgendwelcher Art kann die Getrennten zu einer Einheit verbinden, sondern nur der Glaube an den All-Menschen, an Gott, vermittelt durch den Sohn, in dem alle sich wiedererkennen und so zu Brüdern werden. Gott ist der All-Vater, der alle Individualitäten umfaßt, das unerschöpfliche Füllhorn der Gestaltung, die Sonne, von der alle Strahlen ausgehen; sowie sie in einem irdischen Menschen sichtbar wird, schmilzt die trennende Maske von den Angesichtern, und sie werden inne, daß sie Eines Vaters Kinder sind.

Solche Heilande sendet Gott den Völkern, die auseinanderfallen wollen, um sie mit feuriger Hand wieder zusammenzuschweißen; aber einmal, einmal muß jedem Volke ein Letzter kommen, der, dessen Hand es nicht anglüht zu neuem Leben, sondern es verzehrt, wenn es sich nicht in ihm erkennt, weil es schon zu sehr zersetzt und auseinandergefallen ist. Er, der deshalb der Letzte sein muß, spricht das Wort, die Idee, die in diesem Volke verborgen war, ganz aus; nach ihm bleibt nichts Neues zu sagen mehr übrig. Die Unglückseligen, die nach ihm kommen, sprechen noch, ohne doch etwas zu sagen zu haben; es kommt nicht mehr von innen heraus, denn es ist kein Gott mehr im Innern verborgen. Sie können nur noch das letzte Wort wiederholen, die Lehre vom freiwilligen Sterben der Liebe.

Auch sein letztes Wort hat jeder einmal gesprochen und ist dann zum Tode reif. Er kann nur noch sich selbst wiederholen oder verstummen, um auf den Ruf des Herrn zu horchen: Kommet wieder, Menschenkinder! Zukunft hat er auf Erden nicht mehr.

Eine beklemmende Frage muß hier auftauchen: Wäre Christus nichts als das letzte Wort des Volkes Israel gewesen, so etwa wie Tizian das letzte Wort Venedigs oder wie Shakespeare das letzte Wort Alt-Englands? Es ist doch augenscheinlich, daß Christus nicht nur das Volk Israel, sondern zugleich die Menschheit vertrat, daß er also auch ihr letztes Wort war. Und wenn das so ist, macht sein Erscheinen dann nicht zum voraus alle Nachchristen zu Epigonen? Allerdings, das ist wahr, die Menschheit kann über dies Ideal, über dies Wort nicht hinaus. Ihr Tod ist von vornherein beschlossen, auch die Erde muß sterben, nur Gott ist unsterblich und schafft ohne Aufhören. Daß aber, obwohl allerdings ein wesentlicher Unterschied zwischen vorchristlicher und nachchristlicher Menschheit besteht, dieser Unterschied doch nicht allen nachchristlichen Völkern die Entwicklungsmöglichkeit abschneidet, beweisen die Germanen. Für sie war Christus der Gott, der wachsen läßt, weil sie den Glauben hatten, der dem Volk Israel fehlte. Jedes Genie hat zwei Gesichter, wie auch Moses ein anderer für die Ägypter und ein anderer für die Israeliten war: es läßt die Gläubigen wachsen und die Ungläubigen, die Altgewordenen, sterben. Es kommt nur auf den Glauben, die Gesinnung an. Zum verzehrenden Feuer wird Christus immer erst für die, die nicht mehr wachsen können und doch nicht sterben wollen.

Was Christus zum Angelpunkt der Weltgeschichte macht, ist das, daß er der erste Mensch war, dessen Selbstbewußtsein, körperlich gesprochen: dessen Zentralnervensystem, ebenso stark entwickelt war wie sein Unbewußtes; ich nehme an, daß sich das körperlich durch sympathisches Nervensystem und Herz ausdrückt. Er erkannte sich infolgedessen als Mensch im Gegensatz zu Gott und überwand, das ist das Entscheidende, diesen Gegensatz, indem er sich unter Gott stellte und Gottmensch wurde. Hätte er das nicht getan, was er aber natürlich tun mußte, so wäre er Satan geworden; erst seit Christus kennen wir Satan, weil das spezifisch Menschliche vorher noch nicht so entwickelt war, um sich von Gott losreißen zu können. Nach Christus stirbt die Menschheit nicht mehr unbewußt, sondern bewußt, und sie sucht sich deshalb dem Sterben zu entziehen, der tiefste Grund ihres Treibens ist der Kampf gegen den Tod. Aus diesem Grunde mußte sie das Vorbild des sich freiwillig opfernden Christus haben, der gerade dadurch, daß er stirbt, aufersteht und lebt; folgt sie ihm nicht nach, so erstarrt sie im geistigen Tode, dem kein Auferstehen folgt. Eigentümlicherweise wird jetzt so oft auf Christus hingewiesen als auf den, nach dem wir uns nennen, und dessen Name doch durch den Krieg, so meinen wir, verhöhnt werde. Wäre die europäische Menschheit Christus nachgefolgt, anstatt Heuchler zu sein, die nur nach einem ewigen Erdenleben trachteten, so wäre es zu diesem Kriege nicht gekommen. Gott ruft den Menschen zu wie Friedrich der Große seinen fliehenden Soldaten: Canaillen, wollt ihr denn ewig leben? Die schon das Sterben abschaffen zu können meinten, töten sich nun selbst, vergießen Menschenblut in Strömen. Nicht Christus hat allerdings diesen Krieg gemacht; noch weniger aber den Frieden, der vorher war.

 

Gott ist verkehrt mit den Verkehrten. – Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen wie eine Henne ihr Nest unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt! – Lukas 13. 34.

Schon Nietzsche war stolz darauf, daß er nicht verstanden wurde; aber die Sehnsucht, verstanden zu werden, bricht doch mit naturwüchsiger Gewalt zuweilen durch seine Verkrochenheit. Die jetzigen Dichter, Künstler und Philosophen befleißigen sich mit noch weit besserem Erfolge undurchdringlicher Dunkelheit und werden wirklich von niemandem, außer ihnen selbst, verstanden, von einem Häuflein aber vergöttert. Die Maler ahmen die Krickelkrackel kleiner Kinder nach; aber mit dem Unterschiede, daß die Kinder ungeduldig werden, wenn die Erwachsenen in dem Zickzack auf ihrer Tafel nicht gleich den Reiter auf der Landstraße erkennen, während die Maler sich schämen würden, wenn jemand den simplen Reiter erriete. Ebenso ist es in der Musik: ein Wust von Tönen anstatt eine musikalische Idee, die das Herz ergriffe. Alle diese Äußerungen von Seelen, die lieber für irrsinnig gelten als verstanden werden möchten, sind mir außerordentlich widerwärtig; dennoch liegt ihnen, das sehe ich ein, etwas Tragisches zugrunde.

Die Welt schob sich zwischen Gott und sein Volk, als nicht mehr die Weisen und Guten, die, welche Gut und Böse unterschieden und das Künftige voraussahen, es anführten, sondern Könige, Adel, irgendwelche weltliche Obrigkeit an die Spitze traten, die ihr Führerrecht nicht mehr aus der Gnade Gottes, sondern aus ihrem Amte oder ihrer Kaste ableiteten. Dennoch ist Gott getreu und verläßt sein auserwähltes Volk nicht: immer noch gehen große Männer aus seiner Mitte hervor, die leiten, drohen, warnen, schützen und erretten. Immer tiefer und weiter aber wird die Kluft, so zeigt die Geschichte des Volkes Israel und seiner Propheten, immer weniger versteht das Volk die Stimme des göttlichen Hirten. Wie erschütternd und versöhnend ist das Bild der Welt, wie sie dem im Stalle geborenen Genius huldigt. Die Könige steigen von ihren Thronen und kommen von weit her, um ihre Schätze vor ihm und seiner Mutter hinzuschütten, die arm und heimatlos, von den Menschen verlassen, nur von frommen Tieren umgeben sind. Herrschaft, Macht und Reichtum liegen anbetend vor der göttlichen Natur, ihres Staubgeborenseins bewußt. Ein Augenblick ist es, wo der furchtbare Zwiespalt sich schließt und die Welt eins und begnadigt ist unter Gott; aber es ist nur ein Augenblick. Wenige Jahre gehen vorüber, und die Welt schlägt den, den sie als Erretter anbetete, mit Verbrechern ans Kreuz.

Je zivilisierter, je weltlicher die Welt wird, desto unverstandener stehen die großen Männer abseit, Götter ohne Natur, Volksführer ohne Volk. In unserer Zeit ist es so weit gekommen, daß die, welche große Männer sein möchten und dafür gelten wollen, ganz vergessen haben, daß sie es nur mit ihrem Volke oder denn gegen ihr Volk, aber immer für ihr Volk sein könnten. Wieder ist das bei Nietzsche deutlich zu verfolgen, daß es dieser Irrwahn war, an dem er und seine Lehre krankte. Er sah richtig ein, daß der Wert eines Volkes in seinen höchsten Exemplaren liege, aber er vergaß ganz, daß diese doch nur insofern groß sind, als sie das Volk vertreten, als das Volk sein Idealbild in ihnen erkennt, das Ebenbild ihres Gottes. Zuweilen überkam es Nietzsche; wir hören durch seine Schwester, daß er sich plötzlich einmal beklagte, daß er das Volk gar nicht kenne, sich erkundigte, wie es lebe, und den Wunsch äußerte, sich ihm zu nähern. Das verflog aber; der Abstand war viel zu groß und seine Liebe viel zu klein.

Es wäre ungerecht, die Schuld daran ihm allein zuzumessen. Haben wir denn noch ein Volk? Ist es möglich, vom Volke verstanden zu werden und nicht nur etwa von dieser oder jener Partei, diesem oder jenem Stande, diesem oder jenem Kreise? Wie anders hätte Deutschlands Los sich gestaltet, wenn Luther, Deutschlands größter Sohn, von seinem ganzen Volke wäre verstanden worden! Ganz Europa durchdrang seine Stimme, ganz Deutschland spricht mit seiner Sprache; aber das halbe Deutschland lästert seinen Namen, und von den anderen wird er großenteils mißverstanden. Nur in der Musik kann Deutschland noch eins sein; zwar die Katholiken halten sich von Bach, dem Allergrößten, mißtrauisch zurück; die Protestanten aber beugen willig das Knie vor Beethoven. Wir haben einige Dichtungen, den ersten Teil von Goethes Faust, Schillers Tell und Don Carlos, die wahrhaftig ein ganzes Volk verstehen könnte; aber sieht man näher zu, so sind es auch da nicht einmal die sogenannten Gebildeten, sondern etwas Jugend, einige Feinschmecker, einige Idealisten, die wahrhaft glauben. Die Welt zersetzt und spaltet das Volk immer mehr; sie sucht es durch Heimatschutz, allerhand völkische Bestrebungen, wie man in Deutschland sich ausdrückt, zusammenzufassen und löst es nur noch mehr auf. Die unglückseligen Kreis- und Parteihäupter halten sich für Propheten und Gottessöhne und reden ins Leere; das Volk kennt ihre Namen nicht einmal oder lacht sie aus. In Rußland hat Tolstoi einen erhabenen und rührenden Versuch gemacht, in seiner Person Gott mit dem Volke zu verbinden. Von modernen Dichtern sind Gotthelf und Dickens vielleicht die einzigen, die von allen Schichten des Volkes gleichermaßen geliebt, verehrt und gewürdigt werden können. Kaum irgendwo aber, scheint mir, kann man mit so viel Recht in diesem Sinne von einem Volke sprechen wie in Italien. Es ist nicht die Schuld des italienischen Volkes, daß es jetzt keinen anderen geistigen Führer hat als die Karikatur eines Dichters, d'Annunzio; aber das ist nichtsdestoweniger wundervoll und einzig, daß das Volk, als verstände sich das von selbst, in dem Dichter zugleich seinen Führer sieht, daß es nicht Kunst und Politik trennt, sondern instinktiv nur von der Führerschaft des großen Geistes weiß. Es ist nicht umsonst, daß die Deutschen sich ins Herz getroffen fühlen, wenn der venezianische Gondoliere, wenn irgendein florentinischer Tagelöhner Strophen von Tasso oder Dante deklamiert. Man kann in Italien im allgemeinen nicht so tiefsinnig über Kunst reden wie bei uns; aber jeder Packträger weiß, daß Raffaels und Michelangelos Schöpfungen göttlich sind und fühlt es auch. Dieser Zusammenhang zwischen Gott und dem Volke läßt sich nicht durch Vorträge, Kunst fürs Haus und dergleichen künstlich herstellen. Es bedarf natürlicher Lebensverhältnisse, natürlicher Berührungsmöglichkeiten aller Glieder eines Volkes, damit das Große so gedacht und getan werde, daß ein Volk es verstehen kann. In Großstaaten und Großstädten gedeiht kein Volk; ein Volk wurzelt in der Erde. Wo nicht bäuerische Kultur die Grundlage des Landes bildet, gibt es kein Volk und keinen Gott, Gott und das Volk sind unzertrennlich mit der Natur verbunden.

Deshalb sind in einem überzivilisierten Volke gerade die Hervorragenden immer am Rande des Wahnsinns, weil sie, sowie sie sich wahr äußern, gegen ihr Volk stehen, vom Volke abgesondert sind, das sie doch vertreten wollen. Wieviel Liebe gehört dazu, mit den Verkehrten zu sein und doch nicht selbst verkehrt!

Was die Griechen uns so unvergleichlich herrlich macht, ist die natürliche Einheit, die ihre Kunst ausdrückt. Satan, der trennende Individualismus, überschritt das Maß noch nicht, jenseit dessen die Einheit nur durch den Heiligen Geist wiederhergestellt werden kann. Die gotische Kunst drückt die durch den Heiligen Geist wiederhergestellte Einheit aus, der eine zerreißende Spaltung vorhergegangen ist. Darum ist griechische Kunst bei uns immer ein Ausdruck von Ermüdung, wenn sie nicht Ausdruck von Heuchelei beziehungsweise Verschalung ist; denn natürliche Einheit gibt es bei uns nur noch bei Kindern, Die Sehnsucht aber nach der natürlichen Einheit wird den gesunden nachchristlichen Völkern immer bleiben und ihnen helfen, die verlorene Einheit wiederzugewinnen.

Vielleicht beginnt einmal wieder ein allgemeiner Rückzug nach dem Orient, wie einst die Menschheit nach Westen flutete; dort möchte vielleicht in neuer Naturgebundenheit auch eine neue natürliche Einheit erstehen.

 

Ich bin gekommen, daß ich ein Feuer anzünde auf Erden; was wollte ich lieber, denn es brennte schon! – Lukas 12. 49.

Auch Christus war berufener Herrscher wie Moses; aber er war ein König, der kein Volk mehr fand. Da waren keine Dämonen mehr, die seine Götterhand hätte bändigen und zu großen Taten führen können; da waren nur noch Heuchler, die ihm nach dem Leben stellten, um nicht von ihm entlarvt zu werden. Er fand ein Volk, das sich eine Welt gezimmert hatte, in der es sich bequem, ohne Anstrengung, ohne Kampf, ohne große Ziele leben ließ; eine verstandesgemäß gezimmerte Welt, einen Käfig, in dem sie den großen Flügelschlag der Natur verlernt hatten. Es war nur dürres Zeug, abgestorbenes Holz noch da, zu nichts als zum Verbrennen mehr gut, die letzten armseligen Schnitzel des auserwählten Volkes. Moses war der Gott gewesen, der das Volk Israel gesammelt hatte und es hatte wachsen lassen, bis es wie das Heer der Sterne war; Christus kam als der Gott des Todes, mit feurigen Sohlen, unter denen das Volk zu Asche verbrannte. Das Volk, das jung gewesen war, als Moses kam, war inzwischen alt geworden, Christus erschien als der Richter, der das Tote vom Lebendigen scheidet und in die Hölle stürzt, damit das Lebendige gerettet werde.

 

Liebet eure Feinde. – Matth. 5. 44.

Dickens erzählt, daß er in Amerika einem Indianer begegnete, einem vornehm zurückhaltenden, stolzen, traurigen Menschen, der ihm lebhafte Sympathie einflößte. Dieser sagte, es bleibe den Indianern nichts übrig, als in dem sie beherrschenden Volke der Engländer aufzugehen, da sie ja zu schwach wären, um sie zu überwinden.

Dies ist das Los des nicht mehr entwicklungsfähigen, erstarrten Volkes: es muß in anderen, jüngeren Völkern untergehen.

Die Liebe des Nächsten, die Liebe des Schwächeren, des Fremdlings, jedes Hilfsbedürftigen hatte Moses schon gelehrt; die Liebe des Feindes hat Christus zuerst verkündigt, sie ist das einzig durchaus Neue in allem, was Christus verkündigt hat. Es ist die Lehre, die der aus dem erstarrten Volke geborene Heiland seinem Volke predigen muß, dem er nicht zu Kampf und Sieg, sondern im Todeskampfe vorangeht. Der naive Mensch darf seinen Feind hassen, weil er ihn hassen muß, er tut es »unwissend im Unglauben«. Es ist ja eigentlich nicht er, der ihn haßt, sondern Gott tut es durch ihn, weil er sein Geschöpf wachsen lassen und aus dem Wege räumen will, was es daran hindert. Oft genug muß das junge Volk sogar zum Hasse und zur Bekämpfung seiner Feinde ermahnt werden, denn unter Umständen neigt es dazu, verwerfliche fremde Ideale anzunehmen. Dem jungen Volke Israel geboten Moses und die Richter, die abgöttischen Völker Kanaans auszurotten; denn diese älteren, zivilisierteren Völker imponierten dem Naturvolk Israel, und es ließ sich leicht verlocken, jenem die glänzenden Laster seines Reichtums abzulernen. Je mehr das Volk erstarrt, desto mehr sondert es sich von allem ab und bestärkt sich in seiner individuellen Eigenart. Es ist sich selbst Ideal geworden und weder durch höhere noch durch falsche Ideale von sich abzulenken. Diesem erstarrten Volke sind alle anderen feind, weil es ein Fremdkörper in der Menschheit geworden ist, der an der allgemeinen Völkerbewegung nicht mehr teilnehmen will. Es muß lernen, seine Feinde zu lieben, um an seinem äußersten Gegensätze zu erglühen, der es verzehren wird.

 

Denn die Erde bringet von ihr selbst zum ersten das Gras, darnach die Ähren, darnach den vollen Weizen in den Ähren. Wenn sie aber die Frucht gebracht hat, so schicket er bald die Sichel hin; denn die Ernte ist da. – Markus 4. 28. 29.

Christus liebte die Kinder, er liebte das Meer und die Wüste; gewiß hat er auch die Tiere geliebt wie Franziskus von Assisi. Vielen Heiligen sind wie den Göttern Tiere zugesellt, sonst reißend, ihnen willig angeschmiegte Begleiter. Der Geist, der sich am höchsten über die Natur erhoben hat, neigt sich ihr liebend und sehnsüchtig zu als seiner Wiege und Heimat. Christus war gewiß kein Sohn der Zivilisation, aber doch innerhalb der Zivilisation geboren; ohne sie wäre er nicht denkbar, wenn er auch nur durch den äußersten Gegensatz mit ihr verbunden ist. Als der Rächer und Schirmherr der Natur tritt der erhabenste Geist für das arme geringe Volk ein, das allein noch der Natur treu geblieben ist und die Stimme des Hirten erkennt. Da eine Verjüngung des erstarrten Volkes Israel nicht mehr möglich ist, führt er es zum Tode. Gott hat es verworfen; das heißt, es ist nicht mehr entwicklungsfähig. Über die Unassimilierbarkeit der Juden wurde schon von den Römern geklagt: sie können in keinem anderen Volke oder Typus mehr aufgehen, sie sind in Selbstvergötterung erstarrt. Den dem Tode Geweihten verkündet er das Gesetz der Liebe; denn der All-Liebende stirbt, indem er sich anderen opfert. Die Jugend darf sich lieben, weil sie nichts von sich weiß; Gott liebt sie, weil sie wachsen soll; das Alter soll andere lieben, weil es sterben muß. Die Liebe, die auch den Feind liebt, ist das Banner des Todes; die Selbstliebe, die für alle, die zum Leben bestimmt sind, das Maß ist, gilt nicht mehr als solches für die Opfer.

 

Welcher, ob er wohl in göttlicher Gestalt war, hielt er's nicht für einen Raub, Gott gleich sein, sondern äußerte sich selbst. – Phil. 2. 6. 7.

Die menschliche Kraft ist der Widerstand des Individuums gegen Gott oder die Spannung zwischen ihm und Gott, die um so stärker ist, je mehr das Individuum von Gott abgezweigt, wenn auch noch mit ihm verbunden bleibt, je näher es an dem Abgrunde ist, wo es, von ihm losgerissen, in die Hölle stürzen würde, und je stärker es doch zu ihm zurückgerissen wird. Wenn auch die Widerstandskraft durch die Abzweigung von Gott entsteht, so ist die Kraft doch nicht sein, sondern Gottes. Alles einzelne raubt das Individuum dem Urquell und kann sie nur deshalb verwenden, weil Gott sie festhält; denn sonst ergäbe sich keine Spannung. Jenseit der Grenze, die Gott gesteckt hat, wo der unsichtbare Faden reißt, wird das Individuum kraftlos; den Vasallen des Kaisers gleich, geht es seines Lehens verlustig, wenn es sie zu seinem Eigen machen will, unabhängig von dem Herrn, der es gab, und dem es angehört, obwohl er es nie für sich behält, sondern ewig austeilt.

Fruchtbar wird diese Kraft, wenn das Individuum, das sie an sich riß, nicht mehr für sich gebraucht, sondern für andere; denn in diesem Augenblick ist sie nicht mehr Widerstandskraft, sondern sie wird mit Gott eins. Kraft für andere ausgegeben, wird Urkraft, die wir Liebe nennen. Wir haben für die göttliche Liebe und die sinnliche Liebe nur ein Wort, was insofern richtig ist, als es dem Wesen nach ein und dieselbe Kraft ist, die nur als sinnliche Liebe, auf einen festen Punkt abgelenkt und dort festgehalten wird, anstatt sich frei zu ergießen; indessen sollte man doch, des leichteren Verstehens wegen, zwei Ausdrücke haben, und es ist schade, daß das schöne Wort Güte, das mit Gott verwandt ist, durch nachlässigen Gebrauch entwertet ist. Platonische Liebe, Dilectio und Caritas sind Worte, die wir wohl, um das Verständnis zu erleichtern, herbeiziehen können, die uns Deutschsprechende aber doch nicht so unmittelbar ergreifen wie Güte und Liebe. Vor allen Dingen haben alle diese Worte einen Beigeschmack von Schwäche, von Tugendseligkeit, während die göttliche Liebe eitel Kraft ist und die Kraft des Hasses gegen das Böse einschließt. Göttliche Liebe ist zugleich Geist und Phantasie, All-Wissen und All-Willen, der durch die Individualität nicht mehr gehemmt, sondern durch sie vertreten wird. Die göttliche Liebe tritt immer in Kraft; sie wirkt, und zwar zwiefach, sie erbarmt sich der Schwachen und tritt den Ungerechten entgegen. Das Bild, das wir uns von Christus zu machen pflegen, ist deshalb so verschroben und verkehrt, weil uns kein anderes erhalten ist als das von seinen Jüngern entworfene. Wie anders würden wir Christus ansehen, wenn wir ihn auch aus den Schilderungen seiner Feinde, der Geistlichen, der Geldmenschen, der Gelehrten und Gebildeten, kurz der herrschenden Klassen kennten? Die er übertünchte Gräber und Heuchler schalt, die er, obwohl ihnen moralisch und juristisch nichts nachzuweisen war, als Heuchler entlarvte, über die er den Fluch ewiger Unfruchtbarkeit aussprach? Man denke sich, daß wir zum Beispiel Luther nur aus den Berichten seiner Jünger kennten, derer, denen er Wohltat als Lehrer, Führer, Arzt, Fürsprecher, Berater, Almosenspender? Trotzdem, daß es so ist, wie es ist, ist es zweifellos gottgewollt. Denn niemals wäre Christus auferstanden und wäre der Welt, was er ihr war, wenn er durch historische Dokumente aller Art in den Streit der Gelehrten gezogen und ein Gegenstand der Wissenschaft geworden wäre. Die Geschichtswissenschaft nagelt den Sargdeckel über die Genien der Menschheit; Phantasie und Glaube sprengen ihn. Sicherlich gäbe es nicht einen, der nicht zu dem Schluß käme, daß doch etwas an dem sein müsse, was augenscheinlich ganz unbescholtene Männer gegen ihn vorbrächten, daß er doch allzu grob und heftig gegen seine Gegner gewesen sei, daß er doch unleugbar umstürzlerische Ideen geäußert und Pläne gehabt habe, die die Grundlage der menschlichen Gesellschaft erschüttert hätten. Dies alles vorausgesetzt, daß man ihm nicht überhaupt die Existenz abspräche, wozu man freilich auch jetzt gelangt ist. Diesem »Schulgezänk der Menschen, die zerrüttete Sinne haben«, ist er entrückt, er kann nur geglaubt werden. Aber man sollte nicht vergessen, daß er nicht nur der Erbarmende, sondern auch der Zerstörende ist, nicht nur der Sanfte, sondern auch der Kraftvolle, der den Hammer des Wortes schwingt und das Schwert nur deshalb nicht, weil er nur gegen sein eigenes Volk kämpfte, das gegen ein anderes Volk zu kämpfen nicht mehr würdig und fähig war, weil er der König eines nicht mehr entwicklungsfähigen Volkes war, das er sterben lehren mußte.

Da unser Leben auf der Individualität begründet ist; denn wenn wir nicht mehr Individuum sind, werden wir eins mit Gott und der Natur; sterben wir in jedem Augenblick, wo wir etwas von unserer geraubten Kraft opfern. Wir sterben in jedem Augenblick, wo wir lieben. Aber der gewöhnliche Mensch stirbt tropfenweise; nur die Größten, die stolzesten Rebellen, die Gott am meisten beraubt haben, werfen das Entrissene, wenn sie den wahren Herrn erkannt haben, mit einem Male hin und sterben, wie Paulus, täglich. Jeder Genius ist ein Sterbender, der seine individuelle Kraft hingibt; niemand verschwendete so ganz, so bewußt, so göttlich wie Christus. Er starb in der Berührung jedes Kranken, den er heilte, jedes Toten, den er erweckte: er würde gestorben sein zur selben Zeit, wo er gekreuzigt wurde. Denn warum hätte er sein Martyrium bis auf diesen Augenblick verschoben? Sie wollten ihn oft schon vorher ergreifen, er entzog sich ihnen aber immer, weil noch Lebenskraft in ihm war, die er verschwenden wollte. Im Fleisch sein trägt mehr Frucht, sagt Paulus. Als er alles gegeben hatte, genug, um die Menschheit zu erlösen, starb er, scheinbar getötet.

Dem Menschen, der nicht mehr wachsen, sondern sterben will, schwebt die Vornehmheit als Ideal vor: das Beiseitestehen, wenn die anderen um die Wette kämpfen, und der Verzicht auf den Kampfpreis, den zu erlangen die Kraft wohl da wäre. Hat jemals ein Mensch gelebt, der dies Ideal so vollkommen verwirklicht hätte wie Christus? Ein unsichtbarer Äther umhüllt ihn, wo immer er ist, umgibt ihn wie das Gewölk die Griechengötter, wenn sie den Menschen erschienen. Dieser himmlische Mantel stellt ihn in unerreichbare Entfernung von den Menschen, selbst von seinen Jüngern, die ihn stets so nah umgeben. Seine Stimme scheint aus dem Sternenraume niederzuschweben, wenn er spricht, und selbst wenn Fäuste ihn schlagen und martern, scheint er selbst unangetastet in jenem Licht zu sein, von dem er sagte, daß keiner ihm dahin folgen könne. Welche Hoheit in allen Antworten auf die Fragen und Anklagen seiner Feinde und Mörder! Diese Hoheit ist so hoch über aller Verachtung sogar, daß man begreift, wie der Böse nur mit Mord darauf antworten kann, und wie, wenn auch hundertmal abgeleugnet, die Qual der Reue und des Neides zugleich ihn zerreißen muß. Diese unerreichbare Sternenhoheit hat vor allem Tizian gemalt auf dem Bilde mit dem Zinsgroschen.

Und dennoch, wer möchte von Vornehmheit sprechen, wo so viel Überfluß der Liebe, so viel Gewalt des Zornes und Hasses ist? Diese Stimme, die durch den unendlichen Raum von uns getrennt scheint, ertönt zugleich in unserem eigenen Innern; diese Hand, die in ihrer Makellosigkeit das Irdische beschämt, legt sich sanft heilend auf unsere Wunden und Gebrechen. Ja, der am Kreuze göttlich über dem Leiden zu schweben scheint, liebt das Leben, schwitzt Blut im einsamen Todeskampfe und verlangt nach der Liebe seiner Jünger, die schlafen, während er mit seinem Gott ringt. Wenn wir vornehm sind, so ist immer wenigstens ein Tropfen Müdigkeit oder Stolz oder Unvermögen dabei, wenn nicht eins von diesen sogar die Quelle ist; die Kraft zur Macht, zur Herrschaft, zum Ruhm, zum Einzigsein haben, und sie verschwenden aus Liebe, um denen unendlich nah zu sein, denen man unendlich fern ist, wer vermöchte das von denen unter uns, die sich am meisten vornehm wähnen? Der vornehme oder vornehmseinwollende Mensch sucht eine Distanz zwischen sich und anderen zu schaffen; Christus überbrückte die unendliche Distanz, die zwischen ihm und allen anderen war, durch die Kraft seiner Liebe.

Was daneben an Christus auffällt, ist die Hoheit seines Selbstbewußtseins, ohne daß man wagen würde, an Anmaßung oder Bescheidenheit zu denken. Welche Majestät und zugleich welche Schlichtheit, wenn er auf die Frage, ob er Gottes Sohn sei, antwortet: du sagest es; wenn er sagt: Meinest du, daß ich nicht könnte meinen Vater bitten, daß er mir zuschickte mehr denn zwölf Legionen Engel? Das Selbstbewußtsein wäre unerträglich, wenn es nicht Gottesbewußtsein wäre. Kein Mensch dürfte so sprechen, nur der, dessen Einzelsein ganz mit Gott eins geworden war. Er ist ja kein Individuum mehr, nicht weil er nicht könnte, sondern weil er seine Individualität geopfert hat: er ist selbstvergessen aus Liebe. Kein Mensch, außer er wäre wahnsinnig oder auf dem Wege, es zu werden, hat jemals gewagt, Christus zu schmähen oder ihn des Größenwahns zu zeihen, weil er sagte, er sei Gott. Das ist nur möglich, weil er die Wahrheit sprach. Der Mensch, der sich zum Gott aufwirft, erregt Widerwillen; wenn das Göttliche sich freiwillig offenbart, beugt sich die Natur und betet an.

 

Es hat mich jemand angerühret; denn Ich fühle, daß eine Kraft von mir gegangen ist. – Lukas 8. 48. – Stehe auf, gehe hin, dein Glaube hat dir geholfen. – Lukas 17. 19.

Man kann oft beobachten, daß die Töchter herrschsüchtiger Väter und die Söhne herrschsüchtiger Mütter an Hemmungen leiden, wie man es nennt, neurasthenisch oder hysterisch sind, ein geschwächtes Nervensystem haben. Vielleicht hat sich diese Herrschsucht nur als die Herrschsucht der Liebe oder als Selbstbeherrschung geäußert; jedenfalls war es ein Druck des bewußten Willens auf die Nervenkraft, welche sich nicht nur am eigenen, sondern auch am Nervensystem der Kinder bemerkbar macht. Die, welche infolge der Despotie des menschlichen Willens an Hemmungen leiden, nennt die Heilige Schrift vom Satan gebunden. Diese Hemmungen nehmen zu, wie der Negativismus im Volke zunimmt, je mehr die Nerven sich zentralisieren, je mehr auch das Volk sich zentralisiert, indem es von der göttlichen Mitte sich entfernt. Die Lahmen, Blinden, Tauben und Besessenen, die Christus heilte, konnten sich nicht mehr äußern, wie Sklaven sich nicht mehr äußern können; der Druck der entgötterten, verweltlichten Gesellschaft lastete auf ihnen. Was Menschenwille gebunden hatte, löste die Liebe des All-Befreiers; sein göttliches Wort, seine Hand, sein Blick nur entfesselten den gehemmten Kraftstrom, das erstarrte Leben blühte auf, wie er es anglühte. Ja, sein Dasein, sein Name und der Glaube an ihn genügten, die Kranken zu heilen; denn die Heilung liegt in der Selbstvergessenheit, und im Glauben vergessen wir uns selbst. Der Name dessen, an den wir glauben, zaubert den Riegel von der Pforte, die uns von Gott trennt, sie springt auf, und wir sind wieder einig, wieder ganz.

Diese lösende Fähigkeit haben bis zu einem gewissen Grade manche Ärzte, immer seltener aber, je mehr die wissenschaftliche Ausbildung überwiegt und der Wunsch, Geld zu verdienen, die Wahl des Berufes bestimmt. Immerhin trifft man hie und da solche geborene, geniale Ärzte; die Heilande sind durch die ihnen innewohnende Kraft, welche sie freiwillig, um zu helfen, verschwenden. Ein solcher Arzt war, allen Berichten zufolge, auch Luther, obwohl er nie Arzneikunde studiert hatte. Man spricht viel und mit Bewunderung von den Fortschritten der Chirurgie; diese dienen aber im wesentlichen nur der Erhaltung des Menschen, der Verlängerung des Lebens, was ein zweifelhafter Gewinn ist, während jene genialen Ärzte Lebenskraft mitteilen. Diese Gabe erlernt sich nicht, sie übt sich nur und wächst mit der Übung. Viel Erfindungen und Fortschritte der Wissenschaft wiegt ein solcher Arzt auf; er kann selbst da noch heilen, wo er das Leben nicht retten kann.

Es liegt kein Grund vor, zu bezweifeln, daß Christus Tote auferwecken konnte. Tod ist erstarrtes Leben, und der Grad der Erstarrung ist verschieden nach der Lebenskraft, an der sie gemessen wird. Für den einen ist da schon Tod, wo für den anderen noch Leben ist, da es unter seinem Hauche sich regt. Es hängt nicht nur von der Erde ab, was aus ihr erblüht und wann, sondern von der Sonne und ihrer Kraft. Lazarus war von allen Toten, die Christus erweckte, schon am meisten tot; es war die äußerste Grenze, von der Gott Sohn, Gott im Fleische, noch zurückrufen konnte. Für Gott den Vater gibt es überhaupt keinen Tod; vor ihm ist nur Verwandlung.

 

Seid klug wie die Schlange und ohne Falsch wie die Taube. – Matthäus 10. 16.

Weltklugheit oder Schlangenklugheit ist Unterdrücken oder Verbergen der Wahrheit, nämlich der inneren Überzeugung, aus Selbstsucht, weil Offenheit einem schaden könnte, also Verstellung und Lüge. Denn wenn ich weltklug bin, so äußere ich mich gar nicht, oder ich äußere mich anders, als mein Gefühl und mein Urteil verlangt. Christus äußerte sich immer zugleich wahr und klug; dies bewundern wir so sehr in seinen Beantwortungen der Fragen, mit welchen seine Feinde ihm Fallen stellten. Er antwortete stets so, daß er ihnen keine Handhabe bot, ihn zu verklagen, ohne aber seine Meinung im geringsten zu verdrehen oder zu verstecken. Ebenso wich er ihnen aus, wenn sie ihm nachstellten, und suchte Gegenden auf, wo er einstweilen sicher war.

Nichts verlangt Christus weniger, als daß einer sich zum Martyrium drängt, im Gegenteil, er verurteilt es. Jeder Mensch soll sich so lange zu erhalten suchen, ja um seine Erhaltung kämpfen, wie es möglich ist, ohne daß die Liebe des Nächsten oder die Wahrheit darunter leide. Hätte er wirken können, wenn er sich nicht selbst erhalten hätte? Aber er hörte nicht auf, zu heilen und zu lehren, sich in Tat und Wort zu äußern. Es wäre Wahnsinn, sich zu erhalten, wenn man sich nicht mehr äußern wollte, und wer lügt, äußert sich selbst nicht mehr. Schön läßt die Überlieferung Galilei, nachdem er eben seine Lehre abgeschworen hatte, sich umwenden und sagen: Und sie bewegt sich doch! Wer gezwungen wird, seine Überzeugung zu verleugnen, muß sie doch sofort wieder äußern, wenn auch leise; sowie er aufhörte, das zu tun, bestritte er sich selbst und hätte den ersten Schritt zur Auflösung seiner selbst, zum geistigen Tode getan.

Christus beklagte es, daß die Kinder der Welt in ihren Angelegenheiten klüger sind als die Kinder des Lichtes in ihren. »Lasset euch niemand verachten,« sagt auch Paulus und empfiehlt, daß die Rede gewürzt und lieblich sei. Ließe sich jeder Gute sogleich vom Bösen zertreten, könnte gar nichts Gutes mehr getan werden. Es gehört wesentlich zum Bilde des Erlösers, wie er seinen Feinden widerstand und ihnen die Möglichkeit des Angriffs und der Anklage nahm, ohne jemals sich selbst untreu zu werden. Wie sollte jemand das Leben mißachten, dessen Leben so reichlich Frucht trägt. Aus welchem Grunde Christus fand, daß die Zeit erfüllt sei, als er sich ans Kreuz schlagen ließ, das habe ich schon angedeutet; um diese Zeit stand er auf der Höhe seiner Kraft im menschlichen Sinne. Da er ein Mensch war, warum sollten wir nicht voraussetzen, daß seine Widerstandskraft, seine Kraft im Fleisch, endlich war und abnehmen konnte? Sie war vom Feuer seiner göttlichen Liebe verzehrt, sein individueller Lebenswille vom göttlichen Opferwillen verschlungen.

 

Dieser nimmt die Sünder an und isset mit ihnen. – Lukas 15. 4.

Es ist eine Tatsache, die den Tugendfreund immer verwirren wird, und die doch nicht abzustreiten ist, daß Christus lieber mit den Sündern als mit den Pharisäern, den gebildeten, moralischen Menschen der israelitischen Gesellschaft umging. Er nahm die Einladung des Zöllners an und litt Frauen um sich, die keinen guten Ruf hatten und außer der Gesellschaft standen; wir dürfen uns vorstellen, daß Christus zwischen diesen Wilden, Scheelangesehenen, Ausgestoßenen, die sich im selben Maße leidenschaftlich an ihn drängten, wie die herrschenden Klassen mißtrauisch gegen ihn wurden, unbefangen wohl fühlte als ein Verschwender unter Verschmachtenden. Mit der Moral ist es niemals zu vereinigen, daß im Himmel mehr Freude ist über einen Sünder, der Buße tut, als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen. Der Vorwurf des tadellosen Sohnes, daß der Vater ihm nie ein Kalb schlachtete, wie er dem verlorenen tut, wäre berechtigt, wenn sich einem nicht der Zweifel aufdrängte: wäre er neidisch, wenn er wirklich so gut wäre, wie es den Anschein hat, und wie er selbst glaubt? Die schneidende Ironie in den Worten des Erlösers, er sei zu den Kranken gesandt, die Gerechten bedürften des Arztes nicht, ist nicht zu verkennen. Denn wer hätte mehr des Arztes bedurft als gerade die Pharisäer? Die Sache ist die, daß diejenigen, die gerecht zu sein glauben, am weitesten davon entfernt sind. Wer sich auf das Gesetz beruft, dem ist es zur Hemmung geworden; erst wer es übertreten hat, steht auf dem Kreuzungspunkte, wo der Weg zu Gott hin und die Wege von Gott fort sich scheiden. Dabei ist vorausgesetzt, daß er nicht, wie es jetzt wohl geschieht, absichtlich übertrat, um vor den Gerechten die billige Glorie des natürlich ungestraften, womöglich bewunderten Sünders vorauszuhaben.

Es wird zuweilen bezweifelt, ob der Gott des Christentums Gott-Natur sei; gerade das beweist aber das Verhältnis des Erlösers zu den Sündern. Die Natur sündigt dadurch, daß sie individuell ist; zugleich aber offenbart sich Gott in ihr. Nirgends bemerken wir bei Christus eine Abneigung gegen die Sünder oder Mangel an Verständnis für sie, solange es ihre Natur war, die sich offen äußerte. Er bezeugt ihnen immer herzliche Milde, verkehrt zutraulich mit ihnen; wäre ihre Sünde blutrot, Gott kann sie reinwaschen. Diesen Zusammenhang mit der Natur verkennen und verlieren die Aszeten der katholischen wie die der protestantischen Kirche. Wegen des Zusammenhangs mit der Natur wurde Luther von katholischer wie von protestantischer Seite gelästert. Wenn man den Kirchen die Aufrichtung eines von der Natur losgelösten Geistes als herrschendes Prinzip zum Vorwurf machen kann, so niemals Christus. Wenn Goethe sagt, von Gott-Natur dürfe man bei Christen nicht sprechen, so trifft das weder Christus noch die Propheten des Alten Testaments. Es ist nämlich unmöglich, daß das Genie in diesen Fehler verfallen könnte, diejenigen Menschen, in denen Gott sich offenbart; denn sie wurzeln in der Natur.

 

Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr gleich seid wie die übertünchten Gräber, welche auswendig hübsch scheinen, aber inwendig sind sie voller Totenbeine und alles Unflats. – Matth. 23. 27.

Nicht um der Sünde willen, das ist selbstverständlich, zog Christus die Sünder vor, sondern um der Ehrlichkeit willen, mit welcher sie ihren sündigen Trieb äußerten und sich nachher als Sünder erkannten und bekannten. Er liebte nicht die verstockten, sondern die reuigen Sünder; hassen tat er aber nur diejenigen, die ihre Sünde versteckten. Sündig ist jeder Mensch, der ein eigener Mittelpunkt neben Gott ist, jedes bewußte Individuum, das gesund ist und deshalb wachsen, sich ausbreiten, herrschen möchte; dieser Machttrieb kann überwunden, aber er soll nicht verdrängt werden. Ins Innere zurückschlagend, wird er zu Gift, frißt um sich und höhlt das Innere aus, so daß die Seele jenen übertünchten Gräbern gleicht, von denen Christus spricht. Das Mittelalter gebrauchte, um dasselbe zu bezeichnen, das Bild von der äußerlich schön geputzten Frau Welt, die inwendig voll Gewürm und Unflat ist. Das Ziel der Welt ist, die Frucht der Sünde zu genießen, sich aber der Strafe zu entziehen oder aber nicht zu sündigen, ja den Gesetzen gemäß zu leben, um nicht gestraft werden zu können, vielmehr geachtet und bewundert zu werden. Man kann Habsucht, Neid, Eifersucht unter der Decke, auf Schleichwegen äußern, so daß man mit der Konvention der Gesellschaft in Übereinstimmung bleibt; man kann sich bereichern auf Kosten anderer, Schwächere unglücklich machen, ohne gesetzliche Strafen auf sich zu ziehen; man kann auch innerlich von Neid, Haß und Habgier verzehrt werden, ohne daß etwas anderes als vielleicht Bitterkeit und üble Laune und Wunderlichkeit ans Licht kommt. Das letztere ist das noch Schlimmere; der heimliche Sünder kann doch vielleicht einmal ein offenbarer werden, der Werkheilige, der Pharisäer, ist unheilbar vergiftet. Es kommt ein Augenblick, wo er nicht mehr weiß, daß er heuchelt, weil er an das Verbergen der Gefühle gewöhnt ist; er hat keine mehr, und wenn er auch wollte, könnte er sie nicht mehr äußern, außer in einer krampfhaften und verzerrten Art, die er selbst nicht versteht. Sowie aber jemand sich überhaupt nicht mehr äußern kann, ist er geistig tot; denn unser geistiges Leben ist Sichäußern, ist Bewegung von innen nach außen.

Wenn die Menschen sich nicht mehr äußern können, entsteht jene Art Kunst oder Unkunst, die sich Expressionismus nennt, weil die Betreffenden sich eines krampfartigen Willens und zugleich Unvermögens zur Äußerung bewußt sind. Keine Art der vernünftigen Äußerung genügt ihnen; sie verfallen auf ein kindisches, halb blödsinniges Stammeln, und es würde nicht in Erstaunen setzen, wenn sie schließlich nur tierische Laute ausstießen; denn es kommt ihnen tatsächlich nur auf die Äußerung an sich an.

 

Wer wider die Strafe halsstarrig ist, der wird plötzlich verderben, ohne alle Hilfe. – Sprüche 29. 1. – Und sollst nicht mit der Strenge über sie herrschen, sondern dich fürchten vor deinem Gott. – 3. Mos. 25. 43.

Nur als Sichäußern ist Sündigen gut; die Strafe liegt bei Gott. Sie gehört unzertrennlich zur Sünde und fließt ihr mit Notwendigkeit nach, weil Gott in der Natur verborgen ist und sich stets da offenbaren wird, wo die Natur sich offenbart. Das erste Erfordernis der Strafe ist, daß sie der Sünde angemessen ist und als notwendige, von göttlicher Gerechtigkeit und Liebe verhängte erkannt wird. Jedes gesunde Kind nimmt gerechte Strafe von liebenden Eltern gern, ja dankbar an; nur gegen übertriebene, unangemessene, die sein unbestechliches Gerechtigkeitsgefühl verletzen, verstockt es sich. Geradeso ist es mit dem erwachsenen Sünder; aber in der Welt begegnet er weder der Gerechtigkeit noch der Liebe. Der Sünder in der Welt ist der »arme Sünder«; er weiß, daß er nicht schlechter ist als die, welche ungestraft genießen. So ist es auch da, wo strengste Gleichheit vor dem Gesetze Grundsatz ist.

Gott straft gerecht und milde. Die Kenntnis der menschlichen Natur, der göttliche Zorn, vereint mit göttlicher Barmherzigkeit, wie sie sich in dem Gesetz des Moses aussprechen, muß uns ergreifen und beschämen, wenn wir sie mit der Verständnislosigkeit und Härte des unsrigen vergleichen. Unnachsichtlich wird nur der Abfall von Gott bestraft; denn auf dem Glauben an Gott ruht das Recht und gilt; sowie dieser Glaube verschwindet, muß der harte, rachsüchtige Mensch mit Zwang strafen. Als Moses, um das Volk für den Götzendienst des goldenen Kalbes zu bestrafen, dreitausend Mann schlug, widersetzte sich keiner, reuig und willig unterwarfen sie sich dem, von dem sie wußten, daß er den Willen Gottes vollstreckte. Wo dieser Glaube herrscht, kann das Gesetz barmherzig sein; darum straft in diesem einzigen Falle, wo vom Glauben abgewichen wird, der Zorn.

Die Strafe für Diebstahl bestand darin, daß der Dieb das Gestohlene wiedergab oder, falls er das nicht konnte, mit seiner Person zahlte und der Leibeigene des Bestohlenen wurde, der damit natürlich die Verpflichtung übernimmt, für ihn zu sorgen. Das wäre bei uns nicht möglich, wo Verachtung auf der einen Seite, berechtigter Haß und Rachsucht auf der anderen gegeneinanderstreben. Welche Weisheit aber, welcher Quell gegenseitiger Erziehung und Liebe lag darin! Der Schuldige wurde nicht in Gefängnissen und Zuchthäusern abgesondert oder dem Umgang mit Seinesgleichen überlassen, sondern er blieb ein Glied der menschlichen Gesellschaft; seine Strafe war dadurch gemildert, daß jedes siebente Jahr ein Freijahr war, in welchem der Leibeigene seine Freiheit wiedererlangte; auch durfte, um Grausamkeiten vorzubeugen, der Leibeigene, der seinem Herrn fort und einem anderen zulief, jenem nicht ausgeliefert werden. Wie nimmt es sich dagegen aus, daß zum Beispiel in England vor noch nicht langer Zeit jeder Diebstahl, auch der geringfügigste, mit dem Tode bestraft wurde! Moses' Gesetz bestrafte den Armen, der nur stahl, um seinen Hunger zu stillen, überhaupt nicht.

Von den Vorschriften der Liebe will ich nur einige anführen. Wenn man einem Dürftigen gegen ein Pfand borgt, so soll man ihm das Pfand wiedergeben, bevor die Sonne untergeht; man soll die Sonne nicht untergehen lassen, bevor man dem Dürftigen seinen Lohn auszahlt, »denn er ist dürftig und erhält seine Seele damit«. Ein Neuvermählter sollte vom Kriegsdienst frei sein, damit er sich mit seinem jungen Weibe freuen könne. »Wenn dein Bruder verarmt ist und neben dir abnimmt, so sollst du ihn aufnehmen als einen Fremdling oder Gast, daß er lebe neben dir.« Nicht nur sollten Feld oder Weinberg nie ganz abgeerntet werden, damit den Armen die Nachlese bleibe, sondern im siebenten Jahre, dem Sabbatjahre, sollte das Feld überhaupt nicht bestellt werden und alles, was von selbst wuchs, den Armen, Knechten und Fremdlingen gehören. Vollends welche wahrhaft himmlische Gerechtigkeit in der Einrichtung des Halljahres, wonach in jedem fünfzigsten Jahre jeder wiederum zu seiner Habe und zu seinem Geschlechte kommen sollte! Es wurde angenommen, daß das Land Gott gehöre und nicht für immer verkauft werden könne, »denn ihr seid Fremdlinge und Gäste vor mir«. Gott ist der Fels, die heilige Mitte, der die Brandung der Machtsucht zurückwirft, das allzuhoch Erhöhte niedrigt und das Getrennte wieder bindet; aber er ist es nur da, wo man ihn glaubt. Von diesem erhabenen Gedanken ging die Verfassung des Heiligen Römischen Reiches aus, wo alles Land dem Kaiser gehörte, der es stets austeilte und zu dem es stets wieder zurückfloß; auch der freie Bauer besaß sein Eigen nur dadurch, daß er in des Kaisers Freiheit war.

Man wird überhaupt in den altgermanischen Gewohnheitsrechten manche Ähnlichkeit mit dem mosaischen finden, schon insofern, als es fließendes Recht war, das von Fall zu Fall geschöpft wurde. Sowie das Recht auf Begriffe gezogen wird, wird es Unrecht; denn die Mannigfaltigkeit des Lebens ist unerschöpflich durch die Verschiedenheit aller Menschen, und es kann deshalb nie ein Rechtsspruch unverändert auf zwei Fälle angewendet werden. Je mehr Freiheit den Schöffen und Richtern gelassen wird, desto vollkommener ist das Recht; aber auch das gilt nur für ein gläubiges Volk, das Ein Gewissen, Ein allen heiliges Maß hat.

 

Er sprach zu ihnen: Mose hat euch erlaubt zu scheiden von euren Weibern um eures Herzens Härtigkeit wegen; von Anbeginn aber ist's nicht also gewesen. – Matth. 19. 8.

Liest man diese Worte, sagt man vielleicht, Christus habe den Irrtum Rousseaus gehegt, indem er eine gutartige Natur an den Anfang der Geschichte setze, während in Wirklichkeit die Natur, wie das Tierreich beweise, grausam sei. So sagt ja auch Gott im Alten Testamente, daß das Dichten des menschlichen Herzens böse von Jugend auf sei. Christus aber spricht nicht von der individuell zerrissenen Natur, sondern von dem im Innern der Natur verborgenen Sinn, wie er mit dem Wort »von Anbeginn« andeutet. Indem Gott den Menschen als einen Mann und ein Weib schuf, drückt er aus, daß ein Mann und ein Weib zusammengehören, den vollkommenen Menschen bilden, nicht umgekehrt; er spricht von der Absicht der Natur, die sich in den Formen der Natur ausprägt, wenn man sie rein von individuellen Beziehungen betrachtet. Die verklärte Natur entspricht den tiefinnersten Absichten der Natur. Gottvater ist im Innern der Natur verborgen; wenn er die Hülle der Natur durchbrochen hat und im Bewußtsein als All-Liebe aufgeht, ist er der Heilige Geist. Im All-Liebenden sind Wille und Vorstellung eins geworden, das tiefste Innere, was durch die Verhüllung der Natur zum Lichte trieb, erscheint in Klarheit. Wie aber das Kind nicht geboren werden kann, bevor der Mutterleib, der es verbarg, zerriß, so kann das verborgene Göttliche nur durch die Natur hindurch Idee werden; deshalb spricht die Bibel von der Wiedergeburt. Nicht durch Betrachtung, Einsicht oder äußerliche Übungen kann der Mensch Gott werden, sondern er muß aus seiner Haut heraus, mitten durch sie hindurch.

 

Wenn der unsaubere Geist von dem Menschen ausgefahren ist, so durchwandelt er dürre Stätten, suchet Ruhe und findet sie nicht. Da spricht er denn: Ich will wieder umkehren in mein Haus, daraus ich gegangen bin. Und wenn er kommt, so findet er's leer, gekehrt und geschmückt. So geht er hin und nimmt sich sieben andere Geister, die ärger sind denn er selbst; und wenn sie hineinkommen, wohnen sie allda; und wird mit demselben Menschen ärger, denn es vorhin war. – Matth. 12. 43-45.

Wenn ein Trauriger oder ein Gemütskranker durch äußere Belustigungen zu zerstreuen versucht wird, so fällt er hernach in viel größere Traurigkeit; wenn ein Böser eine Weile beaufsichtigt und verhindert wird, Böses zu tun, so wird er, sich selbst überlassen, desto schlimmere Taten begehen. Es hilft nichts, das Haus zu putzen, es muß ein anderes gebaut werden: die Gesinnung muß sich ändern. Ebenso ist es mit der Welt: alle Revolutionen beginnen mit den edelsten Absichten, entstehen aus der Entrüstung über die Ungerechtigkeit der Mächtigen und das Elend der Armen. Eine große Hoffnung, ein überschwenglicher Frühling keimt in den Herzen der Guten und Gläubigen. Aber diejenigen, die ihren Machttrieb in der Welt verwirklicht haben, teilen diese Hoffnung nicht, im Gegenteil, sie hassen und fürchten, wo jene hoffen. Die Herrschenden verzichten nicht freiwillig auf ihre Herrschaft, und die ersehnte Gottesfreiheit könnte sich nur auf Gewalt gründen. Gewalt und Freiheit widersprechen sich aber: der Gottessohn, der seine Herrschaft auf Gewalt gründete, wäre ein Lügner und würde zuletzt ein Kranker.

Es ist eine bekannte Erscheinung, daß die Gegenrevolutionen mehr Opfer fordern als die ersten Empörungen: der weiße Schrecken ist blutiger als der rote. Ein Volk, das sich endlich gegen das Übermaß des Druckes erhebt, wütet blind, verleugnet aber doch nicht seine natürliche Gutmütigkeit; herrschende Klassen, die sich rächen, tun es bewußt, mit System und ohne Güte. Wenn aber auch das arme, bedrückte Volk gutmütiger und billiger ist als die Machthaber, so besteht es doch nicht aus anderen Menschen; sowie sie die Macht innehaben und, um sie zu behalten, gezwungen sind, sie gegen Widerstand zu verteidigen, werden sie ebenso herrschsüchtig, wie die Gestürzten es vor ihnen waren; ja, was diese auch anstellen würden, der Machthunger würde mit der Macht wachsen. Irgendwo muß der einmal entfesselte Machttrieb bleiben, er geht umher und sucht ein Haus; jeder Versuch, ihn gänzlich zu verdrängen, etwa in einem sozialistischen Staate, würde zu weit fürchterlicheren Revolutionen und Kriegen führen, als man je erlebt hat, oder denn zum Verenden des betreffenden Volkes in körperlicher und geistiger Entartung.

Nur von dieser Einsicht aus kann man Luthers Verhalten gegen die aufständischen Bauern verstehen, nur von dieser Einsicht aus begreifen, daß Christus die Welt nicht zerstörte. Man könnte höchstens fragen, warum denn Christus nicht die Gesinnung geändert habe? Das allerdings konnte Christus nicht, weil alles Göttliche freiwillig ist. Zwang gehört in die Welt; wer in der Welt bleiben will, den hindert Gott nicht daran, er läßt ihn nur mit der Welt vergehen.

Und doch bleibt der Einwurf: Gott ändert ja Gesinnungen, er ist es ja, der wiedergeboren werden läßt aus Gnade. Es muß also doch dem Menschen möglich sein, Gott zu widerstehen. Das ist unleugbar so: der Mensch kann die Sünde wider den Heiligen Geist begehen, indem er den Ruf Gottes vernimmt und ihm doch nicht folgt. Nur ist das nicht der Mensch, sondern Satan, unter dem der Mensch steht; der durch das Selbstbewußtsein gebundene Mensch.

 

Lasset euch dünken, daß ihr dem Herrn dient und nicht den Menschen. – Epheser 6. 7.

Christus änderte die Welt nicht gewaltsam, aber er überwand sie durch Liebe; in ihm und in denen, die ihm nachfolgten, war kein Machttrieb mehr, sondern freiwilliger Gehorsam. Nicht etwa zur Welt und den Menschen, sondern Gehorsam gegen Gott. Man kann erfahren, daß Menschen, die sich in einer sehr schweren Lage befinden, zum Beispiel in Gefangenschaft, die damit verbundenen Leiden, Anstrengungen und Entbehrungen überraschend gut ertragen, wenn sie sich nicht dagegen sträuben, sondern sich in das Unvermeidliche fügen. Die, welche dagegen rasen, ohne doch die Umstände ändern zu können, erliegen bald und sind der Gefahr geistiger Erkrankung ausgesetzt. Denn es ist damit natürlich nicht gesagt, daß man sich jeder unrechtmäßigen Forderung unterziehen solle; nur davon ist die Rede, was man tun oder lassen solle, wenn man zu schwach ist, um ein Joch zu brechen. In diesem Falle ist keine andere Hilfe, als das Joch auf sich zu nehmen. Die Fähigkeit, sich in das Unvermeidliche fügen zu können, ist Frömmigkeit und ist eine Kraft, was nicht ausschließt, daß es eine Kraft gibt, die das Joch gewaltsam zerbricht. Das aber geschieht dann auf einen göttlichen Impuls hin, der im Volk Israel ausblieb, weil es nicht mehr entwicklungsfähig war.

 

So rufen sie mich auch nicht an von Herzen, sondern heulen auf ihren Lagern. Sie versammeln sich um Korns und Mosts willen und sind mir ungehorsam. – Mos. 7. 13. 14.

Moses erschlug einen Ägypter, der einen seiner Volksgenossen mißhandelte; Harmodios und Aristogeiton feiert das Lied, weil sie den Tyrannen erschlugen, Tells Name ist seinem Volke heilig, weil er den Geßler tötete. Zweifellos waren alle diese durch den reinen Impuls erbarmender Liebe zu ihrem Volk getrieben; nur die reine Hand darf Gottes Racheschwert führen. Indessen genügt das nicht; man hat keinen Grund, anzunehmen, daß nicht auch zum Beispiel Charlotte Corday keinen anderen Beweggrund zu ihrer Tat hatte als Mitleid mit ihrem leidenden Volke. Sicherlich war sie trotzdem nicht von Gott berufen, so wenig wie etwa Sand, der Mörder Kotzebues, oder zahlreiche andere Attentäter. Nicht Gott hatte das Opfer in ihre Hand gegeben, wie Tell in bezug auf Geßler sagt; sie führten Menschengedanken und Menschenpläne aus, vielleicht von sich aus uneigennützig, aber doch menschlich. Sie taten nicht, was sie nicht lassen konnten, wurden nicht von Gott überwunden, sondern überwanden sich selbst. Schwerlich wird Gott überhaupt in zivilisierten Völkern den Impuls zu einem Tyrannenmorde geben, weil innerhalb der Zivilisation der Zwang und die Ungerechtigkeit nicht von einer Person ausgehen, sondern vom System. Nach Hinwegräumung einer Person, welche ihrerseits nicht mehr als ein Maschinenteilchen innerhalb des Systems war, geht die Maschine ungestört ihren Gang weiter. Der Grund der Welt – im Sinne von Zivilisation – überhaupt aber, wie also auch der Revolutionen innerhalb der Welt, ist Maßlosigkeit, die in den höheren Klassen triumphiert und den Neid der unteren erwecken muß.

 

Aber ohne deinen Willen wollte ich nichts tun, auf daß dein Gutes nicht wäre genötiget, sondern freiwillig. – Philemon 14.

Dem Philemon war ein Sklave entlaufen und von Paulus zum Christentum bekehrt worden. Paulus sandte den Bekehrten zu Philemon mit der inständigen Bitte, er möge dem Schuldigen verzeihen und ihn nicht mehr als Knecht, sondern als Bruder bei sich aufnehmen. Als Vorsteher der Gemeinde hätte Paulus das von Philemon fordern können; aber es kam ihm nicht auf Pflichterfüllung an, sondern auf Liebe, und Liebe ist wie alles Göttliche freiwillig. Der moderne Staatsbürger unterscheidet freiwillige Liebe und Pflicht nicht, weil sein letzter Zweck nicht der Mensch und seine Wiedergeburt, sondern Ordnung ist, Herstellung geordneter Verhältnisse. Ein kluger Landwirt hält seine Leute und sein Vieh gut, weil das sein eigener Nutzen ist: es schadet ja ihm selbst, wenn sie schwach oder krank werden oder sterben, da sie für ihn arbeiten. Die Rechnung des Verstandes stimmt, je schärfer der Verstand schließt, mit dem der Liebe überein; aber das Ergebnis ist ein ganz anderes. Was vom Verstande ausgeht, kommt der Welt zugute, der äußeren Ordnung; was von der Liebe ausgeht, der Seele.

Wo freiwillige Liebe und freiwilliger Gehorsam sind, ist die Gottesherrschaft. Wo das Volk sich freiwillig von dem berufenen Herrscher führen läßt, bedarf es der erblichen und amtlichen Herrscher nicht. Tut es aber nicht freiwillig das Gute, oder gehorcht es nicht freiwillig erwählten Führern, so darf es sich über Zwang nicht beklagen und muß den durch Erblichkeit und Amt gestützten Führern etwaige Eselei zugute halten.

Die letzte Frucht des überhandnehmenden Individualismus oder des Mangels an freiwilligem Gehorsam, an Sinn für das Ganze, ist der Zwang des sozialistischen Staates, dessen Entstehen von diesem Punkt aus zu begreifen und zu rechtfertigen ist.

Die großen und glücklichen Zeiten eines Volkes sind diejenigen, wo sein erblicher oder amtlicher Herrscher ein Berufener ist, oder wo ein Berufener an die amtliche Herrscherstelle tritt, weil dann anstatt des Zwanges Freiwilligkeit tritt, die alle schöpferische Kraft entfesselt.

Je zivilisierter ein Staat ist, desto mehr sucht er für das Wohl aller seiner Glieder zu sorgen, desto genauer ahmt er Gott nach, entfernt sich dabei aber immer mehr von Gott. Gott ist ja nicht Pflicht und kein System, sondern der All-Liebende im sterblichen Fleisch sich offenbarend als großer und guter Mensch. Nicht wo die meisten pflichteifrigen Menschen sind und noch weniger, wo die besten sozialen Einrichtungen sind, ist der göttliche Staat, sondern wo am meisten Lust und Liebe zu großen Taten ist; der ungöttliche der, wo am meisten bewußtes Beharren und Reformieren und Streben nach Vermehrung der materiellen Güter und Genüsse ist.

 

Es ist unmöglich, daß nicht Ärgernisse kommen; wehe aber dem, durch welchen sie kommen. – Lukas 17. 1.

Wenn die Natur lange verdrängt und fast erwürgt wurde, durchbricht sie die künstlichen Zäune der Welt gewaltsam und verschüttet die Zivilisation, die sie in Ketten legte. Solche Ausbrüche müssen kommen, wenn die Stimme des Gottes, der zum freiwilligen Tode sammelt, nicht gehört wird. So wenig wie Christus die Zerstörung Jerusalems verursacht hatte, obwohl er sie voraussah, hatte Gott Schuld an der Französischen Revolution oder hat er sie an dem jetzigen Kriege. Zwar geschieht nichts ohne Gottes Willen; aber was in der Abwendung von ihm geschieht, geschieht ohne seine Beteiligung. Es ist ein großer Unterschied zwischen den Umwälzungen und den Kriegen naiver Völker, die Gott gegen ein gottlos gewordenes Volk führt, und zwischen den Kriegen zivilisierter Völker untereinander. Diese können wohl in einzelnen weltlichen Fragen eines dem anderen gegenüber recht oder unrecht haben, Gott und der Natur gegenüber haben sie alle unrecht, und je höher die Zivilisation allseitig gestiegen ist, kann das einzige Ergebnis und auch der einzige Wert solcher Kriege darin bestehen, daß sie sich gegenseitig schwächen und die weltlichen Machtmittel, auf die sich stützend, sie sich von Gott-Natur unabhängig machen, zerstören.

Auch Christus, dessen Wort und Finger unwiderstehlich magnetisch waren, hätte Revolutionen und Kriege entfesseln können, furchtbare, unabsehbare; anstatt dessen opferte er sein eigenes Blut. Er war selbstbewußt und gottbewußt geworden; man kann nicht wissend töten, ohne an der eigenen Seele Schaden zu nehmen. Haben nun deswegen diejenigen recht, die in einem Kriegsfalle den Kriegsdienst verweigern? Im Gegenteil; Christus würde ihnen sagen, daß sie ihr Kreuz auf sich nehmen und ihrer Obrigkeit gehorchen sollen, nicht den Menschen, sondern Gott zuliebe, der das Volk und nicht die Zersetzung des Volkes will. Ist es Gottes Wille, das Volk zu verwandeln, sterben zu lassen, so werden sie mit ihrem Volke verwandelt werden; ist es Gottes Wille, einen einzelnen zu retten, so wird er Wege dazu finden, von denen der einzelne selbst nichts weiß.

 

Ich habe euch geschrieben in dem Brief, daß ihr nichts sollt zu schaffen haben mit den Hurern. Das meine ich gar nicht von den Hurern in dieser Welt oder von den Geizigen oder von den Räubern oder von den Abgöttischen; sonst müßtet ihr die Welt räumen. – 1. Kor. 5. 9. 10.

Ihr sollt aber die Welt nicht räumen, und ihr sollt deshalb die, welche in der Welt sind, nicht richten. Das heißt nicht, daß der Christ der Welt nicht sollte sagen, daß ihre Werke böse sind, wenn die Gelegenheit an ihn herantritt; aber er soll sie nicht suchen und einzig darauf bedacht sein, daß er selbst so handle, wie sein Gewissen ihn heißt. So soll auch der Christ oder die Christin sich von einer ungläubigen Frau oder einem ungläubigen Manne nicht scheiden lassen; denn vielleicht ist es ihnen beschieden, den anderen Teil selig zu machen. Nirgends aber ist die Rede von gewaltsamen Bekehrungsversuchen, von einem Zwang oder Druck, der auf die Welt ausgeübt werden solle. Das Gewissen, das schläft, kann erweckt werden durch das Wort, durch das Beispiel, durch die Liebe und durch göttliche Gnade; das ist, was wir einen Zufall, einen Schicksalsschlag, ein Erlebnis nennen; vor dem Zwange zieht es sich zurück, da es etwas Göttliches ist.

Der Christ ist nicht außerhalb der Welt, etwa in einem Kloster, sondern mitten in der Welt; man kann Welt und Christ nur begrifflich voneinander trennen. Der Christ kann in der katholischen und in der protestantischen Kirche, in jedem Volke, in jedem Berufe, in jedem Stande und Geschlecht sein; er kann nur da nicht sein, wo eine grundsätzliche Absonderung von der Welt herrscht, die nun einmal die Daseinsform der historischen Menschheit ist. Lebt er aber auch mitten in der Welt, so bekämpft er sie doch stets und sucht sie zu überwinden.

 

Ihr seid das Salz der Erde. – Matthias 5. 13. Die ihr weiland nicht ein Volk waret, nun aber Gottes Volk seid. – 1. Petrus 2. 10.

Christus sandte seine Jünger aus, damit sie der Welt die göttliche Freiheit verkündigten, den von der Welt Gebundenen zum Trost, den in der Welt Herrschenden zur Warnung und Drohung. Er sandte sie aus, damit sie Anstoß erregten, richtete sie auf wie Fahnen, um die sich kämpfende Heere scharten. Sie sollten nicht Frieden bringen, sondern Kampf erregen.

Das Salz wird nicht als Nahrungselement in die Speise aufgenommen, sondern es würzt, es macht das Fade geschmackvoll und genießbar. Die von Christus ausgesandten Jünger hatten keine Familien und hingen nur ihrem Meister an, wie Christus selbst sich nicht von seiner Familie lossagte, aber doch einem höheren Ziele folgte. Er und die Seinen waren Heimatlose, Wurzellose, Schweifende, die aber fester wurzelten als irgend jemand, nämlich im Reiche Gottes, in der Idee, für die zu leben sie berufen waren. Gewalt brauchten sie keine als die Gewalt des Wortes, litten vielmehr Gewalt; aber ihr Wort war mächtiger als alle Schwerter der Welt.

Wie aber zuviel Salz die Speise verdirbt, so dürfen auch dieser eigentlichen Christen nur wenige sein, und berufen werden auch immer nur wenige; es sind die Sterbenden aus irgendeiner Einheit, die sich auflöst, einer Landschaft, eines Volkes, einer Familie. Sie brauchen keine Familie zu gründen, oder sie dürfen sich von ihrer Familie lösen, weil die Familie sterben, sich nicht mehr fortpflanzen soll, weil sie in ihnen ihre letzte, reifste Frucht getragen hat. Wer aber, sei es Volk, Familie oder Einzelner, noch weiterleben will, nachdem er seine Frucht getragen hat, wird Jude, Ewiger Jude. Gott-Natur rief ihn zu sich zurück, er hörte, aber wandte sich ab und floh mit dem Fluche beladen in die Welt.

Viele, die mit dem Anspruch auftreten, das Salz der Erde zu sein, allen Menschen die Wahrheit zu sagen, überall das Böse aufzudecken und das Heilsame zu predigen, sind keine Berufenen, sondern solche Wurzellose, die weder in der Natur noch im Geiste heimisch sind und bereits über die von Gott gesetzte Zeit leben. Diese machen argwöhnisch gegen die wahren Christen und vermehren dadurch den Haß, unter dem diese leiden. Die wahren Christen sind Weltbürger oder Menschheitsbürger, ein Ausdruck, den man doch lieber vermeiden sollte, weil er mißzuverstehen ist. Die echten Christen sind daran zu erkennen, daß sie, obwohl Menschheitsbürger, doch vor allem ihres Volkes Angehörige sind und nie, der Menschheit zuliebe, ihr eigenes Volk verleugnen würden.

 

Und deinen Nächsten als dich selbst. – Lukas 10. 27.

Auf die Frage, wer unser Nächster sei, erzählte Christus die schöne Geschichte vom Samariter: unser Nächster ist jeder Hilfsbedürftige, dem wir zur Hilfeleistung zunächst sind, jeder Liebebedürftige überhaupt, dem wir Gelegenheit haben, Liebes zu erweisen. Es gibt keinen, der nicht liebebedürftig wäre; aber nicht jedem sind wir nah. Die Nächsten sind jedem die Familie; aber in diesem Kreise, den die Natur um uns gezogen hat, will das Göttliche nicht bleiben, es durchbricht ihn und drängt hinaus ins All. Die Natur der göttlichen Liebe ist es, von innen nach außen zu wachsen; sie verläßt nicht etwa den Kreis, in dem sie keimte, sondern nachdem sie ihn erfüllt hat, schwillt sie über in den nächsten und so von Sphäre zu Sphäre ohne Lücke. Christus spricht deshalb nicht von Menschenliebe, weil die göttliche Liebe wohl die ganze Welt umfaßt, aber vom einzelnen ausgeht. Seine Liebe galt zuerst seiner Familie; aber er läßt sich von seiner Mutter nicht in diesem engen Kreise festhalten, insofern muß er sich streng gegen sie wenden. Daß er sie nie vergißt und verläßt, zeigt er am Kreuze. Zunächst gehörte seine Liebe seinem Volke, so daß er das kananäische Weib nicht heilen wollte, weil er zu den verlorenen Schafen vom Hause Israel gesandt sei. Auch Paulus, der der Heidenapostel wurde, bekümmerte sich zu allermeist um seine »Befreundeten im Fleisch«, das Volk Israel. Auf der Höhe seiner Bahn entsendet Christus Apostel in alle Welt: der Strom seiner Liebe schwillt ins Unendliche, vermittelt durch solche, die an Ort und Stelle persönlich wirken könne.

Zwischen Nächstenliebe und dem, was man gewöhnlich allgemeine Menschenliebe nennt, ist der Unterschied, daß jene, von innen nach außen wirkend, vom kleinsten Kreise ausgehend, da zugreift, wo sie wirken kann; während jene, die vom Grundsatz, von außen ausgeht, alles umfassen will, aber nirgends wirklich wird. Die sogenannte Menschenliebe tritt gern als Ersatz der entschwindenden Nächstenliebe auf, und wir finden oft, daß, je volltönender einer die Forderungen der Menschenliebe verkündigt, er seine Nächsten desto gewissenloser vernachlässigt. Liebe ist nichts Meßbares: die Liebe einer Mutter reicht nicht für ein Kind oder drei Kinder oder zwölf, sondern so viel ihr geboren werden, so viele liebt sie. Liebe ist das einzige, was wächst, indem wir es verschwenden. Liebe ist aber nur, was sich persönlich betätigt; unpersönliche, unmittelbar der Menschheit geltende Liebe ist keine Liebe.

 

Ihr sollt nichts dazu tun, das ich euch gebiete, und sollt auch nichts davon tun. – 5. Mos. 4. 2. Denn solche falsche Apostel und trügliche Arbeiter verstellen sich zu Christi Aposteln. Und das ist auch kein Wunder; denn er selbst, der Satan, verstellet sich zum Engel des Lichts. – 2. Kor. 11. 13. 14.

Es wäre nicht möglich, daß die Menschensatzungen die Menschen immer wieder verführten, wenn sie nicht dem Verstande, der Bequemlichkeit und der Herrschsucht des bewußten Menschen schmeichelten. Die Gebote des Moses sind ein Ausdruck der Vernunft oder des göttlichen Willens in der Natur. In der Vernunft aber, in Gott-Natur, ist immer ein Widerspruch enthalten, weil er ein Maß zwischen Gegensätzen ist. Der Verstand ist hingegen logisch, innerhalb seiner vom Leben losgelösten Ableitungen unanfechtbar und deshalb viel leichter als richtig einleuchtend. Es gab Zeiten, wo es vielen Menschen einleuchtete, daß, weil Gott Geist ist, man den Körper abtöten müsse. Das neue Gebot: Du sollst nicht Krieg führen, leuchtet ebenfalls vielen Menschen ein, denn scheinbar spricht die pure Menschenfreundlichkeit daraus. Es ist dasselbe mit allen Geboten, die die Reformierung der Welt bezwecken: du sollst kein Fleisch essen; du sollst nichts Alkoholisches trinken; du sollst nicht mehr als zwei Kinder haben; du sollst möglichst viele Kinder haben; du sollst kein Eigentum besitzen. Sie haben alle das Eigentümliche, daß sie, eine Art Einheitsanzug nach einem Durchschnittsmaß, auf die Menschen angewendet werden, ohne ihnen angepaßt zu sein. Gott verfährt anders: er stellt die Liebe Gottes und des Nächsten als das Maß auf, übrigens aber urteilt er in jedem Falle besonders, je nachdem der Wachstumswille des einzelnen dieses Maß überschreitet.

Wie satanisch der Wille der falschen Apostel war, verriet sich in der Grausamkeit, mit der sie jederzeit diejenigen auszurotten versuchten, die sich ihren Satzungen nicht unterwerfen wollten; so taten die jüdischen Priester, und so tat die katholische Kirche den Ketzern gegenüber. In der Französischen Revolution offenbarte sich derselbe Geist wütender Herrschsucht und Unduldsamkeit unter der Maske der allgemeinen Menschenliebe, und ebenso werden alle Ideologen, sowie sie zur Macht gelangen, die erbarmungslosesten Ketzerrichter.

 

Aber vergeblich dienen sie mir, dieweil sie lehren solche Lehren, die nichts denn Menschengebote sind. – Matth. 15. 9.

Die Menschensatzungen, menschliche Theorien, welche allgemeine Gültigkeit beanspruchten und sich an die Stelle der Zehn Gebote setzten, machten den Gehalt der jüdischen Kirche aus. Weil Christus sie bekämpfte, schlugen ihre Vertreter ihn ans Kreuz. Die überwundene Schlange aber erhob ihr Haupt sofort wieder in unmittelbarer Nähe des geschiedenen Triumphators in der katholischen Kirche. Trotz aller Ausdrücklichkeit, mit der Christus die Menschensatzung verworfen hatte, schlich sie sich ein, erklärte, daß das Wort Gottes seine Allgemeingültigkeit von der Kirche habe, welche es anerkenne, nicht umgekehrt, und verdrängte allgemach wieder die göttliche Vernunft, bis eigene Meinungen unter dem Namen von Dogmen auch nur das schwache Andenken an den Ideengehalt der Heiligen Schrift ausgelöscht hatten. Nach Jahrhunderten entlarvte Luther, mit dem Blick des Genius die Wahrheit erkennend, die Kirche als Gefäß der Menschensatzung. Lange bittere Kämpfe vernichteten die Kirche nicht, vereitelten aber doch ihre Gewaltherrschaft, und die Schlange kroch unvermerkt in einen anderen Schlupfwinkel: zuerst die protestantische Theologie, dann die Philosophie. Ihr neuer Tempel wurde enthüllt in der Französischen Revolution, die die neue Menschensatzung förmlich proklamierte und, vollkommen logisch, an die Stelle der alten Kirche setzte. Der erste große Genius, der sie durchschaute und bekämpfte, war Napoleon; er nannte sie Ideologie. Sie verriet ihre klebrige, schlüpfrige, unverwüstliche Schlangennatur, indem sie sieben Köpfe hervorschoß auf den einen, den der neue Herkules ihr abschlug. Sie ist im Begriff, Europa mit ihren Schlagworten zu vergiften.

Jedes große Genie ist ein Rächer der göttlichen Natur; aber Christus war der einzige Prophet, der die Schlange zertrat, ohne von ihr in die Ferse gestochen zu werden. Jeder andere hat mehr oder weniger auch seinen Machtwillen zum Ausdruck gebracht, was daraus zu erklären ist, daß Gott Menschen mit starkem Machtwillen zu seinen Werkzeugen wählt, weil nur solche imstande sind, die Schlange mit Erfolg zu bekämpfen. Seine Lieblinge nimmt er hinweg, bevor das Gift der Schlange wirksam wird.

 

Der Geist aber saget deutlich, daß in den letzten Zeiten werden etliche von dem Glauben abtreten und anhangen den verführerischen Geistern und Lehren der Teufel ... Die da verbieten ehelich zu werden und zu meiden die Speisen, die Gott geschaffen hat. – 1. Tim. 4. 1. 3. Welche haben einen Schein der Weisheit durch selbsterwählte Geistlichkeit und Demut und dadurch, daß sie des Leibes nicht verschonen und dem Fleisch nicht seine Ehre tun zu seiner Notdurft. – Kol. 2. 23.

Die Ungebärdigkeit des Menschen gegen Gott als gegen den Herrn, der ihm immer schon zuvorgekommen ist, hat gegen das Christentum den Vorwurf erhoben, es vergewaltige die Natur und predige die Aszese, nämlich die gewaltsame Bändigung oder gänzliche Unterdrückung der Natur. Das flüchtigste Lesen in der Bibel müßte jeden nicht Böswilligen von der Ungereimtheit dieser Anschuldigung überzeugen.

Moses setzte den siebenten Tag in der Woche zum Tag der Ruhe und zugleich zum Tag der Freude ein; überhaupt waren alle kirchlichen Feiertage des Alten Bundes zugleich Freudentage. Mit der Opferung der gottgeweihten Tiere hing ein Festmahl zusammen, womit Heiterkeit und Tanz verbunden war. Freudig zu sein wird immer wieder dem Menschen geboten; ja Freudigkeit gilt als ein Zeichen des Frommseins, Kopfhängerei als Versuchung des Teufels. »Sollte das ein Fasten sein, das ich erwählen soll«, sagt Jesaias, »daß ein Mensch seinem Leibe des Tages übel tue oder seinen Kopf hänge wie ein Schilf, oder auf einem Sack und in der Asche liege? Wollt ihr das ein Fasten nennen und einen Tag dem Herrn angenehm?« Und Christus? Daß er und seine Jünger nicht fasten, wird ihm ja von den Pharisäern beständig vorgeworfen, und auch die Jünger des Johannes stimmen, wenn auch bescheidener und mehr als Fragende, in diesen Vorwurf ein. Er ist darum besorgt, daß das Volk, das ihm in die Wüste nachgeht, um sein Wort zu hören, auch zu essen bekomme; wie kann man überhaupt von dem, der alle körperlichen Gebrechen heilte, denken, er verlange von den Menschen, den Körper zu quälen, ihm, was er zum Leben und zur Gesundheit braucht, zu entziehen? Seine Güte gegen die Ehebrecherin und die Sünderinnen beweist, für wie verzeihlich er die Verfehlungen der natürlichen Triebe, namentlich der Liebe, ansah im Vergleich zu Härte und Heuchelei.

Die natürlichen Triebe sind das, was allen Menschen gemeinsam ist und darum gut. Der einfache und kindliche Mensch schämt sich ihrer nicht, sondern hält sie heilig, weil er durch sie dem All verbunden ist; der selbstbewußt gewordene Mensch hingegen, der Stolze, der unabhängig und einzig sein möchte, sucht in ihnen ein Abzeichen der Knechtschaft, den Ring, der ihn an die gemeinsame Sklavenkette fesselt. Als Adam und Eva vom Apfel der Erkenntnis gegessen hatten, wurden sie ihrer Nacktheit inne und schämten sich ihrer. Der Stolze hofft dadurch, von der Menschheit abgesondert, Gott zu werden. Aszese ist ein Zeichen von Herrschsucht und Größenwahn, durchaus unchristlich. Ebenso kann nur gröbste Verkennung oder absichtliche Mißdeutung das Klosterleben aus Christi Lehre ableiten, der beständig frei mitten im Volke lebte und wirkte, Mensch unter Menschen, obwohl Gottmensch.

Kaum begreift man, wie es möglich war, daß, nachdem Christus die Menschensatzungen verdammt und Paulus diesen Kampf mit Leidenschaft fortgesetzt hatte, die Kirche sofort wieder ein neues Gebäude von Menschensatzungen auftürmen und die Menschheit hineinzwängen konnte. Es ist dadurch möglich, daß die Kirche sich über die Heilige Schrift setzte, und dies ist ja auch der Punkt, um den der Streit zwischen Katholiken und Protestanten sich eigentlich dreht. Die Protestanten erkennen nur die Heilige Schrift als Quelle der Religion an, das ist soviel wie Vernunft oder Gott-Natur; die Katholiken stellen die Kirche und die Tradition darüber, das ist Menschenwille oder Eigennutz, Verstand und Sinnlichkeit, in Summa Welt. Sowie die katholische Kirche die Heilige Schrift als Quelle der Religion anerkannt hätte, hätte sie sich selbst verdammen und sich auflösen müssen, und sie verbot deshalb ihren Angehörigen das Lesen der Bibel unter grausamsten Strafen. Man kann sich keinen sonderbareren und eigentlich komischeren Widerspruch denken, als daß die Kirche, die den Namen Christi vertreten will, sich auf die Menschensatzung gründet, die zu bekämpfen Christus sein Leben geopfert hat. Man muß erkannt haben, was die Heilige Schrift lehrt, um einsehen zu können, daß die Kirche sich auf das Gegenteil gründet. Die Bibel gründet sich auf die in Gott geeinte Natur, die Kirche auf die gottlose Natur, den naturlosen Geist; sie schwankt zwischen Sinnlichkeit und Aszese, während die Bibel Natur und Geist versöhnend zu umfassen lehrt, indem sie die Natur liebend von einer Klarheit zur anderen führt. Die Bibel ist das Buch vom Walten des Geistes, der, vom Innern der Natur ausgehend, sich über sie erhebt und sie umfaßt, niemals aber neben oder außerhalb der Natur bleibt; die Kirche lehrt, wie man mit der Natur auskommt, indem man ihr bald Zugeständnisse macht, bald sie knebelt und erwürgt.

 

Denn das Fleisch gelüstet wider den Geist und der Geist wider das Fleisch. – Galater 5. 17. – Welche aber Christo angehören, die kreuzigen ihr Fleisch samt den Lüsten und Begierden. – Gal. 5. 14.

Aus diesen Worten des Paulus könnte man nun doch schließen, daß ein Gegensatz zwischen Gott und der Natur bestehe, der durch Unterdrückung der Natur ausgeglichen werden solle. Indessen Fleisch ist nicht Natur, sondern unter Fleisch ist der individuelle Wille in der Natur zu verstehen, der die Neigung hat, sich über Gott zu setzen und dadurch, sowie er dies wirklich tut, teuflisch wird. Er setzt sich aber nicht weniger wider Gott durch willkürliche Kasteiung als durch Ausschweifung. Paulus führt als Werke des Fleisches an: »Ehebruch, Hurerei, Unreinigkeit, Unzucht, Abgötterei, Zauberei, Feindschaft, Hader, Neid, Zorn, Zank, Zwietracht, Rotten, Haß, Mord, Saufen, Fressen und dergl.« Das ist, was wir im allgemeinen Sünde nennen, worunter die Sünden der Sinnlichkeit im engeren Sinne nur eine Stelle einnehmen und nur durch das Übermaß sündlich werden. Nirgends ist Liebe und Ehe, Essen und Trinken, Freude an der Geselligkeit, Lust am Schönen als etwas Verwerfliches hingestellt und verboten. Und wenn doch einmal aus dem natürlichen Triebe ein fleischlicher wird, wenn die individuelle Natur über die Grenzen schlägt, die die göttliche Vernunft oder All-Liebe ihr gesetzt hat, haben Christus oder Paulus darauf martervolle Strafen gesetzt? »Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr,« sagte Christus zu den Sündern, die er losgebunden hatte, und Paulus zu den Dieben: »Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr.« Es werden allerdings nicht alle sich durch ein solches Wort der Güte leiten lassen; wer es nicht tut, ist kein Christ, sondern gehört in die Welt.

 

Verzeihe mir die Übertretungen meiner Jugend. Denn wir waren auch weiland unweise, ungehorsam, verirret, dienend den Begierden und mancherlei Wollüsten, und wandeln in Bosheit und Neid, waren verhaßt und hasseten uns untereinander. – Titus 3. 3. – Denn es ist genug, daß wir die vergangene Zeit des Lebens zugebracht haben nach heidnischem Willen. – 1. Petrus 4. 3.

Der Christ ist ein Wiedergeborener; es wird immer vorausgesetzt, daß er aus einer sündigen Natur zu einer höheren verklärt sei. Damit soll nun nicht die Jugend zum Sündigen aufgefordert werden; aber es soll festgestellt werden, daß die Abweichungen vom göttlichen Gesetz der Jugend natürlich sind und in der Bibel zwar als Sünde, aber als verzeihliche Sünde betrachtet werden. Die sprichwörtliche Rede: Jugend will austoben, das volkstümliche Gefühl, welches einem Mann, der sich in der Jugend ausgetobt hat, vor einem fehlerlosen den Vorzug gibt, wurzeln in der richtigen Beurteilung der individuellen Natur, der das heidnische Wachstumsgelüste nun einmal eigen ist, und die es ohne Gefahr nicht unterdrücken und verleugnen kann. Verzeihlich sind aber die Übertretungen der Jugend nur dem, der sie »unwissend getan im Unglauben« wie Paulus (1. Tim. 1. 13). Darum ist es so außerordentlich wichtig, der Jugend die Unbefangenheit zu erhalten und sie nicht zu früh zur Selbständigkeit und zur Beteiligung am öffentlichen Leben anzuhalten. Die Jugend wird, wenn sie gesund ist, übertreten, soll sich aber auch von denen, die ihr natürlicherweise durch Alter und Erfahrung übergeordnet sind, warnen oder strafen lassen. Die Lehre von der Selbständigkeit der Jugend ist eins von den besonders gefährlichen modernen Dogmen; ihre Untugend, ihr Übermaß, ihr Ausschweifen soll man ihr lassen, zum Befehlen und Regieren ist sie aber nicht berufen.

Andrerseits soll auch das Alter nicht ohne Ende regieren wollen. Im Buche Moses ist als Altersgrenze für die Priester das dreißigste und fünfzigste Jahr angegeben; dieser Zeitraum umfaßt im allgemeinen die Spanne für die männliche Wirksamkeit, ohne daß natürlich Ausnahmen ausgeschlossen sind.

 

Es sollte allerdinge kein Armer unter euch sein ... Es werden allezeit Arme sein im Lande. – 5. Mos. 15. 4. 11. – Reiche und Arme müssen untereinander sein; der Herr hat sie alle gemacht. – Sprüche 22. 2.

Wieviel himmlische Güte und Weisheit ist in der Heiligen Schrift geborgen. Es sollten keine Arme unter uns sein; denn genug ist da für alle; aber Gott weiß, daß die Menschen sich nicht genügen lassen, und aus dieser Ungenügsamkeit selbst läßt er noch das Große hervorgehen. Er hat Freude an der Mannigfaltigkeit des Lebens und läßt es sich hundertfältig äußern, jede Form mit ihrer Lust und ihren Schmerzen, solange sie noch Gott glauben und sich seinem Willen beugen. Es sollten keine Arme unter uns sein; das bleibt. Das Dasein der Armen ist immer eine Mahnung an die Reicheren; dennoch stellt Gott keine ideale Forderung auf, er gebietet nichts, was über die menschliche Natur hinausgeht. Verschwindet aber die brüderliche Gesinnung, das Mitleiden, das in der menschlichen Natur liegt, so entarten auch Volk und Mensch.

Der Trieb des Individuums nach Macht oder die Herrschsucht ist Trieb nach Reichtum; ohne diesen Trieb ist kein individuelles Leben zu denken. Wie nun aber das Individuum, durch Abzweigung von Gott, der Ganzheit, entstanden ist und auch, entstehen sollte, aber doch zu Gott zurückkehren muß, wenn es nicht im Nichts sich verlieren will, so ist auch der Macht des einzelnen und dem Reichtum des einzelnen eine Grenze gesetzt.

Diese Grenze setzte das mosaische Gesetz durch die wundervolle Einrichtung der Halljahre und Sabbatjahre, Jahre der Ausgleichung für alles zu hoch Geschwollene, Götterjahre, wo alles Abgesonderte wieder gesammelt und im Ganzen geheiligt wurde. Das Wesen der Welt ist es, sich solchen göttlichen Ausgleichungen möglichst zu entziehen und den Reichtumstrieb sich nach Kräften und unbedingt auswachsen zu lassen, ihn nur nach Möglichkeit verschleiernd.

Wenn der individuelle Machttrieb sich selbst überlassen ist, kommt es so, daß der Stärkere die leichte Arbeit und den hohen Ertrag für sich nimmt und die schwere Arbeit und den geringen Ertrag auf den Schwächeren abwälzt. Im Altertum löste man das Problem, diesen individuellen Trieb mit der Nächstenliebe zu vereinigen, durch das Institut der Sklaverei. Durch die Sklaven, ursprünglich unterworfene Völker und Verbrecher, wurde der belastete, schwächere Teil ausgeschaltet, und es konnte sich über dieser Basis geknechteter Leiber, über diesem eingemauerten Leben, eine Schicht von Freien, Glücklichen, Unbelasteten bewegen und eine schöne, ebenmäßige Kultur schaffen. Der Erdenrest, den jeder Mensch und jede menschliche Gesellschaft zu bewältigen hat, wurde durch die Sklaverei vollständig aus der Gesellschaft verdrängt, so daß etwas Makelloses und Lückenloses übrigbleiben konnte; nur daß dies ein Kunstwerk war, das zusammenstürzen mußte, sowie der lebendige Untergrund sich bewegte, oder sowie eine Macht von außen dagegen stürmte, wenn diese abgesonderte Gesellschaft nicht schon vorher durch Inzucht entartete und durch Überfütterung erlahmte. Obwohl das Christentum die Sklaverei abgeschafft hat, sucht die Welt, in der nach wie vor der Machttrieb herrscht, nur verdeckt, sie stets unter der Hand wieder einzuführen. Je höher die Kultur in einem Lande ist, desto mehr kann man von vornherein überzeugt sein, daß es entweder keinen sehr starken Arbeiterstand hat, weil es nicht viel Industrie treibt, keine bedeutende Rolle im Weltverkehr spielt, sondern überwiegend landwirtschaftlich ist; oder daß es seine Arbeiter in einem sklavenhaften Abstand von der übrigen Bevölkerung hält, wie das in England noch bis vor kurzem der Fall war. Der Industriestaat, überhaupt der hochzivilisierte Staat muß entweder mit Sklaven arbeiten oder barbarisch wirken.

Arme sollen nicht da sein, aber sie werden immer da sein; denn Gottes Wille ist nicht Gegensatzlosigkeit und Unterschiedlosigkeit, sondern Gegensätze, die sich beständig ausgleichen und neu bilden; die Unterschiede dürfen also nicht zu groß, die Schranken dürfen nicht unübersteiglich sein. Sie werden es erst durch die Geldwirtschaft; denn das Geld ist eine Abstraktion des Wertes vom Ding und vermehrt sich aus sich selbst, gerade so wie Begriffe sich ins Unendliche vermehren können, ohne daß etwas Lebendiges dahinter ist. »Worte, Worte, nichts als Worte.«

 

Armut und Reichtum gib mir nicht, laß mich aber mein bescheiden Teil Speise dahin nehmen. – Sprüche 30. 8.

Modern ausgedrückt: gib mir ein mäßiges Verdienst aus meiner Arbeit, so daß ich leben kann, kein zinstragendes Vermögen. Das Gute liegt in der Mitte; auf dem sogenannten Mittelstande beruht die Kraft des Volkes.

Wo der Unterschied zwischen großem Reichtum und armseliger Armut nicht durch einen, die beiden äußersten Enden verknüpfenden Mittelstand ausgeglichen wird, ist das Gleichgewicht verschoben, und die Unhaltbarkeit der Lage muß sich bei einem starken Anstoß von außen zeigen. Übergroßer Reichtum ist der Kopf, der nach dem Wort der Bibel fallen muß, worauf das kraftlose Elend übrigbleibt. Die Welt- oder Geldwirtschaft, denn das ist ein und dasselbe, neigt aber dahin, das Kapital in einigen Händen zu sammeln, zu zentralisieren, wodurch der Mittelstand allmählich ausgesogen wird und übertriebener Reichtum und übertriebene Armut sich unvermittelt gegenüberstehen. Wenn dieser Zustand eingetreten ist, muß man auf gewaltsame Umwälzungen rechnen.

Ein gesunder, natürlicher Zustand herrscht nur da, wo die Unterschiede nicht so groß sind, daß nicht das Bewußtsein der brüderlichen Gemeinschaft aufgehoben wird; denn auf die brüderliche Gesinnung kommt es ja zuletzt an, und von ihr hängt zuletzt alles ab. In Moses' Gesetzen wird vor allem darauf Nachdruck gelegt, daß die Armen als Brüder zu betrachten sind. Das ist so lange möglich, als in der Hauptsache Naturalwirtschaft herrscht und Ackerbau und Viehzucht die Grundlage des Volkes bilden. Selbst jetzt noch können wir sehen, daß auf dem Lande und in der Landstadt der Unterschied zwischen arm und reich nicht dieselbe Bitterkeit hat wie in der Stadt und namentlich in der Großstadt, weil die Lebensbedingungen für alle annähernd die gleichen sind. Betrachten wir jetzt das Leben der Fürsten und Großen der Vergangenheit, noch im siebzehnten Jahrhundert, so bemerken wir, daß sie nicht viel schlechter lebten als ein Arbeiter unserer Zeit. Es ist die Geldwirtschaft, Welt oder Zivilisation, die eine Kluft zwischen arm und reich schafft, wie sie zwischen Bruder und Bruder nicht bestehen sollte, und die nicht nach Gottes Willen ist; diese selbst hat aber wieder ihren Ursprung in der Gottlosigkeit, das heißt im Fehlen des Maßes, das den ausschweifenden individuellen Gelüsten der einzelnen die Grenze setzt.

Die sorgfältigste Armenfürsorge unserer Zeit ist doch nicht christlich; denn das Göttliche und Christliche liegt in der brüderlichen Gesinnung und in der Gemeinschaft. Nun ist es allerdings nicht möglich, die Welt mit ihren künstlichen Ungleichheiten mit einem Schlage abzuschaffen und den natürlichen und gesunden Zustand wiederherzustellen; deshalb heißt es, daß Gott verkehrt mit den Verkehrten ist. Wenn der Grundzustand ungöttlich ist, geht auch das Gute, das geschieht, von dieser ungöttlichen Grundlage aus und paßt sich ihr an; täte es das nicht, könnte es überhaupt nicht wirken. Je höher die Unnatur der Zivilisation steigt, desto schwieriger ist es, das Gute gut zu tun. Es muß zuletzt so kommen, daß gerade das Gute das Allerverkehrteste wird, wie der Sozialismus, um den Armen zu helfen, alle Welt arm machen will.

Allgemeine Sehnsucht nach Rückkehr zur Natur ist immer ein Zeichen, daß die Entwicklung in der eingeschlagenen Richtung nicht mehr weitergeht, daß also kein innerer Trieb mehr da ist, die Gesellschaft gottlos geworden ist. Eine Gesellschaft kommt aber wie der einzelne nie durch Rückwärtsbewegung zur Natur, sondern durch Auflösung; ob diese plötzlich, durch Krieg oder Revolution, oder allmählich geschieht, durch Völkerwanderung oder Völkerverschiebung, das hängt nicht vom Willen der Menschen, sondern vom Willen Gottes ab.

 

Wenn wir aber Nahrung und Kleider haben, so lasset uns genügen. Denn die da reich werden wollen, die fallen in Versuchung und Stricke und viel törichter und schädlicher Lüste, welche versenken die Menschen in Verderben und Verdammnis. – 1. Tim. 6. 8. 9.

Genug haben wollen ist natürlich und erlaubt, aber sich nie genügen lassen, da beginnt das Teuflische. Was ist aber genug? Man entschuldigt sich mit der individuellen Schätzung, nach welcher dem einen viel scheint, was dem anderen wenig, und nach welcher der eine darbt in Verhältnissen, die einem anderen schwelgerisch erscheinen. Das ist aber Selbstbetrug: es gibt ein Maß, so gut wie es ein Maß der Schönheit gibt. Es gibt eine Grenze, unter welcher unmenschliches Elend, und eine andere, jenseit welcher unmenschlicher Überfluß beginnt.

Wenn diese Grenzen vielfach überschritten werden, ist das Gemeinwesen krank, und zwar werden sie immer auf beiden Seiten überschritten. »Der Adel hat eine feine und ehrliche Nahrung, desgleichen auch der Bauersmann. Denn der Ackerbau ist eine göttliche Nahrung, und die lieben Patriarchen haben diese Nahrung auch gehabt, denn diese Nahrung kömmt stracks vom Himmel herab. Aber was tut der Adel? Sie scharren und kratzen und wuchern, denn sie wollen ihre Kinder zu Fürsten und Herren machen ... Ach, daß man mit Stehlen will reich werden! Dabei kommt doch nichts heraus.« Reichwerdenwollen ist, so hart es klingt, stehlen.

Die Natur ist ein Brunnen, der reichlich für alle gibt, solange nicht einige die Quelle für sich haben wollen. Denn das ist das Wesentliche des Reichwerdenwollens, daß man nicht aus der gemeinsamen Quelle seinen Trunk schöpfen will, sondern daß man einen stetig für sich allein fließenden Brunnen in seinen dauernden Besitz bringen will, sei es durch Großgrundbesitz, sei es durch Anhäufung von zinstragendem Vermögen. Solange der Mensch unter Gott steht, regelt Gott die Besitzverhältnisse: er kann die Ernte segnen oder verderben, er kann Schiffe untergehen lassen, er kann die Schätze der Erde ans Licht bringen, er kann der einen Familie arbeitskräftige Glieder geben, einer anderen schwache, zehrende und zerstreuende. Die Welt entzieht sich dieser Abhängigkeit mehr und mehr durch Geldwirtschaft, durch Versicherungswesen, durch lauter Einrichtungen, die zuletzt auch den Ackerbau seiner Heiligkeit berauben.

Reichwerdenwollen ist, das Maß der göttlichen Natur nicht mehr anerkennen, nicht mehr unter Gott sein wollen. Etwas ganz anderes ist zufälliges Reichwerden, ein Reichwerden, das Gott gibt, das aber innerhalb der Welt, die nicht mehr unter Gott steht, kaum vorkommt.

 

Fällt dir Reichtum zu, so hänge dein Herz nicht daran. Denn die da reich werden wollen, fallen in Versuchung und Stricke. – 1. Tim. 6. 8. 9.

Man kann den zuerst angeführten Spruch auch umkehren und sagen: Denen der Reichtum zufällt, die hängen ihr Herz nicht daran. Die, welche zufällig reich werden, bleiben es gewöhnlich nicht lange; denn Reichtum ist Gesinnung, und wer die Gesinnung des Reichtums nicht hat, gibt gern aus. Etwas anderes ist es mit dem Reichtum, der erzielt ist, weil bewußt auf ihn hingearbeitet wurde. Nur wer mit Absicht reich wurde, ist es und bleibt es, weil das Reichsein seine Gesinnung ist. Zum Reichwerden gehört, daß man dem Mammon dient, daß man alle anderen Lebenszwecke diesem nachstellt. Man kann dabei ein sehr moralischer und pflichttreuer Mensch sein, ein guter Staatsbürger und auch wohltätig; aber frei ist man nicht mehr, da man keinem Impulse mehr gehorchen wird, der diesem höchsten Ziel entgegenwirkte. Wo des Menschen Schatz ist, da ist sein Herz; das Herz des Reichen, sein Wille, ist auf seinen Reichtum gerichtet. Wer reich sein könnte, als wäre er nicht reich, für wen der Reichtum nur eine unwesentliche Äußerlichkeit wäre wie ein Mantel, den man abwerfen kann, der könnte Christ im größten Reichtum sein. Welcher Reiche ist aber auf diese Weise reich? Gibt es einen, der es ertrüge, nicht über den andern zu stehen, sich nicht von ihnen zu unterscheiden, sich nicht unabhängig von ihnen zu fühlen, ganz abgesehen von den Genüssen und Annehmlichkeiten, die er vor den anderen voraus hat? Durch diese Gesinnung löst der Reichtum in den Händen einzelner die Volkseinheit auf.

 

Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, denn daß ein Reicher ins Reich Gottes komme. – Matth. 19. 24.

Die größte Gefahr des Reichtums liegt darin, daß er vom Volke absondert und dadurch den Grund zu geistiger Erkrankung legt. Der Reiche hat die Möglichkeit, seinen eigenen Gelüsten nachzufolgen, jede Laune zu verwirklichen während der Arme gezwungen ist, sich zu schicken und sich einzuordnen. Tut er es aber absichtlich nicht, sondern paßt sich den allgemeinen Lebensgewohnheiten an, so muß er sich Gewalt antun, und er wird meistens innerlich desto stolzer und seines Abstandes desto bewußter sein. Der Verschwender ist weitaus besser; aber der Verschwender ist nicht der Reiche: reich ist nur, wer bewußt sein Geld zusammenhält, um reich zu sein. Warum wollte aber jemand reich sein, als um vom allgemeinen Los der Menschen, das in Gottes Hand liegt und dem Wechsel unterworfen ist, befreit zu sein? Dies ist der Grund, warum die Propheten gegen den Reichtum kämpfen: der Reiche will sich auf sich selbst, seine Geldmacht, verlassen können, nicht von Gott abhängen.

Indem er sich aber auf sich selbst verläßt, erlahmt seine innere Kraft, sein Zusammenhang mit Gott. Er ist wie einer, der sich gewöhnt, an Krücken zu gehen und schließlich darüber das Gehen verlernt. Er bindet sich goldene Flügel an die Schultern, unter denen die unsichtbaren Flügel des Geistes verkümmern.

»Reichtum ist das geringste Ding auf Erden und die allerkleinste Gabe,« sagt Luther, »die Gott einem Menschen geben kann. Was ist's gegen Gottes Wort, ja, was ist's auch nur gegen leibliche Gaben, wie Schönheit, Gesundheit und gegen Gaben des Gemütes, wie Verstand, Kunst, Weisheit. Dennoch trachtet man so emsig danach und läßt sich keine Arbeit noch Mühe und Gefahr verdrießen noch hindern. Darum gibt Gott gemeiniglich Reichtum den groben Eseln, denen er sonst nichts gönnet.« Gott geht dahin, wo man ihn sucht und ihm dient, die Menschen die Götzen anbeten, überläßt er den Götzen. Die weltlichen Schätze ersticken die Geisteskraft: Phantasielosigkeit charakterisiert die Zeiten großen Reichtums. Phantasie ist ein Kind der Armut: sie will eine leere Wand, um ihre Zaubereien darauf zu malen. Deshalb ist Reichtum im Grunde die bitterste Armut; man denke nur an die trostlose Öde des modernen Theaters oder moderner Wohnungen, von denen man sagen kann, sie sind desto öder und trostloser, je geschmackvoller sie sind.

Phantasielosigkeit und Absonderung vom Ganzen verwehren es dem Reichen, sich in die Lage seiner ärmeren Nächsten hineinzufühlen. Täte er das wirklich, wie ertrüge er seinen Reichtum? Es ließen sich viele Probleme dadurch lösen, wenn die Besitzenden und Herrschenden durch einen Zauberspruch, wie es in Märchen geschieht, in die Haut der Elenden schlüpfen könnten. Würde der, welcher Menschen opfert, noch fortfahren es zu tun, wenn er einmal selbst das Opfer wäre? Hilft der Reiche auch, so tut er es aus Pflicht und nicht aus Liebe; denn der Leidende steht ihm zu fern, als daß er ihn lieben könnte. Liebe freilich überspringt die tiefste Kluft; aber der Reiche hält unwillkürlich seinen Liebeswillen, der sich etwa regt, zurück, weil er fühlt, daß das ganze Gebäude seines Reichtums vor seinem Hauch zusammenstürzen würde. Weit mehr als der Adel zerstört Reichtum die Volkseinheit und damit die Volkskraft; aber Adel wird erst Adel im eigentlichen Sinne, nämlich ein herrschender Stand, wenn er mit Reichtum verbunden ist.

 

 ... daß du habest zu geben den Dürftigen. – Epheser 4. 28.

Wenn die Heilige Schrift das Reichwerdenwollen streng verdammt, so gebietet sie doch nicht etwa Nichtstun, Nichtsarbeiten oder Armut. Paulus, obwohl ein großer Dichter und Redner, ein Vorsteher seiner Gemeinde, trieb den Beruf eines Teppichwirkers und legte Wert darauf, daß er sich durch eigene Arbeit erhalten konnte. Daß sie arbeiteten, um für die Ihrigen sorgen zu können, verlangte er von seinen Anhängern, ja, er empfahl ihnen, daß sie erübrigten, um anderen helfen zu können. Es gehörten auch Wohlhabende zu seiner Gemeinde, die er nicht etwa deshalb ausstieß oder tadelte, und von denen er nicht Verzicht auf ihr Vermögen verlangte.

 

Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber des Menschen Sohn hat nicht, da er sein Haupt hinlege. – Lukas 9. 58.

Der Bautrieb ist ein Naturtrieb, der sich schon allgemein bei den Tieren zeigt. Der Geist baut zuerst das Haus des Leibes und diesem Hause dann noch ein zweites, in dem er seine Kinder ausbrüten und die ausgebrüteten beschützen kann. Dem Hause liegt das Maß des Körpers zugrunde, und nicht zufällig ist die Wirkung der Architektur so unmittelbar erschütternd wie die Musik. Der Bautrieb hängt mit dem innersten Instinkte der Natur, mit Liebe und Familiengründung, mit der allerersten Offenbarung des Geistes zusammen. Durch das Haus hängt das Geschöpf mit der Erde zusammen, je inniger, desto fester das Haus wird.

In der Zeit der Wanderungen, in der Heldenzeit, ist das Haus ein leichtes Zelt; haben die großen Sammler und Führer des Volkes ihm eine Heimat erobert, so siedelt es sich in Hütten an, die immer gesicherter werden und sich allmählich um einen Tempel und um eine Burg scharen.

Die Zeit der erblichen Könige und des verweltlichten Glaubens, der Kirche, beginnt: die Welt. Anfänglich freilich ragt die Kirche noch hoch über die geduckten Häuser des Volkes, die sich schutzsuchend um das Symbol der Einheit scharen; aber immer stattlicher zeichnen sich die Häuser der Reichen und Vornehmen aus; immer mehr verteilt sich der Glanz der Kunst und des Gewerbes, der einst die Kirche schmückte, auf sie, bis zuletzt die Kirchen hinter Bahnhöfen, Fabriken, Warenhäusern und Prachtbauten verschwinden.

Christus war kein Staatsbürger, sondern Mensch, der zum Gottmenschen verklärte natürliche Mensch. Den Instinkt der geschlechtlichen Liebe und der Familiengründung hatte er nicht mehr; aber nicht weil er weniger, sondern weil er mehr liebte als alle anderen. Seine Liebe war nicht auf einige wenige beschränkt, sondern umfaßte alles Lebendige. Hierin gerade sehen wir den großen Unterschied zwischen Christus und anderen: das Fehlen der natürlichen Instinkte, des natürlichen Liebestriebes, ist ein Zeichen der Entartung, außer wenn die natürliche Liebe in die göttliche verklärt ist. Ehescheu und Berufsscheu sind Zeichen von krankhaftem Individualismus und Negativismus, Unfähigkeit, sich unterzuordnen und zu binden; Christus bedurfte keiner Bindung mehr, da er sich freiwillig aus Liebe unterordnete, da er ein Sterbender war.

Man verstände Christus nicht ganz, wenn man das Dionysische, das Naturtrunkene in ihm übersähe, das zum Beispiel auch an Franz von Assisi so hinreißend wirkt. Kann man zweifeln, daß Christus in dem frei schweifenden Leben, das er führte, im Gefühl seiner todüberwindenden, lebenschaffenden Kraft, umhaucht vom Zauber morgenländischer Natur, die Seligkeit des Gottmenschen ebenso erschöpfte wie seine Leiden? Christus, obwohl er dem Kaiser steuerte, war kein Staatsbürger, sonst könnte er nicht aller Wett Vorbild sein. Wohl aber gehörte er einem Volke an, war aus einem Volke hervorgegangen und dessen berufener Herr; aber, wie schon gesagt, eines solchen, das in der Auflösung begriffen war und seine Einheit nicht wiedererlangen konnte. Es gibt keine größere Seligkeit, als immer Kraft verschwenden und dennoch immer voller Kraft sein. Dies Götterglück war ununterbrochen sein bis in den Tod.

 

Wer da suchet, seine Seele zu erhalten, der wird sie verlieren. – Lukas 17. 33.

Das heißt nicht etwa, man dürfe keine Heilmittel gegen eine Krankheit gebrauchen; denn die Natur verteidigt sich ja selbst gegen Schädlichkeiten. Sich wehren gegen angreifende Übel ist unwillkürlich und erlaubt; etwas anderes ist aber bewußtes Sicherhaltenwollen. Der gute Arzt unterstützt die Heilkraft der Natur, befreit sie von Hemmungen; verkehrt ist es, gegen den Willen der Natur erhalten zu wollen. Gott-Natur will das Individuelle überhaupt nicht dauernd erhalten, sondern es fortwährend verwandeln; der Sinn des Individuums dagegen steht auf Selbsterhaltung. Die Liebe zieht das Individuum fortwährend von sich ab und verbindet es durch Beziehung zu anderen Individuen wieder mit dem Ganzen; aber immer wieder trachtet das Individuum nach Absonderung und Ausarbeitung seiner individuellen Besonderheit. Sowie es aber seinen Zweck erreicht und in bewußter Besonderheit sich von der Umgebung loslöst, um sich als solche zu erhalten, ist es verloren. Indem kein Trieb mehr in ihm ist, sich in ein vorschwebendes Ideal zu verwandeln, ist es entgöttert, gottlos geworden, geistig tot und kann sich nur noch zurückbilden. Der Fluch, der die Juden traf, weil sie die Lehre des Heilands von der Liebe des Feindes verwarfen, war Nichtsterbenkönnen; Nichtsterbenkönnen der Gegensatz des ewigen Lebens. Man sagt, in allen ehelichen Verbindungen schlage der jüdische Typus durch: er tut es, weil es der älteste und starrste ist. Das Gesicht, das unverändert durchschlägt, ist Maske geworden: es ist unproduktiv, weil es sich nicht in Verbindung mit einem anderen Individuum zu etwas Neuem verschmelzen kann. Aus Verbindungen zweier erstarrter Individuen gehen, falls sie überhaupt fruchtbar sind, die hysterischen Menschen hervor, die zu keiner inneren Einheit gelangen können, weil keins von den Eltern das andere als Ideal annehmen und sich ihm hingeben konnte. Deshalb schmarotzen die erstarrten Individuen am liebsten auf einem weichen, kindlichen Volke, und Juden wie Aristokraten gedeihen nirgends so gut wie in Deutschland und Rußland. Die englischen und spanischen Juden haben etwas Vornehmeres, Zurückhaltenderes, weil sie durch eine gleichfalls erstarrte Volksindividualität in Schach gehalten werden; in Deutschland können sie die Kraft eines noch unausgeprägten Volkes aufsaugen und werden deshalb ausgreifend und übermütig. Andrerseits erhalten sich die Deutschen durch fortwährende Vermischung mit älteren Individuen, solange diese nicht überhandnehmen, die sie von der Ausprägung des eigenen zurückhalten, entwicklungsfähig.

Als Volk aber kann ein individuell erstarrtes Volk nicht mehr bestehen: es kann nur noch auf anderen schmarotzen, würde, auf sich selbst angewiesen, degenerieren. Die Engländer auf ihrer vom Kontinent abgesonderten Insel wären längst vollständig degeneriert, wenn sie nicht ihre das Mutterland an Größe weit übertreffenden Kolonien hätten, wo sie sich erneuern können. Man muß gestehen, daß England der Kolonien mehr bedarf als kontinentale Länder, die sich in enger friedlicher und feindlicher Berührung ergänzen. Kleine, von großen Ländern umgebene Länder, die sich absondern, um sich den stärkeren Nachbarn gegenüber zu erhalten, müssen ihr Leben verlieren. In solchen Ländern herrscht gewöhnlich bei leidenschaftlicher Selbstvergötterung und Ablehnung des Fremden eine starke gegenseitige Gereiztheit; der Individualismus prägt sich in immer kleineren Kreisen aus, bis schließlich jede einzelne Person der anderen wie eine Insel, durch unüberbrückbare Kluft getrennt, gegenübersteht. Solche können sich zwar heftig anziehen, aber sich nicht verschmelzen, und werden deshalb von jäher Anziehung zu ebenso jähem Abstoßen übergehen. Es kann zuletzt die Erscheinung auftreten, daß Menschen sich glühend lieben, solange sie fern voneinander sind, aber vereint, sofort von einer krampfhaften Abneigung befallen werden.

Jedes erstarrende Volk ist ein Inselvolk, wenn es auch nicht durch das Meer, sondern durch seinen Vereinzelungswillen abgesondert ist. Die Blutverdichtung solcher Völker erzeugt vor ihrem Untergange in Verbindung mit einem anderen Blute einen Großen; so die Insel Korsika Napoleon, Preußen Friedrich den Großen, Alt-England Shakespeare, Flandern Rubens, Lothringen die Jungfrau, Sachsen Luther, Bach, Händel. Wenn Sachsen wirklich degeneriert ist, so ist das nach so ungeheuren Geburten kein Wunder. Neutrale Kleinstaaten besonders sind Inseln, die erstarren müssen, so die Schweiz, Holland, Dänemark. Vermutlich findet sich in diesen Ländern ein großer Prozentsatz sehr reicher Personen und andrerseits geistig und körperlich Entarteter. Die Buren müssen froh sein, daß sie sich an England angliedern konnten. Auf der anderen Seite können nur Staatenbünde sich zu gegenseitigem Gewinn kleinere Staaten angliedern; mit zentralisierten Staaten wächst nichts Neues zusammen.

Sage und Poesie haben das Bild des erstarrten Individuums, das sich nicht mehr mit anderen verschmelzen kann und deshalb unter dem Fluche des Nichtsterbenkönnens steht, vielfach ausgeprägt. Am bekanntesten ist die Figur des Don Juan geworden. Es ist kein Zufall, daß Don Juan ein Spanier ist; die geographische Lage Spaniens als äußerster, inselhafter Zipfel Europas, die Vermischung mit Juden und Arabern, haben seine Bevölkerung früh erstarren lassen. Der Don Juan hat die Art von Schönheit, die wir als mephistophelisch, satanisch oder dämonisch bezeichnen, und die zuerst in der Geschichte im Volke Israel erscheint; sie ist mit dem bekannten Christus-Typus verwandt, nur daß wir uns diesen durch seine Mutter in das Reinmenschliche, Kindliche aufgelöst vorstellen. Die Schönheit des Don Juan ist im höchsten Grade unkindlich und dem kindlichen Typus in jedem Zuge entgegengesetzt: im Ausdruck liegt der luziferische Stolz, sich in seinem Selbstsein gegen die Gott-Natur behauptet zu haben. Dieser Rebell hat trotz seines Stolzes auf sein Selbstsein ein unauslöschliches Schmachten nach jungem Blut, das ihn wieder mit Gott, mit dem Ganzen, von dem er sich abgesondert hat, versöhnte. Er wird von jedem Mädchen, je jünger es ist, unwiderstehlich angezogen; aber wie viele sich ihm auch hingeben, stillt doch keine seinen vampirischen Durst, gerade weil sie in ihm aufgehen, wie sich Tropfen auf einem heißen Stein verzehren. Die sich ihm hingeben, verachtet er; nur die Reine könnte ihn retten, die seiner Verführung widersteht und dadurch göttliche Liebe in ihm erregt. Denn nur, das wissen wir aus Sagen und Märchen, das unschuldige Blut errettet, die Natur, die Gottes Stimme hört und vom Gottlosen sich abwendet. Das verführte Mädchen verliert seine Reinheit im Augenblick, wo das Gift der Verführung die Leidenschaft in ihm entzündet. Die meisten modernen Dichtungen, die diesen Gegenstand behandeln, leiden daran, daß sie kein unschuldiges Mädchen schaffen können und dadurch verlogen wirken, wie z. B. der »Fliegende Holländer« von Wagner. Goethes »Gretchen« dagegen und das »Käthchen von Heilbronn« sind von dem natürlichen Adel durchdrungen, der sie inmitten des Unreinen unverderblich bleiben und trotz ihrer Liebe und Hingebung herrschen und verklären läßt. Sinnliche Liebe ist sentimental und schwül, reine Liebe ist heiter und bei aller Wärme nie ganz ohne jene himmlische Kühle, in der das zur Unsterblichkeit Geläuterte atmet. Dadurch steht Goethes »Faust« so unvergleichlich hoch, daß er das tiefste und angelegentlichste Problem der Menschheit behandelt und in klassischer Weise löst: wie der von der Welt gesonderte Gott, der durch diese Sonderung Teufel wird, wieder mit ihr vereinigt werden kann. Er wird es durch sein Wirken in der Welt, wobei ihm die Liebe des Weibes zwar Führerin und Wegweiserin ist, aber nicht indem sie sich ihm hingibt und in ihm aufgeht, sondern im Gegenteil, indem sie ihm Ideal wird, das ihn nach sich zieht. Es ist das Nicht-Ich, sein Volk, das dem höchstgesteigerten, auf sich selbst gestellten Ich fehlt; mit ihm wäre es vollkommen, ohne es stürzt es in die Hölle des Nichts. Denn der Mensch ist nur Gottmensch, sofern er eins mit dem Ganzen ist; will er ohne es Gott sein, wird er zum sich selbstverzehrenden Teufel.

 

Niemand kommt zum Vater denn durch mich. – Joh. 14. 6.

Der Mensch ist dadurch, daß er eine Individualität ist, ein vom All abgezweigter, einzelner, auf sich selbst gerichteter Wille. Er will zunächst wachsen und soll es auch; denn jede Individualität ist ein Sproß aus Gott, der eine Seite des göttlichen Allwesens offenbart, das sich in ihm verkörpert. Da er aber nur eine Seite von den unendlich vielen darstellt, die das Wesen des ewigen Vaters ausmachen, ist seine Eigenart begrenzt und einmal vollendet; darum soll er von einem gewissen Zeitpunkt zu wachsen aufhören und sich wieder mit dem All vereinigen. Tut er das nicht, will er weiterwachsen, obschon seine Zeit um ist, so wächst er ohne inneren Trieb, und sein vermeintliches Weiterwachsen ist ein Entarten. Er kann nur noch zurückwachsen, das heißt andere wachsen lassen, um sich mit dem All, von dem er ausgegangen ist, wieder zu vereinigen. Das tut er, indem er seinen Eigenwillen aufgibt und sich dem Ganzen hingibt, nicht mehr sich selbst, sondern anderen lebt, aus freiwilliger Liebe. Dies Aufgeben des Eigenwillens ist nicht ein bewußter Willensakt, sonst wäre es ja kein Aufgeben des Willens; sondern es ist das Aufblühen des Reinmenschlichen aus der gesprengten Knospe der Individualität. Es kann nur geschehen, wo dies Allmenschliche von vornherein da war, verborgen, aber lebendig im Innern, nicht erstarrt durch tyrannisches Eigenleben. Die Wiedervereinigung mit Gott, das Eingehen des Einzelwillens in den Allwillen geschieht also nur durch freiwilliges Sterben, durch Selbstvergessen, sowohl beim einzelnen, wie bei der Familie und beim Volke. Ist die Schwelle des Lebens einmal überschritten, so kann man nur über den Tod zurück. Ein Erwachsener kann nicht wieder Kind werden, und ein zivilisiertes Volk kann nicht in primitive Verhältnisse zurück, so sehr es die Wünschbarkeit davon einsehen mag. Es kann Ackerbau treiben, auf Höfen leben, sich Älteste wählen; aber es kann die Naivität des Gemütes, den Glauben, die natürliche Übereinstimmung nicht wiedergewinnen, worin seine Kraft lag. Es würde auf alles Schöne und Große verzichten müssen, was sein abgesondertes Leben heiligte, und doch die Jugendkraft nicht wiederhaben, die sicher ist, noch Schöneres zu schaffen. Das Wiederjungwerden, an dem alles liegt, geht durch den Brunnen des Todes. Solange ein Volk beständig in anderen aufgeht und andere in sich aufnimmt, kann es leben; sowie es sich in die Schranken der Nationalität sperrt und sich dadurch vom allmenschlichen Typus ganz loslöst, sowie es nicht mehr täglich stirbt, muß es erstarren und ahasverisch fluchbeladen an dem Lebendigen vorüberirren.

Es gibt ein trauriges Märchen, von einem Jüngling, der eine verwünschte Prinzessin erlösen und für sich gewinnen konnte, wenn er sie in einer bestimmten Nacht in den Brunnen stürzte; verpaßte er die Nacht und auch die zweite und dritte, so war sie ihm für immer verloren. So können auch Menschen und Völker den rechten Augenblick des Sterbens verpassen und sich mit dem Fluch beladen, weder leben noch sterben zu können. Dies ist die Nachfolge Christi: ihm, dem Todesgotte, müssen alle folgen, die sich mit Gott versöhnen wollen, um zu leben.

 

Nehmet, esset, das ist mein Leib. – Matth. 26. 26.

Alle großen Dichter haben den Zusammenhang des Menschen mit dem Weltall und insbesondere mit der Natur gefühlt; warum glaubt man es nur Christus, dem größten von allen, nicht, daß er ihn erkannt habe! Da sein Geist, der Geist der Liebe, in die Wohnung des Vaters zurückkehrte, wurde sein Fleisch und Blut wieder eins mit der unbeseelten Natur. Er, der unsterbliche Name, herrscht, unter die Sterne versetzt, als Stern der Sterne; sein Fleisch und Blut ist nicht mehr unterschieden von der ewig sich wandelnden Natur. Alle Menschen sind leiblich Brüder, weil sie von einer Substanz sind und körperlich den Kreislauf dieser Substanz mit durchlaufen; aber sie sind es nur ganz, wenn sie sich als Söhne desselben Gottes erkennen, mit dem Christus eins war. Es ist zweifellos, daß wir dies natürlich-göttliche Liebesmahl auch außerhalb der Kirche feiern können, und daß jedes Mahl durch den Glauben zum Liebesmahl werden kann. Wenn die göttliche Weisheit das Abendmahl als kultliche Handlung einsetzte, so geschah es, weil diese Verbindung des einzelnen mit Gott-Natur und zugleich mit der gläubigen Gemeinde nicht vom Zufall abhängig sein soll, und weil sie gerade den einzelnen mit seiner Gemeinde, nämlich mit seinen Nächsten, verbinden soll.

Das Abendmahl ist deshalb der Mittelpunkt der wahren, der einzigen Religion, weil es uns den Menschen als Dreieinigkeit darstellt aus Geist, Seele und Leib. Nur wenn diese drei in uns eins werden, sind wir ganz. Wäre Christus nur ein Denker gewesen, so hätte er sein Fleisch und Blut können beiseite lassen, oder er hätte seinen Jüngern auftragen können, seines Namens zu gedenken, wenn sie beim Mahle vereinigt wären, und das Abendmahl wäre dann wirklich eine Art Gedenkfest gewesen. Christus war aber nicht der, als welchen viele ihn mißverstehen; er wußte, daß des Menschen Fleisch durch sein Blut mit dem Geist verbunden werden soll, und daß die Idee nur Traum ist, wenn sie nicht von dem Gefühl einer Person ergriffen und durch die Tat von ihr verwirklicht wird.

Glauben wir nicht, daß Christi Fleisch und Blut eins mit der Natur und also eins mit uns ist, so können wir auch nicht glauben, daß wir seine Brüder sind, noch daß er wiederkommt. Auch Christus war Fleisch und Blut, und auch wir können und sollen Gottmenschen sein. Verklärung des Fleisches und Versinnlichung des Geistes in einer menschlichen Seele, das ist christliches Ziel; und darum hat Luthers »ist« so entscheidende Bedeutung. Gott ist die Einheit in allen Sphären seiner unendlichen Welt und auch die Einheit des Körpers mit dem Geiste in der Seele. Wie die Einheit eines Volkes nicht nur auf gedanklichen Beziehungen, sondern auch auf körperlichen Beziehungen, auf Blutsverbindungen beruht, so schließt auch die Bewußtseins- oder Willenseinheit des einzelnen den Körper mit ein.

 

Wo zwei oder drei beisammen sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen. – Matthäus 18. 20.

Wie der auf sich selbst beschränkte Wille, die individuelle Natur, entartet, so entartet auch die in sich beschlossene Vorstellung. Die Idee ist Wort, sie soll sich mitteilen und Mitteilung empfangen. Der Grund davon ist der, daß alles Offenbarte Teil, Gott aber ein Ganzes ist, und daß jeder Teil, der nicht an ein verhältnismäßig Ganzes, an andere Teile angeschlossen ist, eingeht, sich auflöst. Darum ist der zu lebenslänglicher Einzelhaft Verurteilte zum geistigen Tode verurteilt. Darum haben Autodidakten so leicht einen Stich ins Verrückte. Luther gestattete darum nicht, daß das Abendmahl einem einzelnen gereicht würde außer im Falle schwerer Krankheit; denn im Abendmahl sollen die abgewichenen Individuen wieder zu einem ganzen Menschen, einem Gottmenschen vereinigt werden, indem sie alle diesen einen vor Augen haben. Jeder Vorstellung eines einzelnen klebt der Irrtum oder die Lüge seiner Einzelheit an; erst im Vergleich und Wettkampf, im Austausch mit anderen, vereinigt und erweitert er sie. Dieser Prozeß der Läuterung und Vertiefung überdauert das Leben jedes einzelnen; darum strebte auch Goethe zu höheren Stufen. Wir schreiten aus dem Dunkel von einer Klarheit zur anderen, und der äußerste Stern, den wir erblicken, wirft seine Strahlen noch in einen unendlichen Raum voll keimender Welten. Ist aber der einzelne auch nur Bruchstück, so kann eine Gemeinschaft im Glauben an einen einzelnen ebensowohl wie ein einzelner, der viele umfaßt und vertritt, doch ein Ganzes darstellen.

 

Wird ein toter Mensch wieder leben? – Hiob 14. 14.

Der Herr gestattete dem Satan, Hiob zu versuchen, damit sein Glaube offenbar würde; das erhabene Vorspiel des Menschendramas breitet die tiefsten Gründe seines Geschehens vor uns aus. Die verschiedene Auffassung von Hiob und seinen Tröstern besteht darin, daß sie sein Unglück, da Gott allwissend und gerecht ist, als Strafe und zur Besserung gegeben, auffassen. Hiob liegt es fern, Gottes Erhabenheit und Allweisheit anzuzweifeln; in wundervollen Hymnen rühmt er aus tiefstem Elend die Herrlichkeit des Herrn. Er weiß auch, daß kein Mensch vor Gott gerecht ist, daß er, selbst wenn er keiner Sünde sich bewußt ist, doch vor Gott sündig ist. Aber er weiß auch, daß, was für Fehler er begangen haben mag, sein Glaube ihm als Gerechtigkeit gerechnet würde, daß das über ihn verhängte Unglück also nicht als Strafe gedacht sein kann, auch nicht Besserung bezwecken kann. Aus dem Chaos von Gefühlen und Gedanken, die in ihm wühlen, blitzt die Erkenntnis auf, daß, eben weil Gott gerecht ist, ihm sein Leiden vergolten werden muß, und zwar, da es nicht ungeschehen gemacht werden kann, daß es eine Kehrseite, gewissermaßen eine Innenseite haben muß, daß es ein Jenseit geben muß. Unter dem Druck furchtbarsten Leidens springt der Unsterblichkeitsgedanke ans Licht. Das Unglück war es nicht, das ihm die größte Qual bereitete, sondern das, daß sein Hoffen mit ihm zur Hölle fahren müsse, daß er des Weges dahin müsse, von dem er nicht wiederkomme. Der Mensch ohne Hoffnung auf Unsterblichkeit lebt wie ein Tagelöhner; wenn Gott den Menschen wahrhaft liebte, würde Gott ihn rufen, und er würde ihm antworten; es würde Gott verlangen nach dem Werke seiner Hände.

Hiob ist der seiner selbst bewußt gewordene Mensch, der den Gedanken gedacht hat: Ich bin Ich und das ist: Ich bin aus Gott, bin Gottes Sohn. Vorwurfslos und klaglos, willig ergeben, stirbt das unbewußte Geschöpf, nicht so er. Er hat den verbotenen Apfel gegessen und greift nach dem Baume des Lebens; er kann nicht anders, er muß dauern wollen und seine Gottverwandtschaft der Erde als unauslöschliche Spur eindrücken. Die Qual des Sterbenmüssens erpreßt ihm den schmerzlich jubelnden Aufschrei: »Ach, daß meine Reden geschrieben würden! Ach, daß sie in ein Buch gestellt würden! Mit einem eisernen Griffel auf Blei und zu ewigem Gedächtnis in einen Fels gehauen würden.«

Überwunden hat er Gott, der die Unsterblichkeit für sich allein besitzt, indem er freiwillig auf die irdische verzichtet und nach der himmlischen greift, die Gottes eben deshalb ist, weil Gott nicht selbstbewußt ist, sondern der All-Bewußte, aus dem alles Einzelne quillt, und in das es mündet. Der Selbstbewußte nimmt den Tod auf sich, indem er sein Selbstbewußtsein verliert, weil er durch diese enge Schlucht hindurch das Gefilde des ewigen Lebens schimmern sieht. Und er lebt! Er lebt Jahrhunderte in dem erschütternden Drama, das den Kampf des Menschen gegen Gott darstellt, der, zum Ebenbilde Gottes geschaffen, dennoch vergänglich ist. Er lebt, wie jener andere Dichter, der sich in Worten ein Denkmal dauernder als Erz errichtete, wie jeder lebt, dem Werke nachfolgen, in die er sich ganz ergoß.

 

Dann aber werde ich erkennen, gleich wie ich erkannt bin – 1. Kor. 13. 12.

Es ist nicht die Schuld der Bibel, wenn sich Menschen das ewige Leben als eine Fortsetzung des irdischen ausmalen. »Die Kinder dieser Welt freien und lassen sich freien,« sagt Jesus. »Welche aber würdig sein werden, jene Welt zu erlangen und die Auferstehung der Toten, die werden weder freien noch sich freien lassen. Denn sie können hinfort nicht sterben; denn sie sind den Engeln gleich.« Die Sadduzäer, welche die versuchende Frage an ihn richteten, worauf er so antwortete, glaubten überhaupt an keine Auferstehung, und ihnen gleichen alle, die sich das ewige Leben wie das irdische ausmalen. Das ewige Leben ist innerlich, geistig, und bei wem dies unsterbliche Leben nicht bereits in Kraft ist, wer es nicht schon in sich fühlt oder ahnt, der kann in Wahrheit nicht daran glauben. Der Unsterblichkeitsgedanke ist an eine gewisse Entwicklungshöhe gebunden; bevor nicht diejenige innere Spaltung eingetreten ist, durch welche Geist vom Fleisch, Inneres vom Äußeren unterschieden wird, kann die Idee des geistigen Lebens nicht erfaßt werden. Luther hat bemerkt, daß kleine Kinder sich vor dem Tode nicht fürchten, weil sie ihn nicht begreifen, nur das Leben kennen und nur an das Leben glauben; erst wenn dies Einheitsgefühl durch das Selbstbewußtsein verloren war, erst dann kann das jenseitige Leben als Gedanke ergriffen werden. Die Erfahrung des Sterbenmüssens ist die erschütterndste Erfahrung für den selbstbewußten Menschen, gerade weil er sich als göttlichen Geschlechts erkannt hat; er weiß, daß der Tod sich an ihm vergreift, und er wehrt sich gegen ihn. Zugleich aber ist ihm mit dem Bewußtsein seiner göttlichen Abkunft die stolze Gewißheit des Sieges über den Tod gegeben, soweit er Geist ist. Denn das Los des Fleisches, daß es, von Erde genommen, zu Erde werden muß, ist nicht aufgehoben. Der Christ unterscheidet sich nur dadurch vom Heiden, daß er sich als Selbst im Gegensatz zum Ganzen erfahren und wieder aufgegeben hat.

Was war Hiob im Glück? Ein Knecht Gottes, schlecht und recht, gottesfürchtig und mied das Böse. Er hätte gelebt und sich seines Lebens gefreut und damit seinen Lohn dahin gehabt. In die tiefste Hölle geworfen, gräbt seine aus Gott geborene Seele sich einen Ausgang an das ewige Licht und findet ihre Heimat im Reiche des Geistes. Wir, die wir nach Jahrhunderten das Drama dieser leidenschaftlichen Seele lesen, sind wir nicht die gültigsten Zeugen, daß sie lebt?

Der moderne Mensch wird geneigt sein zu sagen, daß diese Auferstehung ihm etwas fadenscheinig vorkomme, und daß sie nichts anderes sei als der Ruhm, den auch die Heiden als das Höchste gepriesen hätten. Es handelt sich aber nicht um ein Reden über jemand, sondern um ein Fortwirken in lebendigen Menschen; wo aber eine Wirkung ist, da ist auch eine lebendige Kraft, die wirkt. Der Ruhm ist die Außenseite der Unsterblichkeit, die Wirkung einer Kraft als Wirkung, der Name, der von irdischen Lippen genannt wird; das ewige Leben ist die Kraft selbst, die die Wirkung hervorbringt, die anderen als in ihnen wirkende Kraft zum Bewußtsein kommt und von ihm mit Namen genannt wird, die Innenseite des Ruhms. Setzen wir, das Licht eines Sternes brauche Millionen Jahre, um zu uns zu gelangen, so könnte es ganz wohl sein, daß der Stern bereits erloschen wäre, wenn sein Licht immer noch auf uns wirkte.

Wir können passiv und aktiv, leidend und tätig, mit Gott verbunden sein. Passiv sind wir mit Gott verbunden, solange Gott uns wachsen läßt, uns trägt, und wir mit dem naiven Egoismus des Kindes, das noch nichts von sich weiß, unverantwortlich leben. Kommt aber der Augenblick, wo wir uns selbst und zugleich Gott erkennen, können wir aktiv mit Gott verbunden sein, indem wir mit Gott, der Kraft der Liebe, eins werden und nun andere tragen, so wie wir vorher getragen wurden. Aus dem irdischen Reiche erheben wir uns damit in das Reich Gottes, den Himmel der Vorbilder, die die Menschen nach sich ziehen in die Zukunft. »Sie können hinfort nicht sterben, denn sie sind den Engeln gleich.« Was sind aber Engel anders als lebendige Kräfte, lebendige und deshalb wirkende? Selbstbewußt sind sie nicht, sonst könnten sie sterben.

Was suchen wir eigentlich auf der Erde anderes als Menschen? Das einzige, wonach wir mit Leidenschaft trachten, ist das Anknüpfen menschlicher Beziehungen, nichts ist uns umgekehrt so schmerzlich als das Auflösen derselben. Unser Glück und Unglück hängt von unseren menschlichen Beziehungen ab. Eltern, Geschwister, Geliebte, Kinder, Freunde, Lehrer, Jünger – in diesem Kreise bewegt sich unser Leben, wir leben nur, soweit andere in uns, soweit wir in anderen leben. Insofern ist das ewige Leben eine Fortsetzung des irdischen und bauen wir uns im irdischen Leben das jenseitige Haus. Wir leben geistig nur, insofern wir geistig wirken, und je größer die Wirkung des Menschen auf andere ist, desto fester hat er ins Ewige gebaut. Der Ungeliebte, der Böse, muß als Gespenst schweifen, weil er nirgends Heimat in Menschen hat, die ihn lieben und beherbergen. Wie tief ist das Wort: Und ihre Werke folgen ihnen nach. Von uns selbst hängt unsere Unsterblichkeit ab: nicht von der sinnlichen Liebe, die wir erregten, nicht von der Bewunderung, die etwaigen Leistungen gespendet wird, sondern von dem inneren Leben, das unser Hauch anfacht, von dem erwärmenden Feuer, das von uns ausstrahlt. Das Gefühl, in die Seele eines anderen aufgenommen zu sein und in ihr zu wirken, kennen wir aus dem irdischen Leben als höchste Seligkeit; es ist der Himmel, wie Hölle die Finsternis des von der Liebe Ausgeschlossenen ist.

Schmal ist die Grenze zwischen Himmel und Hölle, wie die wohltätige Wärme in einem Augenblick zu verzehrender Glut werden kann. Nicht Unterjochung fremder Geister zur Vermehrung des eigenen Selbstgefühls eröffnet den Himmel; nur wer sein Selbst opfert, sich freiwillig liebend hingibt, wird in anderen auferstehen. Fasten und den Leib brennen lassen ist kein Gott angenehmes Opfer; es ist das Herz, das er verlangt. Der Unterschied zwischen allen die Welt fliehenden und sich von der Welt abwendenden Lehren und dem Christentum wird hier so recht deutlich: wer sich vom Leben abwendet und sich in Betrachtung, das ist in sich selbst versenkt, schneidet sich vom Leben ab und geht in das Nichts ein; das Hoffen des Christen geht auf Überwindung seines Selbst und Hinausgehen über sich selbst, auf erhöhtes Leben durch Hingeben an andere. Der Mystiker, der eine vom Leben und vom Fleisch abgelöste Gottheit sucht, ist kein Christ; christlicher Mystizismus ist der Glaube an den Bund Gottes mit den Menschen, an die Vermählung des Geistes mit dem Fleische in der Seele. Darum ist die Liebe das Band der Vollkommenheit: sie öffnet die Herzen, in denen der Himmel unseres ewigen Lebens ist. Wer keinen Menschen liebt und von keinem Menschen geliebt wird, kann nicht auferstehen.

Welcher Art das jenseitige Bewußtsein ist, davon kann uns vielleicht der Zustand der Ekstase, der Verzückung einen Begriff geben. Es ist ein Außersichsein, eine Übertragung des Bewußtseins in einen anderen Mittelpunkt, man könnte es Überbewußtsein nennen. Mehr davon sagen zu wollen, scheint mir Anmaßung, ich wenigstens fürchte, schon zu viel gesagt zu haben. Liebe ist eine Kraft, aber jeder erlebt und erfährt sie anders, wenn auch das Wesentliche in allen Menschen dasselbe ist. Ich glaube, daß, je mächtiger die Gewalt der Liebe in einem Menschen herrscht, er desto weniger das Bedürfnis fühlen wird, das Leben in Gott sich auszumalen. Was Leben ist, fühlt der Lebendige, ohne es zu bedenken. Nur das sollte man aus meinen Worten nicht verstehen, als wollte ich die Unsterblichkeit in etwas Passives auflösen, in ein mehr oder weniger langes Reden der Nachbleibenden über die Verstorbenen. Wir haben die Sprache der Heiligen Schrift leider so entseelt, daß wir ihre Bilder oft nur als Redeblumen, ein buntes, über diesen Begriffen ausgespanntes Gitter ansehen. Handelte es sich nur um Worte, wie wäre dann die Verzücktheit der göttlichen Geister zu erklären? Außer Christus, der wußte, daß ihm, dem Sohne Gottes, Legionen Engel dienen würden, wenn er sie riefe, hat wohl keiner so wie Paulus die Wonne des unsterblichen Lebens im irdischen Leben vorgenossen. Die Götterlust millionenfachen Lebensgefühls braust wie Feuersturm in allen Worten, die uns von ihm überliefert sind. Er hat unsere Herzen heute in seiner gewaltigen Hand wie damals, als die Heiden riefen: die Götter sind den Menschen gleich worden und zu uns herniederkommen.

Hiob ist der Sterbende, der Dichter im weitesten Sinne. Es ist eine aufs höchste gesteigerte Individualität in ihm, die auf der Grenze steht, jenseit der die Hölle ist; ein Schritt weiter, und er wäre Luzifer und stürzte in den Abgrund. Er tut diesen Schritt nicht, weil ein Kinderherz voll Glauben und Liebe in ihm verborgen ist; darum zaudert und kämpft er, wie er sich Gottes Willen hingeben und doch er selbst bleiben kann. Er weiß, daß sein Einzelsein ein Abfall von Gott ist, und daß er zu Gott zurückkehren muß; aber dies sein Ich, das der Grund seines Seins ist, ist doch aus Gott und zugleich sein Werk, er will es geben und kann es doch nicht lassen. Wie Niobe, ihrer Kinder, ihres Glückes, ihres Lebens beraubt, noch den strafenden Göttern trotzte, so ringt der hilflos hingeschlachtete Hiob mit seinem Gott, um sein Ich der Vernichtung zu entreißen. Dies ist das einzige, was selbst Gott ihm nicht rauben kann, weil es selbst Gott ist: sein Name ist unsterblich, eine ewige Flamme, die aus dem zerbrechenden Körper schlägt. Ossa hic nomen ubique stand auf dem Grabe Napoleons auf St. Helena. Unser Name ist unser, wir, von menschlichen Lippen genannt, wir in das Bewußtsein der Menschen eingeprägt. Daß man sagen kann: Dante und seine Zeit, Goethe und seine Zeit, das ist Unsterblichkeit. Der Mensch hat mit Gott gerungen und hat gesiegt; denn die Namen der einzelnen prägen die Welt.

Man hat beobachtet, daß Tieren, die niemals eine Stimme verraten, die Todesangst Töne erpreßt. Wenn sie sterben soll, will die Kreatur sich äußern, um nicht zu vergehen. Weil Gott sich in den Menschen offenbart, wollen die Menschen sich offenbaren; der innere Trieb, der die Menschen leben, reden und handeln macht, ist Offenbarungswille. Dieser Trieb wächst in dem dem Tode Geweihten: der Sterbende singt seinen Schwanengesang, und wir nennen ihn Dichter. Weil Liebe Hingabe des Ich, Sterben, ist, dichtet jeder Jüngling in der Zeit des erwachenden Liebestriebes; allerdings aber ist der Verliebte noch kein Dichter, wie auch die geschlechtliche Liebe nur ein Vorspiel und Gaukelspiel ist. Der Verliebte will eine besitzen, der göttlich Liebende besitzt alle, denen er sich opfert.

Soviel der Mensch von sich äußert in Wort oder Tat, so viel gehört der Welt an und ist unsterblich. Wort sowohl wie Tat ist offenbarter Wille, ist der Ausdruck der Beziehung des Innersten in einem Menschen zu der ihn umgebenden Menschheit, zur Welt. Nicht Wort oder Tat an sich, sondern das Wort und die Tat, die Menschen mit Menschen verbinden, sind wahre Willensäußerungen. Napoleon begann seine Laufbahn als Schriftsteller und endete sie als solcher, Moses war Dichter, Luther war es, jeder Held kann Dichter und jeder Dichter Held werden. Das Entscheidende ist der Wille, der sich offenbart; in welcher Form, das hängt von den Umständen ab. Nicht jeder kann große Taten, weithin wirkende tun; jeder aber kann durch Liebe und Haß wirken. Ruhm und Unsterblichkeit ist nicht dasselbe. Ob ein geringes Bächlein sich ins Meer ergießt oder ein Strom mit vielen Zuflüssen, beide sind hernach eins mit dem Meere, sind Meer.

 

Nicht als die übers Volk herrschen, sondern werdet Vorbilder der Herde. – 1. Petrus 5. 2.

Ein Vorbild ist ein Führer, voranschwebend als ein Licht, das den Weg weist und zugleich, unbewußt, als ein Muster, nach welchem sich die Folgenden bilden. Ohne daß der Mensch es wußte, sind ihm immer seine eigenen Organe Vorbilder bei der Erfindung der Werkzeuge gewesen; die Verhältnisse seines Körpers, die Beziehungen seines Innern sind, ihm unbewußt, die Vorbilder seiner Werke. Er ist in allen seinen Werken. Mustergültig, vorbildlich, klassisch nennen wir das, was geeignet und wert ist, Vorbild für die Nachfolgenden zu sein: Vorbild in seinen Handlungen sollte der Führer des Volkes sein. Durch Gewalt oder durch Amt und Titel herrschen die, welche die Heilige Schrift Gewaltige auf Erden oder Obrigkeit nennt; durch das Beispiel zu führen, ist die Absicht des Christen, durch die Vorbildlichkeit seiner Tat oder seiner Werke herrscht das Genie, wie es Gott tut. Jeder Mensch hat die Aufgabe, Vorbildern zu folgen und selbst Vorbild zu werden; er hat die Aufgabe, weil er den Antrieb hat. Wenn er vollendet hat im Abschluß seiner Entwicklung durch den Tod, ist er auch als Vorbild vollendet: den Deckel seines Grabes durchbrechend, steigt es empor als ein Strahlenbild, das von nun an den Nachkommenden vorangeht. Auf die vorher Vorbilder wirkten, sie wirken nun selbst aus dem Innern der Sterblichen heraus, die sie durchdringen. Sie werden Sterne, an denen die Sterblichen ihre Zeit messen. Die Welt besteht aus Worten, die Fleisch werden, und aus Fleisch, das Wort wird.

 

Rühre mich nicht an; denn ich bin noch nicht aufgefahren zu meinem Vater. – Joh. 20. 17.

Das Urbild, die Urvorstellung aller Vorstellungen ist der Mensch, der Gottes Ebenbild ist. Es ist der Kelch der Welt, ihr Innerstes, den zu enthüllen sie sich entfaltet. Dieser Mensch, in dem die äußerste Individualität in vollkommener Menschlichkeit aufging, war Jesus Christus. Die Welt wäre fertig gewesen, hätte durch Entartung verkümmern müssen, nachdem er erschienen war; denn ohne ein Inneres, das sich offenbaren will, kann nichts leben und wachsen. Aber das göttliche All ist unendlich, weil der Gottmensch, nachdem er offenbart ist, wieder in das Innere der Welt eingeht und Urbild wird, um sich von neuem zu offenbaren. Die Idee des Menschen ist unsterblich: sie bleibt Wille in der Natur und Vorstellung in unserem Geiste. Nach dem leiblichen Tode Christi erstand er als Vorstellung im Geiste derer, die ihn liebten. Sicher ist, daß Maria Magdalena eine Vision hatte, als sie mit dem Gärtner zu sprechen glaubte; aber ebenso gewiß ist, daß diesem Gesicht etwas Wesentliches, der unsterbliche Christus, entsprach. Das Innere, der Kern alles Erscheinenden, ist ja das eigentlich Seiende, wenn auch unsichtbar.

Die Idee von der ewigen Wiederkunft, die Nietzsche entdeckt zu haben glaubte, ist die Lehre der Bibel, nur daß Nietzsche sie anfangs dadurch verzerrt hatte, daß er sie als ein mechanisches Abschnurren auffaßte; er sah später selbst ein, wie tief er damit unter der göttlichen Phantasie geblieben war. Alle Individualität, die sich nicht vom göttlichen Urbild losreißt, ersteht wieder mit ihr, geht als Vorstellung im Geiste der Menschen auf. Das Wort aber, die Vorstellung, war im Anfang: nach den Urbildern in unserem Geiste schaffen wir Menschen. Unsere Toten sind unsere Vorbilder, die Sterne, die uns führen: sie sind die Tätigen und Wirkenden in uns, den von ihnen Durchdrungenen. Erst wenn wir anfangen, auf andere zu wirken, indem wir lieben und geliebt werden, hassen und gehaßt werden, bildet sich der Keim eines Ich in uns, das als Idee auferstehen wird und frei tätig sein, wenn wir uns vollständig offenbart haben und sterben.

 

Sehet meine Hände und meine Füße, Ich bin's selber. – Lukas 24. 39.

Die Kraft, die in Christus war, mit der er, indem er sie in andere überströmen ließ, Kranke heilte und Tote auferweckte, sprengte den Deckel von seinem Grabe, damit er daraus hervorginge. Er war in unverweslichen Stoff gekleidet, und dennoch betonte er ausdrücklich, daß er es selbst sei, das heißt der individuelle, der körperliche Christus; denn wenn wir sagen: ich bin es selbst, so meinen wir, daß wir es ganz sind, in Person, körperlich. Trotzdem erkannten ihn die Jünger nicht, als er zwischen ihnen wandelte, und hielt die liebende Maria Magdalena ihn für den Gärtner, bis sie seine Stimme hörte. Die Stimme, die Trägerin des Wortes und der Sprache, die Seele selbst, war unverändert und traf das Herz. In der Verwandlung begriffen, war er doch noch nicht völlig eingegangen in Gott, es waren in dem reinen Menschenbilde noch die Spuren des Individuellen.

Wie die Erinnerung verklärt, das Unwesentliche abstreift, bis das Idealbild ersteht, das erfahren wir in uns selbst im Verhältnis zu denen, die wir lieben und die abwesend sind; das Geheimnis des Künstlers und des Liebenden ist, diese Verklärung immer, auch an dem Gegenwärtigen, vornehmen zu können. Christus, der göttliche Mensch an sich, hat alles Individuelle überwunden; die Vorsehung hat es so gewollt, daß wir nichts von ihm wissen, was seiner Gestalt eine individuelle Bestimmtheit geben könnte, obwohl sie so umfassend ist, daß jede Individualität sich in ihr wiederfinden kann.

Nun will ich damit nicht sagen, als nähmen die Überlebenden mit dem Toten etwas vor, der seinerseits gar nicht mehr da sei; am wenigsten möchte und könnte ich das in diesem Falle meinen. Christus war selbst da; das schließt nicht aus, daß er für die im Fleisch lebenden Menschen nur für ihr Gefühl da war. Wenn man sagt, seine Jünger hatten eine Vision, so ist das richtig, falls man nicht darunter etwas versteht, das sie nach außen projizierten. Sie projizierten nur eine gewisse Anschauung nach außen; Christus, die ewige Idee, die einmal Fleisch geworden war, war selbst da, und wurde von ihnen in ihr Gefühl aufgenommen; weil dies Gefühl dasselbe war, das er vor seinem irdischen Tode in ihnen erregte, mußten sie ihn mit Sinnen zu sehen versuchen, und das Ergebnis dieses Versuchs mag man immerhin Vision nennen.

Daß das Unsichtbare sichtbar werden kann, ist ein Wunder, zweifelsohne; aber ist es deshalb neu oder unglaublich? Alles, was sichtbar wird, war zuvor unsichtbare Idee.

Weiter über Christi und unsere Auferstehung nachzudenken, widersteht mir. Ob wir Menschen einen Astralleib haben und anderen erscheinen können, das scheint mir auch eine unwichtige Frage zu sein, wenn wir nur wissen und glauben, daß das Leben im Geiste das wesentliche Leben ist, und daß, wenn wir als Vorstellung im Geiste der Menschen leben, wir auch wieder offenbart werden werden. Der Unbegrenztheit und Unbedingtheit der göttlichen Phantasie gegenüber werden wir mit allen unseren Ausmalungen weit zurückbleiben, und am wenigsten dürfen wir ihr zumuten, daß sie das gleiche unverändert wiederbringen sollte. Da jedoch die Welt nicht nur göttlicher, sondern auch unser Wille und Vorstellung ist, dürfen und sollen wir immerhin wünschen und hoffen, daß unsere tiefsten Wünsche nicht verloren sein werden.

 

Der Mensch der Sünde, das Kind des Verderbens, der da ist der Widersacher und sich überhebet über alles, das Gott oder Gottesdienst heißt. – 2. Thessal. 2. 4. – Wo zwei oder drei beisammen sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen. – Matthäus 18. 20.

Gott gewährte den Tempelbau nur zögernd und nur so, wie er dem Volke die Könige gewährte, nicht weil es gut war, sondern damit sie ihren Willen hätten, die Folgen trügen und daran zur Erkenntnis kämen. Er wußte, daß der Tempelbau ihre Gotteserkenntnis zunächst verengern und verfälschen würde, als sei Gott etwas nach menschlicher Art Begrenztes, das in Mauern sich fangen ließe. Christus lehrte zwar auch im Tempel, häufiger aber noch auf dem Meere, in der Wüste und auf den Hügeln; ja, er lehrte, daß der wahre Tempel Gottes der Mensch sei und der wahre Gottesdienst die Ausübung des göttlichen Willens, nicht irgendwelche kirchlichen Gebräuche als Opfer, Sabbatheiligung, Fasten und Beten. Trotzdem hielt auch Christus die Feiertage, betete, ließ sich taufen und setzte das Abendmahl ein, hielt also einen Kult, eine öffentliche Gottesverehrung für notwendig und gut.

Gottesdienst muß sein, weil der Mensch, der wahrhaft glaubt, auch laut bekennen wird, und er soll sein der Gemeinschaft der Gläubigen wegen. Gott offenbart sich im einzelnen, aber für das Volk, und im Volk durch einzelne; ein einzelner, und sei es der größte Prophet, ist für sich allein nichts, für sich allein muß er entarten. Die Kirche nun stellt die unbewußte Einheit des Volkes dar, die Einheit im Gefühl und im Persönliche«, während der Staat, nachahmend, die bewußte Einheit des Volkes darstellt. Als Vertreterin der gefühlsmäßigen und persönlichen, der idealen Einheit des Volkes, welches die ursprüngliche und grundlegende ist, sollte die Kirche unabhängig vom Staate sein, nicht nur das, sondern das Übergewicht über den Staat haben. Denn die Kirche ist ja, ihrer Idee nach, ein Volks-Tribunat, das Organ des Propheten, der den auf das Volk gerichteten Willen Gottes verkündet; Aaron, der Priester, war der Mund des Moses, seines Gottes. In der bekannten, durch die Kunst verherrlichten Legende vom großen Bischof Ambrosius, der dem Kaiser Theodosius den Eintritt in die Kirche verwehrt, findet dies Verhältnis einen schönen Ausdruck. Infolge der Verweltlichung der Kirche wurden später gerade die Kaiser, sehr oft geniale Männer, die Vertreter Gottes im Gegensätze zu der durch die Päpste vertretenen Menschensatzung.

Entsprechend der vollständigen Ausschaltung des Unbewußten und Persönlichen herrscht heute der Staat, die bewußte Einheit des Volkes, allein; die Kirche ist nichts als ein Anhängsel des Staates. Ob etwa die durch den Krieg hervorgerufene gefühlsmäßige Einheit des Volkes, welche die in Deutschland so besonders stacheligen Trennungszäune der Stände wegreißen zu wollen schien, den Krieg überdauern und eine neue Kirche schaffen wird? Ob dann vielleicht endlich Luthers erhabene Vision der christlichen Kirche wirklich werden wird?

Man hat Luther vorgeworfen, er habe sein eigenes Werk zerstört, indem er ein neues Papsttum an die Stelle des alten gesetzt habe; eine Kritik, die nur die Verständnislosigkeit, zuweilen wohl auch den bösen Willen der Kritiker beweist. Unermüdlich hat Luther gesagt, wiederholend, was der Apostel Paulus so klar lehrte, daß alles Äußerliche an sich völlig wertlos sei, bedeutend nur, insofern es etwas Innerliches bedeute. Alle Gebräuche der katholischen Kirche versuchte er soviel wie möglich beizubehalten, gerade um zu zeigen, wie belanglos sie an und für sich seien. Es war nicht seine Schuld, daß dies durchaus nicht begriffen wurde, daß sich alle, Gebildete und Ungebildete, an Äußerlichkeiten klammerten. Daß das Äußere als Auswirkung einer inneren Kraft gewürdigt, aber nicht mit der inneren, bewegenden Kraft verwechselt werde, das ist eine Aufgabe, die junge, unbewußte Völker spielend lösen, die für altgewordene, bewußte Völker aber unlösbar scheint; sie ist es für junge Völker, weil sie das Problem noch nicht kennen, weil sie Inneres und Äußeres noch nicht unterscheiden.

Walther Rathenau erzählt, daß er einmal zu einem protestantischen Geistlichen im Gespräch über den lückenhaften Kirchenbesuch gesagt habe, die Kirche sei eine Gemeinschaft der Heiligen. »Ist nicht vielleicht die wahre Gemeinschaft der Seelen gegeben in der Kirche unserer Großen und ihrer Jünger? Ist sie gar am Ende die Genossenschaft Herders und Goethes, Schillers und Kants, Beethovens, Fichtes, Fechners, Hegels, Schopenhauers, Tolstois?« Ja, so ist es; und es fehlt uns nichts, als daß die wahren Christen oder führenden Geister ihre Zusammengehörigkeit mit dem zu führenden Volke in Gott, dem Herrn über alle, erkennten, damit wir eine andere Kirche hätten, wie sie sein soll. Die großen Geister sind Christen und hassen die verweltlichte Kirche, weil sie Menschensatzung hassen, wie Christus tat; aber müßten sie deshalb den Gottesdienst verachten? Für sich allein sind die Großen doch nur die höchste Stufe, die Kuppel der dreigliedrigen Kirche, die ohne eine Basis gar nicht zu denken ist. Gewiß, wer im Geist und in der Wahrheit, das ist in der tätigen Liebe anbetet, der bedarf für sich der Kirche nicht; aber was heißt »für sich«? Er bedarf ihrer um seiner Volkszugehörigkeit willen, weil das Volk seiner und er des Volkes bedarf.

Kirche und Staat müssen sein, weil der übermäßige Individualismus da ist, weil nicht alle Menschen den Gehorsam des Glaubens haben und sich freiwillig den Vertretern Gottes, die nicht durch Zwang herrschen, beugen. Es muß feste Mittelpunkte geben, Mittelpunkte mit Aushängeschildern, weil der göttliche Mittelpunkt kein solches an sich trägt. Die aus der Wahrheit sind, hören seine Stimme; aber viele haben nur ein Ohr für die Stimme der Lüge, für den menschlichen Willen. Da nun um dieser Mehrheit willen Staat und Kirche da sein muß, sondern sich gerade die Besseren von ihrem Volke ab, wenn sie sich von Staat und Kirche absondern.

Es gibt immer Heiden oder Juden, die schlechtweg unter dem Gesetz stehen müssen; Christen sind selten und sollen selten sein, denn es sind ja die freiwillig Sterbenden, die Reifen, die ihren Samen aussäen. Eine Kirche muß aber alles Volk umfassen; es muß also in jeder Kirche eine Art Mysterium für die Reifen geben. Es schwebte darum Luther eine dreigliedrige Kirche vor, deren Basis die Gesetzeskirche für die jungen Menschen sein sollte, jung nach der Entwicklungsstufe, deren Spitze, aus den wahren Christen gebildet, die ummauerte Kirche mit der Unendlichkeit verbunden hätte. Vielleicht war es Luthers tiefster Schmerz, daß er diese Christen nicht fand; aber gab es deshalb keine? Auch Christus wurde von seinen Jüngern nicht verstanden, aber er wußte, daß nach seinem Tode der Heilige Geist über sie ausgegossen werden würde.

Wieviel hat Luther gepredigt, daß der Starke sich zum Schwachen, der nur erst Milch und noch nicht den Wein der Wahrheit vertrage, aus Liebe herabneigen solle! Es ist jetzt Mode, diejenigen Bücher über Luther zu loben, in denen zwar seine Größe anerkannt sei, seine menschlichen Schwächen aber doch nicht vertuscht wären. Sicher war Luther auch ein Mensch; das zeigt sich hauptsächlich in seinem ungeheuren Verstande, der ihm oft Zweifel und Anfechtungen bereitete; aber daß seine Liebe noch größer war, wer dürfte wagen, ihn deshalb zu tadeln? Luther bedarf der herablassenden Anerkennung, der Lob- und Tadelverteilung von Gelehrten nicht. Sie suchen die Fehler doch nur an der falschen Stelle. Was man Luthers Herrschsucht nennt, ist, daß er an der Autorität der Heiligen Schrift nicht gerüttelt wissen wollte. Denn das ist ja eben die Frage: Offenbart sich Gott in gewissen Menschen oder nicht? Diese Menschen selbst glauben es, weil sie es in sich fühlen, und das gläubige Volk glaubt es, das die Stimme des Hirten erkennt; aber alle die glauben es nicht, die Propheten nicht sind und gläubiges Volk aus Hochmut nicht sein wollen. Diese, ich will sie kurzweg die Gebildeten nennen, sind die geborenen Anhänger der Menschen-Kirche, der Menschensatzung und die geborenen Feinde der Gemeinschaft der Heiligen. Begriffe man nur, daß die Heilige Schrift mit der Menschen-Kirche nichts, aber auch gar nichts gemein hat, und daß sie nur reiner und ursprünglicher, nur die Wahrheit enthält, die alle großen Geister wissend und ohne es zu wissen bekannt haben, von der sie aber auch als individuelle Menschen abgewichen sind. Die Bibel ist das Maß.

Wenn ich von Menschen-Kirche spreche, so meine ich damit nicht die Form der Kirche an sich, sondern ihre Verweltlichung, das von den Menschen gegen Gottes Befehl Hinzugetane. Im Grunde haben wir ja die dreigliedrige Kirche, die Luther vorschwebte: die katholische, die Basis, die das unbewußte Volk umfaßt, die protestantische, die Kirche der mit dem Satan des Sichselbstwissens Kämpfenden, und die über beiden Schwebende der mit dem göttlichen Geist Erfüllten, die die Erde mit dem Himmel verbinden. Vielleicht kommt eine Zeit, wo die drei Glieder der Kirche sich ihrer Zusammengehörigkeit bewußt werden und der geheimnisvolle Dom sich vollendet enthüllt. Vollendung aber bedeutet zugleich Ende.

Im Kanton Bern besteht die Einrichtung, daß an einem gewissen Sonntag im Jahre ein Laie auf der Kanzel steht und die Predigt hält. Dies ist eine schöne, echt christliche Einrichtung, an die mit gutem Erfolg angeknüpft werden könnte; vorausgesetzt, daß auch der Laie seiner Rede das Wort Gottes zugrunde legte. Denn dem Gottesdienst soll doch die Kirche immer geweiht bleiben. Man wird finden, daß es nichts gibt, was den Menschen interessieren kann und was ihm wichtig ist, wozu sich in der Bibel nicht der Text fände.

Ferner sollte man sich erinnern, daß Luther ein allzu häufiges Predigen tadelte, da das Wort Gottes etwas sein soll, wonach man sich sehnt, nicht etwas, wovon man Überdruß bekommt. Das Göttliche soll die Weihe des Feiertags, die Erhöhung über das Gemeine sein; man hört oder sieht auch nicht alle Tage die Meisterwerke unserer Kunst; das würde nur die Folge haben, daß sie keine Wirkung mehr ausübten. Der Zwang der sonntäglichen Predigt ist für den Geist des Predigers erstickend; es müßte ihm gestattet sein, seine Gemeinde zuweilen nur durch einen Vortrag aus der Bibel und Gesang zu erbauen, oder auch einen anderen für sich eintreten zu lassen. Es setzt Gottesdienst und Prediger herab, daß sie häufig gezwungen sind, zu Gemeinplätzen ihre Zuflucht zu nehmen. Schließlich sollte jeder Prediger beherzigen, daß seine Kunst in der Anwendung des Schriftwortes auf die gegenwärtige Wirklichkeit besteht. Wirksam ist jede Predigt, die die allernächsten Umstände, seien sie an sich gering, die aber für die Gemeinde wichtig sind, an der ewigen Wahrheit mißt.

 

Und sprach zu Aaron: Was hat dir das Volk getan, daß du eine so große Sünde über sie gebracht hast? – 2. Mos. 32. 21.

Aaron sollte Diener am Worte Gottes sein; aber in Abwesenheit des Moses ließ er sich herbei, dem Volke ein Götzenbild zu machen, Symbol des Mammon, unter dessen Herrschaft es sich zügellos seiner Sinnlichkeit hingab. Aarons scheinbare Schwäche und Nachgiebigkeit war im Grunde Herrschsucht; er fürchtete, wenn er nicht nachgäbe, die Macht über das Volk zu verlieren. Indem der Priester das Volk zum Knecht seiner Sinnlichkeit macht, macht er sich selbst zu seinem Herrn. Gott will ein freies Volk, das durch den Glauben mit ihm verbunden ist; je ungläubiger es ist, desto leichter können die Priester es ihrem Willen unterwerfen, so daß man sagen kann, ein Volk ist desto kirchlicher, das heißt, desto mehr den Priestern ergeben, je ungläubiger es ist. Schuld am Abfall des Volkes, an seiner Auflösung, hat der Priester, der aus Eigennutz das Böse, Herrschsucht, Hochmut, Genußsucht, nicht bekämpft, weil ein schwaches Volk entweder seiner eigenen Genußsucht oder seiner eigenen Herrschsucht dienlich ist. Als herrschsüchtige und genußsüchtige Adelskaste zeigt uns die Geschichte die Priester; die modernen protestantischen Pfarrer sind, im allgemeinen, Beamte oder selbstgefällige Schönredner. Daß es höchst rühmliche Ausnahmen stets gegeben hat und noch gibt, brauche ich nicht zu betonen.

Wie gerechtfertigt demnach das Mißtrauen gegen den Stand des Geistlichen ist, so scheint mir doch die eigentümliche Erscheinung des modernen Nervenarztes darauf hinzuweisen, daß ein lebhaftes Bedürfnis nach echten Priestern im Volke vorhanden ist. Die Priester des Altertums waren zugleich Ärzte; dies mußte so sein, weil damals der Mensch als ein Ganzes aufgefaßt wurde, dessen Geist, Seele und Leib in so innigem Zusammenhange sich befindet, daß keines ohne das andere leiden und erkranken kann. Seit man anfängt, zu dieser Einsicht zurückzukehren, findet sich von selbst auch wieder der Priester-Arzt ein, leider aber noch in verkehrter Weise, dementsprechend, daß auch die Einsicht noch unvollständig ist. Der moderne Seelenarzt geht in der Art des katholischen Beichtvaters vor, der sich auf zerstörende Art in das Seelenleben des einzelnen, wie in das Leben der Familie eindrängt, im Grunde in der Absicht, wenn nicht den Leib, so doch die Seele an sich zu reißen. Im tiefsten Grunde ist diese Methode oft ein nicht in Kraft tretendes und darum um so verderblicheres sexuelles Spiel, ein wissenschaftlicher Flirt, der schon überspannte, an innerem Zwiespalt leidende Menschen vollends zerreißen muß. Aufgabe des Arztes wäre, den Kranken, der immer ein Abgesonderter ist, wieder mit dem höheren Willen seiner Gemeinschaft zu verbinden, mittels seiner Eltern, seiner Familie, seiner Berufsgenossenschaft, kurz, durch das Mittel, welches in dem gegebenen Falle in Frage kommt, vor allen Dingen ihn wieder unter Gott zu stellen. Es versteht sich von selbst, daß es auch jetzt Seelenärzte gibt, die dem Kranken Mittler zu Gott sein können; sie bedürfen aber der modernen Methoden nicht, sondern heilen dadurch, daß sie dem Kranken gegenüber den höheren Willen vertreten, dem sich zu beugen sein innerer, verborgener Wille war, woran ihn der Satan der Selbstüberhebung und Selbstbeschränkung hinderte. Gerade diese Sehnsucht, sich einem höheren Willen unterordnen zu können, der keinen Zwang, auch nicht den der Sinnlichkeit ausübt, ist das dem Menschen innewohnende religiöse Bedürfnis; die Unfähigkeit, es zu können, das Merkmal der Dekadenz. Einheit erwächst auf der Grundlage der nichtsinnlichen Liebe; wer diese ausströmt und mitteilt, kann heilen. Diese Liebe hat nichts mit Sentimentalität zu tun; sie kommt aus dem Unbewußten und ist eitel Kraft. Sie äußert sich dem Kranken gegenüber als Liebe, wie Liebe tut, aber soweit er vom Satan gebunden ist, auch als unbeugsame Strenge.

Gäbe es einen vom Staat unabhängigen, aber von Gott abhängigen Priester-Ärzte-Stand, so wäre die Kurpfuscherei gewisser moderner Seelenärzte, wie sie jetzt üblich ist, unmöglich gemacht. Jetzt glaubt sich jeder, Ärzte und Laien, berechtigt, in das Seelenleben leidender und kranker Personen zerstörend einzugreifen; vom Arzte ist es besonders verwerflich, da er besser als der Laie die Gefährlichkeit seines Tuns begreifen sollte. Wenn man die Verbrecher bestraft, die den Leib töten, vergiften oder sonst beschädigen, warum läßt man zu, daß die Seele durch das Wort, den unmittelbaren Ausdruck des Willens, systematisch vergiftet und zerstört wird? Wort und Wille richten mehr Schaden an als das Schwert, gerade weil sie nicht sichtbar sind; sie vergiften durch Zeitungen, durch Theater, durch Reden, ganz besonders aber, wo der Wille unmittelbar auf den Willen wirkt. Ich habe den modernen Psychiater dem katholischen Beichtvater verglichen; man kann ihn auch den modernen Zauberer nennen, den Inhaber der schwarzen Magie. Sie unterwerfen sich die Seelen, indem sie sie lähmen und aller Kraft berauben, anstatt daß sie Kraft mitteilen, die Seele unter Gott stellen, unbewußt machen. Ich zweifle nicht, daß manche in guter Absicht handeln und auch, ihrer Methode zum Trotz, gewisse Erfolge erzielen; die meisten sind bewegt, durch Herrschsucht und einen satanischen Trieb aufzulösen, bewußt zu machen, entzwei zu machen. Sie möchten jede Seele nach einem gewissen Schema untersuchen und auf eine gewisse Formel bringen, sie halten die Seelen für Exempel und fühlen Befriedigung, wenn sie sie gelöst zu haben glauben. Der Mensch selbst ist aber durchaus nicht befriedigt, wenn ein anderer ihn oder er selbst sich als Exempel gelöst hat; denn dann ist er ja fertig, und man kann ihn auf den Kehrichthaufen werfen. Die Lösung des Exempels liegt nicht in dem Menschen, der untersucht wird von sich oder anderen, sondern in seinen Taten und Werken. Sein Angesicht kann man nicht sehen. Wer einen Menschen aus seinem eigenen Inneren heraus tätig machen kann, Begeisterung, Liebe zu einem Ideal in ihm erwecken kann, der hilft ihm.

Die Frage, wie ein solcher Ärztestand mit der Kirche zu verbinden sei, getraue ich mich nicht zu lösen; eine Kirche läßt sich überhaupt nicht gründen, sondern sie muß erwachsen. Um den Gedanken nicht abgeschmackt zu finden, muß man im Sinne behalten, daß die zu wünschende Kirche nicht dasselbe ist, was wir heute unter Kirche verstehen, sondern etwas zwar der Form nicht Entbehrendes, aber doch viel Freieres, weder durch den Staat noch durch Universitäten Gebundenes. Man bedenke, daß die Bibel eine Heilslehre, und daß der Arzt ein Heilkünstler ist; hier liegt, was sie verbindet.

 

Danach das Ende, wenn er das Reich Gott und dem Vater überantworten wird, wenn er aufheben wird alle Herrschaft und Obrigkeit und Gewalt. Wenn aber alles ihm untertan sein wird, alsdann wird auch der Sohn selbst untenan sein dem, der ihm alles untergetan hat, auf daß Gott sei alles in allem. – 1. Kor. 15. 24. 28.

Einst wird die Gottesherrschaft wiederkehren; es wird keine Könige, keine amtliche noch erbliche Obrigkeit irgendwelcher Art mehr geben, weil das Volk freiwillig den Propheten, den berufenen Herren, den Großen und Guten gehorchen wird. Die Menschen bedürfen dann keines Mittlers mehr zu Gott, weil sie unmittelbar unter Gott, also unbewußt sind. Die vollkommene Erkenntnis mündet wieder in dem Unbewußten ein: wie Wille und Vorstellung eins waren, so werden sie auch wieder eins werden. Nicht als ob die Menschen dann alle überein sein würden, oder zu herdenhaft lammsmütig, um ein Unrecht zu begehen: aber weil sie an den einen Gott glauben, der aller Vater ist, werden sie ein Gewissen haben und die Strafe annehmen, die den gestörten Frieden wieder ausgleicht. Die Persönlichkeit wird nicht so weit abweichen, daß sie ihres Ursprungs und ihrer Zusammengehörigkeit mit den anderen vergäße. Der einzelne wird fühlen, daß er nur als Teil eines Ganzen ein Ding für sich sein kann; er wird es fühlen, weil er das Ganze in sich fühlt. Denn gesagt wird das ja jetzt auch, und es ist eine Binsenwahrheit, die in jeder Zeitungsspalte zehnmal steht; aber das Erkennen nützt nicht, das tun die Teufel auch und zittern. Wenn man tatsächlich durch Individualisation so vom Ganzen abgewichen ist, daß man sein Siegel nicht mehr trägt, daß durch den allzu dünnen und lang ausgezogenen Wurzelfaden kein Saft mehr steigt, so hilft die Erkenntnis nicht und nicht einmal die Sehnsucht nach dem Ganzen. Wo diese sehr stark ausgeprägt ist, ist schon starke Abweichung da; wo nur geringe ist, so daß man noch im Ganzen geborgen ruht, wo das Paradies nicht verloren ist, kann auch kein Verlangen, es wiederzugewinnen, sein.

Daß die Gottesherrschaft wiederkommen wird, ist uns gesagt; nicht aber, auf welche Weise. Wir haben in der Geschichte erlebt und können uns deshalb vorstellen, daß sie durch ein junges Volk kam, wie das im Beginn unserer Zeitrechnung durch die Germanen geschah. Gibt es aber jetzt noch ein junges Volk? Sind nicht alle Völker, die jetzt auf einer tieferen Kulturstufe stehen als die europäischen Nationen, schon entartete? Abkömmlinge von einst blühenden Völkern, die, nachdem ihre Entwickelung vorüber war, in ein ungeschichtliches, unproduktives Dämmern zurückfielen?

 

Du hast dich mit einer Wolke verdeckt, daß kein Gebet hindurch konnte. - Klagel. 3. 44.

Gott stirbt nicht, der Geist ist unsterblich. Auch bei der Geisteskrankheit des Menschen, bei völligem Irrsinn, ist der Geist nicht tot, nur verdeckt ist er, so daß er sich nicht mehr äußern kann. Zwar ist jedem individuellen Wesen nur eine beschränkte Äußerungsmöglichkeit gegeben, beschränkt eben durch seine Individualität; aber im Maße, wie es seine Individualität erweitert, wird es geistvoller und lebendiger. Eine Rose kann als diese bestimmte Rose nur eine begrenzte Zahl von Blüten tragen; könnte sie sich verwandeln, würde sie, als immer andere Blume, ewig blühen. Tot ist, was in seiner Individualität erstarrt; die Individualität wird dann zur Wolke, die Gott verhüllt. Er ist so lebendig, wie er je war, hinter der Wolke und hat die ewige Macht, sie zu durchbohren; aber unser schwaches Gebet, das ihn riefe, und das er hören würde, dringt nicht hindurch. Diejenigen Völker, die wir jetzt wilde nennen, sind in ihrer Individualität erstarrt und darum nicht mehr entwicklungsfähig. Sie sind geistlos geworden und darum nicht mehr Natur, sondern Stoff. Ein solches Volk kann als solches nicht wieder blühen. Die Indianer können als Indianer nicht wieder ein Kulturvolk werden; aber ist damit gesagt, daß sie nicht den Bestandteil eines neuen Volkes bilden könnten? Die Völkermischung Amerikas spricht dagegen. Trotzdem wäre es Überhebung, etwas Entscheidendes darüber sagen zu wollen. Am besten ist es, sich mit der Sage zu trösten, nach welcher der dürre Stab Tannhäusers unter dem Tau seiner Tränen wieder grün wurde.

Wenn es wirklich kein junges Volk mehr gibt, könnten die bewußtgewordenen Völker nicht vielleicht, wenn ihr Bewußtsein, das sie zuerst von Gott entfernte, wieder zu Gott zurückgeführt hat, wieder unbewußt werden? Das Alter eines Volkes ist durch die wissenschaftliche Auffassung der Welt bezeichnet, eine Folge der Auflösung der menschlichen Dreieinigkeit, die diese Auflösung immer noch mehr beschleunigt. Was Gott durch das sogenannte Unbewußte im Menschen wirkte, wir können auch sagen, was der Mensch als Ganzes, von einem Punkte aus wirkte, macht nun der Mensch, der bewußte, denkfähige und sinnliche nach. Da er nicht mehr aus der Mitte heraus lebt, eigentlich von Gott gelebt wird, gibt er seine Herrscherstellung inmitten der Welt auf und wird ein nebensächlicher Teil von ihr, wie er auch nur teilweise lebt. Vielleicht aber, daß er Brille und Seziermesser einmal beiseite wirft, wenn er sieht, daß das Sichtbare ihn mit allen seinen vermeintlichen Offenbarungen nur narrt, arm und elend macht, wie einen unter der Erde wühlenden Schatzgräber, indes die Krone des Lebens über ihm im Unsichtbaren schwebt. Wäre es nicht möglich, daß er freiwillig die Maschine opferte? Könnte es nicht die Armut sein, die uns in das verlorene Paradies zurückführte? Wenn ich nicht glaubte, daß das Bewußtsein schließlich zum Unbewußten, unter Gott zurückführen müßte, hätte ich dies Buch nicht geschrieben.

 

Und ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben und will das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben. – Hesek. 36. 26.

Felder, die mehrere Sommer hindurch getragen haben, läßt man ein Jahr lang brachliegen, oder man besät sie mit einem anderen Samen. Die Natur will bald andere Reize, bald vollkommene Ruhe. Wenn kein Gebet mehr durch die Kruste erstarrter Individualität dringt, so rührt sich Gott wohl von selbst; die allerwärts regen göttlichen Kräfte führen dem starren Punkte den Reiz zu, der ihn erreicht und neubelebt. Wiederjungwerden ist alles. Dem bewußten Willen wird es nicht zuteil, der macht nur immer älter und starrer; nur dem Glauben schenkt es die Gnade. Wo für unsere Erkenntnis Tod, Erstarrung, Wahnsinn ist, das können wir nur Gott überlassen; sicher aber ist, daß nichts so tot ist, daß Gott es nicht wieder lebendig machen könnte. Die Zeugungskraft und die Nähr- und Gestaltungskraft des einzelnen Geschöpfes können sich erschöpfen, nicht aber die Schaffenskraft Gottes in der Natur. Unsere Erde allerdings, der auserwählte Stern, ist vergänglich, und ein anderer, der von Gott nichts wußte, wird Gottes Wort hören; aber nicht eine entartete, vertierte Menschheit wird an diesem Jüngsten Tage vor Gott treten, sondern eine solche, deren Schwanengesang das Wort Gottes auf einer jungen Erde werden wird. Wie vom Kreuze Christi die Fackel des sterbenden Ostens zum Westen hinüberleuchtete, so wird die Geistesflamme der sterbenden Menschheit zu einem anderen Stern hinüberschlagen. Es wäre törichter Wahn, nachzugrübeln, wie das geschehen sollte; aber es wäre unvernünftig, es nicht zu glauben. Wäre die Menschheit nur erdgeboren, so würde sie mit der Erde vergehen; da sie aber aus Gott ist, vergeht mit ihr nur ihre irdische Erscheinung, während das Urbild bleibt und aufersteht, wo Gott will. Das letzte Wort der Menschheit wird auf einem anderen Sterne Fleisch werden.


Gedruckt in der Piererschen Hofbuchdruckerei
Stephan Geibel & Co. in Altenburg.



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