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Im Waldhof hatten sich wie gewöhnlich um die Nachmittagsstunde Freunde und Nachbarn zu einer Tasse Kaffee und Tante Helenes berühmten Waffeln eingefunden.

Man saß gemütlich unter Birken: der heitere und gastfreundliche Hausherr Waldemar Rosner, der nur zuweilen für einen Augenblick verschwand, um in zärtlicher Besorgnis nach seiner Frau zu sehen, die seit zwei Jahren durch eine fortschreitende Lähmung ans Bett gefesselt war, seine Mutter, Großmama Rosner, wie sie allgemein genannt wurde, und Tante Helene, eine Base des Hausherrn, die seit Frau Mias Erkrankung den Haushalt führte, mit den älteren Herrschaften obenan. Am unteren Tischende saßen die sieben Waldhofer Kinder, vom kleinen siebenjährigen Heini angefangen bis zu Bettina, der ältesten Tochter.

Sie und ihre Schwester Ilse, die um ein Jahr jünger war, fielen beide auf durch ihre regelmäßig geschnittenen frischen Gesichter, die großen blauen Augen, die von dunklen Wimpern beschattet waren, und prachtvolles dunkles Haar.

Allerdings war bei Ilse, der jüngeren, das alles ins außergewöhnlich Vollkommene gesteigert. Sie wirkte dadurch geradezu blendend, so daß Bettinas Schönheit neben ihr nicht recht zur Geltung kommen konnte; um so weniger, als ihr bescheidenes und anspruchsloses Wesen sich von selbst immer im Hintergrund hielt, während die jüngere stolz, selbstherrlich und ohne jede Rücksicht auf ihre Umgebung tat, was ihr gefiel. Die Kühle, unbekümmerte Art, mit der sie, scheinbar frei von jeder Gefallsucht, beständig auszudrücken schien: bildet euch um Gottes willen nicht ein, daß ich irgend jemand brauche außer mir selbst, übte besonders auf die Männer eine noch stärkere Wirkung aus als ihre berückende Schönheit. Jedenfalls war Ilse Rosner das Licht am Waldhof, dem willig oder widerstrebend alle Motten zuflogen.

In diesem Augenblick schritt sie, gefolgt von einem ihrer eifrigsten Bewerber, dem Bibliothekar Erich Leske, den Wiesenhang bis zum Saum des Waldes hinauf, der den Waldhofer Garten oben begrenzte.

Dort standen ein paar Bänke mit prachtvoller Fernsicht über das ganze Tal von Sankt Martin, an dessen ansteigendem Ende der Waldhof talbeherrschend auf einer Anhöhe lag. ›Luginsland‹ nannten die Waldhofer den Platz nicht mit Unrecht.

Ohne den Mann an ihrer Seite zu beachten, der sie mit seinen Blicken förmlich verschlang, ließ sich Ilse nieder und blickte nachdenklich in die Weite.

Goldgebadet und märchenschön breitete sich das Land zu ihren Füßen aus. Von waldigen Bergen umschlossen, von kristallklaren Bächen durchzogen, wirkte es mit seinen stattlichen Höhen, die weit verstreut um das Dorf lagen, den smaragdgrünen Wiesen und bunten Feldern wie ein Paradies.

Das schönste Fleckchen in dieser Landschaft aber bildete doch der Waldhof mit seinem behäbigen Wohnhaus, das auf einer verandaartigen Galerie einen bunten Gürtel farbenprächtiger Blumen umgelegt hatte, den stattlichen Wirtschaftsgebäuden dahinter und den sich sanft zu Tal senkenden Rasenhängen ringsum, auf denen Gruppen von Lärchenbäumen, Birken und dunklen Edeltannen reizvoll verteilt waren. Der große, sich in die Berge ziehende Wald, an dessen Saum Ilse nun saß, schloß das Anwesen nach Norden ab.

Achtlos sah sie über den Waldhof hinweg in die Ferne, wo in blauen Nebeln ein Gewirr von Dächern, Kirchtürmen und Schloten undeutlich sichtbar war: die Stadt.

Ihr schönes Gesicht drückte wie meist Langeweile aus, ihr ziellos sich verlierender Blick unbestimmte Sehnsucht.

Ist dort in der Ferne das Glück? schienen die tiefblauen Augen zu fragen.

Ihr Begleiter betrachtete sie in verzehrender Leidenschaft. Wie schön sie war! Nie konnte es etwas Vollkommeneres auf Erden gegeben haben als Ilse Rosner. Wie ein von Meisterhand geschnittener Stein hob sich ihr Profil vom leuchtenden Hintergrund des im Abendsonnenschein liegenden Landes ab. Aber nie auch hatte es etwas Rätselvolleres gegeben als diesen seltsam verschlossenen, geheimnisvollen Frauencharakter, den nichts zu berühren schien, was Frauen sonst bewegt: weder Liebe noch Leidenschaft, nicht einmal Freude oder Schmerz. Das alles schien für sie nicht vorhanden zu sein; sie sah es gar nicht. Kühl und unbewegt lebte sie dahin, eine Fremde unter Fremden. Nicht einmal die Ihren schienen ihrem Herzen nahezustehen; hatte sie überhaupt eines?

Leske rückte näher zu Ilse heran. Den schwachen Duft ihres Haares, das seidig und glänzend um den feinen Kopf lag, tiefschwarz im Schatten, sanftbraun mit kupfern aufflimmernden Tönen im Licht, empfand er berauschend.

»Ilse«, stammelte er schweratmend, »Ilse –«

Sie drehte langsam den Kopf, der auf schlankem Hals saß. Als sie die heiße Flamme in seinem Blick sah, runzelte sie ärgerlich die Brauen.

»Sprechen Sie nicht jetzt, bitte. Das viele Sprechen unten hat mich von den anderen fortgetrieben. Singen Sie lieber ein Lied, irgend etwas. Sie wissen, Ihre prachtvolle Stimme höre ich immer gern. Am liebsten, wenn alles still ist, wie jetzt hier.«

Leske machte eine ungeduldige Bewegung. Singen? Jetzt, da er endlich gehofft hatte, sprechen zu dürfen?

»Nun, Herr Leske?«

Ilses Ton war der einer Königin, die einen saumseligen Sklaven mahnt.

Da begann er mit seiner weichen, schönen Stimme ein Liebeslied von Schubert zu singen.

Drunten bei den Birken, wo die anderen plaudernd beisammensaßen, hob ein Mädchen horchend den Kopf, und ihr Herz begann rascher zu schlagen: Bettina.

Sie glich der schönen Schwester sehr, nur ihr Haar war ein wenig heller, und nichts Rätselhaftes lag in ihrem Wesen. Ihre blauen Augen strömten im Gegensatz zu Ilses ein warmes Licht aus und blickten klar und offen in die Welt.

Ihr Nachbar, der junge Lehrer von Sankt Martin, war mit Tante Helene eben in ein lebhaftes Gespräch über Bienenzucht geraten. Da erhob sich Bettina und schlich sich verstohlen weg. Die beiden auf dem Luginsland oben in weitem Bogen umgehend, wanderte sie in den Hochwald hinein, so weit, daß sie den Sänger zwar noch hören, seine Worte aber nicht mehr verstehen konnte. Dort setzte sie sich still ins Moos, stützte den Kopf in die Hand und lauschte.

Immer noch klopfte ihr Herz laut und rasch wie stets, wenn sie diese schöne, weiche, so geliebte Stimme hörte.

Ob er es ahnte, daß dies ihr höchstes Glück auf Erden war? Kaum; er hätte es ihr sonst wohl öfter gegönnt. Aber was fragte er denn überhaupt nach ihr? Wie alle Männer, die auf den Waldhof kamen, sah er ja nur Ilse.

Bettina dachte es ohne eine Spur von Neid. Es schien ihr das so natürlich bei Ilses außergewöhnlicher Schönheit.

Das Lied war zu Ende.

»Noch eines!« befahl Ilse.

Doch Leske sagte trotzig:

»Nein, erst sollen Sie mich anhören. Seit Wochen weichen Sie mir mit raffinierter Grausamkeit aus, heute endlich werde ich Sie zwingen zuzuhören! Ilse, angebetete Ilse, ich liebe Sie aus tiefstem Herzen! Sehen Sie es denn nicht, daß ich daran zugrunde gehen muß, wenn Sie nicht Erbarmen mit mir haben?«

Sie war blaß geworden. Schweigend starrte sie hinaus in die blaue Ferne wie bisher, aber eine kleine, ärgerliche Falte war zwischen den dunklen Brauen sichtbar geworden.

Der Narr. Was fiel ihm ein? Glaubte er etwa wirklich, sie würde seine Frau werden?

Der junge Mann sah nicht den Unwillen in ihrem Gesicht. Er hatte nicht erwartet, daß Ilse schon nach den ersten Worten seiner Erklärung ihre stolze Abwehr aufgeben würde; so fühlte er sich durch ihr Schweigen ermutigt und begann von neuem:

»Ilse, liebe Ilse, darf ich hoffen? Sie wissen, ich bin in der Lage, eine Familie gründen zu können. Meine Stellung als Bibliothekar an der Universitätsbibliothek wirft einen immerhin nicht zu verachtenden Zuschuß zu den Zinsen meines zwar nicht übermäßig großen, aber doch ganz annehmbaren Vermögens ab. Dazu kommen die Aussichten, die meine Stimme bietet. Mein Lehrer, Professor Walder, versichert, daß sie mir einen Platz in der ersten Reihe unter den Opernsängern garantiert. Sie würden also an meiner Seite nichts von dem vermissen, was Sie in Ihrem Elternhaus gewohnt sind. Und ich liebe Sie! Werden Sie meine Frau, Ilse, und ich will Sie auf Händen tragen als mein kostbarstes Gut!«

Bittend und beschwörend blickte er in ihre Augen.

Die kleine Falte auf Ilses Stirn hatte sich vertieft. Sie war zornig. Alles, was er da vorgebracht hatte, kam ihr albern, spießbürgerlich und abgeschmackt vor. Bildete er sich im Ernst ein, sie sei wie andere Mädchen darauf aus zu heiraten? Und gar noch ihn!

Fast hätte sie ihm ins Gesicht gelacht. Seine schlanke, blonde Erscheinung gefiel ihr ja nicht übel im Troß ihrer Trabanten. Ihn aber immer um sich zu haben, wäre ihr tödlich langweilig erschienen.

»Ich denke nicht daran, Ihre Frau zu werden, Herr Leske«, sagte sie ruhig und kühl und entzog ihm ihre Hand.

»Ilse!«

»Bitte, lassen Sie mich ausreden. Ich habe Sie ja auch bis zu Ende angehört. Ich denke nicht daran. Ich habe vorläufig nicht den Wunsch, mich zu verheiraten. Wenn ich mich eines Tags doch dazu entschließen sollte, geschähe es nur unter der Voraussetzung, daß ich mir dadurch völlige Freiheit der Entwicklung und die unumschränkte Möglichkeit sicherte, mein Leben ganz nach meinem Belieben zu gestalten. Die Menschen und Verhältnisse, unter denen ich gegenwärtig lebe, beengen mich; sie können weder die große Leere ausfüllen, die mich umgibt, noch mich in irgendeiner Weise befriedigen. Was Sie mir bieten könnten, wäre so ziemlich dasselbe. Es hätte also keinen Zweck für mich, deshalb zu heiraten.«

Erich Leske war aschfahl geworden.

»Und die Liebe?« stammelte er verstört. »Zählt die nichts in Ihren Augen?«

»Nein. Denn ich halte sie für eine alberne Einbildung, ein Überbleibsel romantischer Zeiten, das für uns moderne Menschen nicht mehr in Betracht kommt.«

Sie zog den indischen Seidenschal, den sie der Abendkühle wegen umgelegt hatte, fester um die schlanken Schultern und stand auf. Sie war ganz ruhig, und ihre Stimme klang wie sonst, als sie sagte:

»Wir wollen diese Stunde aus unserer Erinnerung streichen, Herr Bibliothekar, und wieder gute Freunde sein wie zuvor, ja? Ich lasse Sie eine Weile allein, damit Sie wieder vernünftig werden. Dann – auf Wiedersehen!«

Mit zusammengebissenen Zähnen, blaß vor Schmerz und Enttäuschung starrte er ihr nach, wie sie in ihrem duftigen Sommerkleid über den Rasen hinunterlief.

Das ihm – eine so kalte, fast höhnische Abfuhr! Zu arm war er dem hochmütigen Mädchen! Seine Liebe galt ihr nichts, entlockte ihr nur ein mitleidig-überlegenes Lächeln! Sein Stolz war tödlich getroffen, tiefer noch als das Herz. Er schämte sich namenlos, ihr von seiner Liebe überhaupt gesprochen zu haben. Jedes Wort fiel ihm nun quälend wie eine heimliche Schmach auf die Seele.

Warum war er nicht wenigstens nachher so geistesgegenwärtig gewesen, ihr ins Gesicht zu lachen und ebenso kühl und spöttisch wie sie zu sagen: ›Beunruhigen Sie sich nicht weiter, gnädiges Fräulein, es waren ja nur Worte und nicht so ernst gemeint. Im Grund bin ich ganz Ihrer Ansicht, daß Liebe eine alberne Einbildung rückständiger Menschen ist.‹

Das hätte wohl ihren Hochmut ins Herz getroffen, und er selbst hätte seine Rache gehabt.

In ohnmächtigem Zorn über sich selbst preßte er die geballten Fäuste an die Schläfen. Wenn er sich an ihr für diese Herzlosigkeit rächen könnte! Den Glauben in ihr austilgen könnte, daß sie ernstlich imstande gewesen sei, ihm Wunden zu schlagen! Sie in ihrem Selbstbewußtsein demütigen!

»Ich glaube, ich wäre imstande, die nächstbeste Kuhmagd zu heiraten, bloß um ihr die Genugtuung und den Triumph zu nehmen, mich aufgespießt und ihrer Sammlung von Liebhabern einverleibt zu haben, wie es ihr Bruder Emil mit seinen Schmetterlingen macht«, murmelte er zähneknirschend.

Dann dachte er daran, daß er ihr in einer viertel oder halben Stunde vor den übrigen Gästen wieder gegenübertreten sollte, als wäre nichts geschehen.

Unmöglich!

Aber was sonst? Ginge er fort, ohne sich von den andern zu verabschieden, würde es auffallen und man könnte alles erraten. Dasselbe müßte geschehen, wenn er plötzlich allen Verkehr mit dem Waldhof abbräche. Man würde nachdenken, den Grund seines Fernbleibens finden und ihn belächeln.

Nur das nicht! Nur nicht zu dieser Niederlage auch noch den Spott!

*

Erich Leske war in seiner Erregung plan- und ziellos in den Wald hineingestürmt. Plötzlich blieb er stehen.

Eine sanfte Stimme rief seinen Namen; Bettina Rosner saß dicht vor ihm im Moos und blickte in freudiger Bestürzung zu ihm auf.

»Woher des Weges und wohin, Herr Bibliothekar?«

Er stand wie angewurzelt und starrte das junge Mädchen ärgerlich an. Daß ihm auch das noch passieren mußte! Wenn Bettina etwas gehört hätte, etwas ahnte –

»Was machen Sie denn da allein im Wald? Warum sind Sie nicht bei den anderen unten?« fragte er, ohne zu antworten, in keineswegs freundlichem Ton.

Bettina errötete; aber offen, wie sie war, sagte sie nach kurzem Zögern:

»Ich habe mich heimlich fortgeschlichen, als ich Sie singen hörte. Das ist ein so großer Genuß für mich, daß ich ungestört sein wollte. Sind Sie böse über den heimlichen, ungebetenen Zuhörer?«

War es der weiche, sanfte Tonfall ihrer Altstimme, die schüchterne Bitte ihrer Augen oder ein dunkler Instinkt, der ihm zuflüsterte, daß er hier ganz anders gewertet werde als von der stolzen Schwester – Leske fühlte sich plötzlich entwaffnet und wurde ruhiger.

Bettinas Art hatte ihm unbewußt immer wohl getan wie allen, die im Waldhof verkehrten, nur daß auch er wie die anderen nie recht dazu gekommen war, sie zu beachten.

Alle sahen nur immer Ilse. Sie war die Sonne, deren strahlendes Licht lockend über dem Waldhof stand.

Bettina war allen nur der gute Hausgeist, der für ihr Behagen sorgte, heimliche Wünsche erriet und jedem Gutes tat.

»Warum sollte ich böse sein«, sagte Leske nun, »es ist ja schmeichelhaft, wenn Ihnen meine Stimme gefällt!«

»Gefällt? Das Wort sagt viel zu wenig! Wenn ich Ihre Stimme höre, ist mir immer, als müßte ich mich über etwas sehr freuen oder weinen, so überwältigend rüttelt sie alles in mir auf.«

»Lieben Sie die Musik überhaupt?«

»Unendlich! Aber am meisten Gesang, und da vor allem Ihre Stimme. Doch Sie haben meine Frage von vorhin noch nicht beantwortet, Herr Bibliothekar, wohin Sie wollen.«

»Ich habe kein bestimmtes Ziel. Ich möchte bloß allein sein – Frieden suchen und Ruhe.«

Bettina stand erschrocken auf und stammelte verwirrt:

»Und da störe ich Sie! Das tut mir herzlich leid. Bitte, kümmern Sie sich nicht weiter um mich und tun Sie, als wäre ich nicht hier, das heißt, setzen Sie Ihren Weg fort.«

Leske sah Bettina mit einem seltsamen Blick an; forschend, neugierig, prüfend. Ihm war plötzlich etwas aufgefallen in diesem jungen, reinen Mädchengesicht, das alle Regungen der Seele widerspiegelte, ohne es zu ahnen.

Wäre es möglich? Bettina, der gute Geist des Hauses, empfände etwas für ihn?

Nun, warum nicht? fuhr es ihm durch den Kopf. Man wird oft geliebt, wo man es am wenigsten erwartet.

Bettina war sanft und gut. Wenn – das wäre eine Rache! Wie müßte es Ilse demütigen, wenn er um die Schwester freien würde, wenn sie ihn als Schwager ständig um sich dulden müßte.

Er lächelte, und nur Bettinas weltfremde Unschuld verstand nicht, daß dieses Lächeln furchtbar war.

Er warf sich neben Bettina ins Moos.

»Wenn Sie nichts dagegen haben, bleibe ich hier bei Ihnen!«

Bettina errötete vor Glück.

»Bei mir? Aber Sie wollten doch –«

»Ruhe suchen nach des Tages Mühen, ja. Warum sollte ich die nicht bei Ihnen sicherer und besser finden als anderswo?«

Er sah ihr in die Augen und fuhr langsam und leis fort:

»Wissen Sie das Lied nicht mehr, Bettina, das ich vorhin gesungen habe? Du bist die Ruh, der Frieden mild, die Sehnsucht du, und was sie stillt …«

Bettinas Herzschlag stockte, ihre Hände begannen zu zittern. Sie senkte die Augen. Nicht um die Welt hätte sie seinem Blick länger standhalten können.

Auch er schloß die Augen für die Dauer einer Sekunde, als wollte er den Abgrund nicht sehen, in den zu stürzen er im Begriff war.

Dann sagte er rauh:

»Bettina, verstehen Sie nicht, was ich damit sagen will? Ich frage Sie, ob Sie meine Frau werden wollen.«

Sie fuhr erschrocken in die Höhe und starrte ihn fassungslos an, während sie blaß wurde, denn alles Blut war jäh zum Herzen geströmt.

»Herr Bibliothekar …«

»Nennen Sie mich bitte nicht bei diesem steifen Titel. Ich hoffe, sehr bald etwas anderes zu sein als ein Bücherwurm am Leib der Alma Mater. Und jetzt beantworten Sie bitte meine Frage: wollen Sie es wagen mit mir?«

»Wagen?«

Sie fand keine Worte in ihrer Verwirrung.

»Nun ja – ich bin vielleicht ein etwas schwieriger Mensch, und meine Frau wird nicht immer zu lachen haben neben mir. Aber wenn Sie nicht gerade eine ausgesprochene Abneigung gegen mich haben –«

»Ich?« Bettinas Augen lachten wieder schelmisch, glückselig, strahlend. »Aber du törichter Mann, ich liebe dich doch mehr als alles auf Erden! Was könnte mir je schwer vorkommen an deiner Seite?«

Er atmete auf. Der Würfel war gefallen.

Dann erhob er sich, trat zu ihr und zog ihre Hand an die Lippen.

»Das heißt also – ja! Ich danke dir, Bettina!«

Sie stand gleichfalls auf, wohl in der Erwartung, daß er sie in die Arme nehmen und ihr den Verlobungskuß geben werde. Aber nichts derartiges geschah. Er zog nur ihren Arm in den seinen.

»Wir wollen hinunter zu den anderen gehen, wenn es dir recht ist.«

Es war ihr gar nicht recht; denn es drängte sie, ihm noch viel zu sagen. Aber sie fand nicht den Mut, es auch nur anzudeuten.

Trotzdem blieb sie schon nach wenigen Schritten stehen und sah ihm bang in die Augen.

»Liebst du mich aber auch, Erich?«

»Welche Frage, Bettina! Würde ich dich denn sonst zur Frau wollen? Übrigens ist die sogenannte Liebe eines der albernsten Dinge, die es auf dieser unvollkommensten aller Welten gibt, denn sie macht den Menschen zum Bajazzo und raubt ihm die Vernunft. Glaube mir, Kind, gute Kameradschaft ist tausendmal mehr wert, und so wollen wir es halten.«

Sie begriff nicht ganz, was er meinte, und sein kühl-spöttischer Ton verletzte sie. Aber ihre Gedanken waren schon mit anderen Dingen beschäftigt.

»Weißt du, daß ich immer gedacht habe, du machst dir viel mehr aus Ilse als aus mir?«

Er lachte hart auf.

»Aus deiner schönen Schwester? Dieser Puppe ohne Herz und Seele? Was finge ein Mann mit ihr wohl an?«

Dann besann er sich. Natürlich würde Ilse der Schwester früher oder später verraten, was zwischen ihnen vorgefallen war. Dem mußte man vorbeugen, ohne die Wahrheit geradezu mit Füßen zu treten. Denn weder sollte Bettina gekränkt werden, die schuldlos an der ganzen Sache war, noch Ilse ahnen, aus welchen Gründen er um ihre Schwester geworben hatte. So fuhr er bedächtig fort:

»Weißt du, mein Kind, ganz aus der Luft gegriffen ist deine Vermutung ja nicht. Es war anfangs deine Schwester, die mich auf den Waldhof gezogen hat. Man vermutet so viel hinter ihrem schönen Gesicht – Rätsel, die man lösen möchte, eine ebenso schöne Seele – was weiß ich! Aber ich bin nicht blind und habe bald gemerkt, daß hinter diesem lockenden Licht nichts steckt als gähnende Leere. Da war ich rasch geheilt. Du solltest dir darüber also keine Gedanken machen und nur glauben, wenn ich sage: Deine Schwester ist mir nicht mehr als der Kies zu meinen Füßen! Und jetzt laß uns von anderen Dingen reden.«

»Von uns?«

»Ja, von uns. Ich möchte nicht, daß wir den Deinen schon jetzt gleich unsere Verlobung mitteilen, da meine Mutter, mit der ich zusammenlebe, noch nichts davon weiß. Nach meinem Gefühl hat sie das erste Recht, die Neuigkeit zu erfahren.«

»Selbstverständlich.«

»Morgen vormittag suche ich dann deinen Vater auf und bitte ihn um deine Hand. Ist es dir so recht?«

»Mir ist alles recht, was du tust.«

Unter den Birken zündete man eben die Windlichter an, als die beiden dort erschienen.

Ihr Kommen wurde wenig beachtet. Bettinas jüngere Geschwister, Oskar und Gebhard, die in der Stadt die obersten Klassen des Gymnasiums besuchten und dort im Internat untergebracht waren, jetzt aber die Ferien daheim verbrachten, Gina und Emil, die Zwillinge, und der kleine siebenjährige Heini umdrängten gerade den Vater und bestürmten ihn, für morgen einen Tagesausflug zu bewilligen, den sie unternehmen wollten; Großmama Rosner unterstützte diese Bitte. So war doch einmal ein ruhiger Tag zu erhoffen, wenn die tobende Meute, wie sie ihre Enkelkinder im stillen nannte, fort war.

Rosner wehrte sich lachend, mußte aber schließlich nachgeben, da sich die anwesenden Freunde des Hauses auf die Seite der Kinder schlugen.

Am unteren Ende des Tisches, wo Ilse saß, umgeben von ihren eifrigsten Verehrern, dem Gutsbesitzer Klüver, dem Bankier Oppolzer und dem Lehrer Kastner, ging es gleichfalls lebhaft zu. Dort war vor einer Viertelstunde noch ein verspäteter Gast, Robert Reinitz, entschieden die interessanteste Persönlichkeit des ganzen Kreises, erschienen und wie immer gleich in eine lebhafte Debatte mit der schönen Ilse geraten.

Reinitz war groß, schlank, sehnig, mit einem braungebrannten Rassegesicht, aus dem zwei kluge hellgraue Augen scharf in die Welt blickten. Seinem Aussehen nach hätte man ihn viel eher für einen Sportsmann halten können als für den Besitzer verschiedener Industrieunternehmen, die seinen Namen trugen. Reinitz' Eltern waren vor etwa vierzig Jahren nach St. Martin gekommen, wo der alte Reinitz am sogenannten Steinberggelände einen Steinbruch angelegt hatte und das gewonnene Material in zwei Kalköfen verarbeiten ließ.

Dieses Unternehmen rentierte sich so gut, daß er bald ein reicher Mann wurde, sich gegenüber eine prachtvolle Villa baute, die er Fichtenegg nannte, und dem einzigen Sohn ein großes Vermögen hinterlassen konnte.

Robert, der erst Technik studiert hatte, dann zwei Jahre auf Reisen gegangen und mit geweitetem Blick zurückgekehrt war, übertraf den Vater noch weitaus an Unternehmungsgeist, Geschäftsinstinkt und Arbeitseifer. Er baute die veralteten Kalköfen nach dem modernsten System um, gab ihnen nach außen hin ein gefälliges Aussehen und gründete in kurzen Zwischenräumen eine Automobilfabrik, eine Spiritusbrennerei und ein großes Sägewerk.

Alles gedieh prächtig unter seiner persönlichen Leitung. Sein Vermögen zählte bereits nach Millionen. Seine Eltern waren tot. Er hauste allein mit wenigen Leuten und einer alten Wirtschafterin, Frau Koroso, in Fichtenegg, unterhielt wenig Verkehr und widmete sich gänzlich seiner geschäftlichen Tätigkeit.

Da er ledig war, gab sich natürlich alle Welt Mühe, ihn zu verheiraten. Aber Reinitz schien sich wenig oder nichts aus den Frauen zu machen und nicht ans Heiraten zu denken.

Er verkehrte erst seit kurzem im Waldhof, schien sich sehr wohl in diesem Familienkreis zu fühlen, beschäftigte sich aber mit den Kindern und der kranken Hausfrau ebensoviel wie mit den erwachsenen Töchtern. Jedenfalls war er der einzige Mann weit und breit, auf den Ilses blendende Schönheit nicht den mindesten Eindruck zu machen schien.

Obwohl Ilse im Grund es nie darauf anlegte zu gefallen, ärgerte sie Reinitz' Gleichgültigkeit innerlich doch sehr. Sie empfand sie wie einen ihr widerrechtlich verweigerten Tribut, den ihr jeder Mann selbstverständlich darzubringen hatte. Reinitz aber sprach mit ihr genau im selben kurzen, bestimmten, etwas spöttisch angehauchten Ton, in dem er sich mit den halbwüchsigen Zwillingen Gina und Emil neckte.

Vielleicht war dies der einzige Grund, weshalb Ilse eine gewisse Gereiztheit gegen Reinitz empfand und ihn durch besonders hochmütiges Wesen bei jeder Gelegenheit herausforderte.

Heute hielt sie sich über seine Kalköfen und die Brennerei auf, deren Rauch, wie sie behauptete, an manchen Tagen bis zum Waldhof dringe, und die überhaupt das Landschaftsbild verunzierten.

»Darum hasse ich auch alle diese Industrieunternehmen, die für ästhetisch veranlagte Menschen immer etwas Unvornehmes, Widerwärtiges an sich haben«, schloß sie aggressiv.

»Eben deshalb ist es ein Glück, daß die Damen, die nichts von diesen Dingen verstehen, keinen Einfluß darauf haben«, antwortete Reinitz phlegmatisch, »sonst würde jeder Fortschritt von vornherein unmöglich sein.«

Dabei blitzten seine hellen, scharfen Falkenaugen Ilse spöttisch an.

»Beabsichtigen Sie, unser armes Tal vielleicht noch mit mehr Fabrikschloten zu beglücken?«

»Oh, gewiß! Mit der Zeit. Wenn ich erst mein geplantes Elektrizitätswerk aufgebaut habe, durch das ich mir die Wasserkraft des Geierbachs und der Kalten Rinn dienstbar machen will.«

»Scheußlich!«

»Was wollen Sie, gnädiges Fräulein, es ist eben mein Programm, diesen bisher schlafenden Erdenwinkel aufzuwecken, neue Ideen zu säen und dem Tal die bisher von anderen vergessenen Schätze abzuringen! Schließlich ist es auch ein idealer Zweck: Geldquellen, die der einzelne erschließt, kommen der Allgemeinheit zugute. Das Land braucht Geld. Auf sentimentale Wünsche junger Damen kann dabei natürlich keine Rücksicht genommen werden.«

»Sein Leben nur in den Dienst des Gelderwerbs zu stellen, finde ich zumindest unvornehm!«

Reinitz maß Ilses kostbares Kleid aus reiner Seide mit einem impertinenten Lächeln.

»Trotzdem scheinen Sie Verständnis für die persönliche Verwertung des Geldes zu besitzen! Wenn Ihr Vater ein armer Mann wäre, könnten Sie sich gewiß den stilvollen Rahmen nicht leisten, in dem Sie sich jetzt bewegen.«

»Papa war nie auf Erwerb bedacht«, sagte Ilse und warf den Kopf hochmütig zurück. »Als man ihm vorschlug, den Steinbruch droben im Wald auszunützen, da er Magnesit enthalten soll, hat er es rundweg abgelehnt, weil die Schönheit des Waldhofs und unsere Ruhe durch eine derartige Anlage gestört würden.«

»Dann kann ich ihm nur wünschen, daß er diesen Standpunkt eines Tages nicht wird bereuen müssen. Außerdem finde ich es unrecht vom sozialen Standpunkt aus. Niemand hat das Recht, Kapital irgendwo tot liegen zu lassen oder seinen Besitz bloß als Luxusobjekt zu betrachten.«

So flogen die Worte hin und her, und Ilse war so vertieft in die Debatte, daß sie nur flüchtig aufblickte, als nun die Schwester mit Erich Leske an den Tisch trat. Sie bemerkte daher weder die fieberhafte Spannung in Leskes Gesicht noch den strahlenden Ausdruck in Bettinas Antlitz, was ihr sonst wohl aufgefallen wäre.

Aber Reinitz bemerkte es und beobachtete beide in heimlicher Verwunderung.

*

Frau Ludwine Leske war etwas enttäuscht, als ihr Sohn ihr am nächsten Morgen beim Frühstück seine Verlobung mit Bettina Rosner mitteilte.

Sie kannte Rosners nur oberflächlich, und Bettina, die neben der strahlenden Schwester unbedeutend erschien und stets in den Hintergrund trat, war ihr kaum deutlich in Erinnerung.

Das jedoch wußte sie genau: Rosners waren zwar wohlhabend, aber nicht reich, und es gab dort sieben Kinder.

Und Erich hätte in der Stadt so glänzende Partien machen können! Auch er war ja nur wohlhabend, keineswegs reich. Freilich, seine Stimme würde ihm eine glänzende Zukunft verschaffen, so daß er eigentlich nicht gerade nach Geld zu heiraten brauchte. Schon im Herbst hoffte sie auf ein gutes Engagement für ihn, da seine Ausbildung nun beendet war. Immerhin …

»Wie kommst du eigentlich dazu, dich mit Bettina zu verloben? Wenn es schon eine von Rosners Töchtern sein muß, warum nicht Ilse? Sie ist doch weitaus schöner?«

»Aber Bettina ist tüchtiger, übrigens ist das meine Sache«, knurrte der Sohn mißgestimmt und stand auf, um sich zum Fortgehen umzuziehen.

Erich Leske befand sich entschieden in katzenjämmerlicher Stimmung. Als er vor einer Stunde erwacht war, hatte es ihm einen Stich in die Brust gegeben: er war verlobt! Verlobt mit Bettina! Wie Wahnwitz kam es ihm jetzt vor. Heiße Angst stieg in ihm auf, Reue und Verzweiflung.

Wie sollte das werden? Es war ja eigentlich undenkbar, daß er dieses Mädchen heiratete! Er hatte Bettina bisher kaum beachtet und wußte von ihr sozusagen gar nichts.

Dann aber biß er die Zähne zusammen. Es mußte eben sein. Er hatte die Komödie nun einmal eingeleitet, also mußte er sie auch zu Ende spielen, und zwar so, daß Ilse glaubte, er liebe ihre Schwester.

Draußen auf dem Waldhof war es um diese Stunde friedlich und still. Die Buben und Gina machten den langersehnten Ausflug und waren schon frühzeitig fortgegangen. Ilse lag noch im Bett, und Vater Rosner saß wie jeden Morgen am Lager seiner kranken Frau, die er innig liebte, und las ihr die Zeitung vor.

Dabei störte ihn Tante Helene mit der Meldung, daß unten vor seiner verschlossenen Arbeitstür schon eine Menge Leute auf ihn warteten: Zwiesel, der Wirtschafter, der Förster, der Krugwirt und noch mehr Menschen.

Waldemar Rosner erhob sich seufzend.

»Na, da muß ich wohl hinunter. Lebwohl, Mia.«

Er hatte nicht umsonst geseufzt. Es standen etwa zehn Personen vor dem kleinen Erdgeschoßzimmer, das er sich als »Kanzlei« eingerichtet hatte.

Und alle wollten etwas von ihm: der Wirt brachte eine Rechnung für Getränke, die Oskar und Gebhard anläßlich verschiedener Dämmerschoppen hatten ankreiden lassen: der Förster wollte Geld zur Lohnauszahlung der Holzarbeiter holen: zwei Bauern wurden wegen Wildschäden vorstellig. Zwiesel endlich, das Faktotum des Waldhofs – er hatte schon als junger Bursch unter Herrn Waldemars Vater am Hof gedient – meldete, daß vor der Ernte unbedingt ein Traktor angeschafft werden müßte, da die Ackerpferde im Frühjahr verkauft worden seien.

Mit der Morgenpost waren ein paar Rechnungen gekommen, darunter eine Schneiderinnenrechnung über einen recht stattlichen Betrag für gelieferte Kleider.

Die hatte natürlich Ilse auf dem Gewissen.

Waldemar Rosner war es schwül geworden. Er faßte sich mit beiden Händen an den kurzgeschnittenen Graukopf.

»Kinder, Kinder, ihr richtet mich ja zugrunde!«

Dann sah er den alten Wirtschafter, der als letzter an die Reihe kam, in komischer Verzweiflung an.

»Zwiesel, ich habe kein Geld für einen Traktor. Sie müssen warten.«

Der Knecht kratzte sich grämlich hinter den Ohren.

»Ja, wie soll ich denn da die Ernte einbringen, Herr Rosner? Wir brauchen die Maschine. Und was sein muß, muß eben sein.«

»Dann müssen wir's aus der Wirtschaft herausholen, Zwiesel.«

»Wie denn, wo Sie doch keine Neuerungen einführen wollen? Der Steinbruch soll nicht ausgenützt werden, den Wald oben darf man nicht schlagen, also …«

»Ich lasse ja im Geierwald schlagen.«

»Ja, wo der Abtransport uns Unsummen kostet, während wir hier hinter dem Hof das schönste schlagbare Holz haben.«

»Nein, um den Waldhof herum lasse ich keinen Baum fällen! Denken Sie sich etwas anderes aus, Zwiesel, was Geld einbringt. Der Ertrag muß sich zum Kuckuck doch erhöhen lassen.«

»O ja, aber zuerst muß man Geld hineinstecken. Und das können Sie ja nicht, sagen Sie! Obwohl der Traktor …«

»Schon gut, Zwiesel. Wir reden ein andermal darüber weiter. Für heute lassen Sie mich erst etwas zum Schnaufen kommen. Ich glaube, über zwei Stunden lang habe ich nichts anderes gehört als Geldhergeben. Mir ist ganz flau im Magen davon!«

»Glaub's, Herr Rosner. Glaub's gern. Aber es nutzt nichts: was sein muß, muß sein! Es sind eben zu viele Leute auf dem Waldhof – elf Personen – du jemine, die alle satt zu kriegen und zu kleiden, ist eben keine Kleinigkeit.«

Damit schlich er kopfschüttelnd hinaus.

Waldemar Rosner aber saß lange Zeit, den Kopf in beide Hände gestützt, und starrte beklommen vor sich hin.

So ging es nicht weiter. Nein, so ging es wirklich nicht weiter. Was dann, wenn das letzte bißchen Kapital auch noch zugesetzt war?

Es klopfte. Das Zimmermädchen Luise steckte den Kopf herein.

»Herr Rosner, Herr Bibliothekar Leske ist da und möchte Sie sprechen.«

Rosner hob verwundert den Kopf. Leske? Was führte den am Vormittag zu ihm heraus? Er war doch erst gestern abend hier gewesen. Wollte er etwa auch Geld?

»Ich lasse bitten«, sagte Rosner seufzend.

*

Es war ein seltsamer Brautstand zwischen Bettina Rosner und ihrem Verlobten: verliebt, leidenschaftlich und bewegt, wenn andere dabei waren, seltsam kühl, fremd und schweigsam, wenn sie beide allein waren. Freilich kam letzteres selten genug vor, denn Leske erklärte es für abgeschmackt, wenn ein Brautpaar sich absondere, und drängte immer, daß man im Familienkreis blieb.

Und da war er der aufmerksamste Bräutigam, den man sich denken konnte.

»Verliebt bis in die Fingerspitzen«, stellte Tante Helene fest.

Er kam täglich, doch nie, ohne seiner Braut irgendeine Aufmerksamkeit mitzubringen: Blumen, Bonbons oder ein Schmuckstück, das ihm gefallen hatte und von dem er fand, daß es geradezu für sie geschaffen sei.

Er wendete kaum einen Blick von Bettina und unterhielt sich fast nur mit ihr. Ihre leisesten Wünsche waren ihm Befehl, alles, was sie tat, fand er bewundernswert, und nie war es bisher vorgekommen, daß er Bettina in irgendeiner Sache widersprochen hätte.

»Auf diese Weise wirst du ein Pantoffelheld«, meinte sein zukünftiger Schwiegervater einmal halb ernst, halb scherzhaft. »Sein Recht muß der Mann sich wahren!«

Leske zuckte sorglos die Achseln.

»Und wenn, Papa, so bin ich bei Bettina in den besten Händen. Sie wird ihre Macht nicht mißbrauchen.«

In der Familie hatte Bettinas Verlobung anfangs geradezu verblüffend gewirkt, denn niemand hatte vorher das geringste von Leskes Absicht gemerkt oder geahnt. Im Gegenteil waren alle der Meinung gewesen, seine häufigen Besuche gälten Ilse.

Nur eine glaubte zu verstehen und – lächelte.

Aber eine Woche später lächelte Ilse nicht mehr, sondern beobachtete das Paar aufmerksam und tief erstaunt. War es möglich, daß dieser Mann Bettina wirklich liebte und sie selbst so rasch vergessen hatte?

Leiser Ärger stieg in ihr auf. Ihre Eitelkeit war verletzt. Und da Leske ihr wirklich nicht mehr Beachtung schenkte, als der Schwester seiner Braut zukam, und nicht um ein Haar freundlicher zu ihr war als zu Gina oder Emil, so ließ sie sich schließlich sogar hinreißen, mit Leske zu kokettieren, was sie sonst keinem Mann gegenüber tat.

Aber auch das verfing nicht. Er sah sie nur kühl erstaunt an, und Ilse hatte das peinliche Gefühl, sich vor ihm lächerlich gemacht und gedemütigt zu haben. Da begann sie, ihn hochmütig kaltzustellen.

Die anderen hatten sich rasch in die neue Lage gefunden. Leskes Benehmen schien keinen Zweifel darüber zu lassen, daß er tatsächlich bis über die Ohren in Bettina verliebt war, und ihr selbst leuchtete ja das Glück aus den Augen, sooft man sie ansah.

Nur Rosner hatte neben der Freude über das Glück seiner Ältesten heimlich schwere Sorgen, woher er das Geld für Hochzeit und Aussteuer beschaffen sollte. Eine Mitgift wollte er Bettina doch auch geben. Und bei der Hochzeit konnte er sich natürlich nicht lumpen lassen. Im Gegenteil, alles sollte schön und großartig sein. Hatte man doch schon so lange Zeit keine Gelegenheit gehabt, im Waldhof ein richtiges Fest zu feiern. Es würde auch die arme Mia etwas zerstreuen.

Doch woher das Geld nehmen? Der Ertrag des Hofs reichte kaum hin, die Kosten des täglichen Lebens zu bestreiten. Und da man seit Jahren schon alle unvorhergesehenen Auslagen, Neuanschaffungen, Badereisen Frau Mias aus dem Barkapital hatte bestreiten müssen, war auch von der Bank nichts Nennenswertes mehr zu holen, was allerdings niemand wußte als Waldemar Rosner selbst.

Nur flüchtig dachte er an den Steinbruch oben im Wald und an die Möglichkeit des Holzverkaufs. Aber er verwarf den Gedanken sofort.

Er durfte es Mia nicht antun, die schönen alten Bäume, die sie vom Fenster aus sah und so sehr liebte, fällen zu lassen. Ihre Ruhe durfte durch Sprengschüsse und den Abtransport der Steinfuhren nicht gestört werden. Unmöglich! Unmöglich auch für ihn. Er hätte das nicht ertragen.

Es hätte für die schweren Fuhrwerke keinen anderen Weg gegeben als die Waldstraße, die einen Teil des Parks durchquerte. Alle Steinbruch- und Holzarbeiter, alle Lastautos hätten also durch den Park des Waldhofs fahren müssen. Welche Belästigung! Es war völlig ausgeschlossen.

Endlich kam ihm ein erlösender Gedanke: er brauchte doch nur eine Hypothek auf den Waldhof zu nehmen. Das war ja ganz einfach. War der Hochzeitsrummel vorüber, konnte man sparen und jährlich einen Teil der Schuld abbauen.

Bettina war eine stille Braut. Manches bedrückte sie. Es war etwas in Leskes Wesen, das sie nicht verstand und worüber sie immer wieder nachgrübelte.

Woher kam das sprunghafte in seinem Verhalten ihr gegenüber? Warum überschüttete er sie manchmal mit Liebe, unbekümmert, wenn die anderen zugegen waren – ja, dann sogar am meisten – und wurde verlegen und schweigsam, wenn sie allein waren?

Warum suchte er nie ein Alleinsein, sondern schien es im Gegenteil geradezu ängstlich zu meiden? Eigentlich sollte es unter Brautleuten doch wohl umgekehrt sein.

Sie wagte nicht, danach zu fragen. Er konnte manchmal etwas unnahbar Abweisendes in Ton und Blick haben, und das tat Bettina furchtbar weh.

Es kränkte sie auch, daß er so wenig Interesse für alle Zukunftsfragen zeigte, die sie doch beide gemeinsam betrafen. Mit allem wies er sie an die Mutter.

»Tu, wie du willst.«

»Besprich es mit Mutter!«

»Mutter wird schon alles einteilen, sie versteht es am besten.«

So kam es, daß Bettina das Interesse an ihrem künftigen Heim verlor und schließlich sogar einverstanden war, als Frau Ludwine aus praktischen Gründen vorschlug, die gegenwärtig von ihr und Erich bewohnte Wohnung einfach beizubehalten.

»Erich will ja euere Hochzeitsreise dazu benutzen, da und dort vor musikalischen Größen Probe zu singen. Professor Walder hat vor, durch seine Verbindungen in München ein Gastspiel für Erich zu ermöglichen. Hoffentlich gelingt es ihm, und wenn Erich Erfolg hat, könnte es leicht sein, daß er gleich ein Engagement erhält und ihr gar nicht mehr erst zurückkommt. In diesem Falle wäre eine neue Wohnung hier für euch doch wahrhaftig nur eine Last und zwecklose Ausgabe.«

Bettina sah das ein. Sie erkannte auch langsam, daß ihr Verlobter die geplante Reise durchaus nicht als Hochzeitsreise, sondern ganz einfach als den ersten Schritt in die Öffentlichkeit auffaßte. Alle seine Gedanken drehten sich um seine zukünftige Bühnenlaufbahn, nicht um sie. Stundenlang konnte er darüber mit ihr reden. Und immer gipfelte alles in Professor Walders Aussprüchen.

»Er sagt, ich werde weltberühmt. Er ist überzeugt, ich bin ein zweiter Caruso, in deutsche Kunst übersetzt.«

Wenn Bettina allein war, dachte sie bang: ›Wozu braucht er mich eigentlich? Was bin ich ihm?‹

Dazu kam, daß ihr der bevorstehende Abschied von daheim unendlich schwer fiel. Sie hing mit ungewöhnlicher Liebe an den Ihren, am Waldhof, an der Heimat überhaupt. Wie würde sie es ertragen, künftig ohne festen Wohnsitz, ohne eigenes Heim von Engagement zu Engagement zu ziehen, in der weiten Welt herumzuzigeunern?

Freilich, wenn Erich bei ihr war, vergaß sie alles; dann war sie glücklich, strahlend, stolz auf ihn und fand sich mit allem ab, was sie sonst beunruhigte.

Ilse beobachtete sie oft halb spöttisch, halb mitleidig. Arme, dumme Bettina, wie schwer sie sich das Leben machte und wie wichtig sie diesen Egoisten von Mann nahm!

»Warum fragst du ihn fort und fort, ob es ihm so oder so recht ist?« fragte sie einmal. »Tu und mache doch alles, wie es dir gefällt. Man lebt doch für sich selbst, nicht für einen anderen!«

»Wenn man liebt«, entgegnete Bettina ernst, »lebt man nur mehr für den anderen.«

»Liebe! Glaubst du wirklich an diese Einbildung, die so viele Menschen albern und unzurechnungsfähig macht?«

»Glauben? Ich fühle sie doch! Und Liebe ist das einzige wirkliche Glück im Leben, wenigstens für uns Frauen. Auch du wirst es noch erfahren, wenn nur erst der Richtige kommt!«

Da lachte Ilse laut auf.

»Beruhige dich, für mich wird es nie einen Richtigen geben.«

Und doch hatte Ilse nie so viele ernsthafte Bewerber um sich gehabt wie in dieser Zeit. Gerade ihre Kälte und die spöttische Überlegenheit, mit der sie alle behandelte, zog die Männer unwiderstehlich an.

Klüver, der Gutsnachbar, schien sie aufrichtig zu lieben, und Bankier Oppolzer, der gleichfalls sich offensichtlich um sie bemühte, war so eifersüchtig auf ihn, daß es beständig zu Reibereien zwischen den beiden Herren kam.

Ilse bevorzugte niemand, entmutigte aber auch keinen und wußte Streitigkeiten zwischen den Rivalen immer beizulegen. Sie wollte keinen ihrer Anbeter verlieren, obwohl sie sich nichts aus ihnen machte. In der gähnenden Langweile, die sie beständig umfing, schienen sie ihr die einzige Zerstreuung zu sein, und es füllte die Leere ihrer Tage etwas aus, sie zu beobachten.

Wie ein grausamer Bub die Zuckungen aufgespießter Schmetterlinge beobachtet, so betrachtete sie die Opfer ihrer Schönheit.

Mit Leske sprach sie nie ein Wort. Aber verstohlen beobachtete sie ihn schärfer als alle anderen. War er wirklich so schnell mit ihr fertig geworden – auch innerlich? Dann wäre er der erste Mann, der ihr Achtung abnötigen könnte. Aber vielleicht war seine Gleichgültigkeit gegen sie ebenso Maske wie seine Liebe zu Bettina? Diese Frage ließ Ilse innerlich nicht zur Ruhe kommen.

›Ich muß es noch ergründen‹, dachte sie.

Noch einer beobachtete die verdeckten Liebesspiele auf dem Waldhof mit belustigtem Interesse. Auch Reinitz versuchte zu ergründen, zu verstehen, wenn auch in anderem Sinn als Ilse.

Sie selbst war das Rätsel, das seine Neugier zu ergründen suchte. Spielte dieses schöne Geschöpf Komödie mit sich und anderen? War Ilse anormal? Oder entwickelte sie sich nur in anderer Weise als gewöhnliche Frauen – komplizierter, langsamer und schwerfälliger?

Er konnte die Lösung nicht finden.

Wenige Tage vor Bettinas Hochzeit, die für den sechsundzwanzigsten Juli angesetzt war, unterhielt sich Reinitz mit Tante Helene über Ilse. Er hatte sich, gelangweilt durch die überschwenglichen Huldigungen, mit denen Ilses Anbeter sie förmlich blockierten, hinweggestohlen und schlenderte im Park herum. Dabei geriet er schließlich in den abseits gelegenen Gemüsegarten, wo Tante Helene eben Bohnenschoten pflückte, und blieb am Zaun plaudernd bei ihr stehen. Man sprach von Bettinas Hochzeit, die Rosner so festlich wie möglich gestalten wollte.

Dann brachte Reinitz das Gespräch unvermerkt auf Ilse und meinte, man werde ja auf dem Waldhof gewiß bald eine zweite Hochzeit feiern können. Denn bei dem stürmischen Wettlauf ihrer Anbeter werde Fräulein Ilse sich doch für einen von ihnen entscheiden müssen.

Aber Tante Helene schüttelte den Kopf.

»Wenn Sie das glauben, kennen Sie Ilse nicht! Sie hat es hundertmal ausgesprochen: Männer sind gut, um sich von ihnen verehren zu lassen. Aber einen als Herrn über mich anerkennen, ihm meine Freiheit opfern? Nie! Das fällt mir gar nicht ein.«

»Und Sie glauben ihr das?«

»Ihr, ja! Sie ist nicht wie andere Mädchen. Sie fragt nach nichts in der Welt als nach sich selbst. Sie hat weder Herz noch Seele, glauben Sie mir! Sie könnte nie lieben, weder Eltern noch Geschwister, am allerwenigsten aber einen Mann. Es ist ein Jammer um dieses prächtige Geschöpf, aber sie ist nun einmal so veranlagt.«

Reinitz blickte eine Weile nachdenklich vor sich hin. Dann schüttelte er energisch den Kopf.

»Nein, daran glaube ich nicht. Das gibt es nicht. Es sind nur die Weihrauchwolken, die man beständig ihrer Schönheit darbringt, die ihr den Kopf umnebeln. Wenn ihr erst einmal die scharfe Luft des wirklichen Lebens um die Ohren bläst …«

Er hielt ein und blickte scharf nach einer Stelle des aus Jungfichten bestehenden Zaunes des Gemüsegartens.

Es dämmerte schon. Aber seine scharfen Augen erkannten deutlich eine weißgekleidete Mädchengestalt, die vorsichtig außerhalb der Einfassung hinglitt, an einer Lücke stehenblieb, herüberspähte und dann langsam weiterschlenderte.

Es war Ilse.

In Reinitz' Augen blitzte es seltsam auf.

*

Zur selben Zeit suchte Bettina im Park nach ihrem Verlobten. Sie war für kurze Zeit ins Haus gegangen, um der Mutter die Gladiolen zu bringen, mit denen Leske sie überrascht hatte.

Als sie zurückkam, fehlte Leske.

»Wo ist Erich?« fragte Bettina die Zwillinge, die sich in aller Stille am Besten der Speisekammer gütlich taten.

»Weiß ich's? Fort eben!« antwortete Emil, mit vollen Backen kauend, und Gina setzte hinzu: »Erst ist Reinitz weggelaufen, dann Ilse und zuletzt dein Bräutigam. Irgendwo im Park werden sich wohl alle drei herumtreiben.«

Da machte sich Bettina auf die Suche.

Aber es dauerte lange, ehe sie Leske auf einer versteckten Bank in der Nähe des Gemüsegartens fand. Den Kopf in beide Hände gestützt, saß er da und starrte verstört vor sich hin. Als Bettina ihn ansprach, fuhr er erschrocken auf wie jemand, der unsanft geweckt wird.

Beunruhigt fragte sie, ob ihm etwas fehle.

Er wies sie barsch und gereizt ab. Gleich darauf aber sagte er in beinahe kläglichem Ton:

»Verzeih mir, Bettina, und habe Geduld mit mir.«

In ihr erwachten alle mütterlichen Instinkte der Frau. Sie fühlte: er braucht mich jetzt, meine Nähe tut ihm wohl und beruhigt ihn.

Still setzte sie sich neben ihn, legte den Arm um seinen Nacken und drückte seinen Kopf sanft an ihre Schultern. So saßen sie lange Zeit stumm, während rings der Tag verschwand und am Himmel Stern um Stern aufglomm.

Schwere Gedanken zogen durch Bettinas Kopf. Warum sprach er sich nicht offen aus? Wo waren seine Gedanken? Bei ihr nicht, das fühlte sie und wußte zugleich doch auch, daß sie ihm nötig war.

Sie dachte an die Stunde droben im Wald, als er mit den Worten um sie geworben hatte: »Du bist die Ruh, der Friede …« Auch damals hatte sie instinktiv gefühlt, seine Seele sei ihr fern, aber er suchte sich doch an sie zu klammern, um nicht in Jammer und Trübsal zu versinken.

In wenigen Tagen war sie seine Frau. Würde es ihr dann vergönnt sein, seiner suchenden Seele Frieden zu bringen, seinen unruhig drängenden Geist in ruhige Bahnen lenken zu können?

Irgendwo in der Dämmerung, die sie umgab, ertönte ein kurzes, spöttisches Lachen aus Frauenmund. Bettina erkannte Ilses Lachen. Dann eine ruhige, klare Männerstimme – Reinitz.

Erich Leske fuhr nervös zusammen und erhob sich hastig:

»Komm, gehen wir, Bettina, gehen wir«, sagte er rauh und dachte innerlich verzweifelt: ›Ilse läuft also wirklich diesem Menschen nach?‹

*

An Bettinas Hochzeitstag war die ganze Gegend auf den Beinen, der Waldhof voll von Gästen, Rosner als Gastgeber in seinem Element.

Alles würde großartig sein: die Trauung um vier Uhr in der blumengeschmückten Dorfkirche mit Orgelkonzert und weißgekleideten Mädchen, die der Braut die Wege mit Blumen bestreuen sollten. Das Hochzeitsessen daheim war für dreißig Personen berechnet, zu dem man einen Koch aus der Stadt hatte kommen lassen; am Abend sollte es im lampiongeschmückten Park ein Riesenfeuerwerk geben, das ein eigens dazu bestellter Pyrotechniker unter der begeisterten Mitwirkung von Oskar und Gebhard, den Brüdern der Braut, abbrennen würde.

Um neun Uhr sollte dann Reinitz' neuer Mercedes das junge Paar zur Stadt fahren, wo mit dem Abendschnellzug die Hochzeitsreise angetreten würde.

Als erstes Ziel halte Erich Leske München bestimmt. Professor Walder, Leskes Lehrer, hatte dort inzwischen ein drei Abende umfassendes Gastspiel vermittelt. Walder glaubte nach wie vor felsenfest an eine phänomenale Zukunft seines Schülers und hatte sich bemüht, ihm die Wege zu ebnen.

Von München würden sie dann nach Berlin fahren.

»Dort wird sich mein Schicksal entscheiden«, sagte Erich immer wieder.

Bettina lächelte heimlich wehmütig dazu. Sein Schicksal! Das war also nicht sie, nicht der Ehebund, den er heute schließen wollte, sondern seine Künstlerlaufbahn.

Übrigens herrschte ein solcher Trubel im Haus, daß Bettina nicht viel zur Besinnung kam. Vom frühen Morgen an gab es nichts als Durcheinander und Laufereien.

Tante Helene eilte hochrot vor Aufregung treppauf und treppab, sah in der Küche zum Rechten, überwachte das Decken der Tafel, berichtete Frau Mia über alles und mußte dabei beständig Frau Ludwine und Großmama Rosner beschwichtigen, die helfen wollten, aber dann vor Aufregung alles verkehrt anordneten und zuletzt auf die Leute schalten.

Auch der Hausherr wußte kaum, wo ihm der Kopf stand. Lieferanten, Lohndiener, Oskar und Gebhard, die fortwährend mit neuen Ideen für das Feuerwerk kamen, die Zwillinge, die in Streit über ihre Sitzplätze an der Tafel geraten waren, Zwiesel, der Auskunft über die Aufstellung des Wirtschaftspersonals in der Kirche haben wollte – alles wendete sich an ihn. Dazwischen zog es Rosner immer wieder hinauf zu Frau Mia, die sich kränkte, weder der Trauung noch später der Tafel beiwohnen zu können, und die er durch doppelte Liebe und Zärtlichkeit darüber hinwegzubringen suchte.

Bettina legte das Hochzeitskleid im Krankenzimmer der Mutter an, die ihr mit zitternden Händen den Myrtenkranz ins goldbraune Haar setzte.

Es gab viel Tränen und Rührung dabei, und Großmama Rosner war froh, als sie die Braut, die wunderhübsch aussah, endlich ins große Wohnzimmer hinunterführen konnte, wo die Hochzeitsgäste sich bereits versammelt hatten.

Reinitz war Bettinas Beistand. Ilse, die mit Bankier Oppolzer zur Kirche fahren sollte, stand allein. Vor einer Viertelstunde hatte Oppolzer durch einen Boten absagen lassen. Ein Telegramm hatte ihn unerwartet in unaufschiebbaren, wichtigen Angelegenheiten nach Wien berufen. Er sei todunglücklich, schrieb er, denn er habe gerade auf diesen Tag große Hoffnungen gesetzt.

Ilse verzog spöttisch die Lippen, als sie das las. Im übrigen schien sie sich nicht das geringste aus der Absage zu machen.

Natürlich erboten sich sofort andere, am lebhaftesten Klüver, Oppolzers Stelle einzunehmen. Aber Ilse lehnte kühl ab. Sie werde ihre Wahl schon treffen, wolle aber vorher noch überlegen. Es habe ja Zeit, bis die Wagen vorfahren würden.

Sie war dann eine Weile unsichtbar und kam erst wieder zum Vorschein, als bereits ein Teil der Wagen vorgefahren war.

Gerade, als der Wagen kam, der den Bräutigam zur Kirche bringen sollte, trat sie auf Leske zu, der neben seinem Trauzeugen, Professor Walder, wartend im Flur stand.

»Ich möchte mit Ihnen fahren. Professor Walder ist sicher so freundlich, mir seinen Platz abzutreten, ja? Sie können uns im nächsten Wagen folgen, lieber Professor!«

Ehe jemand einen Einwand machen konnte und Leske sich von seiner Bestürzung erholt hatte, saß sie schon im Wagen und forderte ihn auf, rasch einzusteigen, damit es keine Stockung gebe.

Betäubt tat er es.

Im nächsten Augenblick rollte der Wagen mit den beiden fort.

Als Reinitz mit Bettina zur Kirche fuhr, fiel ihm auf, was viele andere auch schon bemerkt hatten: daß sie zu ernst und still war für eine glückliche Braut.

War sie schon jetzt aus ihrem Glückstraum erwacht? Es hätte ihm leid getan, denn er schätzte Bettina hoch. Sie gehörte nach seinem Gefühl zu jenen echten, warmherzigen, guten Frauen, die im Haus des Mannes alles bedeuten können.

›Viel zu gut für einen Menschen wie Leske‹, dachte er.

»Sie gehen einer bewegten Zukunft entgegen«, begann er das Gespräch. »Wie ich höre, will Ihr Verlobter seine Stellung aufgeben und sich ganz der Kunst widmen. Sind Sie damit einverstanden? Ein so unruhiges Leben stellt doch doppelte Anforderungen an die Spannkraft und Selbstlosigkeit der Frau.«

»Gewiß. Aber es ist Erichs Wille.«

»Auch der Ihre?«

»Darauf kommt es doch nicht an.«

»Doch! Auch die Frau hat das Recht, bei Gestaltung des gemeinsamen Lebens ihren Willen geltend zu machen. Sind Sie nicht dieser Ansicht?«

»Nein. Der Wille der Frau beginnt erst, wenn der des Mannes erlischt.«

»Wie meinen Sie das?« fragte er verwundert.

»Ich meine, die Frau darf erst dann ihren Willen zur Geltung bringen, wenn der Mann aus Schwäche oder sonst einem Grund die Zügel sinken läßt. Dann braucht er sie, und dann muß sie ihm eine Hilfe sein, also die Führung ergreifen. Ihr Wille muß dann sein Halt werden.«

»Ein lobenswerter Standpunkt! Aber die wenigsten Frauen werden ihn teilen. Gewöhnlich verlieren die Frauen erst recht den Kopf, wenn der Mann moralisch Bankrott macht.«

»Dann lieben sie vielleicht nicht genug. Liebe gibt Kraft zu allem, meine ich.«

Reinitz streifte Bettina mit einem bewundernden Blick.

›Ja, sie hat recht, diese bescheidene Bettina‹, dachte er. ›Wollte Gott, in einem anderen schönen Kopf wären ähnliche Gedanken.‹

Minutenlang fuhren sie schweigend dahin. Plötzlich bemerkte Reinitz, daß Bettinas Augen sich mit Tränen füllten.

Erschrocken sah er ihr ins Gesicht.

»Sie weinen, Bettina? An Ihrem Hochzeitstag?«

»Es ist nur der Abschied von hier«, murmelte sie. »Ich liebe all das so sehr – die Berge, den Waldhof, das ganze Tal –«

»Und doch haben Sie eingewilligt, der Heimat für lange Zeit, vielleicht für immer, den Rücken zu kehren?«

»Würden Sie es nicht auch tun, wenn Sie jemand aus ganzer Seele liebten?«

»Vielleicht. Ich weiß es nicht«, antwortete Reinitz, in eine unbestimmte Ferne blickend. Dann drückte er Bettina plötzlich die Hand. »Sie sind eine echte Frau, Bettina, im besten Sinne des Wortes, und ich wünschte, es gäbe mehr Ihrer Art. Darf ich hoffen, daß Sie mir auch in der Ferne ein bißchen Freundschaft bewahren?«

»Von Herzen gern! Ich hatte immer das Gefühl, daß Sie mich besser verstehen als die meisten anderen und es gut mit uns meinen.«

»Das tue ich auch! Seit meine Eltern gestorben sind, bin ich sehr einsam. Aber selbst der nüchternste Arbeitsmensch hat Stunden, in denen er diese Einsamkeit drückend empfindet und sich nach einem ruhigen Familienleben sehnt. Das habe ich auf dem Waldhof gefunden und fühle mich Ihnen allen dafür zu Dank verpflichtet. Nichts würde mich glücklicher machen, als wenn Sie immer daran denken wollten, daß Sie daheim in Sankt Martin einen aufrichtigen ergebenen Freund haben, falls Sie je einen brauchen sollten.«

Stumm erwiderte Bettina den Händedruck. Sie wußte, daß Reinitz kein Mann leerer Phrasen war. Was er eben gesagt hatte, kam aus dem Herzen und war ehrlich gemeint.

*

Ilse und Erich Leske fuhren anfangs schweigend dahin.

Ilse hatte in der Wahl ihrer Kleider heute sich selbst übertroffen. Nie war ihre anmutig und hoheitsvoll zugleich wirkende Schönheit mehr zur Geltung gekommen als in dem halb losen, scheinbar so einfachen, aber wohlberechneten und raffiniert gearbeiteten Gesellschaftskleid, das in weichen Falten ihre Gestalt umfloß. Opale, von Brillanten umrahmt, funkelten in ihrem dunklen Haar, dessen Duft Leske schwül umfing.

Er atmete schwer. Dann sagte er, sich zum erstenmal des verwandtschaftlichen Du bedienend, das Papa Rosner ihm gestern im Namen der Familie angetragen hatte, plötzlich heftig:

»Warum hast du das getan, Ilse? Hast du keinen anderen für diese Fahrt gefunden als gerade mich?«

»O doch, natürlich hätte ich das! Aber ich wollte nur eben das Vergnügen nicht versäumen, einen – Glücklichen, der dem Ziel seiner Wünsche entgegenfährt, in der Nähe zu betrachten.«

Jedes ihrer Worte war gleichsam in Hohn getaucht.

Es war das erstemal seit seiner Verlobung, daß Leske allein mit Ilse und ihr so nahe war. Ihre Gegenwart verwirrte ihn von Minute zu Minute mehr.

Unwiderstehlich, wie von magischer Gewalt bewegt, wendete er sich Ilse zu, versank sein Blick in den ihren.

Plötzlich zuckte in ihren unergründlichen blauen Augen eine Flamme auf. Eine kalte, glitzernde Flamme ohne Wärme – aber ihn durchlohte sie wie mit Feuersglut.

»Warum hast du es getan?« fragte Ilse herrisch. »Warum heiratest du meine Schwester?«

Leske zitterte. Wie ein Kartenhaus fiel das Gebäude zusammen, das er wochenlang mit Kraft und Geschick aufgebaut hatte. Stumm starrte er Ilse an.

»Liebst du Bettina wirklich?« fuhr sie fort.

Ja! wollte er trotzig rufen; aber es kamen nur stammelnde, abgerissene Worte über seine Lippen.

»Das fragst du – du? Du weißt –«

»Ich weiß nur, daß du in der gleichen Stunde, als du dich mit meiner Schwester verlobt hast, mir deine Liebe gestanden hast.«

»Und du? Du hast gesagt –«

»Nein! Allerdings. Aber weißt du nicht, daß Frauen oft nein sagen und ja denken?« fragte sie mit einem grausamen Lächeln.

»Ilse?« Er griff sich mit beiden Händen an den Kopf. »Willst du mich wahnsinnig machen? Jetzt – jetzt, in dieser Stunde mich glauben lassen …«

»Ich will dich nichts glauben machen. Ich will dich nur fragen: hast du im Ernst angenommen, daß man eine Frau wie mich gleich im ersten Ansturm gewinnt? Jakob hat sieben Jahre um Rahel gedient, und es war ihm nicht zu lang.«

»Ilse«, stöhnte Leske außer sich, »willst du mein Leben denn ganz vergiften?«

Sie lächelte kalt. Die Flamme in ihrem Blick war erloschen, steinerne Ruhe lag über dem regelmäßigen Gesicht. Sie wußte, was sie hatte wissen wollen.

»Ich will nichts, nur dir sagen: was du Liebe genannt hast, war wenig geduldig. Dir das zu sagen, bin ich mit dir gefahren.«

Er griff erregt nach ihrer Hand und preßte sie wie von Sinnen.

»Ilse, sage ein Wort und ich tue das Unerhörte. Noch ist es nicht zu spät, noch bin ich frei. Wenn du mich liebst, ist alles gut.«

Aber da sah sie ihn mit eiskaltem Hochmut an, entriß ihm ihre Hand und sagte spöttisch:

»Du vergißt, daß ich Liebe für Einbildung halte. Alles, was ich gesagt habe, sollte dir nur die Richtigkeit dieser Theorie beweisen. Und jetzt sprechen wir von etwas anderem. Erzähle mir von deinen künstlerischen Aussichten. Du wirst, wie ich höre, auf Engagement singen. Wo zuerst? In welcher Rolle?«

Leske schwieg. Vielleicht hatte er ihre Fragen nicht einmal gehört, denn in ihm war noch alles in stürmischem Aufruhr. Eine wilde Lust war in ihm, die Schleier von dieser Seele zu reißen, die sich so dahinter verbarg, daß man ihr wahres Wesen nicht einmal ahnen konnte.

Liebte sie ihn? Spielte sie mit ihm, trieb sie ihren Spott mit seiner Leidenschaft?

Jahre seines Lebens, selbst seine Zukunft als Künstler hätte er in dieser Stunde dafür gegeben, die Wahrheit zu wissen. Eines aber wußte Leske mit schmerzhafter Deutlichkeit, die Worte, die Ilse gesprochen hatte, mochten sie nun Spiel oder Ernst gewesen sein, würden wie fressendes Gift in seiner Seele nachwirken, lange Zeit, vielleicht sein ganzes Leben lang.

Der Wagen hielt, sie stiegen aus.

Glocken läuteten, eine schmale Mädchenhand legte sich schüchtern auf seinen Arm. Am Altar brannten Lichter, der Priester stand davor, die Kirche war voll Menschen, die Hochzeitsgäste stellten sich zu beiden Seiten der rotsamtenen Kniebank auf. Dann fielen Worte der Ermahnung, dann sprachen die Brautleute das Ja; das Erichs kam wie traumbefangen, das Bettinas in leisem Jubel.

Brausend erklang die Orgel. Leute drängten sich heran, drückten ihm die Hand, beglückwünschten ihn. Weinend umarmte ihn seine Mutter. Wie ein schwerer Traum zog alles an ihm vorbei, ohne in sein Bewußtsein einzudringen.

Nur einmal durchzuckte es ihn wie ein elektrischer Schlag, als Ilse flüchtig ihre Hand in die seine legte und ein paar konventionelle Glückwünsche sagte.

Sofort wendete sie sich wieder ab.

Hinter ihr stand Reinitz und sprach sie an:

»Darf ich mir erlauben, mich für die Rückfahrt anzubieten, da wir keine Partner mehr haben?«

Als Ilse nicht gleich antwortete, fuhr er spöttisch fort:

»Oder beliebt es Ihnen vielleicht in Ihrer Selbstherrlichkeit abermals, ein neues Gesetz zu erlassen und, wie früher den Bräutigam, jetzt den jungen Ehemann zu sich zu befehlen?«

Ilse runzelte die Stirn, nahm aber mit hochmütigem Kopfnicken den dargebotenen Arm an.

Auch beim Essen blieb Reinitz ihr Tischherr. Beide saßen dem Brautpaar gegenüber.

Leske, dem nur seine gesellschaftliche Gewandtheit über seinen verwirrten Seelenzustand hinweghalf, so daß man ihm äußerlich nichts anmerkte, empfand Ilses Nähe als namenlose Qual.

Da saß sie, die eine, einzige, mit den unergründlichen Augen und lachte und sprach.

Nicht zu ihm, sondern zu einem anderen.

Ein paarmal war ihm, als müsse er aufspringen und Reinitz niederschlagen. Was hatte der Mensch mit ihr zu sprechen? Was starrte er sie so an? Was bedeutete das befriedigte Lächeln in seinem braunen Zigeunergesicht? Nur mit Mühe bezwang er sich, äußerlich ruhig zu erscheinen.

Endlos kam ihm dieses Hochzeitsmahl vor.

Bettina merkte nichts. Sie schob Erichs Schweigsamkeit auf die Ergriffenheit, die sie selber erfüllte. Nun waren sie Mann und Frau, ein neues Leben begann für beide. Jetzt endlich würde auch seine Seele sich ihr öffnen, die Mauer versinken, die unsichtbar, aber doch trennend bisher zwischen ihnen gestanden hatte.

Es war bestimmt, daß mit Einbruch der Dunkelheit das Feuerwerk beginnen und das junge Paar erst danach fortfahren sollte.

Aber kaum waren alle zu dem großen Kiesplatz vor dem Haus gegangen, wo man Bänke und Gartenstühle für die Zuschauer aufgestellt hatte, bemerkte Bettina, wie ihr Mann in nervöser Unruhe hin und her zu gehen begann und dann in der Richtung des Wirtschaftshofs verschwand.

Als die ersten Raketen am dunklen Abendhimmel verpufft waren, stand er plötzlich wieder neben ihr und flüsterte ihr hastig zu:

»Bist du bereit, Bettina? Ich habe den Wagen in den Wirtschaftshof bestellt und möchte, daß wir gleich fahren.«

Bettina, die schon im Reisekleid, aber nicht auf einen so plötzlichen Aufbruch gefaßt war, sah ihn erschrocken an.

»Jetzt schon? Ich dachte, wir fahren erst um neun Uhr? Willst du denn nicht das Feuerwerk abwarten?«

»Damit wir dann von jedem einzelnen einen langatmigen Abschied nehmen müssen? Nein, nein, ich will gleich fort! Ich halte es einfach nicht länger aus, meine Nerven sind durcheinander.«

»Aber von den Eltern muß ich mich doch verabschieden?«

»Na, meinetwegen. Aber mach es um Gottes willen rasch. Mir brennt der Boden unter den Füßen!«

Bettina fragte nicht warum. Gehorsam eilte sie hinauf zu den Eltern. Da Erich ihr folgte und sein ungeduldiger Blick sie antrieb, wurde es wirklich nur ein kurzer, flüchtiger Abschied.

Die Eltern saßen allein auf der Veranda, wohin man Frau Mia in ihrem Krankenstuhl getragen hatte, damit sie das Feuerwerk sehen könne; ihr Mann hatte den Arm um sie gelegt. Dieses Bild einträchtiger Liebe, der weder Jahre noch Krankheit hatten etwas anhaben können, nahm Bettina mit sich als letzten Eindruck.

Und während sie dann durch die schweigende Nacht dahinfuhren und Lichter, Lärm und Festtrubel hinter sich ließen, fragte sie sich, ob es das Schicksal mit ihr auch so gut meinen würde wie mit Mama. Denn wenn diese auch krank war und man ihr in allem helfen mußte – das Höchste, Beste im Leben hatte sie doch: sie wurde wahrhaft geliebt.

Leske störte ihre Gedanken mit keinem Wort, nicht mit der leisesten Liebkosung. Teilnahmslos lehnte er in seiner Wagenecke und starrte stumm zum Fenster hinaus. Aber er sah die vorüberfliegende Landschaft nicht. Vor seinen Augen stand ein schlankes Mädchen und zwei rote Lippen sagten leis: »Jakob hat sieben Jahre um Rahel gedient, aber deine Liebe hatte keine Geduld.«

Er hatte nicht sieben Jahre gedient. Er hatte freiwillig statt Rahel – Lea genommen!

Die Berge verschwanden, die Wälder traten weiter zurück, vor ihnen erglänzten die Lichter der Stadt.

Bettinas Augen füllten sich mit Tränen, ein nie gekannter Schmerz schnürte ihr die Brust zusammen.

»Wann werde ich meinen lieben Waldhof wiedersehen und die Meinen?« schluchzte sie, erschüttert von der Schwere des Abschieds aus dem Elternhaus, der ihr jetzt erst voll zum Bewußtsein kam.

Da sagte Erich leidenschaftlich neben ihr: »Nie, hoffentlich: Nie wieder!«

Gleich danach, als hätte sich mit diesen Worten die Spannung in seinem Inneren gelöst, legte er die Arme um sie, drückte den Kopf an ihre Brust und murmelte:

»Vergib – und habe Geduld mit mir, Bettina. Es war grausam, lieblos, abscheulich, aber ich weiß manchmal nicht, was ich rede.«

Und Bettina war glücklich über die paar armseligen Worte, die sie für aufrichtige Reue nahm. Vergessen war der Waldhof, vergessen alles, was sie hinter sich gelassen hatte.

»Du darfst dich nie entschuldigen«, sagte sie, »ich bin deine Frau, und es ist natürlich, daß du deinen Stimmungen mir gegenüber keinen Zwang auferlegst. Und alles ist schön, wenn man sich liebt.«

*

Leskes waren in Berlin. In München hatten sie drei Wochen verbracht, Wochen, in denen es kaum eine ruhige Stunde gab, denn Besuche, Proben, Feste und endlich Erichs Auftreten als Rhadames und Lohengrin füllten ihre Zeit völlig aus.

Professor Walder hatte seinem Schüler in München gut vorgearbeitet, so daß er überall offene Türen fand. Seine prächtige Erscheinung und vor allem seine prachtvolle Stimme taten das übrige; nach einigen Proben mußte man feststellen, daß dieser Sänger, der noch nie auf einer großen Bühne gestanden hatte, überraschenderweise gänzlich bühnensicher war. Der Erfolg war glänzend, Publikum und Kritik sprachen sich einstimmig für den aufgehenden Stern am musikalischen Kunsthimmel aus. Besonders als Lohengrin hatte Leske gefallen, und man prophezeite ihm eine große Zukunft als Wagnersänger.

Er selbst war recht aufgeregt gewesen bis zu dem Augenblick, da er vor vollem Haus auf der Bühne stand. Da erst wurde er ruhig, denn er fühlte schon in der ersten Szene, daß der Kontakt zwischen ihm und dem Publikum hergestellt war.

Bettina hatte alles getreulich mit ihm durchlebt: die schlaflosen Nächte, seine ewig wechselnde Stimmung zwischen Selbstvertrauen und angstvoller Niedergeschlagenheit, zahllose Zornausbrüche über Nichtigkeiten wie schlechtes Wetter, unpünktliche Partnerinnen, nachlässige Theaterarbeiter, Friseure und Geschäftsleute.

Alle diese Stimmungen ließ er die daran völlig unschuldige Bettina rücksichtslos in schlimmer Laune entgelten. Aber sie trug es mit wunderbarer Geduld, treu ihrem Grundsatz, dazu sei sie ja da. An wem sonst sollte er seine schlimme Laune auslassen? Und wenn man liebt, ist alles schön.

Und dann durfte sie ja auch den Erfolg mit ihm teilen. Unmittelbar nach der Lohengrinvorstellung zog er sie stürmisch an sich und stammelte tränenerstickt:

»Gewonnen! Jetzt ist alles gewonnen! Sie haben mich durch ihren Beifall vor aller Welt zum Künstler geweiht!«

Da fühlte sie, daß es Augenblicke gibt, die für alles entschädigen.

Nicht von fern kam ihr der Gedanke, daß Leske in diesem Überschwang von Erfolgsrausch auch den nächstbesten Theaterarbeiter umarmt hätte, wäre ihm zufällig einer eher in den Weg gelaufen als sie.

Die beste Frucht des Münchner Aufenthaltes aber war ein eindringliches Empfehlungsschreiben des Intendanten an den Direktor der Berliner Oper und der Wink:

»In Berlin wird zur Zeit ein Tenor gesucht. Wenn Sie Glück haben und gefallen wie hier, kann es vielleicht ein Engagement werden. Ihre Stimme würde Sie jedenfalls dazu befähigen.«

Nun war man in Berlin, und wieder begann die Erregung Erich wie ein Fieber zu packen.

Würde es gelingen? Würde man sich in Berlin trotz Stimmitteln und Empfehlung entschließen können, einen Anfänger anzustellen, der noch kein Provinzengagement hinter sich hatte?

Manchmal schien es Erich undenkbar. Dann wieder sagte er zu seiner Frau:

»Wenn sie mich erst gehört haben! Sagen nicht alle in München, kein lebender Sänger habe eine Stimme wie ich? Vielleicht –«

Aber die Berliner Oper war zur Zeit geschlossen, alle entscheidenden Herren auf Sommerurlaub. Der Kapellmeister sollte in vierzehn Tagen zurückkommen, der Intendant in drei Wochen. Es hieß also warten.

Leske, noch berauscht von seinem Münchner Erfolg, hatte darauf bestanden, im Hotel Kaiserhof abzusteigen, obwohl Bettina das für schreckliche Verschwendung erklärte.

»Wozu knausern?« lachte Erich. »Habe ich nicht, wie man sagt, Gold in der Kehle? Selbst wenn's mit Berlin nichts wird, singe ich mir eben anderswo Reichtümer zusammen. Denn reich will ich werden, ungeheuer reich.«

Und er dachte an eine, der Reichtum und Luxus immer tiefen Eindruck gemacht hatten, weil das der eigentliche Rahmen für ihre Schönheit war.

Ob es sie dann nicht doch gereuen würde? Ob sie die Schwester dann beneidete? Um den Reichtum, um den Ruhm und auch um den Mann, der all das auf sie häufen könnte?

Nichts wünschte er so glühend, wie diesen Neid einst in Ilses rätselhaften Augen lesen zu können.

In Gedanken daran stieg er im Kaiserhof ab und kaufte wahllos eine Menge hübscher, kostbarer Dinge, Kleider und Schmuck für Bettina zusammen, Dinge, aus denen sie sich nichts machte, mit denen sie nicht einmal etwas Rechtes anzufangen wußte. Denn was sie sich wünschte, wurde nicht in Kaufläden feilgeboten.

Bettina hatte sich in Berlin auf ein paar ruhige Wochen gefreut. Aber sie hatte die Rechnung ohne Erich gemacht. Seine innere Erregung wollte nichts von Ruhe wissen.

»Wir müssen die Zeit benützen, Berlin und die Berliner kennenzulernen. Das ist sehr wichtig für mich. Nie kann der so wichtige Kontakt zwischen Sänger und Publikum sich einstellen, wenn es dem Künstler wesensfremd ist.«

Bettina sah das endlich auch ein. Sie versuchten also, Berlin kennenzulernen, das heißt, sie besuchten Museen und Vergnügungslokale, studierten alle Sehenswürdigkeiten, aßen täglich woanders und trieben sich viel in den Straßen herum. Erich besaß von Walder Empfehlungen an persönliche Bekannte, ausnahmslos reiche Leute, die ein großes Haus führten. Einige davon waren allerdings gegenwärtig auf Reisen, bei anderen, die Villen am Tiergarten besaßen und daheim geblieben waren, machte das junge Ehepaar Besuch.

Natürlich wurden sie eingeladen. Leske, dem die berechnende Sparsamkeit routinierter Künstler, die sich auch privat jeden Ton ihrer Stimme teuer bezahlen lassen, noch fremd war, der gern sang, jeden Triumph als Belebung empfand und sich nebenbei Anhänger für die Zukunft schaffen wollte, kam bei solchen Gelegenheiten jeder Aufforderung willig nach, sich hören zu lassen.

Und natürlich war es dann immer ein Riesenerfolg. Die Leute, auf eine so außergewöhnliche Stimme nicht gefaßt, waren begeistert und hingerissen.

Nach solchen Abenden konnte Erich daheim oft stundenlang im Zimmer hin und hergehen, jedes Wort wiederholen, das man ihm gesagt hatte, jede kleinste Einzelheit seines Triumphes stolz noch einmal zergliedern.

Bettina, die längst begriffen hatte, welche ungeheure Rolle die Eitelkeit in seinem Charakter spielte, bemühte sich dann, obwohl meist todmüde und schläfrig, aufmerksam zuzuhören und ihrerseits alles zu wiederholen, was man ihm über seine große Künstlerschaft gesagt hatte.

Sie unterstrich dabei die lobenden Äußerungen und verstärkte sie unbewußt, denn sein strahlendes Gesicht beglückte sie.

Ihn froh und glücklich zu sehen, war ihr beständiges Bestreben vom Morgen bis zum Abend. An sich dachte sie kaum, so wenig, daß sie nicht einmal eifersüchtig wurde, wenn die Frauen, mehr noch durch seine prächtige Erscheinung als durch seine Stimme bezaubert, ihm in der albernsten Weise den Hof machten.

Allen voran schmeichelte ihm die schöne junge Frau von Bankier Goldfarrn, die Leske am liebsten für sich beschlagnahmt hätte.

Goldfarrn, dessen Villa im Tiergarten durch die darin aufgestapelten Kunstschätze eine Sehenswürdigkeit war, gehörte zu den reichsten Männern Berlins und galt als Mäzen.

Alle Künstler von Namen, alle hervorragenden Persönlichkeiten gingen dort aus und ein. Man erzählte Bettina Wunderdinge von seinem Einfluß und seiner Macht. Mehr als ein Dichter, Maler oder Musiker war allein durch ihn ›gemacht‹ worden. Nora, seine zweite Frau, klug und bildschön, unterstützte ihn in diesen Bestrebungen aufs lebhafteste. Sie zählte alle Kritiker, Verleger und Theaterdirektoren zu ihren persönlichen Verehrern. Ein Wort, ein Lächeln von ihr, sagte man, könne Wunder wirken für den, dem es galt.

Und diese Frau, die solche Macht ausübte, war, wie sie offen erklärte, nun reinweg verschossen in diesen entzückendsten, hinreißendsten aller Künstler, der ihr je im Leben begegnet war.

Erich Leske sollte beständig um sie sein, morgens mit ihr im Tiergarten spazierenfahren, vormittags sich von ihr Berlin zeigen lassen, die Abende nur in der Villa Goldfarrn verbringen und singen – singen – singen!

Nie im Leben würde sie sich an seiner himmlischen Stimme satt hören können.

Goldfarrn lächelte zu den Überspanntheiten seiner Frau. Er war längst daran gewöhnt.

Auch Bettina lächelte nur dazu. Eifersucht hielt sie für das kleinlichste Gefühl, dessen eine Frau sich schuldig machen konnte.

Erich Leske selbst ließ sich Frau Noras Kult ruhig gefallen und erwiderte ihn oberflächlich mit der vorweggenommenen Koketterie eines berühmten Tenors, was Bettina mehr beruhigte, als es tausend Versicherungen gekonnt hätten.

Nach einem Abend im Hause Goldfarrn, an dem Frau Nora sich besonders weit vorgewagt hatte, meinte Bettina scherzhaft zu ihrem Mann:

»Gib acht, Erich, Frau Goldfarrn scheint ernstlich in dich verliebt zu sein. Sie wird dir demnächst eine regelrechte Liebeserklärung machen!«

Er antwortete mit einer wegwerfenden Handbewegung:

»Ach, diese Weiber! Wenn du wüßtest, wie mich dieses Getue anwidert! Wenn diese Frau Goldfarrn nicht so einflußreich wäre, daß ich sie mir nicht zur Feindin machen darf, würde ich keinen Fuß in ihr Haus setzen, so widerwärtig ist sie mir!«

»Nun, sie ist aber doch sehr schön!«

Erich lachte spöttisch auf.

»Schön nennst du das? Ich sage dir, ich habe in Berlin noch keine einzige schöne Frau gesehen. Schön ist –«

Er brach ab und lief erregt im Zimmer hin und her.

»Du kannst dich wirklich beruhigen«, schloß er nach einer Weile, »gegen Frauenschönheit bin ich wirklich gefeit.«

Und er dachte an die eine, die alle übertraf, deren Schönheit unvergleichlich war und die ihm die Seele vergiftet hatte.

*

Manchmal in flüchtigen Minuten, wenn Bettina Zeit fand, an die Ihren heimzuschreiben und über die glänzenden Erfolge und Zukunftsaussichten ihres Mannes zu berichten, überkam sie das schmerzlich-bange Gefühl: waren das ihre Flitterwochen? Würde das künftig nun immer ihr Leben sein, dieser Reigen von Festen, fremden Menschen und lärmenden Vergnügungen?

Noch nicht eine einzige Stunde lang hatte sie ihren Mann wirklich für sich gehabt. Denn wenn er auch, wie morgens und abends, eine Stunde mit ihr allein ohne fremde Menschen daheim war, beschäftigten sich seine Gedanken doch unablässig mit der Außenwelt und vor allem mit seinem Beruf, aber nie mit ihr. Das fühlte Bettina, obwohl sie bemüht war, diese Erkenntnis vor sich selbst zu verbergen.

Zuweilen ertappte sich Bettina bei dem ketzerischen Gedanken: ›Wäre er doch kein Künstler, sondern ein einfacher Mensch, der irgendwo still mit mir in einem bescheidenen Nest säße und von Liebe träumte statt von Ruhm und Lorbeeren.‹

Aber auch diesen Gedanken verbannte sie als selbstisch. Er kam auch nur, wenn sie nach Haus schrieb und die Erinnerung an die stillen Wälder lebendig wurde, in denen sie so viele Mädchenträume von Liebe und Ehe gesponnen hatte.

Von daheim schrieben sie wenig. Vater Rosner war nie ein Freund langer Briefe gewesen, Tante Helene hatte im Sommer alle Hände voll zu tun, Obst zu ernten, einzukochen und Wintervorräte anzulegen.

Die Mutter fühlte sich nicht wohl und schrieb nur manchmal mit dem Bleistift einen kurzen Brief. Darin stand jedesmal die Frage: »Kommst Du bald wieder, Bettina? Ich sehne mich so sehr nach Dir! Mir ist oft recht bang, und vieles möchte ich gern mit Dir besprechen.« Und immer klagte Frau Mia auch, daß sie sich gar nicht wohl fühle, matt und schwach und wie eine Fliege im Herbst.

Großmama war für ein paar Wochen zu einer Freundin auf Besuch gegangen und hatte bisher ein einzigesmal geschrieben. Dieser Brief war eigentlich nur ein Bericht über all die Kaffeekränzchen, Whistpartien, Tarockabende und Besuche, die sie in der Stadt bei ihren alten Bekannten machte.

Die Brüder und Gina schickten gelegentlich Karten im Lapidarstil. Sie beneideten Bettina glühend um all das Neue und Schöne, das sie in Berlin sah und erlebte.

Von Ilse war noch keine Zeile gekommen, und das tat Bettina im stillen weh. Hatte die Schwester sie denn ganz vergessen?

Erich sprach nie vom Waldhof und mochte es auch nicht gern hören, wenn sie davon anfing. Trotzdem fragte er manchmal, wenn er Bettina schreiben sah:

»Schreibst du ihnen auch alles genau und ausführlich, was du hier erlebst und wie sehr mich die Gesellschaft verwöhnt?«

Jedesmal, wenn Briefe für Bettina kamen, geriet er in eine seltsame Erregung, die vor ihr zu verbergen er sich vergeblich bemühte.

»Was schreiben sie? Und wer hat geschrieben?«

Aber der Name, auf den er heimlich wartete, war nie darunter, und dann empfand er jedesmal eine ärgerliche Enttäuschung, die ihn den ganzen Tag verstimmte.

Auch er fragte sich im stillen wie Bettina, ob Ilse ihn denn ganz vergessen habe. Und seine Eitelkeit litt darunter noch mehr als sein Herz.

Anfang September erst kam der Kapellmeister der Oper von seinem Urlaub zurück, zwei Tage später der Intendant. Der Direktor, der bereits seit vierzehn Tagen in Berlin weilte und Leske bei Goldfarrns kennengelernt und singen gehört hatte, berichtete beiden sofort von dem neuentdeckten Wundertenor.

Wenige Tage später erhielt Erich Leske inoffiziell vom Direktor eine freundschaftlich gehaltene Einladung zu einem Abendessen. Unter den Personen, die außer ihm noch daran teilnahmen, befanden sich der Intendant und der Kapellmeister.

Natürlich wurde er nachher gebeten zu singen, und selbstverständlich sang er mit Vergnügen. Er war an diesem Abend ausgezeichnet bei Stimme, und die Wirkung auf seine Zuhörer war wie immer überwältigend.

Der Intendant strahlte, der Kapellmeister war Feuer und Flamme. Wenn es gelang, diesen Mann zu gewinnen, bedeutete das eine Glanzsaison ersten Ranges. Nie hatte Berlin einen solchen Tenor gehabt.

»Und dabei diese Erscheinung! Diese musikalische Durchbildung der Stimme!« sagte der Direktor händereibend und blinzelte den Intendanten an. »Hab' ich zuviel gesagt, als ich behauptete, der Mann kann in ein bis zwei Jahren eine Weltberühmtheit sein? Er braucht nur den richtigen Boden, und den findet er bei uns.«

Von da an ging alles, wie Leske es erhofft hatte. Schon einen Tag später wurde er aufgefordert, offiziell in der Oper Probe zu singen.

Obgleich eigentlich niemand mehr daran gezweifelt hatte, waren doch alle überrascht, wie gut seine Stimme in dem großen Haus trug. Es war, als wachse sie noch mit dem Raum.

Am nächsten Tag beschied ihn der Intendant zu sich und legte ihm einen über Erwarten günstigen Vertragsentwurf vor.

Erich Leske sollte Anfang Oktober an der Berliner Oper ein für drei Abende berechnetes Gastspiel singen und, wenn er gefiele – was nicht zweifelhaft sei – ab ersten November als festes Mitglied in die Oper eintreten.

Als Gage wurde für das erste Jahr eine gewaltige Summe vorgeschlagen, die sich späterhin steigern sollte.

Der Vertrag sollte vorläufig für drei Jahre abgeschlossen werden. Außerdem bewies der Intendant hinsichtlich Gastspielen an auswärtigen Bühnen und in einigen anderen Punkten das größte Entgegenkommen.

Als Anfänger gleich ein Engagement in Berlin zu erhalten – es war einfach unerhört; noch dazu unter so glänzenden Bedingungen.

In einem Taumel des Entzückens kam Erich im Kaiserhof an und berichtete Bettina alles genau.

»Schreib es gleich nach Haus! Sie sollen wissen, wen du geheiratet hast, und welche Stellung auch du dadurch hier einnehmen wirst. Die ersten Kreise stehen dir offen. Wie eine Königin wirst du leben.«

Während Bettina, noch betäubt von dieser unerwartet glänzenden Entwicklung, nach Haus berichtete – an seine Mutter hatte Erich bereits ein langes Telegramm geschickt – lag er völlig erschöpft auf der Couch.

Seine seit Tagen angespannten Nerven versagten plötzlich. Ruhe war alles, was er jetzt ersehnte.

»Weißt du was?« sagte er plötzlich zu Bettina. »Wir müssen diesen Tag doch unbedingt feiern! Aber unter Menschen mag ich heute nicht. Ich fühle mich furchtbar abgespannt und sehne mich nach Stille und Natur. Das haben wir lang nicht gehabt. Was meinst du, sollen wir ein Taxi nehmen, in den Grunewald fahren und uns dort ein stilles, verstecktes Plätzchen suchen, an dem wir den Tag verbringen?«

»Ach, das wäre herrlich, Erich!«

»Schön. Dann mach deinen Brief rasch fertig, ich will inzwischen das Auto bestellen.«

Es war der erste Tag, den sie in Berlin allein verbrachten, der erste Tag, an dem Bettina wirklich glücklich war. Auch Erich fühlte sich erfrischt und zufrieden.

Sie hatten in einer kleinen Wirtschaft ausgezeichnet gegessen, eine Flasche Sekt auf den großen Glückstag geleert und lagen behaglich im Gras ausgestreckt.

Über ihnen wölbten sich die Kronen alter Bäume, durch die man in den blauen Himmel sah. Schmetterlinge gaukelten um sie, die Grillen zirpten, kein Mensch war weit und breit zu sehen.

»Seltsam«, sagte Erich, »wie wohl einem das tut nach dem Trubel der lärmenden Stadt! Die Natur ist doch etwas Großartiges. Ich bin sonst gewiß ein Gesellschaftsmensch, dem bewegtes Leben direkt Bedürfnis ist – aber jetzt, hier, vermisse ich nichts. Es ist, als ob man eine andere Haut angezogen hätte, mit anderen Augen sähe, mit anderer Seele empfinde«, schloß er nachdenklich.

Bettina hatte mit glänzenden Augen zugehört.

»Wie glücklich bin ich, daß du das alles ebenso empfindest wie ich. Mir ist die Natur schon immer die eigentliche Welt, in der ich mich am glücklichsten fühle! Alles andere empfinde ich nur als äußerliches Beiwerk des Lebens. Aber daß auch du sie liebst und verstehst –«

»Warum sollte ich nicht? Man müßte ja geradezu seelenlos sein, könnte man sich ihrem Zauber verschließen. Leider läßt einem das Leben wenig Zeit, diesem Zauber nachzugehen, wie man möchte, besonders wenn man wie ich durch den Beruf für immer an Großstädte gebunden ist. Aber ich möchte wohl, daß du mich manchmal mit Gewalt herausreißt und mich zwingst, einen Tag wie den heutigen zu verleben.«

»Wirst du dich zwingen lassen?«

Er lachte.

»Ja, leicht wird es nicht sein, dafür kenne ich mich. Du mußt eben Geduld haben und nicht nachgeben in deinem Vorsatz. Wie der kleine, grüne Käfer da –« Er wies auf ein winziges schillerndes Käferlein, das mühselig am Stengel einer Ginsterblüte emporkletterte, auf halber Höhe herabpurzelte, sich aber sofort wieder daran machte, den Stengel zu erklimmen. »Seit einer Viertelstunde beobachte ich es schon. Sechsmal ist es heruntergefallen und immer wieder macht es unentwegt einen neuen Versuch. Ob ein Mensch wohl je so viel Geduld aufbrächte? Ich sicher nicht.«

›Ich, ja – für dich‹, dachte Bettina, aber sprach es nicht aus.

Dann sahen sie beide interessiert dem kleinen Käfer zu, dem es nach einer halben Stunde doch endlich gelang, sein Ziel zu erreichen. Müde ließ er sich in eine der Ginsterblüten gleiten, wo er regungslos liegenblieb.

»Das war sein ganzes Ziel«, sagte Erich kopfschüttelnd, »dafür so viel Mühe? Warum kann er nicht ebensogut unten im Gras seinen Nachmittagsschlaf halten?«

»Vermutlich weil es schöner ist, vom Wind geschaukelt in einem Blumenkelch zu liegen und sich die Welt von oben zu betrachten, als am Erdboden hinzukriechen.«

Wie im Flug vergingen die Stunden, und ehe man's dachte, legten sich die Strahlen der untergehenden Sonne schräg durchs Gezweig, als seien sie müde und wollten sich auf dem Rasen ausruhen.

Erich mahnte zum Aufbruch. Morgen gab es viel zu tun, eine Menge Laufereien warteten seiner. Der Kontrakt mußte unterschrieben, das Repertoire für das Gastspiel festgesetzt und Besuche gemacht werden.

Bettina aber sollte sich um eine möblierte Wohnung in der Nähe der Oper umsehen, denn natürlich hieß es nun ernstlich arbeiten und üben, und das ging im Hotel doch nicht.

Als sie ziemlich spät abends im Kaiserhof ankamen, wurden sie durch ein prachtvolles Blumenarrangement aus kostbaren Orchideen überrascht, das in Erich Leskes Zimmer stand. Zwischen den taufrischen Blüten steckte ein kleines Kuvert. Als der Sänger es öffnete, fiel eine Karte heraus.

»Nora Goldfarrn«, stand darauf und darunter mit Bleistift hingekritzelt:

 

»Habe eben alles von Direktor M. erfahren und gratuliere wärmstens! Bin selig! Mein Held bleibt also in Berlin!

Nora.«

»Dieses verrückte Weib!« lachte Erich und warf die Karte achtlos auf den Tisch.

*

Bettina hatte eine freundliche Wohnung mit drei Zimmern gemietet; schon zwei Tage später waren sie dahin übergesiedelt. Frau Sanitätsrat Eldersch, die die Räume vermietete und für sich selbst nur eine Hinterstube und die Küche behielt, hatte sich liebenswürdigerweise erboten, auch das Frühstück für ihre Mieter zu besorgen und eine Aufwartefrau ausfindig zu machen, die morgens und abends für ein paar Stunden kommen sollte, um die Bedienung zu übernehmen.

Mittags wollte man auswärts essen, abends ebenfalls, wenn man nicht eingeladen war oder es vorzog, daheim zu bleiben und sich mit kaltem Abendessen zu begnügen.

Erich Leske hatte alle Hände voll zu tun. Das Repertoire der drei Gastspielabende war festgesetzt worden. Er sollte den Rhadames in der »Zauberflöte«, den Walter Stolzing in den »Meistersingern« und den Siegfried singen.

Täglich, schon um acht Uhr morgens, kam ein Kapellmeister, mit dem er übte. Dann gab es Proben im Theater. Besprechungen mit dem Schneider, der ihm die Kostüme anfertigen sollte, dramatischen Unterricht, denn Erich legte Wert darauf, daß auch sein Spiel erstklassig sei. Daheim hatte er darin nur mittelmäßige Lehrer gehabt und das schon in München peinlich empfunden.

Die Abende verbrachte er entweder mit seinen neuen Kollegen von der Oper oder mit Bettina bei Goldfarrns, wo man einen wahren Kult mit ihm trieb.

Frau Nora erklärte es für unerläßlich, daß das Publikum schon vorher wissen müsse, wem es am vierten Oktober nie dagewesene Ovationen darzubringen hätte. Sie lud daher täglich andere Leute ein und öffnete ihnen die Augen für den neuen Stern.

»Wenigstens das darf ich doch für Sie tun, Ihnen den Weg zum Ruhm ebnen?« fragte sie Erich mit schwärmerischem Augenaufschlag.

Er fand im stillen, daß er es eigentlich nicht nötig hätte – bei seiner Stimme, die auch ohne vorheriges Tam-Tam siegen würde.

Aber er schwieg wohlweislich, denn er wußte, daß man sich Frau Nora nicht zur Feindin machen durfte.

Bettina war viel allein in dieser Zeit und litt unter dem Gefühl, bei dem Werdegang des geliebten Mannes eigentlich überflüssig zu sein.

Bettina war kein Gesellschaftswesen. Weder geistreich noch pikant, wußte sie in Gesellschaft nichts aus sich zu machen. Ihre Talente lagen im Rahmen der Häuslichkeit. Doch ein Heim hatte sie ja nicht, und in Gesellschaft kam sie sich immer vor wie das fünfte Rad am Wagen. Erich hatte kaum Zeit für sie. Abends war er todmüde, sank ins Bett und schlief sofort ein. Er fragte sich nie, was Bettina tagsüber tue, wenn er fort war, oder ob sie sich in Berlin wohl fühle.

Über Empfindungen seiner Frau nachzudenken, war ihm überhaupt noch nie eingefallen. Desto öfter erinnerte er sich in stiller Gereiztheit ihrer schönen Schwester, die immer noch nichts von sich hatte hören lassen.

Ärgerte sich Ilse über sein Glück oder freute sie sich darüber? Nahm sie überhaupt Notiz davon, wenigstens in Gedanken? Er wußte es nicht, denn sie schwieg beharrlich.

Dann beunruhigte ihn eines Tages eine Bemerkung in einem Brief Ginas derart, daß er sich unablässig mit ihr beschäftigen mußte. Diese innere Unruhe beeinflußte ihn so stark, daß sogar seine Stimme darunter litt. Zum erstenmal sang er matter und mit Anstrengung.

»Sie sind heute nicht gut disponiert, Herr Leske?« fragte der Kapellmeister bei der Probe. »Vielleicht sollten Sie sich mehr schonen? Ihre Stimme kommt mir etwas angegriffen vor.«

Seine Stimme angegriffen! Erich wußte nicht, sollte er lachen oder wütend sein.

Dann packte ihn jähe Angst. Wenn es wahr wäre? Wenn er auch am Abend seines ersten Auftretens indisponiert wäre! Wenn seine Stimme versagte – nicht auszudenken!

Und das alles wegen einer albernen Bemerkung eines jungen Mädchens, die sicher nur im Unverstand hingeschrieben worden war.

Gina, die seit kurzem häufiger und ausführlich an die Schwester nach Berlin schrieb, hatte diesmal über Ilse bemerkt:

 

»Du kannst Dir kaum einen Begriff machen, wie patzig und hochnäsig Ilse ist, seit Herr Klüver und Oppolzer ihretwegen ernstlich in Streit geraten sind und der Maler Veit erklärt hat, sie sei die schönste Frau, die er je gesehen hat! Sie tut gerade so, als sei sie zu gut für diese Welt und kein Mann würdig, ihr auch nur die Fingerspitzen zu küssen. Dabei ist sie durchaus nicht so kalt und männerfeindlich, wie sie sich gibt. Stell' Dir vor: wie ich gestern oben im Wald ahnungslos nach Pilzen suche, auf wen stoße ich da plötzlich? Auf Ilse und – Reinitz! Ganz einträchtig sitzen sie auf einem Baumstamm und er, mit dem sie sonst dauernd streitet, hält ihre Hand und spricht so eifrig auf sie ein, daß mich die beiden gar nicht bemerkt haben. Was sagst Du dazu? Ilse! Die stolze, kalte Ilse! Ich war einfach starr.«

 

Das waren die Sätze, die Erich Leske so außer aller Fassung gebracht hatten.

Als er von der Probe heimfuhr, ärgerte er sich über Gina, daß sie solche Sachen geschrieben, über Bettina, daß sie es vorgelesen hatte und über sich selbst, daß es ihm so nahegegangen war.

Immer noch – immer noch!

Als Bettina ahnungslos wieder von Ginas Brief und der Bemerkung über Ilse zu sprechen anfing, fuhr er sie gereizt an.

»Ich bitte dich, verschone mich mit derlei Familientratsch! Ich mag nichts davon hören. Ich habe jetzt weiß Gott andere Dinge im Kopf! Was geht mich der Waldhof an? Wenn du künftig Briefe von daheim bekommst, lies sie für dich und laß mich ungeschoren damit! Gänzlich! Hörst du?«

»Ja«, murmelte Bettina bestürzt, »verzeih, aber ich habe nicht gewußt, daß …«

»Schon gut, schon gut.«

Er lief im Zimmer hin und her wie immer, wenn er innerlich erregt war.

Es war wohl am besten so, überlegte Erich. Er wollte nichts mehr hören vom Waldhof. Diese Geschichte mußte einmal ein Ende haben und er endlich zur Ruhe kommen. Seine ganze Zukunft hing davon ab, daß er das seelische Gleichgewicht zurückgewann.

Dieser Vorsatz hinderte ihn jedoch nicht, Bettinas Korrespondenz nun erst recht mit Argusaugen zu überwachen und, wenn der Postbote kam, nicht eher von ihrer Seite zu weichen, bis er wußte, von wem sie Briefe bekommen hatte.

Eines Tags – es war genau eine Woche vor seinem ersten Auftreten, als Erich gerade in die Oper zur Probe fahren wollte, erkannte er auf einem der Briefe, die die Zugehfrau hereinbrachte, abermals Ginas Schrift.

Sofort legte er wieder ab und machte sich unauffällig an seinem Kleiderschrank zu schaffen.

Der Schrank hatte Spiegelscheiben; darin sah er, wie Bettina am Tisch Ginas Brief als ersten öffnete und zu lesen begann.

Ihr feines, in letzter Zeit etwas blaß gewordenes Gesicht überzog sich gleich nach den ersten Zeilen mit jäher Röte. Überraschung und Staunen spiegelte sich in ihren Zügen. Unwillkürlich entfuhr ihr ein leiser Ausruf.

Erich fuhr herum.

»Was ist? Wer hat dir geschrieben?«

»Gina. – Aber du hast mir ja verboten, dir zu sagen …«

»Einerlei! Wenn ich schon weiß, daß sie geschrieben hat, will ich auch wissen was.«

Bettina war glücklich, daß sie die große, sie tief bewegende Neuigkeit nicht in sich verschließen mußte, und antwortete freudig erregt:

»Ja, denke nur, Erich, Ilse hat sich verlobt! Mit Reinitz! Was sagst du dazu?«

Er sagte zunächst nichts.

Wortlos, mit Augen, die plötzlich fast schwarz schienen in dem jäh erbleichten Gesicht, starrte er sie an.

Erst nach einer Weile sagte er mit fremdklingender Stimme:

»Lies vor!«

Und Bettina las:

 

»Also, jetzt paß auf, Schwesterherz, aber setz Dich vorher hin, sonst fällst Du um! Ilse hat sich verlobt! Ob aus Liebe oder sonst einem Grund, weiß kein Mensch. Gestern abend, nachdem uns die paar Bekannten, die noch aus alter Gewohnheit kommen – die meisten hat ja Ilse glücklich weggeekelt – fortgegangen waren bis auf Reinitz, haben sie es Papa und Mama eröffnet. In einem Ton, als ob sie sagten: ›So, wir haben uns jetzt ein Butterbrot gestrichen.‹ Ganz kalt und gleichgültig, von Liebe keine Spur. Mit Mühe und Not, daß sie es nachher bis zu einem formellen Verlobungskuß und dem üblichen Du gebracht haben, sonst hätte meiner Treu kein Mensch an ein Brautpaar geglaubt! Wir waren alle ganz baff, obwohl ich mir ja schon vor acht Tagen – Du weißt, ich habe sie im Wald getroffen – mein Teil gedacht habe. Aber die Tatsache hat mich dann doch überrascht; besonders weil beiden so gar nichts von den üblichen bräutlichen Gefühlen anzumerken ist. Wenn ich an Dich und Erich denke – na, das war anders, gelt? Also kurz und gut: bewegt und aufgeregt waren gestern nur wir – die anderen, die Beteiligten selber, blieben kalt wie Hundeschnauzen!

Mama, die ohnehin sehr schwach ist, weinte und bekam dann einen Ohnmachtsanfall, der glücklicherweise bald vorüberging. Großmama wollte gratulieren – das haben sie abgelehnt. Dazu sei vorläufig kein Grund, da sich ja erst zeigen müsse, ob sie wirklich glücklich miteinander werden könnten – hast Du je schon so etwas von Verlobten gehört? Ich nicht! Das Gratulieren haben wir uns also geschenkt.

Dann wollte Papa Champagner kommen lassen und feiern; Du weißt, das ist seine schwache Seite. Emil und ich hatten uns schon so gefreut – aber prost Mahlzeit! Sekt und Feier wurden ebenfalls abgelehnt. Und ehe man richtig zur Besinnung kam, war der Zauber überhaupt vorbei; Ilse verschwindet in ihrem Zimmer, Reinitz fährt in seinem Auto davon – er hat ein neues, pickfein, sag ich Dir! Heute morgen sagt Ilse, sie wollten schon in sechs Wochen heiraten, aber ganz still und ohne die geringste Feier. Nicht einmal die Familie darf dabei sein. Bloß Trauung im Reisekleid, zwei Zeugen und dann auf den Bahnhof – ohne Festessen, stelle Dir vor! Ich finde das mehr als albern. Emil ist wütend und redet kein Wort mit Ilse. Er sagt, es ist eine Gemeinheit von ihr, uns andere einfach ums Hochzeitsessen zu bringen. Papa ist übrigens wegen der Ablehnung aller Festlichkeit sichtlich erleichtert, will mir scheinen. Unter uns gesagt, ich glaube, dem guten Papa geht es mit dem Geld augenblicklich nicht zum besten. Die Ernte war schlecht, und zwei Kühe sind kürzlich auch umgestanden infolge der Dummheit einer neuen Magd. Zwiesel sagt, es sind auch zu viele Esser auf dem Waldhof. Na, da kann man eben nichts machen.

Trotz der mangelnden Feierlichkeiten wird übrigens Ilses Heirat Papa noch genug kosten, denn sie erklärt, die Aussteuer muß erstklassig sein. Wäsche von Seide, Kleider aus Paris und so fort. Du kennst ja Ilse! Auch Reinitz wird mit ihr bald einen Absatz für die Millionen finden, die er verdient. Fichtenegg will er ganz neu einrichten, nach Ilses Geschmack. Was das heißt, kannst Du Dir denken! Die Hochzeitsreise soll nach Paris gehen. Sie will es so!

Nun genug für heute, nächstens mehr. Gruß und Kuß

Deine Gina.«

 

Bettina schwieg und blickte erwartungsvoll auf Erich, was er wohl zu alledem sagen würde.

Erich saß regungslos da und starrte verloren vor sich hin. Sein Gesicht war sehr bleich, was Bettina auf die Anstrengungen der letzten Wochen schob.

Sein Schweigen befremdete sie. Hatte er etwa gar nicht zugehört und an andere Dinge gedacht? Er war manchmal so zerstreut in letzter Zeit.

»Hast du gehört, was Gina schreibt?« fragte sie endlich sanft. »Und was sagst du zu der Verlobung?«

Langsam richtete sich sein Blick auf sie, glanzlos und verstört, so daß Bettina erschrocken fragte:

»Was ist dir, Erich? Bist du krank? Hast du Schmerzen?«

Da brach er in ein seltsam wildes, gellendes Lachen aus, griff nach Hut und Mantel und verließ ohne Gruß das Zimmer.

Tief beunruhigt blieb Bettina zurück. Was sollte das bedeuten? Waren seine Nerven so überreizt? Freilich – ein Wunder wäre es bei dem Leben, das sie hier seit Wochen führten, wahrhaftig nicht gewesen: Täglich das intensive Studieren der Partien, womit er sich nie genug tun konnte, weil er immer neue Effekte und Feinheiten hineinzubringen bemüht war, abends ständig die vielen Menschen um sich, die ihn zu keinem Ausruhen kommen ließen, und nachts nie mehr als ein paar Stunden Schlaf.

Wenn doch das Gastspiel erst vorüber wäre! Dann würde es ja hoffentlich besser werden, und seine armen Nerven könnten sich wieder erholen.

So hielt er es auf die Dauer nicht aus. Sie bedauerte, daß er nun in so überreizter Stimmung zur Probe mußte!

Aber Erich Leske dachte nicht daran, ins Theater zu gehen. Er hatte die Probe, überhaupt alles, völlig vergessen.

Planlos eilte er vorwärts, den Hut schief auf dem Kopf, den Mantel offen; den weißen Seidenschal, den er sonst immer sorgfältig um den Hals schlang, wenn es windig war, hatte er vergessen umzulegen; das Tuch hing zur Hälfte aus der Manteltasche heraus.

Und gerade an diesem Tag war ausnehmend rauhes Wetter. Eisiger Wind fegte durch die Straßen, am Himmel trieben Schneewolken. Schon am Morgen hatte beinahe winterliche Kälte geherrscht.

Sonst wäre Erich Leske bei solchem Wetter keinen Schritt gegangen, ohne das Taschentuch vor den Mund zu halten – seiner Stimme wegen. Vor Erkältungen hatte er schon immer eine wahre Todesangst gehabt. Und gar jetzt, so knapp vor dem Gastspiel! Der kleinste Schnupfen konnte verhängnisvoll werden.

Heute dachte er weder an seine Stimme noch an die Möglichkeit, sich zu erkälten, und spürte weder Wind noch Kälte. In ihm war ein wildes Chaos von Schmerz, Zorn und Bitterkeit.

Reinitz! Der Kalk brannte und Bretter sägte und Autos fabrizierte – den nahm Ilse! Diesen Menschen hatte sie ihm vorgezogen, dem verkaufte sie sich – denn etwas anderes konnte das natürlich nicht sein. Und Reinitz liebte sie ja nicht. Dieser trockene, kaltschnäuzige Geschäftsmann wollte aus bloßer Eitelkeit zu seinem übrigen Besitz auch noch die schönste Frau haben!

Darum, nur darum! Wie gemein war die Welt, wie niedrig und berechnend die Menschen.

Seine Kunst hatte ihr nichts gegolten, über seine Liebe hatte sie gelacht, aber dem Geld ergab sie sich. Und dieser Reinitz wurde ihr Mann, durfte sie küssen, sie immer um sich haben.

Erich Leske hielt sich den Kopf, er hatte die Empfindung, daß sich seine Gedanken bei dieser Vorstellung verwirrten.

Sie auf ihrer hochmütigen Höhe zeitlebens einsam zu wissen, damit hätte er sich abgefunden. Aber zu denken, daß da ein anderer war, der sie besitzen würde, machte ihn rasend vor Wut. Wäre Reinitz vor ihm gestanden, er hätte sich auf ihn gestürzt wie ein wildes Tier und ihn einfach ermordet.

Alles, was Erich sah, ärgerte ihn – die hohen Fenster, die endlos langen Straßen, die hastenden, drängenden Menschen und der Lärm der Großstadt, der ihn umtobte. Wie häßlich und widerwärtig das alles war! Fort – fort von hier! Brutal drängte er beiseite, was ihm im Weg war, und stürmte vorwärts, so daß ihm die Leute kopfschüttelnd nachsahen.

In Schweiß gebadet und mit keuchenden Lungen erreichte er endlich das Ende der Stadt. Bäume rauschten über ihm im Wind, herbstlich fahle Wiesen breiteten sich aus. Hier gab es nur wenige Menschen. Dafür brauste der Wind stärker und trieb sein Spiel mit Staubwolken, die er aufwirbelte, und gefallenem Laub, das er tanzend vor sich hertrieb.

Vorwärts, weiter, bis kein Mensch mehr zu sehen war weit und breit und man endlich Ruhe hatte zu denken – zu überlegen. Da rauschte irgendwo ein Wasser, dort, ein Bach, und Kiefern standen da. Vielleicht kam das Rauschen auch nur vom Wind? Hier war er schon einmal gewesen – damals standen Blumen da, und ein kleiner, grüner Käfer kroch an einem Stengel hinauf, fiel immer wieder herunter, versuchte es stets von neuem, die Blüte zu erreichen – komisch! Aber jetzt sahen die Wiesen seltsam fahl aus, und der Ginster war längst verblüht.

Wie müde er war! Die Beine schmerzten, und der Kopf war matt vom Grübeln.

Er wollte nicht mehr denken, nur schlafen, schlafen.

Erschöpft sank er auf den feuchten, kalten Rasen.

*

Bettina wartete und wartete. Sie wunderte sich, daß ihr Mann nicht wie meist zu Mittag heimkam, um sie zum Essen abzuholen, aber sie beunruhigte sich nicht ernstlich, da es öfter vorkam, daß eine Probe länger dauerte. In diesem Fall ging Erich dann vom Theater direkt in das Gasthaus, in dem sie ihre Mahlzeit einzunehmen pflegten.

Obwohl Bettina mit dem Fortgehen zögerte und über eine Stunde später als gewöhnlich in dem Lokal anlangte, mußte sie allein essen.

Jetzt war sie doch in Unruhe und eilte statt nach Haus zur Oper. Dort war alles still, die Bühneneingänge geschlossen. Nach langem Suchen gelang es ihr, den Portier zu finden, der auf ihre Fragen verwundert antwortete, daß die Proben schon vor Mittag beendet waren und alle Mitwirkenden das Haus längst verlassen hatten.

»Und mein Mann?« fragte Bettina, die immer unruhiger wurde.

Der Portier zuckte die Achseln. Herrn Leske hatte er nicht gesehen, wußte daher auch nicht, wann er das Haus verlassen habe.

»Wissen Sie, gnädige Frau, mein Amt besteht vorzugsweise darin, Unberufenen den Eintritt zu wehren. Da achte ich natürlich wenig auf die Damen und Herren, die zu den Proben kommen und dann das Haus einzeln verlassen, wie ihre Partien eben zu Ende sind. So kann ich Herrn Leske natürlich auch übersehen haben«, erklärte er. Da Bettina ihn in ihrer ratlosen Angst dauerte, fuhr er fort: »Vielleicht kann Ihnen die Garderobiere Auskunft geben. Sie bleibt immer bis zum Schluß der Proben und wohnt im Hause selbst. Ich will gleich mal nachsehen, ob Frau Lehmann daheim ist.«

Bettina traf sie in ihrer Wohnung, und von ihr erfuhr sie, daß Erich heute überhaupt nicht zur Probe erschienen war.

Aufs tiefste bestürzt, machte sich Bettina auf den Heimweg. Was mochte geschehen sein? Sie dachte alle Möglichkeiten durch, von denen die wahrscheinlichste war, daß Frau Goldfarrn oder sonst ein Bekannter ihn unterwegs getroffen und aus irgendeinem Grund veranlaßt hatte, die Probe zu versäumen.

Aber dazwischen sah sie immer wieder sein blasses, verstörtes Gesicht und hörte das gellende Gelächter, mit dem er am Morgen das Haus verlassen hatte; ihre Angst wurde immer größer. Wenn er plötzlich erkrankt oder ihm sonst ein Unfall zugestoßen wäre?

In namenloser Unruhe vergingen ihr die Stunden. Als es dunkel wurde, war sie der Verzweiflung nahe. Es mußte ihn ein Unglück ereilt haben, sie fühlte es förmlich.

Da klingelte es energisch. Bettina lief hinaus. Als sie beim Öffnen einen Schutzmann vor sich sah, begann sie an allen Gliedern zu zittern.

»Mein Mann, o Gott, mein Mann«, stammelte sie, kaum ihrer Stimme mächtig.

Der Schutzmann suchte sie zu beruhigen.

»Es wird nichts Schlimmes sein, gnädige Frau. Bloß ein bißchen erkältet wird sich der Herr haben auf dem feuchten Erdboden. Deswegen kann er jetzt nicht auf den Beinen stehen. Wir haben erst geglaubt, es wäre ein Betrunkener, wie wir sie oft auflesen im Grunewald.«

»Im Grunewald?«

»Ja. Da ist er unter einem Baum gelegen und hat geschlafen. Wir haben ihn dann zur nächsten Polizeistation getragen, wo er erst munter wurde.«

»Wo ist er jetzt?«

»Wir bringen ihn gleich herauf, denn er ist noch ein bißchen schwach. Ich wollte Sie nur erst benachrichtigen.«

Bettina hörte nichts weiter. Wie gejagt rannte sie die Treppe hinunter. Erich saß still in der Ecke eines Wagens, der vor dem Haus stand. Neben ihm saß ein zweiter Schutzmann. Dieser und sein Kollege schafften den Sänger in die Wohnung hinauf.

Bettinas Fragen an Erich blieben unbeantwortet; er beachtete ihre Gegenwart überhaupt nicht. Entweder befand er sich im Zustand völliger Erschöpfung oder er konnte sich noch nicht aus seiner Schlaftrunkenheit aufraffen. Apathisch starrte er vor sich hin, taub und blind für alles, was um ihn vorging.

Da inzwischen die Zugehfrau gekommen war, schickte Bettina sie zum nächsten Arzt, während sie ihren Mann ins Bett brachte.

Der Arzt kam schon nach einer Viertelstunde, konnte aber keine Krankheitssymptome finden. Als er hörte, daß der Patient auf der Erde im Grunewald geschlafen habe, meinte er, es müsse wohl ein Erkältungsfieber im Anzug sein, Bettina solle Tee kochen und möglichst dafür sorgen, daß der Patient tüchtig schwitze.

Sie tat alles, aber ohne Erfolg. Erich schlief ein, zu einem Schweißausbruch kam es jedoch nicht. Seine Haut fühlte sich heiß und trocken an; ab und zu hustete er rauh auf.

Bettina saß die ganze Nacht neben seinem Bett und tat kein Auge zu. Jetzt erst in der bangen Stille dieser endlosen Stunden fragte sie sich, wie Erich in den Grunewald gekommen war und was er dort ganz allein gewollt hatte. Und was war ihm eingefallen, sich auf den feuchten Boden zu legen – er, der sich so sehr vor Erkältungen fürchtete?

Sie fand keine Antwort und stand vor einem Rätsel. Auch der Morgen brachte keine Aufklärung. Erich erwachte, ließ sich bereden, ein wenig Tee mit Milch zu nehmen, fühlte sich aber so matt und zerschlagen, daß er erklärte, im Bett bleiben zu wollen. Bettinas vorsichtige Fragen nach den Ereignissen des vergangenen Tages schien er zu überhören, und so schwieg sie, um ihn nicht aufzuregen.

Mit der Erkältung schien es seine Richtigkeit zu haben. Erichs Stimme war heiser und schwach, ein trockener Husten quälte ihn und gegen Abend fieberte er.

Bettina wunderte sich im stillen, daß er kein Wort vom Theater sprach, keine Frage stellte, noch Aufträge erteilte. Diese Gleichgültigkeit, die ihren Grund nur in ungewöhnlicher Schwäche haben konnte, ängstigte sie mehr als das Fieber.

Aus eigenem Entschluß schickte sie eine Meldung seiner Erkrankung an die Direktion.

Erichs apathischer Zustand hielt auch die folgenden Tage an. Am fünften Tag schnellte das Fieber plötzlich in die Höhe, die Hustenanfälle steigerten sich, und Bettina bemerkte mit Schrecken, daß der Auswurf sich rostrot färbte.

Eine Stunde später stellte der rasch herbeigeholte Arzt doppelseitige Lungenentzündung fest und riet zur sofortigen Überführung in ein Sanatorium. Beständige ärztliche Aufsicht und große, luftige Räume wären besser für einen günstigen Verlauf der Krankheit als die kleine Mietwohnung in der lärmenden Straße.

Schweren Herzens entschloß sich Bettina, diesen Rat zu befolgen, nachdem man ihr versprochen hatte, daß sie sich nicht von ihrem Mann zu trennen brauche und seine Pflege auch im Sanatorium übernehmen dürfe. Durch Telegramme verständigte sie ihre Eltern und ihre Schwiegermutter von den Ereignissen.

Dann wurde die Wohnung abgesperrt; von Bettina begleitet, überführte ein Krankenauto den bewußtlosen Patienten ins Sanatorium Lobenwein.

Bange Wochen folgten. Erich schwebte tagelang zwischen Tod und Leben, denn die Krankheit hatte ihn mit furchtbarer Wucht gepackt. Bettina wich nicht von seinem Lager und hatte jeden Sinn für die Außenwelt verloren; so gänzlich, daß sie sich kaum einen Augenblick Zeit nahm, ins Nebenzimmer zu gehen, als man ihr meldete, ihr Vater sei da und wolle sie sprechen.

Waldemar Rosner war auf Bettinas Telegramm gekommen, das alle im Waldhof in Bestürzung versetzt hatte.

»Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie wir durcheinander waren. Und dann hat es mir keine Ruhe mehr daheim gelassen. Mama hat auch gemeint, ich soll sofort zu dir fahren, man könnte dich armes Kind in der fremden Stadt doch nicht so allein mit deinen Sorgen lassen. Eines von uns müsse bei dir sein, damit du nicht verzweifelst.«

»Danke, lieber Papa«, sagte Bettina mit klangloser Stimme, »aber ich brauche wirklich niemand. Ich bin ja beständig bei Erich und würde keinen Augenblick von ihm fortgehen. Da hat es keinen Zweck, wenn du hier bleibst, denn ich könnte mich dir ja überhaupt nicht widmen.«

»Hm, ja, das sehe ich ein. Aber es könnte doch sein, daß du mich brauchst. Denn man kann nicht wissen – schau, Bettina, du warst ja immer mein tapferes und vernünftiges Mädchen – und so kann ich den Punkt ja wohl als Möglichkeit berühren: wenn – wenn es zu einem schlimmen Ende käme –«

Abwehrend hob Bettina die Hände. Mit glanzlosen Augen an ihrem Vater vorbeiblickend, murmelte sie:

»Gott wird ihn mir nicht nehmen, so grausam wird Gott nicht sein, Ich könnt's ja nie und nimmer überleben.«

»Also hoffen wir. Laß nur den Kopf nicht hängen, Bettina, und schau nicht so verzweifelt drein. Ich kann's nicht sehen. Ja, und was ich noch sagen wollte, du magst dich also auch nicht für eine Stunde frei machen, abends zum Beispiel?«

»Nein, Papa. Das ist ganz ausgeschlossen!«

»Morgen kommt nämlich Ilse nach mit ihrem Bräutigam. Ich bin nur vorausgefahren, weil ich deinetwegen keine Ruhe mehr hatte und Reinitz erst heute fahren kann. Ilse will hier Möbel bestellen. Wir bleiben vielleicht sechs bis acht Tage. Ich bin im Bahnhofhotel; morgen, wenn Reinitz mit Ilse kommt, ziehen wir alle drei in die Kurfürstenstraße zu Reinitz' Tante, die uns telegraphisch eingeladen hat. Eine Frau Spannkorb. Soll sehr reich sein und eine große Wohnung haben –«

Bettina hörte kaum zu. Angstvoll horchte sie ins Nebenzimmer. Der Vater begriff und empfahl sich hastig.

›Armes Ding‹, dachte er mitleidig, ›wie nah es ihr geht, sieht ganz elend aus. Gott verhüte, daß sie ihn verliert.‹

Bettina kam es erst viel später zum Bewußtsein, daß ihr Vater recht verändert ausgesehen hatte: abgemagert, blaß und sorgenvoll.

Zwei Tage später kam er wieder, aber da konnte Bettina nicht vom Krankenbett weg; Erich hatte einen so schlechten Tag wie noch nie.

Frau Ludwine schrieb täglich verzweifelte Briefe. Sie war über die Nachricht von des Sohnes schwerer Erkrankung so erschrocken, daß sie in ihrem Hauskleid, wie sie war, zur Bahn stürzen und nach Berlin fahren wollte. Dabei übersah sie in der Hast eine Treppenstufe, stürzte und zog sich einen Knöchelbruch zu. Nun lag sie im Krankenhaus, da sie daheim keine richtige Pflege gehabt hätte, und schrieb den ganzen Tag mit Bleistift Briefe an Erich und Bettina, todunglücklich, daß sie nicht selber zu ihnen kommen konnte.

Bettina war im stillen froh, daß es unmöglich war. Was hätte sie mit der immer redseligen und aufgeregten Schwiegermutter angefangen, die in Berlin ganz fremd war!

Dazu kam, daß die Mutter seltsamerweise mehr um Erichs Stimme als um sein Leben zu zittern schien. Immer war das das Leitmotiv: »Wenn nur um Gottes willen Erichs Stimme nicht durch die Krankheit leidet! Ich beschwöre Euch, zieht doch sogleich Spezialisten zu Rat, damit vorgebeugt werden kann!«

Bettina unterschlug vorläufig alle Briefe und hob sie für bessere Tage auf. Jetzt durfte den Kranken absolut nichts erregen, am wenigsten der Gedanke an eine mögliche Schädigung seiner Stimme.

Was kam, mußte eben abgewartet und getragen werden.

*

An dem Tag, als der Arzt nach zwei schweren Rückfällen Bettina endlich sagen konnte: »Jetzt sind wir über den Berg, Ihr Mann ist gerettet«, heirateten in Sankt Martin Ilse und Reinitz.

Alles verlief, wie Ilse es gewollt hatte: niemand war in der kleinen Dorfkirche als das Brautpaar und zwei Trauzeugen: Oskar Rosner für Ilse, ein Beamter aus dem Sägewerk für Reinitz. Tag und Stunde der Trauung waren so geheimgehalten worden, daß außer den Beteiligten und Ilses nächsten Angehörigen niemand in der Gegend eine Ahnung hatte. Deshalb gab es auch bloß ein paar zufällig in der Kirche anwesende alte Weiblein als Neugierige.

Bei dem kurzen und kühlen Abschied, den Ilse daheim vor der Fahrt nach der Kirche von den Ihren nahm, konnte nicht viel Rührung aufkommen.

Als Frau Mia doch in Tränen ausbrach, sagte Ilse halb verwundert, halb vorwurfsvoll:

»Aber warum weinst du denn, Mama? Ich komme ja doch in ein paar Wochen wieder. Wie kannst du dir da das Herz schwermachen?«

Ihr wurde das Herz nicht schwer beim Abschied aus dem Elternhaus. Unbewegt wie immer fuhr sie mit ihrem Mann zum Bahnhof. Reinitz beobachtete sie mit Staunen und leiser Unruhe. Er dachte an die Fahrt damals mit Bettina und welche ernsten Gedanken diese bewegt hatten.

War Ilse wirklich ohne Herz, wie Tante Helene behauptete? Würde sie auch während der Reise durch fremde Länder, wenn sie auf ihn angewiesen war, so unnahbar bleiben wie bisher, ihm nicht wenigstens einen Teil ihrer Gedanken und Empfindungen offenbaren?

Es schien nicht so. Schweigsam und nachdenklich lehnte sie in der Ecke des Abteils und ließ die vorüberfliegende Landschaft achtlos an sich vorbeigleiten.

Ihre Gedanken beschäftigten sich mit der Zukunft und sie fragte sich, ob alles sich so entwickeln würde, wie sie hoffte und wünschte. Daheim hatte alles sie so beengt, Menschen und Dinge. Die Alltäglichkeit des Lebens auf dem Waldhof hatte ihr Inneres leer gelassen und diese grenzenlose Leere und Langweile, die sie von klein auf quälte, war schrecklich gewesen.

Bettina hatte ihr einmal, als sie darüber sprach, lachend gesagt: »Tu doch etwas, beschäftige dich! Es ist nur der Müßiggang, der dich so unzufrieden macht.«

Aber was wußte Bettina schon! War ein Wesen wie sie, Ilse, etwa zur Arbeit geboren? Auch Arbeit könnte ihr nicht mehr Befriedigung schaffen als das törichte Spiel um die Liebe, das die meisten Menschen trieben, offenbar nur um dieselbe Leere in sich auszufüllen, die auch sie quälte.

Es mußte etwas anderes geben, etwas Großes, Erhabenes, das diesem öden Zustand ein Ende machte. Danach sehnte sich Ilse, das mußte sie finden. Dazu hatte sie frei werden wollen von all dem moralischen Krimskrams daheim: um neue Verhältnisse um sich zu schaffen, neue Menschen an sich heranzuziehen.

Nur an Reinitz' Seite würde dies möglich sein. Er war vorurteilsfrei, haßte alles Alltägliche, war reich genug, ihren Wünschen keinerlei Beschränkung aufzuerlegen, und – was die Hauptsache war – er teilte ihre Ansichten.

Andernfalls wäre er ja nie auf die Bedingungen eingegangen, die sie an ihr Jawort geknüpft hatte: sie wollte vollste Freiheit haben, ihr Leben einzurichten, wie sie es für gut hielt. Gefühlsansprüche durften nie an sie gestellt werden. Der Mann, dem sie ihre Hand reichte, konnte ihr Kamerad, wenn er wollte, auch Freund sein, aber nie mehr.

Reinitz war auf diese Bedingungen eingegangen. Damals hatte Ilse es natürlich gefunden. Er liebte sie nicht, er war der einzige von allen gewesen, der ihr nie den Hof gemacht hatte – warum sollte er also etwas gegen ihre Bedingungen haben?

Jetzt zum erstenmal dachte Ilse in stiller Verwunderung: warum hatte Reinitz es getan? Warum heiratete er eine Frau, die ihm nur Verpflichtungen auferlegte und keinerlei Rechte einräumte, weder als Mann noch als Herr des Hauses? Was hofft er dafür einzutauschen? Denn schließlich beruht doch alles im Leben auf Leistung und Gegenleistung.

»Woran denkst du?« riß seine Stimme sie aus ihren Gedanken. »Du machst ja ein Gesicht, als wolltest du den Stein der Weisen entdecken«, schloß er belustigt.

»Ich habe darüber nachgedacht, warum du mich eigentlich geheiratet hast. Jetzt, wo es geschehen ist, begreife ich es kaum.«

»Nun, dieses Rätsel kann ich dir sofort lösen: weil ich dich liebe!«

Sie fuhr bestürzt auf und starrte ihn fassungslos an.

»Du – liebst – mich?«

»Natürlich! Was wundert dich da so?«

»Du hast doch nie davon gesprochen. Du, gerade du, warst der einzige, der es nie getan hat.«

»Muß man denn seine Gefühle auf den Lippen tragen? Was hätte es mir geholfen, es dich merken zu lassen? Die Folge wäre höchstens gewesen, daß du mich so wenig genommen hättest wie einen deiner anderen Verehrer.«

»Natürlich hätte ich es nie getan«, sagte die junge Frau in wachsender Erregung. »Ich, die ich Liebe als eine lästige, erniedrigende Gewohnheit der Menschen betrachte, mit der ich durchaus nichts zu tun haben will. Du hast das gewußt. Wir haben oft genug darüber gesprochen. Wenn du trotzdem um mich geworben hast, mußte ich annehmen –«

»Was?«

»Daß du meinen Standpunkt teiltest und frei von dieser Albernheit bist, die man Liebe nennt.«

»Eine unbegründete Annahme, liebe Ilse! Schweigen heißt doch nicht zustimmen. Warum sollte ich, ein sonst leidlich vernünftiger Mensch, der das Leben und die Menschen einigermaßen verstehen gelernt hat, die Naturgesetze kennt und auch Frauen gegenüber gerade kein grüner Bub mehr ist, einen so unmöglichen Standpunkt teilen?«

Ilse fuhr auf, glühende Röte überzog ihr Gesicht.

»Unmöglich? Mit welchem Recht –«

»– ich das zu sagen wage? Mit dem Recht der Vernunft! Denn deinem sogenannten Standpunkt gegenüber gibt es für mich nur zwei Möglichkeiten: entweder er ist das Ergebnis mangelnder Erkenntnis, unreifer Mädchenphantasien und noch schlummernder Fraueninstinkte, oder er ist überhaupt nur eine Pose, in der du dir gefällst.«

»Hast du mich geheiratet, um mich zu beleidigen? Hältst du mich für eine Schauspielerin?«

»Ganz und gar nicht, sonst hätte ich dich wahrscheinlich nicht geheiratet. Ich nehme vielmehr die erste Möglichkeit als die wahrscheinlichere an.«

Ilse setzte sich kerzengerade zurecht. Ein höhnischer, kampfbereiter Ausdruck trat in ihr Gesicht.

»Ich verstehe! Du hoffst, durch dauernde Beeinflussung und Überredung diese mangelnde Erkenntnis zu heben, die schlummernden Instinkte zu wecken! Du hoffst, deine Macht als Herr und Gebieter auf allen Linien geltend machen und mich so zur Gegenliebe überreden zu können. Mit einem Wort – du hast ein schändliches, falsches Spiel mit mir getrieben! Du hast mich einfach durch Betrug in die Falle gelockt. Aber glaube ja nicht, daß es dir etwas hilft. Nie wirst du den Triumph erleben, mein Herz unterzukriegen. Nie das Wort ›Ich liebe dich‹ von mir hören! Im Gegenteil! Du hast dir durch deinen listigen Betrug auch das verscherzt, was zu geben ich bereit war: Achtung, Vertrauen und Freundschaft.«

Sie hatte rasch und erregt gesprochen.

Reinitz war bei ihren letzten Worten leicht erblaßt, blieb aber ruhig.

»Weshalb ereiferst du dich so?« fragte er gelassen. »Und was meinst du mit dem Wort Betrug eigentlich? Wieso soll ich dich denn betrogen haben?«

»Du weißt gut, daß ich dir mein Jawort nur unter Bedingungen gegeben habe, und du bist auf den Pakt eingegangen.«

»Nun – habe ich ihn denn gebrochen?«

»Du willst es aber tun! Da du mich liebst, wirst du dauernd versuchen …«

»Aber ich denke wirklich nicht daran, mein Kind! Alles, was ich dir versprochen habe, gedenke ich buchstäblich zu halten.«

»Das ist unmöglich. Selbst wenn du wolltest, wirst du die Kraft dazu nicht haben. Liebe macht die Menschen bekanntlich immer schwach.«

»Mag sein, in vielen Fällen. Nicht mich! Hast du denn bisher etwas von meiner Liebe gemerkt? Habe ich dich je belästigt?«

»Bisher war ich nicht deine Frau …«

»Sei beruhigt! Ich werde mich dir, der Frau, gegenüber immer ebenso fest in der Hand haben wie bisher, als du noch Braut warst. Ich bin ein Mann, und was ich will, führe ich durch.«

»Aber was willst du eigentlich? Man tut doch nichts zwecklos, du am wenigsten. Und für einen Mann, der liebt, muß ein auf rein freundschaftlicher Basis beruhendes Nebeneinanderleben, wie ich es im Auge habe, doch eine Qual sein. Warum willst du dir eine solche Last aufladen?«

»Ich habe es dir ja schon gesagt: weil ich dich liebe. In unserem Fall bedeutet Liebe eben Warten! Nichts wird gegen deinen Willen geschehen. Kein Wort, kein Blick wird dich belästigen. Ich bin dein Freund, dein Bruder, dein guter Kamerad, solange du es willst. Aber ich habe die Hoffnung auf den Tag, an dem du dich freiwillig in meine Arme wirfst und mir sagst: sei mir mehr, sei mir alles, denn ich liebe dich.«

Ilse verzog spöttisch den Mund.

»Und wenn dieser Tag nie kommt – denn er wird nie kommen?«

»Dann werde ich mich mit dieser Tatsache abfinden wie ein Mann, und vielleicht ist dann inzwischen das Gefühl verglüht. Auch das kommt vor: daß Wünsche von selber sterben.«

»Merkwürdig, daß ein Geschäftsmann wie du sich auf ein so unsicheres Geschäft einläßt.«

»Eben deswegen. Ein Geschäftsmann muß wagen und abwarten können, sonst taugt er nichts. Übrigens halte ich jede Ehe für eine Art Glücksspiel: man kann dabei reich, aber auch zum Bettler werden. Und jetzt wollen wir von etwas anderem reden. Das Mißtrauen und die Unruhe, die ich in deinem Blick sehe, passen nicht zu deinen schönen Augen, und du hast – mein Wort darauf – keinerlei Grund dazu. Sag mir lieber, wie du unseren Aufenthalt in Paris eingeteilt haben willst? Legst du mehr Wert auf Vergnügen oder auf Sehenswürdigkeiten und Kunstschätze?«

»Ich möchte beides, aber doch nicht die ganze Zeit daran wenden. Was mich am meisten lockt, ist, das Pariser Leben kennenzulernen. Auch möchte ich allerhand einkaufen.«

Ilse sagte es zerstreut. Ihre Gedanken waren noch bei dem Gespräch. Reinitz' ruhige und überlegene Art hatte ihr wider Willen imponiert. Sie sah ihn plötzlich in einem neuen Licht. Er war kein Durchschnittsmensch, wie sie bisher gedacht hatte. Und mit leiser Unruhe fragte sie sich, ob es ihr gelingen würde, sich immer die Macht über ihn zu erhalten, die sie heute hatte; denn wer nicht selber herrscht, wird beherrscht, und das hätte Ilse nicht ertragen.

*

Der erste Schnee des Jahres fiel mit Regen vermischt und verwandelte die Gemeindestraße in wässerigen Schmutz.

Trübselig rollte der Waldhofer Wagen durch die nebelverhangene Landschaft. Wendelin Pott, der Kutscher, saß im Gummimantel mit vorgebeugtem Kopf auf dem Bock, damit das Regenwasser von der Krempe seines Hutes leichter ablaufen konnte. Dabei dachte er ärgerlich, was das wieder für ein besonders sinniger Einfall von der alten Frau war, bei solchem Hundewetter in die Stadt zu fahren. Einen Abstecher nach Fichtenegg sollte er auch noch machen, damit sie dort wieder ihre Nase in alles stecken konnte, überhaupt die alte Frau …

›Zu meiner Zeit sind die alten Weiber bei schlechtem Wetter daheim hinterm Ofen gesessen und haben gesponnen oder gestrickt und dabei ihre Enkelkinder beaufsichtigt‹, fuhr Pott in seinem Gedankengang fort. ›Aber da käme man bei der unsrigen schlecht an, wenn man so was nur andeutete. Als ob sie sich je um die Kinder des Herrn groß geschert hätte! Die haben, Gott sei's geklagt, getrieben, was sie wollten, wenn sie nur ihre Ruhe hatte und herumkutschieren konnte.‹

Drin im Wagen saß Großmama Rosner, ahnungslos, was der alte Pott über sie dachte. Sie fühlte sich in ihrem Pelz behaglich, und das Regenwetter störte sie nicht weiter.

Seit die beiden Enkelinnen geheiratet hatten und ihr Sohn durch die zunehmende Schwäche seiner Frau kaum mehr von deren Krankenbett wich, war in das langweilige Altweiberdasein Großmamas neues Leben gekommen. Reinitz, der während seiner Hochzeitsreise in Fichtenegg alles auf den Glanz herrichten ließ, hatte gebeten, dort die Arbeiter ein wenig zu überwachen – eine Aufgabe, die Großmama Rosner mit Vergnügen übernahm. Dann mußte man sich auch der armen Ludwine annehmen, die ja jetzt zur Verwandtschaft gehört und immer noch im Krankenhaus lag. Dort wurde Großmama Rosner immer schon mit Sehnsucht erwartet, brachte sie doch auch Nachricht aus Berlin, denn Bettina schrieb fleißig an die Ihren.

Auch diesmal war gleich nach der Begrüßung Frau Ludwines erste Frage:

»Hat Bettina wieder geschrieben?«

»Ja«, antwortete Großmama Rosner etwas unsicher, knöpfte ihren Pelz auf und ließ sich auf den Stuhl neben dem Bett der Kranken nieder, deren Fuß immer noch in Schienen lag. »Ja, sie hat geschrieben.«

»Wirklich! Und ich habe seit drei Tagen keine Nachricht! Es ist unverantwortlich von Bettina, wo sie doch weiß, wie ich auf Nachricht warte!«

»Bettina ist eben jetzt, seit ihr Mann außer Gefahr und wieder daheim ist, sehr angestrengt. Sie hat mich übrigens gebeten, zu Ihnen zu gehen und Ihnen den Inhalt ihres Briefes mitzuteilen …«

»Gibt es etwas Neues?«

»Ja, einiges. Vor allem: die jungen Leute werden wahrscheinlich Berlin bald verlassen.«

»Berlin verlassen? Ja, warum denn? Wenn Erich erst ganz wiederhergestellt ist, wird er doch das verschobene Gastspiel nachholen und dann dort engagiert werden.«

»Hm, ja – später wird das gewiß geschehen. Zuerst aber muß er sich erst gründlich erholen.«

Großmama Rosners Stimme wurde immer unfreier. Das war auch eine Idee von Bettina gewesen, daß gerade sie es Frau Ludwine beibringen sollte.

»Sie wollen auf ein paar Wochen nach Bad Reichenhall gehen«, fügte sie hinzu.

»Nach Reichenhall? Jetzt, im Winter? Welcher Einfall!«

»Der Arzt wünscht es, schreibt Bettina. Erich soll dort eine Kur machen, glaube ich.«

Frau Ludwine sah ihren Besuch unruhig an.

»Eine Kur?«

»Ja. Denn sehen Sie, meine Liebe, eine so schwere Krankheit ist doch nicht im Handumdrehen vorbei, nicht wahr? Erich hat sich eben damals im Grunewald furchtbar erkältet. Die Lungenentzündung ist ja glücklich überstanden. Aber mit dem Kehlkopf ist noch nicht alles in Ordnung – er leidet an Heiserkeit, es scheint, daß der Kehlkopf damals auch etwas abbekommen hat. Einen leichten Katarrh, der jetzt behoben werden soll –«

Frau Ludwine starrte Großmama Rosner entgeistert ins Gesicht. Plötzlich schrie sie verzweifelt auf:

»Seine Stimme! Er hat seine Stimme verloren!«

»Aber sicher nur vorübergehend«, beeilte sich Großmama Rosner zu beschwichtigen. »Sie dürfen das nicht gleich so tragisch nehmen, meine Liebe! Kehlkopfkatarrh hat jeder Mensch einmal. Deswegen soll er ja die Kur in Reichenhall machen.«

»Und wenn sie nicht hilft und es nie mehr gut wird und er seine prachtvolle Stimme für immer verloren hätte?«

»Ja, du lieber Gott, daran wollen wir doch gar nicht denken. Wer wird denn gleich den Teufel an die Wand malen!«

Frau Ludwine starrte düster vor sich hin. Sie hatte alles andere, selbst die Anwesenheit des Besuchs vergessen.

Wenn Erich seine Stimme verlor – was blieb ihm dann noch? Die Stimme war sein Leben, seine Hoffnung, seine Zukunft. Ohne sie war er erledigt und auch existenzlos. Denn seine Stelle an der Bibliothek hatte er gleich nach dem Münchner Erfolg aufgegeben. Von dem bescheidenen Vermögen aber konnte er nicht leben, jetzt schon gar nicht, da er verheiratet war.

Die gleichen Gedanken, die jetzt als Schreckbilder durch der alten Frau Kopf schossen, hatten Bettina seit Wochen gequält.

Wenn die Stimme nicht wiederkam – was dann? Die Ärzte sprachen sich nicht deutlich aus. Sie zuckten die Achseln und mahnten zur Geduld. Solche Leiden seien eben hartnäckig.

Bettina litt doppelt. Sie litt die Angst des geliebten Mannes mit und ertrug geduldig seine furchtbaren Stimmungen.

Diese wechselten zwischen tiefster Apathie und Anfällen wilder Raserei, in denen er sich und die ganze Welt verfluchte und nach dem Tod als dem einzigen Erlöser schrie.

Sie kamen regelmäßig, wenn er mit angstverzerrtem Gesicht zu singen versuchte und keinen Ton aus der Kehle brachte.

Bettinas große Liebe, die unablässig zu trösten und die Hoffnung aufrecht zu halten versuchte, galt ihm nichts. Er merkte sie gar nicht. Unwirsch wies er alles ab, was sie ihm zum Trost sagte. Wie konnte sie verstehen, was er litt!

An Ilse dachte er in Zorn und Bitterkeit. Er bildete sich sogar ein, sie zu hassen. Denn sie war schuld an allem. Ihretwegen hatte er so blödsinnig den Kopf verloren, daß er wie ein Verrückter gegen den Wind gerannt war und sich nachher erhitzt auf den nassen Erdboden geworfen hatte.

Diese schöne Marmorstatue ohne Herz und Seele hatte ihn seine Stimme gekostet. Nie wollte er sie wiedersehen, nie wieder überhaupt in die Heimat zurück.

Wenn seine Stimme nicht wiederkam, würde er sich eine Kugel durch den Kopf schießen. Das sagte er Bettina täglich ohne Mitleid mit dem schmerzhaften Zucken verhaltenen Weinens, das dann jedesmal um ihren Mund sichtbar wurde.

Manchmal in schlaflosen Nächten fragte sich Bettina verzweifelt: ›Was bin ich ihm, wenn ich ihm nicht einmal jetzt helfen darf und er über mich hinweggeht, als sei ich gar nicht in seinem Leben?‹

Es war die alte Frage, die sie schon als Braut beschäftigt hatte. Aber sie war kein verträumtes, unerfahrenes Mädchen mehr. Und die erwachte Frau fügte beklommen zu der alten Frage eine neue: ›Was hat ihn zu mir geführt, wenn es sein Herz nicht war?‹

Anfang November fuhren sie nach Bad Reichenhall, wohin Frau Ludwine ihnen folgen wollte, sobald ihr Fuß die Reise gestatten würde. In ihr hatte sich die Überzeugung festgesetzt, daß bisher längst nicht alles geschehen sei, was hätte geschehen können, um Erichs Genesung zu beschleunigen. »Ich traue weder den Ärzten noch Bettina; die ist bestimmt nicht energisch genug«, setzte sie Großmama Rosner auseinander. »Ich muß da entschieden selber zum Rechten sehen.«

*

Weihnachten stand vor der Tür. Ilse Reinitz lag in einem stilvollen Teekleid, das sie sich aus Paris mitgebracht hatte, in ihrem Zimmer auf der Couch. Auch die Einrichtung dieses Raums stammte aus Paris, wo sie sogar ausgestellt gewesen war und einen Preis erhalten hatte.

Am Fenster blühten währenddessen in goldenen Töpfen weiße Zwerghyazinthen.

Es schneite seit Tagen. Ilse blickte nachdenklich in das weiße Gestöber. Seit vier Wochen waren sie schon aus Paris zurück, und sie hatte begonnen, sich das Leben auf Fichtenegg nach ihren Wünschen einzurichten. Das heißt, sie umgab sich mit Menschen, die einen neuen Ton und neue Ideen in ihr Dasein trugen. Zur Teestunde wurden viele hochtönende Worte vom Recht der Frau und der Bedeutung der Männer gewechselt. Frauen eröffneten streitbare Wortgefechte, predigten neue Evangelien und verfochten neue Ideale.

Einige Herren, denen man Zutritt gewährte, hörten teils lächelnd, teils begeistert zu. Ilse wurde als Gönnerin und Vorkämpferin dieser Bestrebungen viel gefeiert und bewundert, eine Bewunderung, die nicht der Frau, nicht der Schönheit galt, sondern ihrem Geist.

Ilse nahm es hin wie früher im Waldhof die verliebte Bewunderung ihrer Anbeter; aber in der Wirkung empfand sie wenig Unterschied.

Die große Leere in ihrem Inneren war ebenso geblieben wie die Langeweile, die ihre Tage erfüllte. Nur die Sehnsucht war gewachsen, diese Sehnsucht nach etwas Unbekanntem, Erhabenem, das sie ausfüllen könnte.

Reinitz war ihr nicht um Haaresbreite näher getreten, er hatte in jeder Hinsicht sein Wort gehalten. Sie konnte tun und lassen, was sie wollte, er lebte ruhig sein Leben neben ihr hin, ohne sich ihr aufzudrängen.

Und eben das ärgerte sie oft im stillen. Warum kam er nie, wenn ihre Freunde bei ihr waren? Sie hätte gewünscht, daß er hörte, was da gesprochen wurde, daß es seinen kalten Hochmut ein wenig dämpfte oder wenigstens aus seiner gelassenen Reserve heraus zu Erwiderungen triebe.

Seine gleichgültige Ruhe reizte sie; es schien ihr etwas Feindliches in seinem Wesen, das sie zu gern bekämpft hätte, wäre nur ein passender Anlaß dazu gewesen.

Aber er bot ihr nie Gelegenheit dazu. Er war immer gleich förmlich, höflich und freundlich gegen sie. Von seinem Leben wußte sie heute nicht mehr als zur Zeit, da er als Besucher auf den Waldhof gekommen war.

Er ging zeitig morgens fort, wenn sie noch schlief, erschien pünktlich zum Essen, entfernte sich nach der Mahlzeit gleich wieder und kam abends erst sehr spät heim.

Was tat er tagsüber? Wo war er? Sie vermutete ihn irgendwo bei seinen Unternehmungen. Aber wie er sich betätigte, war ihr unklar. Sie kannte auch diese Unternehmungen nur von außen: die burgartig an die Berglehne hingebauten Kalköfen, weil sie Fichtenegg gerade gegenüber auf der anderen Talseite lagen, und die Autofabrik, weil ihre Dächer und Schlote gleichfalls in ihrem Blickfeld lagen. Das Sägewerk im Wildgraben dagegen kannte sie nicht einmal vom Aussehen, weil sie nie in diese Gegend kam.

Sich eigens darum zu kümmern war ihr nie eingefallen. Sie wußte nur von früher her, daß er stolz auf seine Unternehmungen war und alle gediehen. Und sie ärgerte sich, daß diese Dinge einen so breiten Raum in seinem Leben einnahmen – einen viel breiteren als sie und ihr Ergehen.

Es ging auf Mittag. Das unermüdlich durch die graue, nebelschwere Luft tanzende Flockengewirbel machte Ilse nervös. Wo mochte Reinitz sich in dem furchtbaren Schneewetter herumtreiben? In der Fabrik zwischen Arbeitern, Staub, Ruß und Kohlengestank?

Sie konnte sich keine rechte Vorstellung davon machen. Eigentlich mußte ein solches Leben doch schrecklich sein! Und er hatte es doch gar nicht nötig. Warum blieb er nicht daheim?

Plötzlich horchte sie auf. Ein Auto fuhr unten vor, Stimmen wurden laut: eine Frauenstimme sprach und dann Reinitz, der dem Fahrer etwas zurief.

Ilse hatte sich erhoben und war neugierig ans Fenster getreten. Sie sah eben noch, wie ihr Mann einer Dame den Vortritt ließ und hinter ihr im Haus verschwand.

Gleich darauf hörte sie Schritte auf der Treppe, es klopfte an ihre Tür. Ehe Ilse Herein! sagen konnte, wurde diese geöffnet, und Reinitz schob lachend eine Dame herein.

»So – da ist Ilse!«

»Bettina!« rief Ilse überrascht. »Du! Ja, seit wann seid ihr denn zurück aus Reichenhall?«

»Seit gestern. Und heute morgen sind wir natürlich gleich zu den Eltern auf den lieben alten Waldhof gefahren.«

»Wo ich Bettina entdeckte, als ich Papa aufsuchte, und fast mit Gewalt entführt habe, damit sie auf der Heimfahrt einen Abstecher nach Fichtenegg macht. Denn wir wollen doch auch was von ihr haben«, schloß Reinitz fröhlich. »Gelt, das habe ich fein gemacht?«

Er lachte Ilse an. Sein braunes Rassegesicht mit den hellen Augen strahlte ordentlich vor Vergnügen, sein Blick hing in warmer Herzlichkeit an Bettina.

»Ich freue mich so, daß du wieder da bist, Bettina! Du hast uns allen sehr gefehlt.«

»Ja«, bestätigte Ilse gedehnt und bedeutend kühler in Ton und Blick. »Aber wie ist denn das so plötzlich gekommen? Ihr wolltet doch bis zum Frühjahr bleiben? Hat die Kur deinem Mann nicht gut getan?«

Bettinas blaß und schmal gewordenes Gesicht rötete sich leicht.

»Nein, sein Zustand ist dort eher schlechter als besser geworden«, sagte sie gedrückt. »Die Ärzte meinen, es sei eben die rauhe Jahreszeit, wir sollen im Frühjahr wiederkommen. Aber ich fürchte –«

»Was?«

»Daß alles umsonst ist und nichts Erich je wieder seine Stimme zurückbringen kann. Er selbst kommt bereits langsam zu dieser Überzeugung und will nicht mehr nach Reichenhall gehen.«

»Nun, ihr könnt es ja immerhin noch versuchen! Schließlich ist Reichenhall an sich ein hübscher Sommeraufenthalt und für deinen Mann, der viele Menschen um sich liebt, eine angenehme Zerstreuung zumindest.«

»Erich hat sich seit seiner Krankheit sehr verändert. Menschen und Geselligkeit sind ihm jetzt ein Greuel, denn sie erinnern ihn an seine Triumphe in Berlin. Außerdem wäre Reichenhall für uns bei dem Umschwung unserer Verhältnisse auch in pekuniärer Hinsicht auf längere Zeit ein viel zu kostspieliger Aufenthalt.«

Bettinas Augen hatten sich unwillkürlich mit Tränen gefüllt.

»Aber lassen wir diese traurigen Dinge«, sagte sie nun und kämpfte die Zähren mit Gewalt nieder. »Erzählt mir lieber von euch, ihr Lieben! Wie geht es euch jetzt, was treibt ihr?«

»Ja, reden wir von uns«, meinte Reinitz. »Was wir treiben? Nun, ich habe natürlich wie immer geschäftlich viel zu tun, und da Arbeit das Beste im Leben ist, geht's mir großartig. Ilse mußt du schon selber fragen.«

»Ich? Oh, mir geht es soweit auch ganz gut. Nur die Langeweile plagt mich wie gewöhnlich.«

»Immer noch?« fragte Bettina mit einem Anflug von Scherz. »Ich hätte geglaubt, seit du einen großen Haushalt hast und verheiratet bist, wäre dieser alte Zustand überwunden.«

»Leider nicht. Ich fange im Gegenteil an zu glauben, daß es sich nie bessert, denn das Leben ist schließlich überall gleich, das heißt, gleich ereignislos. Nicht einmal Paris, von dem ich mir so viel erhofft hatte, interessierte mich besonders. Von Äußerlichkeiten abgesehen, spielt sich das Leben dort genau so alltäglich ab wie anderswo.«

»Hast du denn keinen angenehmen gesellschaftlichen Verkehr?«

»O ja, ich habe eine Reihe netter Leute kennengelernt und einen großen Bekanntenkreis. Aber die Menschen sind sich schließlich alle gleich. Jeder hat eben irgendein Steckenpferd, das ihn unterhält.« Sie unterdrückte ein Gähnen. »Nur – ich habe leider gar kein Talent für Steckenpferde.«

Bettina blickte Reinitz an. Er sah ernst vor sich hin, ein fremder Zug von Bitterkeit lag plötzlich in seinem Gesicht.

»Du bleibst doch zum Essen, Bettina?« fragte Ilse. »Ich will nachmittags in die Stadt, da bringe ich dich dann heim. Robert hat mir kürzlich einen Zweisitzer geschenkt. Den wollen wir nehmen. Inzwischen zeige ich dir mein Haus.«

Aber Bettina schüttelte bestimmt den Kopf.

»Ich danke dir, Ilse. Ein andermal vielleicht. Heute muß ich gleich heim. Erich und Mutter warten mit dem Essen auf mich.«

»Mein Gott, sie werden doch auch allein essen können?« Ilse sagte das im alten hochmütigen Ton. »Wir rufen an.«

»Nein, nein, es geht wirklich nicht. Erich ist seit unserer Ankunft begreiflicherweise in sehr gedrückter Stimmung. Da darf ich ihn keinesfalls länger allein seinen trüben Gedanken überlassen. Ich wollte ja auch nur auf einen Sprung zu den Eltern und gleich wieder heim. Dann aber hat mir Robert so zugeredet, mit ihm hierher zu fahren – und natürlich habe ich mich so gefreut, dich endlich wiederzusehen, und habe nachgegeben. Aber jetzt mache ich mir schon Vorwürfe, zu lang geblieben zu sein.«

Sie sah Reinitz bittend an. Der erhob sich sofort.

»Ich bin bereit, liebe Bettina. Wenn es mir auch leid tut, daß du schon wieder fort willst, so begreife und verstehe ich deinen Wunsch. Deine Gründe haben mich überzeugt.« Er wendete sich an Ilse. »Macht es dir etwas aus, mit dem Essen auf mich zu warten? Sonst müßte ich dich bitten, mich für heute zu entschuldigen.«

Ilse blickte ihren Mann erstaunt an.

»Ja, willst du denn mit Bettina in die Stadt fahren?«

»Natürlich. Ich werde sie doch nicht allein fahren lassen, wo ich mich so freue, daß sie wieder da ist und wir so viel zu plaudern haben.« Dann fuhr er fort: »Also, wie lst's mit dem Essen? Wartest du?«

»Selbstverständlich. Warum soll ich allein essen?«

Bettina umarmte die Schwester.

»Du mußt bald zu mir kommen, Ilse, überhaupt wollen wir uns recht oft sehen, gelt? Darauf freue ich mich schon, und es wird uns beiden guttun. Auch für Erich wird es eine Zerstreuung sein, wenn du kommst. Das nächstemal sehen wir uns ja wohl am Weihnachtsabend bei den Eltern. Robert hat schon ein so nettes Programm für die Festtage gemacht.«

»Ohne mich?« fragte Ilse erstaunt.

Er lachte.

»Ja, diesmal ohne dich, weil ich ja deiner Genehmigung zu diesem Fall sicher war und es kein anderes Programm geben kann, als daß wir den Weihnachtsabend im Waldhof verbringen. Schon weil deine arme Mama sich freut, wieder alle ihre Kinder um sich zu haben.«

Er hüllte Bettina sorglich in ihren Pelz und stülpte den Kragen auf.

»Damit du mir nicht erfrierst, kleine Frau, denn es ist heute recht kalt draußen«, sagte er fürsorglich.

Ilse hatte mit einem leisen Flimmern im Blick stumm zugesehen.

Als Bettina nun vor den Spiegel trat, um ihre Pelzkappe zurechtzurücken, sagte sie kühl:

»Mit dem Weihnachtsabend habe ich andere Pläne, wir sprechen nachher noch darüber.«

Reinitz sah sie wortlos und verblüfft an, Bettina fuhr bestürzt herum.

»O Ilse, du willst nicht kommen? Und Mama freut sich so darauf! Willst du denn den Abend lieber mit deinem Mann allein verbringen?«

»Ich werde das nachher mit Robert besprechen«, sagte die schöne Ilse mit der kühlen Ruhe, die sie selten verließ.

In ihren tiefblauen Augen stand deutlich ein erstaunter Nachsatz: ›Was geht's dich an? Willst du dich einmischen?‹

Da unterdrückte Bettina jedes weitere Wort und verabschiedete sich hastig.

Oben am Fenster ihres Zimmers stand Ilse und blickte dem fortfahrenden Auto ärgerlich nach.

Welcher Einfall von Robert, Bettina in die Stadt zu fahren! Überhaupt dieses ganze Getue mit ihr! Es war gerade, als habe er bisher nichts anderes getan, als auf ihre glorreiche Rückkehr gewartet, und die war ja wirklich nicht sehr rühmlich.

Und da glaubte er, sie werde sich am Weihnachtsabend hinsetzen und diese lächerliche Komödie erbaulich mit ansehen? Das fiel ihr wirklich nicht im Traum ein!

Als sie anderthalb Stunden später beim Essen saßen, sagte Ilse plötzlich:

»Ich wollte noch wegen Weihnachten mit dir sprechen, Robert. Ich habe nämlich keine Lust, den Christabend im Waldhof zu verbringen. Diese Familiensimpelei hat mich stets tödlich gelangweilt. Und diesmal kommen noch Bettinas Mann und die alte Frau Leske dazu, die mir mit ihrem überspannten Geschwätz unausstehlich ist. Es war schon immer mein Wunsch, Weihnachten einmal auf dem Semmering zu verbringen, wo es so nett sein soll, wie ich hörte.«

»Was – den Weihnachtsabend unter Fremden – in einem Hotel?«

Roberts Stirn hatte sich umwölkt, doch blieb sein Ton immer gleich liebenswürdig.

»Wenn es dein Wunsch ist, kannst du ihn dir selbstverständlich erfüllen. Aber du wirst uns allen sehr fehlen, gerade an diesem Abend. Ich finde, Weihnachten im Familienkreis ist eines der schönsten Erlebnisse, die ich kenne, und nicht um die Welt möchte ich den Abend unter fremden Leuten feiern.«

Ilse starrte ihn groß an.

»Ja, willst du denn nicht mit mir kommen?« fragte sie endlich.

»Ich? Keinesfalls. Abgesehen davon, daß es ganz gegen meinen Geschmack wäre und ich den Deinen bereits zugesagt habe, könnte ich gar nicht fort. Am Christtag findet im Arbeitererholungsheim eine Weihnachtsfeier mit Kinderbescherung statt wie jedes Jahr. Da gehöre ich selbstverständlich dazu.«

Ilse verzog spöttisch die Lippen.

»Du bist manchmal direkt komisch, Robert, in deiner Sucht, dich überall mit den Arbeitern auf gleiche Stufe zu stellen, gerade als wärst du auch einer.«

»Bin ich ja auch! Wir haben nur verschiedene Posten, gehören aber der gleichen Welt an. Ihre Welt ist auch die meine.«

»Und wegen einer solchen Marotte soll ich am Weihnachtsabend allein sein?«

»Soll? Entschuldige, du willst es doch so! Und gleiches Recht für beide! Du bist Herrin in deiner Welt, ich in der meinen. Du lebst nach deinen Wünschen, ich, wie ich will. Auf dieses Prinzip der Gerechtigkeit haben wir uns ja geeinigt, nicht wahr?«

»Ja – allerdings.«

Ilse schob den Teller mit dem Obst zurück, das sie sich eben aus der Schale genommen hatte. Der Appetit war ihr plötzlich vergangen. Die Vorstellung, Robert verbringe den Weihnachtsabend lieber im Waldhof als mit ihr, ärgerte sie unbeschreiblich. Es kam ihr wie eine demütigende Niederlage vor.

Robert, der sie verstohlen beobachtete, meinte:

»Es hängt also nur von dir ab, wo du Weihnachten verbringen willst. Vielleicht ziehst du es bei einiger Überlegung doch vor, bei uns zu bleiben.«

Sie fuhr auf. Trotz stand in ihrem Blick. Glaubte er vielleicht, daß sie hier bleiben würde, weil er sie nicht begleiten wollte? Damit er sich einbilden könnte, sie vermisse ihn?

»Durchaus nicht«, antwortete sie und warf den Kopf zurück. »Selbstverständlich fahre ich, und zwar so bald wie möglich.«

Er verbeugte sich höflich.

»Wie du willst. Du brauchst mir nur Tag und Stunde anzugeben, damit ich alles Nötige veranlasse. Ein Zimmer werde ich heute noch telegraphisch bestellen, da starker Andrang im Hotel herrschen dürfte.«

*

Während die Nachricht, daß Ilse mit einigen ihrer Bekannten über Weihnachten auf den Semmering fahre, im Waldhof und bei Bettina Schmerz und Bestürzung erregte, war sie für Erich geradezu eine Erlösung.

Der Gedanke an Ilse hatte ihn schon manche schlaflose Nacht gekostet. Ihr auf die Dauer auszuweichen war unmöglich, das sah er ein, denn sie war doch Bettinas Schwester.

Aber er versuchte, dieses Wiedersehen so weit wie nur möglich hinauszuschieben, und hatte Bettina daher gleich nach der Rückkehr erklärt, daß er vorläufig nirgends Besuche machen wolle. Doch da war dieser Weihnachtsabend, den Bettina durchaus bei den Ihren verbringen wollte, schon deswegen, weil ihre Mutter zusehends schwächer wurde und es der letzte sein könnte, den sie im Kreis der Ihren verbrachte.

Auch Frau Ludwine stimmte dafür, daß man den Abend im Waldhof verbringe. Man sparte die kostspieligen und zeitraubenden Vorbereitungen, wenn man Rosners Einladung annahm, die Feiertage draußen zu verleben. Außerdem würden daheim ja doch nur Langeweile und gedrückte Stimmung herrschen.

Aber Erich Leske schob die Entscheidung von Tag zu Tag hinaus, denn für ihn bedeutete die Annahme das Wiedersehen mit Ilse. Und im Geist sah er schon jetzt schaudernd ihre Augen spöttisch auf sich gerichtet, als wollten sie sagen, was sie natürlich nicht aussprechen würde: ›So tief bist du gefallen aus deiner stolzen Höhe? Was finge ich mit einem so armseligen Menschen jetzt wohl an?‹

So empfand er Ilses Abreise wie eine erlösende Gnadenfrist. Von dieser Minute an hatte er nichts mehr gegen die Weihnachtsfeier im Waldhof einzuwenden.

Bettina begriff Ilse einfach nicht. Wie konnte sie fortfahren und ihren Mann gerade über das Fest allein lassen? Wie konnte eine Frau so etwas überhaupt übers Herz bringen? Und Robert war doch so gut zu ihr! Liebte sie ihn etwa nicht so, wie er es verdient hätte, oder hatten sie einen Streit gehabt?

Sie sprach darüber mit ihrem Mann. Erich lächelte grimmig, denn bei dieser Frau verstand er alles.

»Glaubst du denn im Ernst, daß sie Reinitz aus Liebe genommen hat? Sein Geld war es, das sie angezogen hat, nichts weiter.«

Bettina war entsetzt.

»Aber das wäre schrecklich, Erich! Der arme, arme Reinitz! So ein braver, tüchtiger und sympathischer Mensch!«

Erich warf ihr einen ärgerlichen Blick zu. Er empfand es immer irgendwie als eine Verkürzung seiner Rechte, wenn Bettina andere Männer lobte.

»Dir kann es ja gleichgültig sein!« knurrte er. »Was geht dich Reinitz an?«

Am Morgen des Weihnachtstages fuhren sie zu dritt zum Waldhof, wo es schon im Flur nach Kuchen und allerlei Gebratenem roch, so daß Frau Ludwine, die gern einen guten Bissen aß, schnuppernd die Nase hob.

Gebhard und Oskar putzten noch an der Tanne herum, die man der kranken Hausfrau oben neben ihrem Krankenzimmer aufgestellt hatte. Gina, Emil und Heini saßen unten in der Leutestube, wo Zwiesel ihnen eben mit tiefster Überzeugung auseinandersetzte, welche Wunder sich in der Christnacht in Haus, Hof, Stall und besonders beim lieben Vieh begäben. »Denn in dieser Nacht sprechen die Tiere untereinander in derselben Sprache wie unsereiner.« –

 

Um fünf Uhr wollte Reinitz kommen, und dann sollten gleich die Lichter am Baum angesteckt werden.

Bettina fand den Vater wie jetzt zumeist am Bett der Mutter, die stark an Atemnot litt und nur dann einige Erleichterung fand, wenn ihr Mann ihren schmächtigen Leib in aufrechter Stellung hielt.

»Mama hat gerade heute leider wieder einen schlechten Tag«, flüsterte er Bettina bekümmert zu.

Mittags wurde Kaffee getrunken und Stollen dazu gegessen. Das eigentliche Essen sollte erst abends nach der Bescherung stattfinden.

Großmama Rosner überwachte im Eßzimmer das Decken der Tafel, und Frau Ludwine half ihr, alles mit Mistelzweigen und Tannenreisig auszuschmücken.

Aber trotz dieser Vorbereitung und der gespannten Erwartung der Kinder kam nachher, als der große Augenblick der Bescherung anbrach, keine rechte Weihnachtsfreude auf. Mit Ausnahme der fünf Jüngsten waren alle bedrückt; jeder hatte eben sein Päckchen zu tragen und empfand es heute schwerer als sonst.

Das kam wohl daher, weil die Kranke, die von ihrem Rollstuhl aus unverwandt auf den Lichterbaum blickte, als könne sie sich das Bild nicht tief genug einprägen, so stumm und ernst blieb.

Als Gebhard endlich die schon stark heruntergebrannten Lichter zu löschen begann, sagte sie leis und schmerzlich:

»Daß Ilse fehlt! Ich hätte so gern noch einmal alle um mich gehabt.«

Bettina konnte den Blick, der diese Worte begleitete, den ganzen Abend nicht vergessen.

Als man sich nach dem Essen ins anstoßende Wohnzimmer begeben hatte, trat sie zu ihrem Schwager, der sich in eine der Fensternischen zurückgezogen hatte und finster in die Nacht hinausstarrte. Bettina sagte heftig:

»Warum hast du ihr erlaubt fortzufahren? Konntest du Mama diesen Kummer nicht ersparen? Du bist doch Ilses Mann und hättest es ihr einfach verbieten müssen.«

Da drehte er langsam den Kopf und sah sie stumm an. In seinem Gesicht war ein so bitterer und gequälter Ausdruck, daß Bettina in tiefster Seele erschrak und ihre Worte gern zurückgenommen hätte.

»Nein, ich kann das nicht«, sagte er endlich, »denn ich habe keinerlei Recht und keinerlei Macht über sie.«

»Du? Ihr Mann?«

»Ich bin nicht ihr Mann. Nicht einmal ihr Freund. Weniger als der Staub zu ihren Füßen bin ich ihr.«

Und dann übermannte den immer maßvollen und verschlossenen Mann plötzlich der unwiderstehliche Drang, sich ein einzigesmal auszusprechen über das, was wie fressendes Gift in seinem Innern nagte, gerade mit Bettina, diesem sanften, warmherzigen und selbstlosen Wesen, das sicher auch die Schmerzen anderer verstehen würde.

So sagte er ihr alles, von den Bedingungen an, die Ilse ihm gestellt, den heimlichen Hoffnungen, die er trotz allem gehegt hatte, bis zu der mutlosen Verzweiflung, die ihn jetzt zuweilen erfaßte, wenn er sehen mußte, wie Ilse immer die gleiche blieb: kühl, abweisend, gleichgültig.

Reinitz glaubte nicht mehr an das Erwachen ihrer Seele, noch daß sie überhaupt eine hatte. Seine Hoffnung war zusammengeschrumpft zum winzigen Flämmchen, das am Erlöschen war, aber seine Liebe wuchs – wuchs von Tag zu Tag ins Unermeßliche.

Erschüttert hörte Bettina zu. So stand es um die beiden? Die Ärmsten! dachte sie beklommen. Denn auch Ilse war arm! Wie schrecklich, zu leben, ohne lieben zu können, so leer, so zwecklos.

Und er, dieser prachtvolle Mensch, der sein Bestes in sich verschließen mußte – sie wußte, wie das tat, wie dieser Zwang, das eigene Wesen verbergen zu müssen, innerlich drückte.

»Könnte ich dir nur helfen!« stammelte sie, während Tränen ihre Augen füllten. »Könnte ich doch euch beiden helfen!«

Robert nahm ihre Hand und küßte sie in unwillkürlichem Dankgefühl.

»Du bist so gut, Bettina. Ich habe ja gewußt, daß du mich verstehen würdest. Aber da hab' ich dich zum Dank für deine Güte noch traurig gemacht! Vergib!«

»Ich habe nichts zu vergeben. Es ist nur recht und natürlich, daß du dich aussprichst. Haben wir nicht ausgemacht, Freunde zu sein – weißt du noch, damals auf der Fahrt zu meiner Trauung?«

Erich Leske stand mit Gina und Emil, die ihm ihre Geschenke zeigten, am Kamin. Immer wieder ging sein Blick zu den beiden in der Fensternische, deren Unterhaltung kein Ende finden konnte.

Was fiel Bettina nur ein? Was hatte sie so eifrig mit Reinitz zu reden, daß sie darüber vergaß, sich um ihren Mann zu kümmern? Er hatte Reinitz immer gehaßt, schon weil er Ilses Mann war. Jetzt hätte er ihn am liebsten erwürgt.

Auch Frau Ludwine, die mit Großmama Rosner Karten spielte, bemerkte kopfschüttelnd die lange Unterhaltung Bettinas mit dem Schwager. Sie fand es taktlos; die Schwiegertochter, die nie nach ihrem Geschmack gewesen war, sank noch um einige Grad in ihren Augen. Und da küßte Reinitz sogar ihre Hand!

Sie nahm sich vor, dem Sohn morgen einen Wink zu geben, daß er sich derartige Taktlosigkeiten von Bettina wirklich nicht gefallen lassen dürfe. Bettina schien es geradezu darauf anzulegen, in Ilses Abwesenheit mit deren Mann einen Flirt zu beginnen.

Tante Helenes Eintritt, die Kuchen und Plätzchen auftrug, während ein Diener gleichzeitig Sekt brachte, unterbrach endlich die Unterhaltung in der Fensternische.

Gleich danach erschien auch der Hausherr, da Frau Mia oben endlich eingeschlafen war. Rosner, dem die ernsten Gesichter ringsum doppelt auf die Nerven gingen, da er selbst von Kummer und Sorgen beschwert war und gehofft hatte, hier ein wenig vergessen zu können, tat alles, die Stimmung zu heben.

Aber selbst die witzigsten Knittelverse, in die er seine Sprüche an die Anwesenden kleidete, verfingen heute nicht.

Reinitz war mit seinem Sektglas unauffällig zu Bettina getreten.

»Auf unsere geheimsten Wünsche«, sagte er leise, »und auf das, was wir lieben!«

Mit einem ermunternden Lächeln tat sie ihm Bescheid.

Frau Ludwine, die feine Ohren hatte und nur wenige Schritte entfernt stand, hatte die Worte gehört und wurde blaß vor Schreck.

Was sollte das bedeuten? Waren die beiden schon so weit, daß sie gemeinsam geheime Pläne hatten?

Die drei jüngsten Kinder waren zu Bett geschickt worden, als Erich Leskes Zukunftspläne zur Sprache kamen. Rosner fragte ihn, was er eigentlich anfangen werde, und ob er wieder in die Bibliothek einzutreten gedenke.

Bettina zitterte innerlich bei dieser Frage. Erichs Zukunft – das war ja der wunde Punkt, den sie selbst nie zu berühren wagte, seit er sie einmal mit der Gegenfrage barsch abgefertigt hatte:

»Kannst du es nicht erwarten, mich wieder ins Joch des gemeinen Broterwerbs gespannt zu sehen, nachdem mir eben erst die glänzendste Zukunft in Trümmer gegangen ist?«

Und Mama Leske hatte es nachher noch für notwendig gefunden anzudeuten, wie anders und wieviel sorgloser es für Erich wäre, wenn er zum Beispiel eine reiche Frau hätte.

Und da mußte Papa gerade dieses Thema anschneiden! Er hatte natürlich vergessen, daß Erich Leskes Stelle in der Universitätsbibliothek bereits anderweitig besetzt worden war, da er sie nach dem ersten Münchner Erfolg selbst aufgegeben hatte, und daß man seither nur von dem auf einen Rest zusammengeschmolzenen Kapital zehrte.

Erich antwortete denn auch kurz und abweisend, daß er darüber noch nicht nachgedacht habe. Es werde sich schon etwas Passendes finden. Keinesfalls aber werde er sich überstürzt in irgendeinen Tretmühlenberuf drängen lassen.

Da sagte Robert in der stillen Absicht, Bettina zu helfen, denn er ahnte Leskes finanzielle Lage:

»Wenn du mir sagen wolltest, nach welcher Richtung deine Neigungen gehen, lieber Erich, könnte ich dir vielleicht behilflich sein bei der Wahl eines neuen Berufs. Da ich als Unternehmer viele Verbindungen habe, und es mir Freude machen würde, dir zu helfen –«

»Danke«, sagte Erich Leske kalt, »ich hoffe, keiner Protektion zu bedürfen, und wünsche nicht, daß sich andere mit meinem Schicksal beschäftigen. Außerdem eilt es mir nicht mit der Sache.«

Verlegene Stille folgte dieser schroffen Zurückweisung, bis Papa Rosner durch eine scherzhafte Mahnung an Gebhard und Oskar, doch nicht allzusehr im Sekt zu versinken, dem Gespräch eine andere Wendung gab.

Bettina ärgerte sich zum erstenmal ernstlich über ihren Mann. Beim Zubettgehen konnte sie sich nicht enthalten, ihn etwas vorwurfsvoll zu fragen, warum er das gutgemeinte Anerbieten des Schwagers nicht angenommen oder wenigstens in freundlicherer Form abgelehnt habe.

»Weil mir die taktlose Aufdringlichkeit dieses Menschen schon lange gegen den Strich geht!« erwiderte er heftig. »Was mischt er sich in meine Angelegenheiten? Habe ich ihn etwa um etwas gebeten?«

»Aber Erich! Reinitz ist so gut …«

»Sei so nett und verschone mich mit derartigen Tiraden! Natürlich bist du genau so blind wie die anderen, wenn es sich um dieses goldene Kalb handelt, das die ganze Familie umtanzt! Das hat man ja heute gesehen! Geradezu schamlos hast du dich benommen – jawohl, schau mich nicht so entgeistert an! Ich bin ja nicht blind! Und was mir die Mutter vorhin erzählt hat, na, du hättest sie nur hören sollen! Und ich muß einfach schweigen dazu, in solche Lage bringst du mich.«

»Erich, um Gottes willen, du weißt nicht, was du sprichst!«

»O doch, sehr gut sogar. Und ich sage dir nur eines: wir fahren morgen früh nicht mit nach Fichtenegg, sondern zurück in die Stadt. Und Reinitz geht dich nicht das mindeste an, verstanden? Ich mag den Menschen nicht, und darum wirst du ihn künftig meiden, das verlange ich von dir.«

Bettina war starr. War Erich betrunken oder verrückt? Dann bäumte sich etwas in ihr auf gegen diesen ungerechten, niedrigen Verdacht, an dem sicher nur seine Mutter schuld war.

»Du kannst es verlangen, aber ich werde dir in diesem Fall nicht gehorchen«, sagte sie ruhig, »denn es wäre ungerecht und kränkend für Robert, der ein Ehrenmann ist. Ich achte ihn hoch und werde in ihm immer und überall einen der wenigen wirklichen Freunde sehen, die ich habe.«

Erich starrte seine Frau sprachlos an.

Bettina lehnte sich gegen ihn auf! Sie, diese allzeit sanfte und gefügige Frau, wagte es plötzlich, ihm Trotz zu bieten! Das war so neu und kam so unerwartet, daß es ihm die Sprache verschlug.

Zugleich empfand er ein seltsam schmerzliches, angstvolles Gefühl, das allen Zorn in den Hintergrund drängte.

Liebte sie ihn denn nicht mehr? War ihr Herz, um das er nie gefragt hatte, wirklich andere Wege gegangen, ohne daß er es gemerkt hatte?

Er lag die ganze Nacht wach. Am Morgen erklärte er seinen Schwiegereltern, daß er sich krank fühle und in die Stadt zurückwolle, obgleich ausgemacht war, daß alle mit Ausnahme der Kranken den Christtag auf Fichtenegg verbringen würden.

Bettina machte keine Einwendungen und war still und zurückhaltend gegen Mann und Schwiegermutter, die sich ihrerseits in trotziges Schweigen hüllten.

*

Leskes machten keinen Besuch auf Fichtenegg. Erich erklärte, sich im Waldhof von neuem erkältet zu haben, und behauptete, das Sprechen mache ihm Schmerzen und er werde überhaupt nirgends Besuche machen.

Bettina redete ihm nicht zu, nach Fichtenegg zu gehen, denn sie zürnte Ilse und hatte keine Lust, sie aufzusuchen.

Ilse war seit acht Tagen vom Semmering zurück, aber noch nicht bei den Eltern gewesen. Sie schickte zwar jeden zweiten Tag Blumen aus dem Fichtenegger Treibhaus für die kranke Mutter, fand aber selbst den Weg nicht zu ihr. Dies und ihr Fehlen am Weihnachtsabend konnte ihr Bettina nicht verzeihen.

Um so häufiger aber war Bettina im Waldhof bei den Eltern, denn die zunehmende Schwäche der Mutter machte ihr ernste Sorgen; und dann hatte Tante Helene, die sich den Fuß vertreten hatte, sie gebeten, in der Wirtschaft doch gelegentlich zum Rechten zu sehen. Daheim aber führte ohnehin die Schwiegermutter allein das Regiment.

»Ich mag nicht, daß du immerfort draußen bei den Deinen hockst«, sagte Erich nach ein paar Tagen ärgerlich. »Eine Frau gehört in ihr eigenes Haus.«

»Du bist ja fast nie daheim«, verteidigte sich Bettina ruhig. »Und im Haushalt hat mich Mutter nie zu Wort kommen lassen vom ersten Tag meiner Ehe an.«

»Natürlich! Mutter versteht das alles ja viel besser als du und ist noch zu rüstig, um sich beiseite schieben zu lassen. Und ich, was soll ich denn anderes tun als spazierengehen und nachmittags Billard im Caféhaus spielen? Soll ich mich daheim zu Tod langweilen und euch Trübsal vorblasen?«

Bettina sah ihn mit einem rätselhaften Blick an. Die alte, bittere Frage schwebte ihr auf den Lippen: ›Was bin ich dir, wenn du dich daheim bei mir langweilst? Fragst du je nach meiner Gesellschaft, auch wenn ich daheim bin?‹

Aber sie sagte nur:

»Dann werde ich hier ja ohnehin nicht vermißt, und draußen braucht man mich.«

»Meinen Kopf möchte ich wetten«, sagte Frau Ludwina unter vier Augen zu dem Sohn, »daß sie nur hinausfährt, um sich irgendwo mit Reinitz zu treffen. Denk an mich, wir erleben da noch etwas! Aber das sage ich dir, dann machst du Schluß und läßt dich scheiden.«

Nach solchen Reden lief Erich davon, ohne zu antworten, und kam erst spät abends heim. Gegen Bettina war er unfreundlich und kurz angebunden. Sie nahm es hin wie alles andere bisher, aber er fühlte deutlich, auch sie war nicht mehr dieselbe. Eine gewisse Zurückhaltung war in ihr, die sich wie eine unsichtbare Schranke vor ihm aufrichtete.

Er zitterte innerlich manchmal vor Zorn darüber. Dann wieder kam er sich steinunglücklich vor. Alles verließ ihn, niemand kümmerte sich um ihn, selbst Bettina wandte sich von ihm! Und er sehnte sich wie ein Kind nach ihrer Fürsorge, ihrer Zärtlichkeit, ihrem Zureden.

Aber das waren nur Augenblicksstimmungen in dem verworrenen Chaos von Langeweile, Unzufriedenheit und Bitterkeit, das ihn für gewöhnlich beherrschte, seit der Verlust seiner Stimme ihn aus der Bahn geschleudert hatte.

Eines Tages aber waren alle diese Stimmungen wie mit einem Schlag weg. Er hatte Ilse wiedergesehen! Plötzlich war sie mitten im Straßengetriebe, durch das er verdrossen hinschlenderte, vor ihm gestanden und hatte ihn angesprochen. Und alles, was er bei einem Wiedersehen befürchtet hatte, war ausgeblieben.

Sie hatte weder spöttisch gelächelt, noch den kalten, hochmütigen Ton von einst angeschlagen.

»Guten Morgen, Schwager«, sagte plötzlich eine bekannte Stimme neben ihm. »Sieht man dich doch endlich einmal? Den Weg nach Fichtenegg scheinst du ja völlig vergessen zu haben!«

Erich starrte sie stumm an. Er war so überrascht über die Begegnung, daß er nicht gleich Worte fand.

Lachend nahm Ilse seinen Arm und winkte ihr Auto heran.

»Es scheint, ich wirke auf dich wie das brennende Sodom und Gomorra. Wenigstens hast du eine fatale Ähnlichkeit mit weiland Loths Weib, das bekanntlich zur Salzsäule erstarrt ist! Aber wir wollen den Leuten kein Schauspiel geben. Darum schlage ich vor, du steigst mit mir ins Auto und wir fahren ein wenig spazieren. Dabei können wir am besten plaudern.«

Mechanisch folgte er ihrer Aufforderung.

Als er dann neben ihr im Wagen saß, mußte er immerzu verstohlen ihr Gesicht betrachten, das ihm verändert vorkam.

Es war nicht mehr so marmorkalt und unbewegt wie einst, sondern gleichsam von innen heraus belebt durch eine geheimnisvolle Unruhe, die sich auch in ihren Blicken ausdrückte. Dadurch schien sie ihm noch schöner als früher. Aber glücklich sah sie trotzdem nicht aus. Erich Leske empfand bei dieser Feststellung eine gewisse Genugtuung.

Auch ihre Redeweise war lebhafter als zuvor. Sie sprach viel und rasch und ging sprunghaft von einem Gegenstand zum anderen über.

»Und was treibst du eigentlich immer? Man sieht und hört ja nichts von dir. Bettina habe ich ein paarmal daheim im Waldhof getroffen, dich nie. Und in Fichtenegg warst du noch kein einziges Mal! Warum nicht? Ich bin doch schon fast zwei Monate zurück vom Semmering! Hast du mich wirklich ganz zu den Toten geworfen?«

»Das nicht. Aber ich gehe nicht gern unter Menschen. Du mußt das begreifen, Ilse, nach dem, was ich durchgemacht habe.«

»Man darf nie rückwärts schauen im Leben! Hinter jedem tanzen Gespenster. Oder fürchtest du dich etwa zu kommen?«

Da war wieder der alte, spöttische, aufreizende Ton, das alte, gefährliche Glitzern in den blauen Augen.

Erich Leske gab sich einen Ruck.

»Nein, ich fürchte mich nicht«, antwortete er kühl.

Ilse Reinitz blickte ihm forschend in die Augen. Bedeutete das, daß sie keine Macht mehr über ihn hatte, daß er Bettina liebte?

Als Erich an diesem Tag heimkam, schien er Bettina seltsam verändert. Schweigsam und versunken saß er am Tisch und starrte unruhig grübelnd vor sich hin. Nach dem Essen stand er plötzlich auf und sagte, ohne sie anzusehen:

»Ich habe heute deine Schwester Ilse getroffen. Sie ist beleidigt, daß wir noch nicht bei ihr waren. Wir müssen wohl in den nächsten Tagen nach Fichtenegg und das Versäumte nachholen.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand er in seinem Zimmer.

*

Inzwischen fuhr Ilse in ihrem eleganten Zweisitzer heim. Auch sie starrte unruhig grübelnd vor sich hin.

Warum hatte sie das eigentlich getan? Wollte das alte Spiel mit Erich Leske wieder beginnen? Wozu? Um Bettina zu ärgern, die glückliche, selbstsichere Bettina, der alle Herzen zuflogen, die nie eine Leere in sich empfunden hatte und der das Leben genügte, wie es eben war? Was ging sie Bettina an? Sie hatten einander nie recht verstanden, jetzt erst recht nicht.

Aber vielleicht zerstreute es sie ein wenig, zu sehen, wie dieser apathisch gewordene Mensch unter der Einwirkung ihres Wesens allmählich wieder seinen Lebensmut und seine Lebenslust zurückgewann.

Der Aufenthalt auf dem Semmering war ein Versager gewesen.

Nur nervös war sie dort oben geworden. Nie in ihrem Leben hatte sie sich gründlicher gelangweilt und einsamer gefühlt als im Hotel zwischen oberflächlich Bekannten, wo in der Halle ein mit Glastand behangener, elektrisch beleuchteter Baum stand, den sie Weihnachtsbaum nannten.

Kein Duft von Wachskerzen und Gebäck, keine aufgeregte, geheimnisvolle Hast im Haus, kein verstohlenes Geflüster vorher und keine überraschten, strahlenden Gesichter nachher. Alles vernünftig, nüchtern, zweckmäßig, wie es sich für moderne Menschen gehört.

Schal war der Punsch, der serviert wurde, schal die Unterhaltung ringsum. Aus dem Radio hatte ›Stille Nacht, heilige Nacht‹ geklungen, ein Junggeselle, den Langeweile und Neugier ebenfalls dorthin verschlagen hatten, eine scherzhafte Ansprache voll öder Witze gehalten.

In Ilse war die Leere nie größer gewesen als in dieser Stunde. Zuletzt hielt sie es nicht mehr aus und lief in die kalte, sternfunkelnde Nacht hinaus, rannte auf verschneiten Wegen hin und her und – weinte! So deutlich, als wäre sie dabei, sah sie den Tannenbaum im Waldhof mit den frohen Gesichtern ringsum und hörte Bettina plaudern und Robert andächtig zuhören.

Wie ein Fieber hatte es sie dann gepackt – Unrast, Sehnsucht. Am liebsten wäre sie heimgefahren, aber Stolz und Trotz hielten sie zurück. Sie hatte es ja so gewollt! Und alles hätte sie leichter ertragen, als ein spöttisch überlegenes Blinzeln in Roberts Augen.

Schon ein paarmal hatte sie es flüchtig aufzucken sehen in seinem Blick, wenn sie mißmutig über die ewige Langeweile klagte, die sie quälte. Wie wenn er erriete oder wenigstens ahnte –

Und er sollte nicht! Nur das nicht! Stolz hatte sie ihm einmal gesagt, sie brauche niemand, sie sei sich selbst genug, ihr höchstes Glück sei, ganz allein sich selbst leben zu können.

Und doch hatte sie manchmal das bestimmte Gefühl, daß es etwas anderes, viel Schöneres geben müsse, etwas, das den Menschen über sich selbst hinausreißt, emporträgt zu unermeßlichen Höhen. Etwas, das auch ihr totes Leben lebendig machen könnte.

Ein furchtbarer Krach, ein Stoß, der sie hoch schleuderte, riß Ilse aus ihren Gedanken. Prasselnd und klirrend splitterte es um sie. Wie von unsichtbarer Riesenfaust in die Höhe gerissen, bäumte sich das Auto auf und stürzte im nächsten Augenblick sich überschlagend irgendwo hinunter.

Als Ilse wieder zu sich kam, blaute der Himmel über ihr; Totenstille herrschte ringsum. Sie selbst lag zwischen Trümmern und verbogenen Eisenteilen. Jedes einzelne Glied schmerzte sie; in ihrem Kopf summte und brummte es wie ein Bienenschwarm.

Was war geschehen? Zitternd blickte sie um sich. Sie erkannte den Wald links, die Wiese mit den großen Ulmen rechts, das Heilandskreuz an der Wegbiegung, zu dem die Straße sich senkte. Und plötzlich begriff sie: Macher, der Fahrer, mußte an der Senkung die Herrschaft über den Wagen verloren haben – wahrscheinlich hatte die Bremse versagt – der Wagen war an einen Meilenstein angerannt, hatte sich überschlagen und lag nun zertrümmert in dem ziemlich tiefen Straßengraben.

Sie selbst – war sie wirklich unverletzt? Vorsichtig betastete sie sich, bewegte Arme und Beine. Es war ihr anscheinend nichts geschehen, aber wo war Macher? Sie sah ängstlich nach ihm aus, konnte aber keine Spur von ihm entdecken.

Mühselig erhob sie sich und kletterte über das Gewirr von Glas- und Eisentrümmern hinweg. Jede Bewegung schmerzte zwar, aber wunderbarerweise waren alle Glieder heil. Wieder blickte sie suchend um sich. Von Macher war nichts zu entdecken, kein Mensch weit und breit, die Landstraße oben wie ausgestorben. Freilich, es war Mittagszeit und die Unglücksstelle eine gute halbe Stunde außerhalb der Stadt und ebensoweit von Fichtenegg entfernt. Dort zwischen den Feldern lag eine Hütte; zu der mußte sie und Hilfe suchen, Leute holen.

Ilse dachte es mechanisch; sie war immer noch in einer Art Betäubung. Langsam, denn die Beine zitterten ihr jetzt nachträglich vor Schreck und waren so schwach, daß sie kaum gehorchen wollten, schlich sie um den Trümmerhaufen herum, um die Böschung hinanzusteigen. Da erblickte sie etwas so Gräßliches, daß sie unwillkürlich einen lauten Schrei ausstieß und die Augen schloß.

Unter einem der Räder sah eine merkwürdig verdrehte Hand heraus, und daneben lag ein Kopf auch merkwürdig verdreht, wachsbleich mit weit aufgerissenen, blicklosen Augen …

Machers Kopf! Was sonst noch dazu gehört hatte, lag zerquetscht unter dem Chassis.

Ilse hatte noch nie einen Toten gesehen. Nun trat ihr der Tod zum erstenmal und in so gräßlicher Form entgegen. Sie wagte die Augen nicht zu öffnen. Schauer des Entsetzens schüttelten sie. Mit geschlossenen Augen tastete sie sich den Hang hinauf. Nur fort – fort aus der Nähe dieses furchtbaren Kopfes mit den toten Augen.

Wie sie zur Hütte kam, was sie dort sprach, sie wußte es nicht. Wie im Traum sah sie eine junge Frau, Kinder, einen alten Mann, hörte Schreckensrufe und sank auf ein mit buntem Leinen bezogenes Bett, zu dem man sie führte.

Dort lag sie eine Weile, benommen, immer das gräßliche Bild vor sich.

Allmählich ordneten sich ihre Gedanken. Sie sah die kleine Stube, in die über blühende Pelargonien und Primeln die Sonne durch winzige Fenster schien. Sie hörte eine alte, wurmstichige Stehuhr langsam und feierlich ticken, sah die junge Frau in der Ecke an einem kleinen, eisernen Sparherd still hantieren, wobei sie zuweilen besorgte Blicke zu ihr herüberwarf. Ein würziger Geruch verbreitete sich im Raum. Dann trat die junge Frau mit einer Tasse zu ihr.

»Trinken Sie, gnädige Frau. Es ist Baldriantee. Meine Mutter hat immer gesagt, es ist das Beste nach einem großen Schreck. Und sorgen Sie sich um nichts. Mein Mann ist schon hinaus mit ein paar Kameraden, die zufällig gerade aus der Fabrik gekommen sind. Die werden schon alles Nötige tun. Und Vater ist in die Fabrik gelaufen, um Herrn Reinitz zu verständigen, er wird es ihm schon nach und nach sagen, nicht gleich so geradezu. Du lieber Gott, der arme Herr Reinitz wird noch genug erschrecken, wenn er hört, was Ihnen hätte passieren können.«

»Kennen Sie mich denn?« fragte Ilse verwundert.

Die Frau lächelte.

»Aber mein Mann arbeitet ja bei Herrn Reinitz in der Spiritusfabrik! Da werden wir doch seine schöne, junge Frau kennen! Wo wir alle uns so sehr gefreut haben, daß Herr Reinitz heiraten würde und wir es nachher gar nicht erwarten konnten, seine Auserwählte zu sehen! Ja, ja, das war damals eine große Enttäuschung unter den Leuten, als es hieß, es dürfe kein Empfang gemacht werden beim Einzug auf Fichtenegg! Wir haben uns alles schon so schön ausgedacht gehabt mit weißgekleideten Mädchen und Glockengeläut und Fackelzug und Ansprachen! Dann aber hat es der Buchhalter den Leuten gesteckt: Herr Reinitz wollte das nicht. Es sollte gar nichts dergleichen getan werden und alle sollten ruhig daheim bleiben und sich nicht um ihn und seine Frau kümmern. Dafür aber lade er die ganze Arbeiterschaft samt Frauen und Kindern für nächsten Sonntag zum Mühlenwirt drin beim Sägewerk zu Gast. Na, da ist es ja dann auch hoch hergegangen mit Braten und Wein, so viel man mochte, und Musik war auch dabei! Aber das haben wir uns doch nicht nehmen lassen: sehen wenigstens wollten wir Sie doch! Und darum, als Sie damals am Abend von der Bahn als junge Frau gekommen sind, waren hinter jedem Fenster, jedem Baum und wo es nur eine Deckung gab, Leute versteckt. Und da war kein einziger, der Sie nicht gleich ins Herz geschlossen und liebgewonnen hätte.«

»Mich? Aber warum denn?« fragte Ilse immer verwunderter.

»Warum? Ja, du lieber Gott, weil Sie eben seine Frau sind, und weil er der beste, tüchtigste Mensch der Welt ist, für den wir alle durchs Feuer gingen, wenn's sein müßte.«

Ilse staunte. Diese Leute, an deren Existenz sie bisher keinen Gedanken verschwendet hatte, kannten sie und liebten sie!

Dann runzelte sie plötzlich die Stirn. Nein, das galt ja nicht ihr persönlich. Das geschah nur um Roberts willen. Eine Art Gnadengeschenk war diese Liebe, die sie nichts anging, die sie auch nicht wollte.

Und wie diese Frau von Robert gesprochen hatte! Als wäre er ein Gott! Lächerlich alles, albern geradezu war es.

Die Arbeiterfrau – sie hieß, wie Ilse erfuhr, Brigitte Seewinger – hatte das Bestreben, durch Geplauder Ilse die schrecklichen Eindrücke des Unglücks vergessen zu machen, und sprach munter weiter. Sie erzählte von sich und ihrer Familie, daß auch sie erst ein paar Jahre verheiratet sei, zwei Kinder habe – und dazu noch die drei ihres Bruders, der Witwer geworden war – daß ihr Mann so gut sei und der Vater bei ihnen lebe, und daß alle zusammen so glücklich seien, wie sie sich liebhätten, sie und ihr Mann. Dazwischen kam sie immer wieder auf Reinitz zu sprechen, der so gütig zu den Leuten sei und ihnen in allem mit seinem Beispiel vorangehe und es wohl verdient habe, daß er endlich auch ein Heim mit einer so schönen jungen Frau habe.

»Denn etwas muß der Mensch doch haben für seine Mühe und Plage und auch wissen, wofür er sich eigentlich plagt! Mein Konrad sagt immer: wenn ich dich nicht hätte, Brigitte, mich würde bei Gott die Arbeit nimmer freuen! Denn wozu dann?«

Ilse wollte nicht mehr hinhören; es klang alles so banal. Und doch entging ihr kein Wort, und da war etwas, das sie seltsam erregte – der erste Ton aus einer fremden Welt, der unmittelbar zu ihr drang. Aus seiner Welt, für die sie bisher weder Auge noch Ohr gehabt hatte.

Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Robert stürzte herein, bleich wie der Tod.

»Ilse, um Gottes willen, dir ist doch nichts geschehen?« stammelte er.

Sie war erschrocken aufgesprungen, erschrocken über sein verstörtes Aussehen, über die Flamme, die in seinem Blick brannte und heiß zu ihr herüberschlug, so daß ihr Herz jäh zu klopfen begann. Langsam wich sie unter dem Druck eines Angstgefühls zurück, das sie sich nicht erklären konnte.

Robert Reinitz sah nur ihr Zurückweichen. Schlaff sanken die Arme nieder, die sich ihr selbstvergessen entgegengestreckt hatten.

»Verzeih«, sagte er gepreßt, »ich war wie von Sinnen vor Schreck, als ich hörte, was geschehen ist. Ich rief nach meinem Wagen, aber er mußte erst geholt werden. Da bin ich zu Fuß hierhergelaufen – und, gottlob, gottlob, du bist gesund.«

»Aber mir ist ja nichts geschehen«, murmelte Ilse immer noch verwirrt durch ein Gefühl der Schwäche und Unsicherheit, das sie überkam.

Sekundenlang standen sie einander stumm gegenüber, beide verlegen, beide nach Worten suchend, ohne die richtigen zu finden.

Frau Seewinger hatte gleich bei Roberts Eintreten die Stube verlassen, offenbar in der Meinung, daß die beiden allein sein wollten. Aber gerade das erhöhte noch ihre Verwirrung, wenigstens empfand Ilse in diesem Augenblick das Alleinsein mit ihrem Mann zum erstenmal als peinlich.

Sie fuhr sich über die Stirn und versuchte gewaltsam den Bann abzuschütteln, der sie gefangen hielt. ›Wie nervös ich bin!‹ dachte sie ärgerlich.

Und plötzlich sagte sie kurz, wie sie sonst ihre Wünsche zu äußern pflegte:

»Ich will heim!«

Auch Robert hatte sich gefunden.

Höflich und korrekt wie immer bot er ihr den Arm.

»Komm! Ich hoffe, das Auto ist mir inzwischen nachgekommen.«

Es stand wirklich bereits vor der Haustür.

Unterwegs erzählte Ilse ihrem Mann den Hergang des Unglücks. Sie sah nicht, wie blaß er wurde, wie Schreck und Todesangst von neuem ihn zu übermannen drohten. Ihre Gedanken waren mit anderen Dingen beschäftigt, vor allem mit der sonderbaren Entdeckung, daß die gräßlichen Eindrücke merkwürdig rasch in ihr verblaßten vor dem, was nachher gekommen war.

Die Todesgefahr, in der sie sich befunden, selbst der entsetzliche Anblick Machers hatten sie zwar äußerlich für eine Weile gelähmt; in wirklichen inneren Aufruhr aber hatte sie erst Roberts Fassungslosigkeit und vor allem der Blick, mit dem er sie angesehen hatte, dieser Blick, der noch jetzt in ihr brannte, gebracht.

*

Am anderen Morgen – die Blätter hatten natürlich Berichte über das Unglück, dem die schöne Frau Reinitz nur wie durch ein Wunder heil entgangen war, gebracht – fuhr Wagen auf Wagen auf Fichtenegg vor, um sich nach Ilses Befinden zu erkundigen und sie zu beglückwünschen. Die Waldhofer kamen, die Nachbarn aus der Umgebung, alle Bewunderer, Freunde und Bekannten.

Aber niemand wurde vorgelassen. Frau Reinitz sei noch zu angegriffen, um zu empfangen, sagte Frau Koroso, die Wirtschafterin, und dann erzählte sie bereitwillig, was sie selbst über das Unglück gehört hatte. Auch die Waldhofer mußten sich mit Frau Korosos Bericht begnügen.

Ilse lag in ihrem Zimmer auf der Couch, grübelte und fürchtete sich vor ihren eigenen Gedanken, die verworrene Wege wandelten.

Gegen Mittag brachte man ihr abermals ein Glückwunschtelegramm, das dreiundzwanzigste seit dem Morgen. Es war von Erich Leske. Lange Zeit starrte sie darauf nieder. Dann erhob sie sich, setzte die Antwort auf und schickte sie gleich durch den Diener zur Post.

Ilse lud darin Bettina und Erich für den nächsten Tag zum Tee ein.

Das Spiel mit Erich – vielleicht vertrieb das die verworrenen Gedanken.

Leskes erschienen um fünf Uhr. Ilse empfing sie in einem etwas phantastischen Teekleid aus blaßblauer Seide – Pariser Erzeugnis – umgeben von einigen Damen und Herren, die sie als ihren engeren Freundeskreis vorstellte.

In Wirklichkeit schienen diese Leute nur eine Art Hofstaat zu sein, der ihr in übertriebener Weise huldigte.

Von den früheren Bekannten war nur Herr Klüver in diesen Kreis aufgenommen worden; er umschwärmte Ilse genau so wie einst im Waldhof, als sie noch Fräulein Rosner geheißen hatte.

Bettina empfand nach den ersten Minuten ein Unbehagen, das sie vergebens niederzukämpfen versuchte. Diese Damen und Herren in hypermoderner Kleidung, die sich laut und ohne jede Zurückhaltung über die gewagtesten Probleme unterhielten, erschienen ihr auf einmal wie Menschen aus einer anderen Welt.

Eine Frau Meerboom führte zumeist das Wort. Sie war groß und stark, zeigte Spuren einstiger Schönheit in dem schwammig gewordenen und mit starkem Schnurrbartanflug versehenen Gesicht und besaß eine tiefe, fast männliche Stimme. Jeder zweite Satz, den sie sprach, enthielt einen sarkastischen Ausfall gegen alles Männliche, wie denn überhaupt ein männerfeindlicher Ton vorzuherrschen schien. Wie Bettina nachträglich erfuhr, war Frau Meerboom seit Jahren von ihrem Mann, einem Gutsbesitzer, geschieden.

Wenn man diese Frauen reden hörte, begriff man kaum mehr, daß Männer auf Erden noch eine Existenzberechtigung hatten. Denn sie waren nicht nur dumm, träge, gewissenlos und an allem Schlimmen dieser Welt schuld, sondern auch durchaus überflüssig.

Die einzige Rolle, die ihnen diese Frau Meerboom allenfalls noch zugestehen wollte, war die der männlichen Termiten, deren Lebenszweck erfüllt war, wenn sie für die Erhaltung der Gattung gesorgt hatten.

Alles das wurde mit einer so frechen Unverblümtheit erörtert, daß Bettina wiederholt das Blut ins Gesicht stieg.

Ilse, der diese Dinge offenbar nichts Neues waren, saß gelangweilt dabei und spielte mit den funkelnden Ringen an ihren schönen Händen. Gedankenlos schob sie die kostbaren Schmuckstücke auf und nieder.

Sie wurde erst lebhafter, als ein Fräulein Edlach für die Abschaffung der Familie und Einführung der freien Liebe eintrat.

»Wozu überhaupt Liebe?« sagte Ilse Reinitz. »Man schaffe doch mit dem Begriff Familie auch den der Liebe ab! Brauchen wir sie etwa? Dieses Blendwerk behindert ja doch immer und überall nur die Entwicklung der Vernunft.«

Die anwesenden Herren, deren halb belustigte, halb verblüffte Haltung etwas Komisches hatte, sahen sich bei Ilses Worten lächelnd an.

»Ich glaube, damit gehen Sie doch zu weit, gnädige Frau«, sagte der Schriftsteller Paulsen. »Durch Abschaffung der Liebe würden die Frauen sich ja gerade ihres hervorragendsten Machtmittels berauben. Durch nichts beherrschen Frauen uns so sehr wie durch die Liebe. Das müßten Sie selbst doch am besten wissen.«

Ilse blickte aus halbgeschlossenen Augen auf den Sprecher.

»Wer sagt Ihnen, daß ich herrschen will?« fragte sie langsam. »Ich fände es geradezu albern, einen Zustand anzustreben, der zuletzt nur abstoßend auf mich wirken würde. Denn ein Mann, der sich beherrschen läßt, verdient höchstens Verachtung.«

»Oho! Wollen Sie selbst die Beherrschte, Unterjochte sein? Denn zwischen Mann und Weib gibt es nun einmal nur dieses: Herrschen oder Beherrschtwerden!«

»Vielleicht, wenn der Liebe eine Rolle dabei eingeräumt wird. In meinem Leben spielt aber weder Liebe noch der Mann überhaupt eine Rolle.«

Bettina war entsetzt. Seltsame und überspannte Ideen hatte Ilse ja immer verfochten, aber so ungereimtes Zeug hatte sie ihr doch nicht zugetraut. Doch daran war wohl hauptsächlich die Umgebung schuld, die sie um sich geschaffen hatte. Diese Leute waren entschieden alle halb oder ganz verrückt.

›Robert dürfte das nicht dulden‹, dachte sie aufgeregt. ›Der arme Robert, der sie liebt und so unermüdlich arbeitet, damit er ihr jeden Wunsch erfüllen kann.‹

Und dann sagte Bettina mit vor Unwillen zitternder Stimme:

»Wie darfst du so etwas nur aussprechen, Ilse, du, eine jungverheiratete Frau, die den besten Mann der Welt hat! Überhaupt ist das ja alles Unsinn! In einer richtigen Ehe braucht durchaus nicht eines das andere beherrschen. Man hat sich einfach lieb und hält zusammen, und einmal gibt die Frau nach, einmal der Mann, wie es eben kommt. Und glaube mir, für uns Frauen ist es keine Demütigung, sondern Glück, wenn wir nachgeben.«

Tiefe Stille folgte diesen Worten. Die anwesenden Herren sahen Bettina neugierig an wie ein Weltwunder, der Schriftsteller Paulsen lächelte nachsichtig wie zu der naiven Weisheit eines Kindes, und Ilse starrte die Schwester peinlich berührt an. Was fiel Bettina ein, sich so lächerlich zu machen?

Frau Meerboom aber, die sich zuerst von ihrem Staunen über so rückständige und hausbackene Ansichten erholt hatte, sagte mitten in die Stille hinein trocken:

»Prost zu diesem Glück! Und da hatten wir uns eingebildet, die Zeiten des Käthchens von Heilbronn seien vorbei! Man lernt wirklich nie aus!« Sie lachte dröhnend auf.

Bettina sah verlegen und hilfesuchend auf Erich. Würde er denn nicht ihre Partei nehmen, sie gegen diese unbarmherzig spöttischen Blicke verteidigen?

Aber Erich Leske rührte sich nicht, sein Blick hing wie gebannt an Ilse.

Später, während sich eben eine lebhafte Diskussion über die Frage entsponnen hatte, ob man für die Zukunft nicht als Staatsform ernstlich das alte Matriarchat anstreben sollte, das den Mann in die Abhängigkeit von der Frau verweist, gab Ilse Erich und Bettina einen Wink. Sie wollte ihnen die neue, nach ihren Anordnungen geschaffene Inneneinrichtung des Hauses zeigen.

Ein paar ihrer Getreuen, die kein besonderes Interesse an der Diskussion nahmen, schlossen sich an.

Man ging von Raum zu Raum, Ilse an der Spitze. Sie erklärte alles, sprach gelehrt über ästhetische und künstlerische Grundsätze und genoß dabei im stillen den Triumph, ihre Gäste stumm vor Staunen und Bewunderung zu sehen.

Denn was bizarrer Geschmack und ein ans Fabelhafte grenzender Luxus zu schaffen vermögen, war hier an Möbeln und Innendekoration geleistet worden. Überall war das Herkömmliche beinahe ängstlich vermieden. Die Möbelstücke hatten neue, besondere, zum Teil von Ilse selbst erdachte Formen, die Stoffe und Muster Farbenzusammenstellungen ganz besonderer Art.

An zwei Türen wollte Ilse vorbeigehen.

»Hier ist nichts zu sehen«, sagte sie kurz. »Es sind die Zimmer meines Mannes; sie sind so geblieben, wie sein Vater sie einst bewohnt hat.«

Aber jemand öffnete doch die Türen, neugierig blickten alle hinein. Altväterliche Polstermöbel, eine Kommode mit einer Stockuhr unter Glassturz, geschnitzte Bücherschränke, eine altdeutsche Truhe, hochlehnige Stühle um einen ovalen Tisch, und am Fenster neben dem schräg gestellten Schreibtisch ein alter Großvaterstuhl mit Armlehnen und Ohrklappen bildeten die Haupteinrichtungsgegenstände. An den Wänden hingen Familienbilder.

»Ist es möglich, hier wohnt Ihr Mann?« sagte die Dame, die vorwitzig die Türen geöffnet hatte. »Und er hält es aus, diesen muffigen, alten Kram um sich zu sehen? Wie komisch!«

Man lächelte spöttisch und mit deutlicher Geringschätzung.

Ilse errötete und runzelte die Stirn. Es war ihr sichtlich peinlich, daß ihre Gäste die Zimmer gesehen hatten. Doch sie sagte nichts.

Bettina aber schnitt das spöttische Lächeln tief ins Herz, und ein dumpfer Zorn über Ilse stieg in ihr auf.

Wie durfte sie das dulden! Es war doch ihres Mannes Welt, die er liebte und in der er sich wohl fühlte! Außerdem fand Bettina, daß die Stuben anheimelnd und gemütlich waren. Nach ihrem Geschmack weitaus die nettesten Räume des so prunkvollen Hauses.

Die Besichtigung dauerte eine Viertelstunde, dann ging die Gesellschaft ins Teezimmer zurück.

»Da hast du meine Welt gesehen«, sagte Ilse zu ihrem Schwager. »Gefällt sie dir?«

Erich Leske bejahte eifrig.

»Alles ist so originell wie du selber.«

›Und so kalt und so unpersönlich‹, setzte Bettina im stillen hinzu. Voll Mitleid dachte sie an den Mann, der zur selben Zeit wahrscheinlich zwischen surrenden Maschinen oder draußen im Sägewerk stand und neue Arbeitspläne entwarf. Würde er je erreichen, wonach sein Herz sich sehnte? Schwerlich.

Eine Stunde später brach man auf. Robert Reinitz hatte sich nicht blicken lassen.

Während der Wagen mit Leskes durch die kalte Winternacht fuhr, schmiegte sich Bettina fröstelnd an Erich, der stumm und in Gedanken versunken neben ihr saß.

»War es nicht schrecklich, Erich? Diese Menschen und Ansichten – und Ilse, überhaupt alles?«

Erich schüttelte den Kopf.

»Im Gegenteil! Es war sehr interessant und lehrreich. Ich habe mich seit langem nicht so gut unterhalten.«

*

Frau Ludwine hatte ihr Mädchen entlassen und dafür eine Zugehfrau für die Morgenstunden genommen.

Dr. Mattys, der seit dem Tod ihres Mannes, dessen Freund er gewesen war, in Geldsachen ihr Berater war und auch Erichs Vermögen verwaltete, war vor kurzem bei Frau Ludwine gewesen, um ihr ernstliche Vorstellungen zu machen. Denn mit Erich sei ja über diesen Punkt kein vernünftiges Wort zu reden. Er gerate gleich aus dem Häuschen, werde gereizt und habe zuletzt immer nur die eine Antwort: »Ich kann ja nichts dafür, daß ich die Stimme und damit die Aussicht auf sicheren Erwerb verloren habe!«

Als ob ihm das jemand zum Vorwurf machte! Aber daß er monatelang die Zeit vertrödle, in den Tag hineinlebe und keinen ernstlichen Versuch mache, Geld zu verdienen, sei unverantwortlich. Denn die Dinge lägen einfach so: das Leskesche Vermögen, dessen Zinsen eine hübsche Zubuße zu Erichs Gehalt gebildet hatten, sei nahezu aufgebraucht. Seine Ausbildung für die Oper, der kostspielige Aufenthalt in Berlin mit seinem Drum und Dran an Vorbereitungen für die Bühnenlaufbahn, endlich später die noch kostspieligeren Kuren und der Reichenhaller Aufenthalt hatten erschreckend daran gezehrt. Er, Mattys, habe Erich immer gewarnt, so sinnlos drauflos zu wirtschaften und nur einfach vom Kapital zu nehmen, aber er sei nie gehört worden.

Jetzt sei man auf dem Punkt angelangt, wo es eben nicht mehr weitergehe, sollte nicht auch der letzte Rest dahin sein, den man als Notpfennig erhalten müsse.

»Erich muß einen Beruf ergreifen. Er muß sich nach einer Stellung umsehen; vor allem aber muß er trachten, sofort etwas zu verdienen. Es ist einfach unverantwortlich von ihm, das nicht längst selbst begriffen zu haben. Er macht ja auf diese Weise nicht nur sich, sondern auch Frau und Mutter zu Bettlern.«

Frau Ludwine hatte anfangs starr vor Schreck zugehört; denn daß es um ihre Verhältnisse so schlimm stand, ahnte sie nicht. Dann versuchte sie, den Sohn zu verteidigen. »Er ist eben immer ein Künstler gewesen, nie ein trockener Pflichtmensch, der sich von selbst ins Joch spannt. Rechnen liegt ihm nun einmal nicht, und als impulsiver Phantasiemensch sieht er eben alles nur von der rosigen Seite. Und dann diese Heirat! Die ist doch sein schlimmstes Unglück! Aber auf mich, auf seine Mutter, hat er ja nicht gehört! Die glänzendsten Partien hätte er machen und jetzt als reicher Mann leben können! Statt dessen mußte es gerade dieses Mädchen aus kinderreicher Familie sein, das nichts beisteuern konnte.«

Frau Ludwine sprach laut und aufgeregt und vergaß darüber wohl ganz, daß Bettina im Nebenzimmer war.

Bettina hörte jedes Wort und empfand sie wie Dolchstiche. All das hatte die Schwiegermutter ihr ja durch die Blume schon öfter angedeutet; es aber so offen vor einem Dritten ausgesprochen zu hören, tat doch furchtbar weh.

Und sie war allein, immer allein! Keiner begriff die Schwere dieses stumm getragenen Martyriums neben einer solchen Schwiegermutter, am wenigsten Erich, der nur selten zu Hause war, seit Ilse und ihr Kreis, die ihn offenbar für die gute Sache gewinnen wollten, seine Zeit und Gedanken beinahe ganz in Anspruch nahmen.

Fast ständig war er in Fichtenegg, nie hatte er für Bettina Zeit.

Auch Frau Ludwine ärgerte sich darüber und machte in ihrer gereizten Stimmung nach Dr. Mattys Besuch Bettina eine Szene.

»Du bist schuld daran! Warum läßt du ihn hinaus? Deine Schwester ist immer eine überspannte Person gewesen und wird Erich vollends den Kopf verdrehen. Die hat uns gerade noch gefehlt. Überhaupt – was hat er die Tage immer bei ihr zu versitzen, statt etwas Nützliches zu leisten? Er könnte doch Büroarbeit übernehmen oder Stunden geben. Das geht doch nicht, daß nur so weiter in den Tag hineingelebt wird, bis wir alle am Bettelstab sind. Ich begreife nicht, daß du deinem Mann das nicht längst klar gemacht hast!«

Die arme Bettina hätte sich am liebsten aus der Stube geflüchtet vor diesem endlosen Redeschwall. Aber sie sagte nur bescheiden:

»Und warum tust du es nicht selber, Mutter?«

»Ich? Ja, warum denn ich? Er ist dein Mann, und es wäre deine Pflicht! Aber natürlich, dazu bist du viel zu bequem. Alles Unangenehme möchtest du mir zuschieben.«

»Im Gegenteil, ich möchte es dir immer abnehmen, aber du läßt mich ja nicht. Und über diese Sache kann ich nun einmal nicht mit Erich sprechen. Es käme mir gerade von meiner Seite unzart vor, während du als Mutter …«

»Nein, danke, ich lehne das ab.«

Bettina machte verschiedene Vorschläge, wie man den Haushalt vereinfachen und durch Vermieten einiger Zimmer und Beköstigung der Mieter sich Einnahmequellen erschließen könne. Sie erbot sich, alle Arbeit allein zu übernehmen, aber Frau Ludwine lehnte sämtliche Anregungen ab. »Auf eine solche Wirtschaft im Haus lasse ich mich nicht ein«, meinte sie. »Das wäre eine gar zu große Störung unseres bisherigen Lebens und überhaupt: ich als Zimmervermieterin! Wie denkst du dir denn das? Wie stünde ich vor meinen Bekannten da? Nein, das ist unmöglich.«

Immerhin willigte sie endlich ein, wenigstens das Mädchen zu entlassen, wenn Bettina deren Arbeit besorgen wolle. Zum Scheuern und Geschirrwaschen könne man ja eine Zugeherin nehmen.

»Aufräumen, kochen und was es sonst zu tun gibt, fällt dann dir zu, aber die Leitung des Haushalts behalte ich mir selbstverständlich wie bisher vor.«

Bettina fügte sich auch darein, obwohl sie es immer schmerzlich empfunden hatte, daß die Schwiegermutter ihr vom ersten Tag an jedes Hausfrauenrecht verwehrt hatte.

Erich, dessen Gedanken sich ständig mit Ilse beschäftigten, merkte anfangs den Wechsel in der häuslichen Einteilung gar nicht.

Erst am dritten Tag fiel es ihm auf, daß Bettina selbst ihm Kleider und Schuhe brachte, und er fragte zerstreut, wo denn eigentlich Therese immer stecke. Da sagte sie es ihm.

Betroffen starrte er sie an.

»Therese entlassen? Aber warum denn?«

Bettina erklärte es so schonend wie möglich. »Wir müssen sparen, Dr. Mattys meint, wir hätten schon ein bißchen zu viel vom Kapital verbraucht.«

Erich wurde rot vor Ärger.

»Dieser Mattys! Diese Krämerseele! Immer kommt er mit solchen Geschichten! Jetzt steckt er sich gar hinter euch! Ich soll wohl Kanzleischreiber oder dergleichen werden? Aber dazu werdet ihr mich nicht bringen, das sage ich dir gleich!«

Bettina nahm allen Mut zusammen.

»Daran denkt doch auch niemand, Erich. Aber es gibt ja noch andere Berufe …«

»Natürlich – man kann auch Millionär sein, wie dieser vortreffliche Reinitz, den du so hoch achtest, nur daß ich leider nicht so klug in der Wahl meiner Eltern war wie er.«

Sein Hohn reizte Bettina und ließ sie ihre Ängstlichkeit vergessen.

»Du vergißt, daß Robert noch kein Millionär war, als seine Eltern starben! Er ist es durch Fleiß und Tüchtigkeit geworden.«

Erich warf die Hausschuhe, die er eben ausgezogen hatte, zornig in die Ecke.

»Danke für die Belehrung. Das soll wohl heißen, daß mir diese Eigenschaften fehlen?«

»Aber, Erich …«

»Schon gut. Ich weiß ja, welche Meinung ihr alle von mir habt. Möchtest du mir übrigens nicht lieber sagen, wie ich eigentlich das Geld verdienen soll, auf das ihr alle so aus seid?«

Bettina, die an das Drängen ihrer Schwiegermutter dachte, murmelte:

»Ich weiß es nicht. Aber wenn du vielleicht, bis sich eine passende Stellung findet, deine großen musikalischen Kenntnisse verwerten und Stunden geben wolltest?«

Sie verstummte erschrocken. Erich war in gellendes Hohngelächter ausgebrochen.

»Stunden geben! Einen Klavierlehrer willst du aus mir machen? Aus mir! Das ist ja großartig!«

Er hob den Stuhl auf, vor dem er stand, und stieß ihn mit einem Fluch so heftig auf den Boden zurück, daß er in allen Fugen krachte. Dann rannte er wie besessen im Zimmer hin und her.

»Das mir! Das mir! Klavierlehrer! Warum nicht gleich Klavierspieler in einer Jazzkapelle? Das wäre vielleicht doch noch angenehmer, als die Lausbuben irgendeines reichen Fleischer- oder Bäckermeisters zu unterrichten!«

Plötzlich blieb er vor Bettina stehen und sah sie mit zornfunkelnden Augen an.

»So also wertest du mich? Das ist deine sogenannte Liebe? Dem anderen würdest du so etwas nie zuzumuten wagen, aber für mich natürlich wäre so ein Broterwerb gut genug! Ich danke dir!«

Ohne der erschreckten Bettina Zeit zu einer Antwort zu lassen, rannte er hinaus.

Totenblaß starrte sie ihm nach. So hatte sie ihn noch nie gesehen.

Es war ein schlimmer Tag, auch für Erich Leske. Denn als er, noch voll Wut und Bitterkeit, nach Fichtenegg kam, um in Ilses Gesellschaft zu vergessen, erhielt er den Bescheid, Frau Reinitz sei nicht daheim, man erwarte sie erst am Abend zurück. Wohin sie gegangen sei? Die Dienerschaft wußte es nicht. Herr Reinitz sei gestern für ein paar Tage verreist, und die gnädige Frau habe heute morgen im Wanderkleid das Haus mit dem Bemerken verlassen, daß sie wahrscheinlich erst abends heimkommen werde.

»Ich vermute, sie macht einen Ausflug, weil das Wetter so schön und frühlingsmäßig warm ist«, meinte Frau Koroso.

Einen Ausflug? Ilse? Und allein? Es schien Erich Leske kaum glaublich. Sie machte sich doch nichts aus der Natur.

Verstimmt entfernte er sich. Was tun? Zur Stadt zurück? Dazu hatte er keine Lust. Auf den Waldhof wäre er gern gegangen, ja, er sehnte sich ordentlich danach, wieder einmal ein paar Stunden in dem schönen, alten Park zu verbringen und hinauf in den prachtvollen Hochwald zu steigen, der so still und weltenfern lag wie ein Fleckchen Paradies.

Aber auch das ging nicht. Bettina ging jeden Nachmittag zu den Eltern, und er war so zornig auf sie, daß er durchaus nicht so bald mit ihr zusammentreffen wollte.

Endlich kam ihm ein guter Einfall.

Er könnte den Waldweg hinter Fichtenegg hinauf zur Höhe gehen, am Kamm des Mitterbergs fort bis Einöd, einem kleinen Gebirgsdorf, wandern und dort beim Mooswirt zu Mittag essen. Ging man dann von Einöd abwärts, erreichte man in einer halben Stunde die obere Grenze des Waldes über dem Waldhof.

So vermochte er seinen Wunsch auszuführen, ein paar Stunden dort zu verträumen, ohne den Waldhof zu berühren. Als Rückweg würde er den Jägersteig benützen, der an der Berglehne zur Reinitzschen Försterei und über das Sägewerk zur Straße führte. Der Weg war weit, aber da er meist durch Hochwald führte und schöne Ausblicke bot, auch sehr lohnend.

Er wollte Bettina für ihre Lieblosigkeit strafen, indem er den ganzen Tag von daheim fortblieb.

Erich Leske mußte immer an sie denken, während er durch den sonnendurchleuchteten Wald aufwärts stieg. Der ungewöhnlich frühe Eintritt des Frühjahrs, das seit Wochen warme Tage und Sonnenschein brachte, hatte bereits überall eine üppige Vegetation hervorgerufen. Ein bunter Blumenteppich aus Anemonen, Lerchensporn und Huflattich bedeckte den Boden. Seidelbast und Palmkätzchen blühten, die Nadelbäume setzten junge Triebe an, und der Weißdorn stand in zartem Blütenschnee. Da und dort stürzten zwischen grünen Moospolstern sprudelnde Wässerlein aufgeregt zu Tal.

Wie Bettina das alles entzücken würde! Im vergangenen Jahr waren sie manchmal als Brautpaar mit den Geschwistern in die Berge gewandert, und Bettina war nicht müde geworden, ihn auf jede Kleinigkeit aufmerksam zu machen. Damals hatte ihre Begeisterung ihn gelangweilt, und nur halb widerwillig, halb zerstreut hatte er ihrem Geplauder zugehört.

Heute sehnte er sich danach. Er war kein Mensch, der allein genießen konnte. In Freude oder Schmerz brauchte er immer jemand neben sich, und Bettina hatte sich ihm so angepaßt wie niemand sonst.

Überhaupt kam es ihm in der ungestörten Einsamkeit des Nachdenkens zum Bewußtsein, wie warm ihn Bettinas Liebe umfing, ohne je etwas zu fordern.

Damals in Berlin, als er krank lag, und später in der schrecklichen Zeit nach dem Verlust seiner Stimme, wie geduldig und verständnisvoll hatte sie das alles mit ihm getragen!

Niemand sonst, nicht einmal die Mutter, hatte so mit ihm gefühlt.

Unausdenkbar wäre es, das Leben, wie es nun einmal für ihn geworden war, ohne Bettina zu ertragen. Staunend erkannte er es plötzlich.

*

Ilse hatte keinen Ausflug gemacht, wie Frau Koroso vermutete. Tief drin im Wildgraben saß sie in einem kleinen Haus am Bett einer kranken Frau und wiegte deren Kind. Ab und zu stand sie auf und ging in die winzige Küche hinaus, um nach dem Feuer zu sehen, an dem in ein paar Töpfen das Essen der Hausbewohner brodelte.

Das war so gekommen: Seit dem Autounglück hatte eine innere Unrast Ilse erfaßt, die sie nicht loswerden konnte. Sie hielt es nicht mehr aus, stundenlang in ihrem Zimmer auf der Couch zu liegen und ihren Gedanken nachzuhängen. Denn diese Gedanken bewegten sich nicht mehr in dem ruhigen Bett kühler, selbstsicherer Vernunft, sondern schossen verworren und aufgeregt dahin wie ein überschäumender Wildbach, der sich in tausend Rinnsalen neue Wege sucht.

Sie fühlte, daß irgend etwas in ihrem Inneren aus dem Gleichgewicht geraten war, und nun wankte der ganze Bau.

›Es sind ganz einfach die Nerven, die einen tüchtigen Stoß bekommen haben und sich erst wieder beruhigen müssen‹, dachte sie.

Und da die Tage so schön wie selten um diese Jahreszeit waren, beschloß Ilse, sich ausgiebig Bewegung im Freien zu machen, damit sie wenigstens nachts wieder schlafen könnte.

Zu diesem Zweck hatte sie tags zuvor einen Spaziergang in den Wildgraben gemacht, wo sie seit ihrer Kinderzeit nicht mehr gewesen war. Dabei konnte sie sich auch gleich das große Sägewerk und die Stauanlagen ansehen, die Robert angelegt und von denen sie schon so viel gehört hatte. Denn eigentlich war es doch ein bißchen merkwürdig, daß nur sie keine seiner Unternehmungen kannte, obwohl sie seine Frau war, während Fremde aus weiter Ferne neugierig herbeireisten und alles besichtigten. Sogar aus dem Ausland waren, wie Ilses Brüder neulich erst erwähnt hatten, Leute eingetroffen, um die Reinitzschen Anlagen, die als vorbildlich galten, kennenzulernen.

Ilse machte sich gleich nach dem Frühstück auf den Weg. Da es nur ein kleiner Umweg und Reinitz, wie sie wußte, an diesem Tag in die Stadt gefahren war, von wo er erst am Abend zurückkehren wollte, ging sie zuerst in die Autofabrik.

Das Werk, in großem Stil angelegt, bestand aus mehreren Gebäuden. Es gab eine Kraftstation, eine Schlosserwerkstätte, Schmiede, Gerberei, Tischlerei, Kesselhaus, Räume, in denen Tapezierer die Innenausstattung der Karosserien besorgten, einen Versuchshof, in dem die fertigen Wagen ausprobiert wurden, ehe man sie ihre eigentliche Probefahrt in schwierigem Gelände antreten ließ, und endlich eine Riesengarage mit Glasdach, die wie eine Ausstellungshalle aussah.

Überall wurde fleißig geschafft. Hunderte von Arbeitern klopften, hämmerten, nagelten, bedienten Maschinen und liefen eilfertig zwischen den Gebäuden hin und her.

Ilse sprach niemand an und erwiderte die Grüße, die man an sie richtete, mit stummem Kopfnicken. Sie tat, als sei sie nur zufällig hergeraten, und benütze die Fabrik als Durchgang. Die kühle Unnahbarkeit, die sie um ihre Person zu verbreiten wußte, verhinderte auch die Beamten, sich ihr zu nähern, obwohl jeder einzelne sich gern als Führer angeboten oder nach ihren Wünschen gefragt hätte.

Alle blickten ihr heimlich verwundert und entzückt nach, entzückt von ihrer blendenden Schönheit, verwundert, daß sie hier erschien.

Was suchte sie in der Fabrik, wo es nach Schmieröl und Benzin roch? Ihren Mann? Wußte sie nicht, daß er heute nicht im Werk war und sonst um diese Stunde im Verwaltungsgebäude in seinem Büro arbeitete?

Ilse kümmerte sich weder um die Blicke der Leute noch um den Teer- und Schmierölgeruch. Sie merkte beides kaum. Sie staunte. So viele Leute beschäftigte Robert! Und diesen ganzen Riesenbetrieb leitete er selber, konnte das alles übersehen und verstehen! Fand er sich in diesem summenden Bienenschwarm zurecht?

Es war eine andere Welt, seine Welt, die Welt der Arbeit.

Sie konnte es nicht recht begreifen. Ihr brummte der Kopf beim bloßen Durchgehen, und sie atmete erleichtert auf, als sie endlich den stillen Waldweg am Eingang des Wildgrabens betrat.

Dieser Weg war einst, da sie ihn als Kind zum letztenmal gegangen war, nur ein holpriger Fußsteig gewesen, der parallel mit der ebenso holprigen, schmalen Straße neben dem schäumenden ungezügelten Wildbach dahinführte.

Der Graben, bald schluchtartig eng, bald breit und offen wie ein Tal, zog sich sanft aufwärts bis zu einem kleinen, sumpfigen Bergsee inmitten endloser Wälder.

Ab und zu gab es einen armseligen kleinen Bauernhof – hoch oben an den Berghängen, denn unten überschwemmten die Wildwasser im Frühjahr alles – ein paar kümmerliche Felder und magere Wiesen. Die Straße war einsam; nur selten, meist nur zur Erntezeit, begegnete man bäuerlichen Fahrzeugen. Der ganze Wildgraben war vergessenes Land.

So wenigstens hatte Ilse ihn aus der Zeit in der Erinnerung, da die Waldhofer Kinder alljährlich einmal im Sommer einen Ausflug zu dem verlassenen Bergsee machten, um Seerosen zu holen.

Heute war alles so verändert, daß sie sich kaum mehr zurechtfand.

Der holprige Steig war ein wohlgepflegter Spazierweg geworden, die Straße war breit, glatt wie ein Tisch und belebt von Fuhrwerken und Menschen, der einst schäumende Wildbach aber floß ruhig im tiefen Bett dahin.

Statt der düsteren Wälder, die sich früher bis an seine Ufer herangezogen hatten, grünten Wiesen und Felder an den Berghängen, und zahlreiche saubere Häuschen lugten zwischen jungen Obstgärten hervor. Erst ein Stück über ihnen begann der Wald wieder, und unten an der Straße hatte man ihn wie ein Gürtelband stehen lassen. In der Mitte des Tales lag an seiner breitesten Stelle ein neues kleines Dorf mit einem sauberen Kirchlein in der Mitte und einem Sägewerk dahinter.

Auch dieses war großzügig angelegt, auch hier wimmelte es von geschäftigen Menschen, Fuhrwerken und Lastautos zum Abtransport des Holzes, das als Balken, Bretter, Latten und Brennholz in unabsehbaren Mengen aufgestapelt war. Aus einem großen, schuppenartigen Gebäude kam das Geräusch der Gattersägen, das Zischen des Dampfes, das Raspeln des Holzes, das hier wie Brot zerschnitten wurde.

Auf hohen Gestellen war aus Baumstämmen eine Rinne errichtet, die sich hoch in der Luft endlos weiterzog, dem Ende des Grabens zu, dorthin, wo die Riesenwälder begannen. In dieser Rinne wurden unter Ausnutzung des natürlichen Gefälles die geschlagenen Bäume zu Tal gefördert.

Gleich hinter dem Sägewerk begann eine große Schleusenanlage mit Stauvorrichtungen, die sich durch den immer einsamer werdenden Graben fortzogen bis zu dem Bergsee, der nun klar wie ein Spiegel, von Dämmen umgeben, vor Ilse lag.

Bis auf die Schleusenanlage, die hier ihren Anfang hatte, war an diesem Ort alles geblieben, wie es einst gewesen war. Sogar das kleine Häuschen des Teichwärters stand noch am selben Fleck, nur hatte es statt des Strohdachs ein Ziegeldach bekommen.

Ilse ließ sich nahebei auf einen Baumstumpf nieder und blickte nachdenklich in den so veränderten Wildgraben hinunter, den man von diesem Platz aus fast ganz überblicken konnte.

Hatte Robert wirklich auch diesen blühenden Wohlstand geschaffen? Das grenzte ans Wunderbare, wenn man bedachte, wie armselig, verlassen und einsam dieser Winkel Wildnis noch vor zehn Jahren gewesen war.

Seine Worte fielen ihr ein: »Ich will diesen schlafenden Erdenwinkel aufwecken und dem Tal seine vergessenen Schätze abringen. Geldquellen, die der einzelne erschließt, kommen der Allgemeinheit zugute.«

Jetzt, da sie zum erstenmal einen Blick auf die Taten geworfen, in die er seine Worte umgesetzt hatte, errötete sie bei der Erinnerung an jenes Gespräch.

Wie albern und kindisch mußten ihre Einwürfe ihm damals erschienen sein! Wie unbedeutend das, was sie ihre Welt nannte.

Sie durfte sich nicht wundern, daß er kalt an ihr vorüberging, als wäre sie nicht vorhanden in seinem Leben oder höchstens ein Ziergegenstand, den man gelegentlich besieht und in der nächsten Minute vergessen hat.

Während sie in ihrem Zimmer die Zeit verträumte, stand er fern von ihr draußen im Pulsschlag des Lebens und setzte die Räder der Zeit durch seine schaffenden Hände in Bewegung – ein König in seiner Welt!

Dumpfer Ärger erfaßte sie. Warum hatte er ihr nie von seinen Werken erzählt, nie von seinen Plänen zu ihr gesprochen? Er glaubte wohl, daß sie nicht fähig gewesen wäre, dergleichen zu begreifen.

Ihm Freundin und ein guter Kamerad zu sein, war sie ja bereit gewesen. Hätte er ihr damals auf der Hochzeitsreise nicht gesagt, daß er sie liebe, wäre sie ihm unbefangen herzlich wie eine Freundin begegnet.

Aber dieses Wort hatte damals alles verdorben, denn es zwang sie nachher, ihm so kalt und abweisend wie möglich zu begegnen, damit er sich nicht unnützen Erwartungen hingebe.

›Er aber ist ein Mann‹, dachte sie bitter, ›und die Männer suchen in uns immer nur das Weibchen! Wollen wir das nicht sein, verlieren wir jedes Interesse in ihren Augen.‹

Und sie haßte plötzlich alles Männliche, Robert am meisten.

Frau Meerboom hatte recht: es ist der niedrige Zug des Geschlechts im Mann, der ihn der Frau entfremden muß, weil sie spürt, daß er sie entwürdigen will. Er will ihr die Persönlichkeit rauben, um eine Sache aus ihr zu machen.

Das leise, klägliche Weinen eines Kindes riß Ilse aus diesen Gedanken. Es klang so jämmerlich wimmernd, daß es ihre ohnehin erregten Nerven förmlich peinigte.

Sie erhob sich, um fortzugehen. Aber nach ein paar Schritten blieb sie stehen. Es war eigentlich albern – denn was gingen sie fremde heulende Kinder an? Doch der Gedanke quälte sie, daß das Kleine vielleicht vor Hunger weinte und niemand bei ihm wäre.

Das Gejammer konnte nur aus dem Häuschen drüben kommen, dessen Fenster und Tür geschlossen waren. Unschlüssig blieb Ilse noch eine Weile stehen; da aber das klägliche Weinen nicht verstummte, näherte sie sich endlich der Haustür und versuchte, sie zu öffnen.

Die Tür war nicht verschlossen und gab dem ersten Druck nach. Ilse trat in eine kleine Küche, die leer war. Durch eine offenstehende Tür sah sie in der anstoßenden Stube neben einer Wiege, aus der das Weinen kam, eine junge Frau regungslos am Boden liegen. Offenbar war die Frau ohnmächtig.

Erschrocken und ratlos starrte Ilse auf sie nieder. Was tun – Hilfe holen? Aber bis zum Sägewerk war es eine halbe Stunde.

Da beugte sie sich entschlossen nieder, schob ein Kissen aus dem nebenstehenden Bett unter den Kopf der Ohnmächtigen und holte aus der Küche Wasser, mit dem sie die Stirn der Frau benetzte. Dann rieb sie ihr die Hände. Sie tat alles mit einem Gefühl von Widerwillen und Ekel, denn es war ihr gräßlich, fremde Menschen zu berühren.

Aber sie dachte: ›Ich muß ja! Was bleibt mir übrig, da ich nun einmal hereingegangen bin?‹

Und mit einemmal war alles vergessen: die Frau am Boden hatte unter ihren Händen die Augen aufgeschlagen – wunderbar klare blaue Augen, die sie erstaunt und dankbar ansahen.

»Ich danke Ihnen – wer sind Sie, und was ist mit mir geschehen?« murmelte sie schwach, während sie sich mit Ilses Hilfe aufrichtete.

Ilse ließ die Frage nach ihrer Person unbeantwortet und erklärte ihr Hiersein.

»Übrigens ist das Kind seit meinem Eintreten still«, schloß sie befriedigt. »Sie sind wohl die Mutter?«

»Ja. Es ist mein erstes Kind und erst vier Wochen alt, das arme Würmchen! Ich wollte ihm gerade zu trinken geben, da ist mir so sonderbar geworden, alles hat sich um mich gedreht.«

»Aber jetzt ist Ihnen besser, nicht wahr?«

»Ja, ganz gut, nur bin ich noch müde. So müde. Der Doktor sagt, ich müßte mich noch schonen, viel im Bett liegen, denn ich hab's schwer gehabt, als der Kleine kam. Aber wie kann ich mich denn schonen? Die Männer müssen doch ihr Essen haben, wenn sie heimkommen. Und der Kleine gibt auch viel Arbeit – ich habe ihn an der Brust, das nimmt viel Kraft.«

Sie sprach noch matt mit leiser Stimme.

In Ilse stieg ein aus Ärger und Mitleid gemischtes Gefühl auf. Die Frau tat ihr leid, aber was brauchte sie sich um die Männer zu scheren? Mochten sie doch selber für ihr Essen sorgen! Sie sprach es aus.

Die junge Frau blickte sie erstaunt an.

»Aber es ist doch mein Mann und sein Vater! Und der Mann ist die Güte selber, und wir haben uns doch lieb! Er wäre außer sich, wenn er wüßte, daß ich mich noch so schwach fühle. Nein, er darf es nicht wissen, ihn darf ich davon nichts merken lassen. Bitte sagen Sie ihm ja nichts, wie Sie mich gefunden haben. Es ist auch schon vorbei. Und jetzt will ich rasch das Essen fertigmachen, solange der Kleine schläft, damit die Männer nicht warten müssen, wenn sie kommen. Sie arbeiten schwer genug unten im Sägewerk und verdienen sich die paar Bissen redlich.«

Sie wollte sich erheben, aber Ilse drückte sie energisch auf die Bank zurück.

»Was fällt Ihnen ein! Ins Bett werden Sie gehen und hübsch ruhig liegenbleiben, verstanden?«

Die Frau machte Einwendungen. »Das geht doch nicht, gnädiges Fräulein. Die Männer werden hungrig sein, wenn sie kommen, und ich habe ja niemand, den ich bitten kann, meine Arbeit zu tun. Denn Nachbarn gibt es hier nicht. Wir sind das letzte Haus im Wildgraben.«

»Dann werde in Gottes Namen ich es probieren«, sagte Ilse stirnrunzelnd. »Aber dafür müssen Sie gleich ins Bett. Sie können mir dann sagen, was zu tun ist.«

»Aber nein, das gnädige Fräulein wird doch nicht – wie dürfte ich …«

»Reden Sie nicht so viel, sondern folgen Sie lieber!« Ilse war freundlich und bestimmt.

Fünf Minuten später lag die Frau – sie hieß Anna Schaupp – im Bett, und Ilse bemühte sich, nach ihren Anweisungen das erloschene Feuer wieder in Brand zu setzen, rückte die Töpfe zurecht, quirlte Mehl in die Kartoffelsuppe und rührte Speck unter die Bohnen.

Als der Kleine dann wieder zu schreien anfing, nahm sie ihn aus der Wiege, reichte ihn der Mutter und sah aufmerksam zu, wie diese ihn in frische Windeln legte und dann an die Brust nahm, um ihn trinken zu lassen.

Wunderliche Empfindungen durchströmten Ilse, als sie das rosige kleine Körperchen mit ängstlicher Behutsamkeit wieder in die Wiege zurücklegte.

Als sie eine halbe Stunde später das Häuschen verließ, hatte sie ein frohes Gefühl wie nie zuvor im Leben. An diesem Vormittag hatte sie sich nicht gelangweilt, und zum erstenmal empfand sie das Gefühl tödlicher Leere nicht mehr.

So war es gekommen, daß Ilse Reinitz wieder in Frau Schaupps Stube saß, den kleinen Karl wiegte und in der Küche zum Rechten sah. Denn sie hatte der Frau gestern erklärt, so lange wiederkommen zu wollen, bis Frau Anna sich ganz erholt habe und gekräftigt sei, doch müsse sie auch versprechen, im Bett zu bleiben und sich zu pflegen.

Um dieses zu ermöglichen, hatte Ilse Frau Anna nicht nur reichlich mit Geld versehen, sondern ihr auch allerlei gute Dinge mitgebracht, wie Schokolade, eine Flasche Rotwein, Kuchen, kaltes Huhn und verschiedenes andere noch.

Frau Schaupp schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als Ilse die Herrlichkeiten vor ihr auspackte, langte aber dann gern und dankbar zu.

»Für das Kind! Was ich esse, kommt ja auch ihm zugute.«

Ilse machte das kleine Abenteuer Freude. Man hatte im Teichwächterhäuschen keine Ahnung, wer sie war. Frau Schaupp hielt sie für ein junges Mädchen, deren Eltern irgendwo im Tal draußen einen Besitz hatten, und Ilse ließ sie bei dem Glauben. Da sie als Roberts Frau nie im Wildgraben gewesen war, sich auch nie in seiner Gesellschaft befand, wenn er ins Sägewerk kam, war sie hier nicht bekannt.

Manchmal, wenn sie Holz im Ofen draußen nachlegte oder mit ihren schönen, gepflegten Händen, an deren Fingern kostbare Juwelen funkelten, das derbe Essen für die abwesenden Männer bereitete, mußte sie belustigt vor sich hinlächeln.

Wenn jemand aus ihrem Bekanntenkreis, wenn vor allem Robert sie sehen könnte! Was für Gesichter die wohl machen würden?

Die Arbeiten, die sie freiwillig auf sich genommen – sie, die bisher nie einen Finger für andere gerührt hatte – fielen ihr nicht schwer. Im Gegenteil, es war etwas Neues, das sie mit seltsamer Genugtuung erfüllte und ihre Gedanken beschäftigte. Jedenfalls hatte sie sich noch keinen Augenblick in ihr Zimmer zurückgesehnt.

Und der kleine Bub war so süß mit seinen winzigen Händchen und dem runden, rosigen Köpfchen!

Wenn Ilse ihn im Arm hielt, überfiel sie eine Fülle unklarer, niegekannter Gefühle: Angst, ihn fallen zu lassen, Zärtlichkeit, unbestimmte Sehnsucht.

Und die Stube war so nett und anheimelnd gemütlich! Ilse hätte nie gedacht, daß man sich in einem so kleinen Raum so behaglich fühlen könnte. Sie fand auch, daß Frau Anna nett plaudern konnte, und hörte mit großem Interesse allem zu, was die junge, harmlose und redselige Frau ihr erzählte, obgleich deren Erlebnisse durchaus alltäglicher Natur waren. Aber sie waren so eng verflochten mit dem Aufschwung des Wildgrabens unter Roberts schaffender Tätigkeit, daß sein Name sich wie ein Faden durch Frau Annas Geplauder zog.

*

Das Essen war vorbei, die beiden Männer wieder zur Arbeit gegangen, der Kleine schlief. Ilse saß am Bett der jungen Frau, die eben erzählte, wie schlecht es früher den Leuten hier im Wildgraben gegangen sei, ehe der Bach reguliert und das Sägewerk in Betrieb genommen worden war. Alle Jahre war ein paarmal Hochwasser eingetreten, und der Boden an den Berglehnen war so mager und steinig gewesen, daß man trotz schwerer Arbeit kaum das bißchen tägliche Brot herausschlagen konnte. Zu allem andern hatte der viele Wald ringsum die Sonne abgehalten und alles feucht gemacht.

Frau Anna erinnerte sich dessen noch gut, denn ihr Vaterhaus hatte auch an einem solchen steilen Berghang gestanden, an dem es nichts als Schatten und Steine gab. Herr Reinitz hatte es ihnen dann abgekauft, jetzt wohnten Arbeiter aus dem Sägewerk drin. Aber der Wald war geschlagen, und nun gedieh dort alles prächtig im Sonnenlicht. Leider hatten es die Ihren nicht miterlebt, wie anders und wieviel schöner alles geworden war. Denn die Eltern waren längst gestorben, und sie selber war zu Verwandten in Dienst gegangen. Von dort hatte ihr jetziger Mann sie in dieses kleine Haus geholt, das sie gleich liebgewonnen.

»Ist Ihr Mann auch hier im Wildgraben geboren?« fragte Ilse.

»Nein, auf Fichtenegg. Sein Vater war nämlich als junger Mensch Kutscher beim alten Herrn Reinitz und hat dort eine Küchenmagd geheiratet. Aber bald nachdem mein Karl geboren war, ist Herr Reinitz gestorben, und da hat ihm der junge Herr die Stelle als Teichwächter gegeben.«

»Ich denke, Ihr Schwiegervater arbeitet auch im Sägewerk?«

»Ja. Das heißt, er ist Aufseher unten für die Schleusen. Denn hier oben am Teich ist für gewöhnlich nicht viel zu tun. Bloß im Frühjahr, zur Zeit der Schneeschmelze in den Bergen, muß er ein paar Wochen daheim sein und hier an den Dämmen zum Rechten sehen. Sonst genügt es, wenn er abends einen Rundgang macht, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist.«

»Was war denn der alte Reinitz für ein Mensch?«

»Ein sehr netter, stiller Mann, der niemand unrecht tat. Aber der Sohn ist uns allen noch viel lieber.«

»Warum?«

»Weil er gar nicht stolz ist und weil er noch viel besser für die Leute sorgt als sein Vater. Der Alte war nur für seine Kalköfen und wollte von Neuerungen nicht viel wissen. Der Junge aber hat den Kopf immer voll Pläne, und alles muß nach dem neuesten Stand der Technik großartig ausgeführt werden. Das bringt Geld unter die Leute, so daß jetzt jeder, der bei ihm arbeitet, sein schönes Auskommen hat. Soeben baut er wieder etwas Neues droben im Kiefertal, wo die Kalte Rinn und der Geierbach entspringen.«

»Was soll es werden?«

»Ja, ganz genau weiß ich's selber nicht. Es sind ein paar Wasserfälle oben im Kiefertal, die sollen nutzbar gemacht werden. Mein Mann sagt, Herr Reinitz will ein Kraftwerk bauen und dann eine Papierfabrik ganz mit elektrischem Antrieb im Tal drunten errichten.«

Ilse blickte stumm vor sich hin.

Wieder etwas Neues also. Gab es denn nie eine Rast für ihn?

Plötzlich stieg eine unruhige Angst in ihr auf. Das war einfach zu viel! Er würde alle diese beständig wachsenden und sich vergrößernden Betriebe einmal nicht mehr überblicken können.

»Eines begreife ich nicht«, fuhr inzwischen die junge Arbeiterfrau fort, »woher er bloß die Zeit nimmt, jetzt, wo er doch jung verheiratet ist. So junge Eheleute haben doch sonst mit sich selber zu tun! Du lieber Gott, man will doch schwatzen miteinander und mal spazierengehen oder ein bißchen was mitmachen. Später, wenn erst die Kinder da sind, kommt man eh nicht mehr weg vom Haus. Also, denke ich, wie macht das der Herr Reinitz bloß, daß er so viel arbeitet und denkt und doch auch die Frau nicht darüber vernachlässigt? Denn das tät mir arg leid um sie. Sie hat ein so gutes, sanftes Gesicht.«

»Ja, kennen Sie denn –«

»Herrn Reinitz' Frau? Na, sicher. Ich habe sie doch schon ein paarmal mit ihm gesehen. Einmal, als er ihr das Sägewerk unten in Wildau gezeigt hat – da war ich grad beim Kaufmann Bauer im Laden, wie sie vorübergegangen sind, und einmal waren sie hier oben am Teich. Dann einmal im Winter, wo sie in Gesellschaft von jungen Leuten eine Schlittenpartie herein in den Graben gemacht haben.«

Keines Wortes mächtig, starrte Ilse die Sprecherin an, während ihr Herz, sie begriff selbst nicht warum, plötzlich wie ein Hammer in der Brust schlug.

»Wie sieht sie denn aus?« fragte sie endlich nach einer Pause mit Anstrengung.

»O, sie ist sehr hübsch und vornehm: braunes Haar und ein paar wunderschöne blaue Augen, die ganz die Farbe des Bergenzians haben. Das letztemal, im Winter, hat sie besonders hübsch ausgesehen in ihrem langen Pelzmantel. Ich habe grad noch gesehen, wie er darüber eine Decke um sie gelegt hatte, die etwas herabgeglitten war, und da merkt man wohl aus seiner ganzen Art, daß er sie liebhat.«

Ilse erhob sich; sie war blaß geworden, und die Stube erschien ihr plötzlich eng, dumpf und luftleer.

»Sie wollen schon fort?« fragte Anna Schaupp erschrocken.

»Ja, ich muß wohl. Es ist schon spät, ich habe weit heim. Morgen komme ich wieder.«

Hastig hatte sie Hut und Jacke genommen und war zur Tür hinaus, ehe Frau Schaupp sich noch recht verabschieden konnte.

Draußen atmete Ilse tief auf, als sei sie am Ersticken gewesen.

Sie fuhr sich über die Stirn.

Nach der Beschreibung Frau Annas konnte es nur Bettina gewesen sein. Die Schwester hielt man hier für seine Frau! Diese Wahrheit schmerzte Ilse.

In Gedanken verloren ging sie dem Sägewerk zu. Aber schon nach ein paar Minuten bog sie vom Weg ab und setzte sich auf einen vermoderten Baumstamm, der zwischen den jungen Fichten lag.

Sie fühlte sich mit einemmal schwach und müde. Die Gedanken in ihrem Kopf kreisten wie ein Mühlrad. Sie mußte sich erst fassen, ehe sie unter Leute kam.

Bettina und Robert!

Es war aber doch nicht möglich! So schlecht konnten die beiden doch nicht sein? Und doch – wenn sie zurückdachte an Bettinas ersten Besuch auf Fichtenegg – wie da seine Augen vor Freude gestrahlt hatten und wie er nachher das Essen verschob, nur um Bettina noch zur Stadt begleiten zu können.

Aber er hatte doch behauptet, sie, Ilse, zu lieben?

Da hörte sie wieder die Worte, die Robert damals auf der Hochzeitsreise gesprochen hatte, als sie ihm erklärte, sie werde diese Liebe nie erwidern.

»Dann werde ich mich mit der Tatsache abfinden. Und vielleicht ist inzwischen die Sehnsucht verglüht. Auch das kommt vor: daß Wünsche von selber sterben.«

Nun war es also geschehen. Die Sehnsucht war verglüht, die Wünsche waren gestorben. Oder vielmehr, sie galten einer anderen.

Bettina, ihrer Schwester!

Ilse begriff nicht, warum diese Entdeckung sie so aufregte. Sie empfand nur, daß ein dumpfer, schneidender Schmerz sie durchwühlte.

Oder war es Zorn?

*

Bettina war an diesem Nachmittag wie gewöhnlich auf den Waldhof gekommen. Aber alle merkten es ihr gleich an, daß sie anders war als sonst. Ein schmerzlicher Zug lag um ihren Mund, die blauen Augen blickten trüb vor sich hin.

Doch weder die Eltern noch die Geschwister stellten eine Frage. Sie ahnten längst, daß ihre Ehe nicht leicht war, und vermuteten ein Zerwürfnis mit Erich.

»Dieser aufgeblasene Affe!« sagte Gina draußen. »Ich wollte, wir könnten ihm einmal einen zünftigen Streich spielen! Jeden Tag hockt er bei Ilse und himmelt sie an, als wäre sie Wunder was für eine Zuckerpuppe, wo sie doch bloß ein verrücktes Huhn ist! Die ganze Gegend macht sich schon lustig darüber. Und gegen die arme Bettina kehrt er dann den Grobian heraus. Wenn ich Bettina wäre, hätte ich ihn längst sitzenlassen.«

»Stimmt«, nickte Emil energisch. »Ich tät's auch. Aber wir wollen Bettina nichts merken lassen, was wir zwei wissen, denn es täte ihr weh.«

So bemühten sich alle, Bettina zu zerstreuen und auf andere Gedanken zu bringen, was aber nicht recht gelang. Eine halbe Stunde später fuhr unbemerkt Roberts Auto vor. Es wurde wie immer mit Jubel begrüßt.

»Denn Robert, das heißt allemal: Leben in die Bude!« erklärte Emil.

»Aber wo kommst du denn heute her?« fragte Gina. »Du wolltest doch nach Wien fahren, hast du gestern gesagt.«

»Allerdings. Aber wie ich auf den Bahnhof komme und eben die Karte lösen will, wer kommt da gerade mit dem Wiener Zug an – Architekt Mertens, zu dem ich wollte.«

»Welcher Zufall!«

»Ja, und ein sehr angenehmer, denn er erspart mir die Reise. Mertens und ich sind dann gleich in ein Café gegangen und haben unsere Angelegenheiten besprochen, weil Mertens mit dem nächsten Zug weiter nach Röflach mußte. Nächste Woche kommt er dann ein paar Tage zu mir, um sich das Gelände anzuschauen.«

»Willst du dir eigentlich oben im Kiefertal ein zweites Haus bauen«, lachte Gina, »weil du dazu eigens einen Architekten aus Wien kommen läßt?«

»Nein. Bloß sollen die Bauten, die dort oben erstellt werden müssen, kein häßlicher Fleck in dem schönen Erdenwinkel werden, sondern sich harmonisch in das Landschaftsbild einfügen, ohne den Gesamteindruck zu stören. Dazu brauche ich geschickte Hände und einen künstlerischen Blick. Mertens hat beides, übrigens ist er ein alter Jugendfreund von mir, mit dem ich nach langer Zeit gern ein paar gemütliche Tage verbringe.«

Emil, der den Schwager zärtlich liebte, hängte sich an seinen Arm.

»Du, das ist aber prima, daß du heute zu uns gekommen bist!«

»Na, wo sollte ich denn sonst hin? Übrigens, lauf mal bitte hinunter, Emil, und laß dir von Geiger die Pakete geben, die im Auto liegen. Ich übergebe sie dir hiermit feierlichst zur Verteilung.«

»Ist es etwas zu essen?« fragte Emil, der ein Leckermaul und immer bei Appetit war.

Reinitz lachte.

»Aber selbstredend! Gebrannte Mandeln, Apfeltörtchen, Schokoladekuchen und so allerlei, was ich beim Konditor eben gesehen habe. Übrigens, die Flaumbiskuits und der Rosenstrauß sind für Mama.«

Emil und Gina, von Heini gefolgt, stürmten unter Hurragebrüll davon.

»Wie gut du bist«, sagte Bettina, die bisher still daneben gesessen hatte. »Immer denkst du an andere.«

»Soll ich etwa an mich selber denken? Das wäre doch zu uninteressant. Und glaubst du, es tut mir nicht wohl, in die jungen, fröhlichen Gesichter zu blicken und zu denken, daß sie mich mögen? Das ist allemal meine beste und liebste Erholung, wenn ich mich eine Stunde frei machen kann, um sie im Waldhof zu verbringen. Heute, als die Geschichte mit Mertens sich so unerwartet rasch erledigte, hatte ich zum Beispiel das Gefühl eines Schulbuben, der plötzlich zwei Tage Ferien bekommt. Denn zwei Tage hatte ich für Wien angesetzt und mich im Werk für diese Zeit von allen Geschäften frei gemacht. Und gleich war mein erster Gedanke: da fährst du auf den Waldhof und läßt dir's wohl sein, und kein Mensch braucht es zu wissen, daß du gar nicht nach Wien bist.«

Bettina schwieg. Es berührte sie schmerzlich, daß er wie ein lediger Mann redete, der weder Frau noch ein eigenes Heim besitzt. Es ließ auf den Abgrund schließen, der sich in seiner Ehe aufgetan haben mußte. Freilich, wenn man Ilse kannte und das Leben, das sie sich auf Fichtenegg eingerichtet hatte –

Robert, dessen scharfer Blick ihr die Gedanken vom Gesicht ablas, runzelte die Stirn. Er hatte in letzter Zeit nie wieder mit ihr über sein häusliches Elend gesprochen, aber gesehnt hatte er sich oft nach einer Aussprache bei Bettina.

Da sagte er plötzlich:

»Weißt du, was ich mir ausgedacht habe? Ich möchte heute, wo die Kinder sicher noch zu lernen haben, hinauf ins Kiefertal, um zu sehen, wie weit die Leute dort mit den Vorarbeiten die Woche über gekommen sind. Morgen dann, da Sonntag ist, möchte ich mit den Kindern eine Autofahrt auf den Geierkegel zum Lammwirt machen. Die Nacht verbringe ich in der Försterei, wo ich mein Zimmer für solche Fälle habe.«

Auf Bettinas Frage, warum er nicht die Nacht auf Fichtenegg bleiben wollte, antwortete Robert:

»Weil dort Frau Meerboom und Genossen residieren! Samstagabend bleiben sie meist länger, oft bis Mitternacht. Sei übrigens beruhigt«, setzte er bitter hinzu, »man wird mich dort nicht vermissen. Ich wäre nur ein störendes Element.« Da Bettina nichts erwiderte, fuhr er rasch fort: »Weißt du, daß es sehr nett wäre, wenn du dich entschließen könntest, mit mir ins Kiefertal zu kommen? Ich wünsche mir schon lange, dir dort an Ort und Stelle meine Pläne zu erklären. Wir fahren bis Einöd mit dem Auto, gehen dann eine kleine Wegstunde zu Fuß und eine weitere vom Kiefertal hinunter zum Sägewerk, wohin ich das Auto bestelle. Dann bringe ich dich natürlich gleich heim in die Stadt. Ja? Magst du, Bettina?«

Sie zögerte.

Da drängte er lebhaft:

»Tu's bitte, Bettina! Sag ja! Es wird uns beiden gut tun. Denn auch du bist verstimmt, ich habe es gleich gemerkt. Und an mir tust du geradezu ein gutes Werk, wenn du mich nicht allein gehen läßt. Sonst, wenn ich den Kopf voll Arbeit habe, geht's ja noch, aber heute, so allein, käme ich wieder ins Grübeln. Und es ist besser, man denkt nicht«, schloß er mit zuckenden Lippen.

Da quoll heißes Mitleid in Bettina auf. Der arme Mann! Sie durfte ihn nicht allein lassen. Sie waren ja in gewissem Sinn Leidensgenossen. Auch ihr gab das Schicksal Steine für Brot.

»Ja, ich komme mit, wenn du meine Gegenwart wirklich magst«, sagte sie warm.

»Dann will ich nur Mama noch die Blumen bringen und den Chauffeur verständigen. In zwei Minuten bin ich wieder da.«

*

Sie standen vor dem rauschenden Wasserfall, dessen wildromantische Umgebung schon im Schatten lag und darum einen düster-melancholischen Anblick bot. Nur auf den umliegenden Gipfeln und Felszinnen lag noch der Glanz der sinkenden Abendsonne.

Den ganzen Weg hierher hatten sie nur über gleichgültige Dinge gesprochen. Ilses Name war nicht gefallen, obwohl beide ständig an sie dachten.

Nachdem Reinitz Bettina eben seine Pläne und Absichten wegen der hier zu gewinnenden elektrischen Kraft auseinandergesetzt hatte, sagte sie plötzlich:

»Warum erklärst du dieses alles nicht Ilse? Es ist so interessant und würde ihr einen Begriff deiner Arbeit geben.«

»Ja, bildest du dir denn ein, daß es sie je interessiert hat?« unterbrach er sie mit bitterem Lächeln. »Sie würde mir höchstens ins Gesicht lachen, wenn ich ein solches Interesse bei ihr voraussetzte. Du weißt, ihre Welt ist eine ganz andere.«

»Leider! Und ich fürchte, diese Leute, die Ilse ihre Freunde nennt, entfernen sie immer weiter von dir.«

»Als ob sie mir je nah gewesen wäre!«

»Aber mein Gott, Robert, das kann doch nicht so bleiben zwischen euch! Dieses Leben muß für dich ja entsetzlich sein!«

Er sah sie voll an. Jeder Zug seines Gesichts drückte Mutlosigkeit aus.

›Behaupte ich etwa, daß es nicht entsetzlich ist?‹ stand in seinem Blick.

Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, der Försterei zu, wo der Weg zum Sägewerk abzweigte.

Auf einmal sagte Robert leis:

»Ich hatte im stillen auf dich gehofft, Bettina, auf deinen guten Einfluß, dein Beispiel, deinen schwesterlichen Rat, der Ilse vielleicht allmählich die Augen über manches öffnen würde, besonders für die lächerlichen Übertriebenheiten ihrer sogenannten Freunde. Aber du meidest deine Schwester, statt sie aufzusuchen. Warum das?«

Bettina wurde rot und schwieg. Konnte sie ihm die Wahrheit sagen? Daß sie Ilse weder ihr liebloses Benehmen gegen ihn selbst verzeihen konnte, noch die souveräne Rücksichtslosigkeit, mit der sie ihr Erich entfremdete? Es war ja nicht Eifersucht – Bettina war felsenfest davon überzeugt, daß dazu nicht der leiseste Grund vorlag. Aber Ilse hätte doch, wenn sie bei jeder Gelegenheit so selbstverständlich über Erichs freie Zeit verfügte, bedenken müssen, daß er eine Frau daheim hatte, die dadurch fast immer allein war.

»Du überschätzt Ilses schwesterliche Gefühle«, sagte sie endlich, seine Frage umgehend. »Ich hatte nie den geringsten Einfluß auf sie, und sie würde heute weniger denn je einen Rat von mir annehmen. Aber warum versuchst du es nicht selber? Auch du meidest ihren Kreis.«

»Weil man Narrheiten wohl dulden kann, aber nicht mitmacht!« unterbrach er sie heftig. »Soll ich mich etwa in meinem eigenen Haus von Frau Meerboom und Konsorten als lästigen Eindringling behandeln lassen?«

»Gewiß nicht! Aber könntest du nicht, wenn ihr allein seid, wenigstens versuchen, Ilse näherzutreten? Du bist so klug und gut und hast sie doch lieb – es scheint mir unmöglich, daß sie gefühllos bleibt, wenn ihr erst die Augen aufgegangen sind. Du müßtest nur dein Licht ihr gegenüber nicht immer so bescheiden unter den Scheffel stellen und auch recht lieb mit ihr sein.«

»Darf ich es denn? Sind mir nicht die Hände gebunden durch die Bedingungen, die sie mir stellte? Wehe mir, wenn ich sie vergäße! Einmal wäre es mir ohnehin beinahe geschehen, neulich, als man mir die Schreckensbotschaft von ihrem Autounfall gebracht hatte. Da war ich halb von Sinnen, sie zu verlieren. Es hat mich so gepackt wie nichts je zuvor im Leben. In dieser Minute habe ich erst gespürt, wie sehr ich sie liebe. Wie ein Wahnsinniger bin ich hingelaufen und dann – als sie gottlob heil war, hätte mich beinahe die Besinnung verlassen. Sie muß es aus meinem Blick gesehen haben, daß ich sie an mich reißen wollte.«

»Nun, und sie?« fragte Bettina gespannt.

Robert lächelte bitter.

»Sie? Oh, sie ist vor mir zurückgewichen wie vor einem wilden Tier. Und seitdem flieht sie meine Nähe förmlich und ist noch abweisender als sonst. Das ist auch der Grund, weshalb ich heute auf den Waldhof gefahren bin und lieber in der Försterei schlafen will als daheim. Sie hat sich ja sicher schon auf die zwei Tage völliger Freiheit gefreut. Und ich – ja, Bettina, du sollst auch das noch wissen: ich bin ein Feigling geworden! Ich fürchte mich, das unangenehme Erstaunen in ihren Augen zu lesen, wenn ich plötzlich wieder daheim erschiene!«

Bettina schwieg erschüttert.

Robert aber schloß resigniert:

»Ich mache ihr keinen Vorwurf daraus, sie hat ehrlich gehandelt. Sie hat mich genommen, weil ich reich bin, und mein Unglück kommt nur daher, daß ich sie eben liebe und wie alle Liebenden gehofft habe. Heute freilich hoffe ich nicht mehr.«

»Und das soll so bleiben zwischen euch? Immer? Solange ihr lebt?«

»Ich wüßte nicht, wie es sich ändern könnte. Ich darf das Wort Liebe nicht aussprechen, und sie wird es nie tun.«

Bettina schüttelte den Kopf.

»Und doch – ich kann's nicht glauben.«

»Was, Bettina?«

»Daß Ilse wirklich kein Herz hat! Das kommt nur daher, weil alles ihr nach Wunsch gegangen und der Ernst des Lebens nie an sie herangetreten ist. So lebt sie ein Traumleben, das sich in Äußerlichkeiten verliert und sie selbst nicht befriedigt. Weißt du, was ich schon öfter gedacht habe?«

»Nun?«

»Ob, wenn Ilse ein Unglück träfe oder sie plötzlich ganz arm und verlassen wäre, nicht ein ganz anderer Mensch zum Vorschein käme. Ich glaube immer, dann erst würde ihr wahres Selbst erwachen.«

Reinitz blickte betroffen auf.

»Du meinst? Aber welches Unglück könnte sie treffen, das ich nicht von ihr abwehren könnte? Und arm? Kannst du dir Ilse überhaupt arm vorstellen?«

»Nein. Eigentlich nicht. Trotzdem glaube ich wohl, daß es sie aufrütteln würde. Kennst du nicht, von deiner Kinderzeit her, das Märchen vom König Drosselbart?«

»Nein.«

»Dann lies nach, und du wirst vielleicht verstehen, was ich meine. Da war auch so ein hochmütiges Geschöpf, dem es zu gut im Leben gegangen ist.«

Sie hatten die Försterei erreicht. Robert bat Bettina, einen Augenblick zu warten, während er ins Haus ging, um der Försterin zu sagen, daß sie ein Bett für die Nacht vorbereiten solle.

*

Erich Leske hatte den Tag seinem Programm gemäß verbracht und war nun auf dem Heimweg. Seine Nerven hatten sich in der Stille der Waldeinsamkeit einigermaßen beruhigt und der starke Einfluß, den die Natur immer auf ihn ausübte, tat das übrige.

Er dachte jetzt viel milder über Bettina. Sie hatte es gewiß nur gut gemeint, und wahrscheinlich steckte sogar seine Mutter hinter der ganzen Geschichte, der Dr. Mattys den famosen Klavierstundenvorschlag eingegeben haben mochte.

Auch daß sich ihr Herz von ihm abgewandt haben sollte, konnte er nicht glauben. Natürlich suchte Reinitz den Angenehmen bei ihr zu spielen, da er daheim auf Fichtenegg wie eine Null behandelt wurde und als Ehemann Schiffbruch erlitten hatte. Aber bei Bettina war es sicher nur Mitleid. Wenn sie in letzter Zeit daheim kühler und schweigsamer gewesen war, mochte das seinen Grund in einer gewissen Eifersucht auf Ilse haben, der er so viel Zeit widmete. Und da hatte sie eigentlich recht. Er beschäftigte sich wirklich zu viel mit Ilse, deren rätselhaftes Wesen ihn immer wieder unwiderstehlich anzog. Aber er wollte das einschränken. Schließlich hatte es ohnehin keinen Zweck. Der Mann, der dieses kalte Marmorbild beleben könnte, war noch nicht geboren. Er wollte auch heute nicht mehr nach Fichtenegg, obwohl Samstag war, und man ihn abends sicher dort erwartete, sondern gleich heim zu Bettina. Ein gutes Wort von ihr würde alles wieder zurechtrücken, und schließlich war dieses behagliche Heim, das Bettina ihm – wenigstens früher – geschaffen hatte, mehr wert als alles andere.

In diesen Gedanken erreichte er den Ausgang des sogenannten Jägersteigs, der zur Försterei führte. Im Begriff, aus dem Wald zu treten, sah er auf der Straße vor dem Forsthaus eine weibliche Gestalt stehen und blieb vor Überraschung wie angewurzelt stehen.

Bettina! Die er im Waldhof glaubte! Wie kam sie hierher, was tat sie hier?

Ehe er noch eine Antwort auf diese Frage finden konnte, trat Reinitz, gefolgt von den Förstersleuten, aus dem Haus. Er verabschiedete sich rasch von ihnen und trat auf Bettina zu. Dann gingen sie beide, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt, die Straße entlang, die zum Sägewerk führte.

Oben stand Erich und starrte ihnen entgeistert nach.

*

Ilse Reinitz hatte den Ausgang des Wildgrabens beinahe erreicht, als sie hinter sich das Hupen eines Autos vernahm. Betroffen horchte sie auf. Diesen langgezogenen Sirenenton kannte sie, das war Roberts Auto! Aber er war doch verreist? Immerhin, es mußte sein Wagen sein. Kein anderes hatte dieses Signal.

Instinktiv sprang sie zur Seite und trat zwischen lichte Erlenbüsche. Und dann hatte sie eine Vision: in voller Fahrt brauste Roberts Auto an ihr vorbei, vom Chauffeur Geiger gesteuert. Im Wagen aber saßen Robert und Bettina!

So vertieft waren die beiden in ihr Gespräch, daß sie keinen Blick auf die Straße warfen und Ilse sicher auch dann nicht gesehen hätten, wäre sie auf ihr geblieben.

Stille lag wieder über der Gegend. Mechanisch setzte Ilse ihren Weg fort, aber ihr Herz schlug wild und stürmisch. Vor Zorn, Schmerz oder Bestürzung?

Sie wußte es nicht. Sie dachte nur immer wieder in unsäglicher Bitterkeit: ›Das also ist seine angebliche Reise! Und wirklich Bettina, die eigene Schwester! Deswegen also kommt Bettina nie mehr nach Fichtenegg!‹

Alles in ihr war in Aufruhr. Die abenteuerlichsten Pläne schossen ihr durch den Kopf. Glaubten die beiden tatsächlich, sie werde das ruhig hinnehmen und schweigen, nichts dagegen unternehmen!

Sie wußte nicht, wie sie nach Fichtenegg kam. Aber am Tor des Parks blieb sie plötzlich stehen und blickte wie erwachend um sich.

Worüber regte sie sich nur auf? Was gingen sie Roberts Gefühle an? Hatte sie etwa je danach gefragt, stand sie nicht turmhoch über dieser albernen Liebe? Was man aber selber verschmäht und als wertlos erkannt hat, konnte man doch anderen nicht neiden.

Es konnte ihr also wirklich gleichgültig sein.

Und doch war es, als sei in dieser Stunde etwas in ihr entzweigebrochen.

Oben im Teezimmer wartete man bereits seit einer halben Stunde auf die Hausfrau. Frau Meerboom hatte wie gewöhnlich das Wort.

Sie rauchte mit der ihr eigenen Ungeniertheit eine dicke Zigarre, deren Rauch sie dem Schriftsteller Paulsen ins Gesicht blies, und sagte eben, als Ilse eintrat:

»Hört mir nur mit der Liebe auf! Sie ist wirklich das Dümmste, was es gibt, und ich verliere allen Respekt vor Leuten, die ernstlich Notiz davon nehmen.«

»Bravo! Ganz meine Meinung!« sagte Ilse, die Freundin und die übrigen Gäste begrüßend. Ein kaltes Leuchten war in ihren schönen Augen, als sie allen der Reihe nach die Hand gab. »Wir wollen diese Weisheit heute ganz besonders feiern.«

Damit klingelte sie und befahl dem eintretenden Diener, Sekt zu bringen.

Kaum hatte man die erste Flasche entkorkt, als Erich Leske erschien. Er hatte seine Absicht geändert und war doch noch nach Fichtenegg gegangen. Um keinen Preis hätte er Bettina daheim antreffen mögen. Aber ebensowenig hätte er mit sich allein bleiben können. Sein Kommen war eine Flucht vor sich selbst. Er wollte sich betäuben, vergessen, nicht denken.

Ilse empfing ihn wärmer als sonst und fragte, warum er so spät komme.

Er antwortete nicht gleich, sondern starrte mit flimmerndem Blick vor sich hin. Dann sagte er zerstreut:

»Ich war spazieren, im Wildgraben oben, und habe mich da verspätet.«

»Im – Wildgraben?« entfuhr es Ilse unwillkürlich in so seltsamem Ton, daß Erich betroffen aufsah.

Sekundenlang tauchten beider Blicke ineinander, und so kurz dieser Blick war, stand doch in beider Augen die Frage: ›Weißt auch du –‹

Dann lachte Ilse kurz und spöttisch auf.

»Was machst du denn für ein Gesicht, Schwager? Die reine Leichenbittermiene! Und wir haben gerade heute die Fröhlichkeit zur Tischherrin ernannt. Auf! Fülle dein Glas und stoße mit mir an! Es lebe die Vernunft, die Freiheit und der gesunde Egoismus, der keinen Pfifferling nach anderen fragt!«

Erich Leske sah sie betroffen an. Dann füllte er sein Sektglas, stieß es klingend an das ihre und leerte es auf einen Zug.

An diesem Abend war Ilse Reinitz, die man bisher nur kühl, phlegmatisch und blasiert kannte, von fieberhafter Lebhaftigkeit und hinreißendem Temperament. Ihre Fröhlichkeit, die auch auf die anderen zündend wirkte, hatte beinahe etwas Bacchantisches.

Man trennte sich erst lange nach Mitternacht. Die Straßenbahn, die die Fichtenegger Gäste, wenn sie keinen eigenen Wagen hatten, von dem nahen Andritz aus benutzten, ging natürlich längst nicht mehr, und so ließ Ilse den Jagdwagen anspannen, damit er ihre Gäste zur Stadt brächte.

Bettina, die zwar schon zu Bett gegangen war, aber nicht einschlafen konnte, weil ihr daheim in ihren vier Wänden Erichs heutige Lieblosigkeit von neuem schmerzlich auf die Seele fiel, wartete sehnsüchtig auf ein gutes Wort von ihm, das versöhnend wirken sollte, wenn er heimkäme.

Aber Erich warf nicht einmal einen Blick auf Bettina. Sein Gesicht war rot, die Augen hatten einen schwimmenden Glanz. Ein Dunst von Alkohol und schwerem Tabak strömte von ihm aus. Mit Entsetzen sah Bettina, daß er während des Auskleidens schwankte. Dann warf er sich schwer ins Bett und schlief sofort ein, wie seine tiefen regelmäßigen Atemzüge bewiesen.

Bettina weinte lautlos in sich hinein. Welches Leben war das! Und wieder wie schon so oft tauchte die alte Frage auf: Was bin ich ihm?

*

Und so blieb es zwischen ihnen: Erich sprach kaum ein Wort mit Bettina, sie litt schweigend. Ein paarmal hatte sie wohl versucht, eine Aussprache herbeizuführen, aber da hatte er sie gleich bei den ersten Worten kalt angesehen und so kurz abgefertigt, daß ihr aller Mut entsank.

Frau Ludwine stand natürlich auf Seiten des Sohnes und machte Bettina das Leben durch beständige Anzüglichkeiten und bissige Ausfälle noch schwerer als bisher.

»Erich sieht elend aus«, sagte sie jeden Tag vorwurfsvoll, als sei Bettina schuld daran. »Er schläft auch viel zu wenig, seit er täglich so spät von Fichtenegg heimkommt. Freilich, was soll der arme Mensch anders machen, als sich dort ein bißchen erfrischen, da er daheim weder Verständnis noch Anregung findet.«

Ein andermal hieß es wieder:

»Der arme Erich hätte sicher längst eine passende Anstellung gefunden, wenn er eine Frau hätte, die seine Lage richtig erfaßt. Frauen erreichen heutzutage alles! Ein liebenswürdiges Wort, ein Scherz, ein Blick am rechten Ort wirken mehr als tausend Zeugnisse und Empfehlungen. Freilich muß eine Frau es verstehen, sich rechtzeitig einflußreiche Verbindungen zu sichern. Wenn man aber keinen Verkehr pflegt und immer nur zu seinen Leuten hinaus aufs Land rennt, bleibt dafür natürlich keine Zeit.«

Es waren Nadelstiche, aber sie schmerzten doch, so albern sie im Grunde waren.

Dann kam ein Tag, an dem Frau Ludwine beinahe den Kopf verlor und kleinlaut und demütig zu Bettina kam, um sich raten zu lassen.

Eine Rechnung von Erichs Schneider war eben bei ihr abgegeben worden, die eine erhebliche Summe betrug, und sie hatte kein Geld! Es ging aufs Monatsende, die Haushaltkasse war beinahe leer. Frau Ludwine wußte nicht einmal, wovon sie die Bäcker- und Metzgerrechnung bezahlen sollte. Auf Dr. Mattys war nicht zu rechnen. Der hatte erst neulich erklärt, außer den Monatsraten könne er keinen Groschen hergeben; sie müßten sich eben einrichten, doch Erich sei ein Verschwender, der in den Tag hineinlebe und für seine Person den Kopf immer noch voller Rosinen habe.

»Es ist ausgeschlossen, daß ich Dr. Mattys jetzt mit dieser Rechnung komme«, eröffnete sie Bettina. »Er würde die Bezahlung glattweg verweigern und höchstens Erich wieder einen Verschwender nennen. Mein Gott, und der arme Kerl hat ohnehin sonst nichts als das bißchen Freude, anständig gekleidet herumzulaufen. Aber dafür hat Mattys kein Verständnis. Aber was sollen wir tun? Bezahlt muß schließlich doch werden!«

Frau Ludwine schleppte ihren Schmuck und allerlei Silberzeug in Bettinas Zimmer.

»Ob man das verkaufen kann? Und wo?« fragte sie jammernd. »Und wer soll es besorgen? Ich selbst kann das nicht: ich bin so aufgeregt und würde mich zu Tode schämen. Ein Glück, daß Erich nicht daheim, sondern in Fichtenegg ist: so können wir die Sache ordnen, ohne daß er etwas davon erfährt. Denn natürlich darf er unter keinen Umständen etwas merken: es würde ihn in Verzweiflung stürzen, und wir müssen alle Aufregung von ihm fernhalten.«

Bettina war tief erschrocken. So schlimm stand es um ihre Finanzen? Dann erklärte sie, die Sache in die Hand nehmen zu wollen. Sie würde selbst mit Dr. Mattys sprechen und alles würde geordnet.

»Aber daß nur Erich nichts erfährt, Bettina! Es würde ihn zu sehr aufregen!«

»Nein, Mutter, er soll nichts erfahren.«

Dann zog sich Bettina an, um zu Dr. Mattys zu gehen. Sie kam erst zum Abendessen zurück und teilte ihrer Schwiegermutter mit, daß alles erledigt sei. Die Rechnung habe sie dem Schneider gleich selbst bezahlt, da sei die Quittung.

Frau Ludwine war selig. Zum erstenmal seit langer Zeit umarmte und küßte sie Bettina und nannte sie ihr liebes Kind. Dann wollte sie wissen, wie alles gegangen sei, was Mattys gesagt habe.

Aber Bettina erklärte, müde zu sein, und zog sich sofort in ihr Zimmer zurück. Sie wollte der Schwiegermutter verschweigen, daß sie nach ausführlicher Unterredung mit Dr. Mattys, der ihr einen klaren Einblick in Erichs pekuniäre Verhältnisse gewährte, sich entschlossen hatte, die Schuld von der kleinen Mitgift zu begleichen, die sie von daheim erhalten hatte.

In der Nacht lag Bettina lange Zeit wach und grübelte über einen Ausweg nach. Denn es war klar, so konnte und durfte es nicht weitergehen. Man konnte unmöglich ins Blaue hinein warten, bis sich eine passende Stellung für Erich fand. Das ging um so weniger, als er selbst keine ernstlichen Schritte tat, sondern in diesem Punkt außerordentlich wählerisch war.

Es mochte noch lange dauern, ehe man etwas fand, was ihm zusagte. Bis dahin mußten andere Einnahmequellen erschlossen werden.

Bettina zermarterte sich den Kopf, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Dem Vater konnte sie mit ihren Sorgen auch nicht kommen, er hatte selber genug, nicht nur um Mama, die zusehends schwächer wurde, sondern, wie Bettina fürchtete, auch Geldsorgen.

Sie beschloß endlich, Robert in seinem Büro aufzusuchen und sich mit ihm zu beraten.

Er saß an seinem Schreibtisch und las einen Brief, den er eben durch die Post erhalten hatte. Er war ohne Unterschrift: der unbekannte Schreiber gab ihm den wohlmeinenden Rat, ein wachsameres Auge auf seine Frau zu haben, die ihn offenbar mit ihrem Schwager betrüge. In der ganzen Gegend würde bereits darüber geredet und jedermann bedauere ihn, denn man finde, er habe Besseres verdient. Unterschrieben war der Brief statt des Namens mit den Worten: »Einer, der es gut meint.«

Mit verächtlichem Lächeln zerriß Robert das Schreiben. Welch elendes Machwerk! Dumm, gemein und wahrscheinlich von Neid und Bosheit diktiert.

Aber ein Bodensatz von Bitterkeit blieb doch in ihm. Betrügen? Nein – betrügen würde Ilse ihn nie, dazu war sie zu stolz. Aber er war nicht blind; was die Welt hier ins Gemeine zog, hatte er längst beobachtet, längst unter wütenden Qualen erkannt: ihr Herz war erwacht! Sie war nicht mehr kalt und unbewegt wie eine schöne Marmorstatue. Eine fremde Unrast erfüllte ihr Wesen, ein fremder, unsteter Glanz lag in ihrem Blick, der dem seinen längst nicht mehr unbefangen begegnete. Er hätte ein grüner Jüngling sein müssen, um nicht zu wissen, es war Liebe, die daraus sprach.

Die Wunderblume, auf die er einst gehofft hatte, war aufgeblüht, aber nicht für ihn.

Was nun kommen mußte, war ihm ebenfalls klar. Eines Tags würde sie mit derselben souveränen Selbstsucht, mit der sie einst seine Hand angenommen hatte, ihre Freiheit fordern. Wenn sie bisher damit gezögert hatte, war es wohl nur, weil ein Rest von Selbstsucht ihr den Abschied von Luxus und Wohlleben noch schwermachte.

Denn was der andere ihr heute bieten konnte, war ein armseliges Los.

Nun, er wollte es ihr leicht machen. Und das sollte seine letzte Liebestat sein.

Mitten in diese Gedanken hinein klopfte es, Bettina trat ein.

»Darf ich dich einen Augenblick stören, Robert, oder hast du gerade Wichtiges zu arbeiten?«

»Nein. Übrigens hätte ich für dich natürlich immer Zeit. Aber bitte, nimm doch Platz und lege ab. Es ist hübsch, daß du mich einmal hier im Büro aufsuchst. Wir haben einander ja in den letzten Wochen kaum zu Gesicht bekommen.«

Er schob einen Haufen Pläne beiseite, rückte ihr einen Stuhl zurecht und nahm ihr gegenüber Platz. Seine Bewegungen waren hastig, sein Blick unruhig. Vielleicht zum erstenmal im Leben hatte er die Sicherheit verloren.

Bettina war sichtlich erregt. Auch fiel ihm auf, daß sie schlecht aussah, blaß, beinahe verhärmt.

Was führte Bettina her? Hatte etwa auch sie einen solchen gemeinen Wisch von »einem, der es gut meint« bekommen?

Aber schon Bettinas erste Worte beruhigten ihn über diesen Punkt und gaben ihm seine Sicherheit wieder.

Ihre schönen blauen Augen, die so sehr denen der Schwester glichen, nur beseelter, wärmer waren, richteten sich vertrauensvoll auf ihn.

»Du hast mir einmal gesagt, Robert, wenn ich einen Freund brauche, darf ich mich an dich wenden. Deswegen bin ich hier. Ich brauche deinen Rat in Geldangelegenheiten, da ich selber wenig oder nichts davon verstehe.«

In Geldangelegenheiten! Robert atmete auf.

»Worum handelt es sich?« fragte er dann freundlich und fügte scherzend hinzu: »Hast du etwa gar Schulden?«

»Das nicht. Noch nicht. Aber damit es nicht so weit kommt, muß etwas geschehen.«

Und sie legte dem Schwager freimütig ihre Lage klar, auch hinsichtlich der Schwiegermutter und Erichs Charakter, dessen künstlerische Eigenart unbedingt geschont werden sollte.

»So bin ich zu dem Entschluß gekommen«, schloß sie, »daß es an mir ist, Ordnung zu schaffen und irgendeine sichere Einnahmequelle zu finden, die uns ein bescheidenes, aber sorgenfreies Leben ermöglicht. Leider bin ich nicht für einen bestimmten Beruf ausgebildet und fürchte, daß meine Kenntnisse sich nicht genügend verwerten lassen. Aber da ist noch ein kleiner Rest meiner bescheidenen Mitgift, mit dem sich vielleicht etwas anfangen läßt. Über das Was will ich nun mit dir beraten.«

Reinitz hatte mit steigender Überraschung zugehört. Seine Miene war dabei immer finsterer geworden.

»Du willst arbeiten, und er soll weiter auf der faulen Haut liegen und unserem Herrgott den Tag stehlen?« sagte er unwillig. »Das wäre schändlich.«

»Bitte, schilt nicht auf Erich. Er kann ja nichts dafür, daß ihn das Unglück mit der Stimme getroffen hat. Er hat sich alle Mühe gegeben, etwas zu finden. Wenn es nicht gelungen ist …«

Zornig unterbrach er Bettina:

»Weil er nicht ernstlich will! Ich habe ihm ja meine Hilfe angeboten und hätte sicher etwas für ihn ausfindig gemacht, aber er will ja nicht!«

»Sicher nur, weil es ihm peinlich wäre, gerade dir, dem reichen Unternehmer und Verwandten, etwas zu verdanken. In gewissen Dingen ist Erich übertrieben empfindlich.«

Um Roberts Lippen zuckte es spöttisch. Er dachte daran, daß Erich Leske seine Gastfreundschaft seit Monaten unbekümmert in Anspruch nahm und ohne Gewissensskrupel mißbrauchte.

Bettina aber, die es nicht bemerkte, weil sie den Kopf gesenkt hielt und in nervöser Unruhe mit den Fingern spielte, fuhr hastig fort:

»Wir wollen Erich überhaupt aus dem Spiel lassen, lieber Robert. So, wie er veranlagt ist, ist er eben, und so liebe ich ihn. Er soll in keiner Weise beunruhigt werden und von dem, was wir beschließen, wenn möglich nichts erfahren, wenigstens vorläufig nicht.«

»Deine Liebe geht seltsame Wege, Bettina. Du willst handeln wie eine schwache Mutter gegen ihren verzogenen Liebling. Statt ihn aus seiner Schwäche aufzurütteln, ihn zu zwingen, ein Mann zu sein –«

»Menschen sind wie Pflanzen«, unterbrach ihn Bettina, die Augen aufschlagend, aus denen ein wundersames Licht leuchtete. »Der eine so, der andere anders, und nie darf man den gleichen Maßstab an alle legen. Willst du den Efeu zwingen, eine Tanne zu sein? Und hast du mir nicht einmal gesagt: Bei der Gestaltung des gemeinsamen Lebens hat auch die Frau das Recht, ihren Willen geltend zu machen?«

»Ja, allerdings. Aber du hast geantwortet …«

»Ich weiß noch: der Wille der Frau beginnt erst, wenn der des Mannes erlahmt. Erst wenn er die Zügel sinken läßt, muß sie sein Halt werden und die Führung ergreifen. In dieser Lage sind wir heute. Erichs Wille ist erlahmt. Vielleicht wird er sich eines Tags wieder aufraffen und mit fester Hand ein neues Leben für uns beide bauen. Jetzt kann er nicht, und so muß ich es tun.«

»Und diese Erkenntnis tut dir nicht weh, Bettina?«

»Nein. Es kann nicht jeder ein eisenfester, tatkräftiger Mensch sein wie du zum Beispiel. Ich war mir immer darüber im klaren, daß Erich es nicht ist, daß nur Glück und Erfolg seine besten Kräfte wachrufen, Unglück ihn aber schwach und schlaff macht. Das ist Wesensanlage, wie es die meine ist, daß ich im Unglück stärker werde.«

»Dich macht die Liebe stark, nicht das Unglück.«

»Vielleicht. Echte Liebe macht wohl immer stark. Du selber bist das beste Beispiel dafür.«

»Arme Bettina! Und was wird dein Dank sein?« rief Robert ergriffen.

Sie sah ihn lächelnd an, immer noch mit dem Leuchten im Blick.

»Was ist dein Dank für deine große Liebe zu Ilse, Robert? Dürfen wir beide danach fragen? Wir lieben eben und handeln, wie wir müssen.«

Seine Stirn hatte sich umdüstert.

Beide schwiegen. Dann begann Bettina von neuem:

»Und jetzt laß uns wieder von den praktischen Dingen reden, um deretwillen ich gekommen bin. Ich habe einen Plan. Vielleicht ist er albern, vielleicht nicht – entscheiden sollst du.«

»Welchen Plan?«

»Die Wohnung neben uns steht leer. Es sind vier nette Räume, hell und freundlich, die Miete nicht hoch. Da habe ich nun gedacht, wenn ich mit meinen dreitausend Schilling ein Modegeschäft übernähme? Ich glaube, einiges Geschick für derlei Dinge zu haben, und verstehe auch die technischen Arbeiten dieses Berufs, weil ich einmal spaßeshalber mit einer Freundin einen Modistinnenkurs mitgemacht habe. Das wäre das eine Projekt. Das zweite bestünde darin, eine Art Pension einzurichten, wozu ich freilich eine viel größere Wohnung benötige. Man soll sehr gut verdienen dabei, und da ich in Küche und Haushalt genügend Erfahrung habe, würde ich mir bloß ein Zimmermädchen und eine Zugehfrau halten müssen, das Kochen aber selber besorgen. So könnte der Reingewinn noch erhöht werden.«

Robert starrte sie betroffen an.

»Köchin willst du machen?«

Ein Lächeln umspielte Bettinas Mund.

»Findest du, daß eine Arbeit erniedrigt, welche auch immer? Oder daß ich ein anderer Mensch dadurch würde?«

»Das nicht …«

»Also! Und begreifst du nicht, daß jede Arbeit mir in dem Gedanken leicht wird, daß ich sie aus Liebe für ihn tue?«

Robert hatte schweigend zugehört und starrte nachdenklich vor sich hin. Er wußte, was Bettina noch nicht ahnte: daß alle ihre Liebe verlorene Mühe, alle ihre Opfer zwecklos waren.

Sollte er sie warnen?

Aber das hieße ihr das Licht am Lebenshimmel verlöschen. Mochte sie arbeiten und sich opfern; solange sie es mit liebendem Herzen tat, war sie immerhin glücklich. Nur dafür wollte er sorgen, daß sie ihren Opfermut nicht auf die Spitze trieb. Wozu war er denn reich, wenn er diesem lieben Geschöpf nun nicht ein paar Steine aus dem Weg räumen durfte? Freilich – Bettina war stolz, und es mußte daher mit Vorsicht geschehen.

»Nun«, fragte Bettina, »wozu rätst du mir als praktischer Geschäftsmann?«

»Zu keinem von beiden, liebe Bettina, denn in beiden Fällen müßtest du dein Kapital hineinstecken. Und da man den Gewinn bei solchen Unternehmungen nie im voraus wissen kann, wäre das immerhin ein Risiko.«

»Riskierst du nicht auch bei deinen Unternehmungen?«

»Schon. Aber du darfst das Wenige, das du besitzst, keinesfalls aufs Spiel setzen. Ich schlage dir vor, daß du dein Geld von der Bank abhebst und mir gestattest, es so anzulegen, daß es dir statt drei oder vier Prozent fünfzehn bis zwanzig trägt. Das würde schon eine bedeutende Erhöhung des sicheren Einkommens ergeben.«

»Und das wäre möglich?«

»Aber ja, Bettina. Ich verkaufe das Sägewerk und die beiden Fabriken. Der Käufer wird das Geld auf meinen Rat gern in die Unternehmen stecken, die mit fünfzehn Prozent arbeiten. Die Sache ist sehr einfach, wie du siehst.«

Bettina, die von Geldsachen nichts verstand, nahm jedes Wort gläubig hin. Weit mehr als seine geschäftlichen Auseinandersetzungen überraschte sie die Mitteilung, daß Robert einen Teil seiner Unternehmungen, an denen er doch mit großer Liebe hing, in fremde Hände geben wollte.

»Du willst die Fabriken und das Sägewerk verkaufen?« fragte sie ungläubig. »Aber warum denn nur?«

Er blickte an ihr vorbei.

»Es hat sich eben unerwartet so getroffen, daß man mir ein günstiges Angebot gemacht hat«, sagte er leichthin. »Und das Kraftwerk verschlingt viel Geld. Weit mehr, als ich angenommen und augenblicklich zur Verfügung habe. Da greife ich natürlich zu.«

»Du hast den Verkauf schon abgeschlossen?«

»Noch nicht. Aber es wird wohl nächstens geschehen.«

»Darf man fragen, wer der Käufer ist?«

»Architekt Mertens, mein Jugendfreund. Er ist durch seine Heirat mit der einzigen Tochter eines Zuckerfabrikanten ein reicher Mann geworden. Außerdem wollen sich, glaube ich, auch sein Schwiegervater und Schwager daran beteiligen. Aber lassen wir das einstweilen und kehren wir zu deinem Plan zurück. Er ist an sich ja nicht schlecht, und auch da könnte ich dir einen annehmbaren Vorschlag machen.«

»Wie das?«

»Ganz einfach. Die Schwester eines meiner Werkführer hat ein gutgehendes Modistinnenatelier mit guter Kundschaft. Auch Ilse bezieht zuweilen Hüte von dort. Ich kenne Fräulein Harland, so heißt die Inhaberin, persönlich und würde es leicht vermitteln können, daß sie dir Arbeit ins Haus gibt. Kein Mensch braucht davon zu wissen, nicht einmal dein Mann. Fräulein Harland schickt dir wöchentlich das Material ins Haus und läßt dann die fertigen Hüte abholen. Über den Preis kannst du dich selber mit ihr einigen, aber verlange ja nicht wenig. Sie kann und wird gern anständig zahlen.«

Bettina strahlte.

»Aber das wäre herrlich! Und du könntest das wirklich vermitteln, Robert?«

»Sofort, wenn du willst. Ich will gleich morgen mit Fräulein Harland sprechen und ihr deinen Besuch ansagen. Sie wohnt Herrengasse drei, erster Stock rechts.«

Es litt Robert nicht länger im Büro, nachdem Bettina ihn verlassen hatte. Der Gedanke an sein eigenes Elend und die furchtbare Enttäuschung, der Bettina ahnungslos entgegenlebte, machten ihn ruhelos und unfähig zu geistiger Arbeit. Er verließ das Bürogebäude, um in die Autofabrik hinüberzugehen, in deren lärmendem Getriebe er Ablenkung zu finden hoffte.

*

Der vordem wolkenlose Frühlingshimmel hatte sich mit Regenwolken bezogen, die schwer niederhingen. Der Tag war plötzlich düster geworden, so daß Robert Reinitz rascher ging, um unter Dach zu kommen, bevor das Unwetter einsetzte.

Zwei andere, die auf dem Heimweg von einem Spaziergang waren, beeilten sich ebenfalls, ein schützendes Dach zu erreichen:

Ilse Reinitz und Erich Leske.

Auch Ilse wurde in letzter Zeit von einer ihr früher fremden Ratlosigkeit gequält; das war der Grund, daß sie Erich, als er heute auf Fichtenegg erschien, vorgeschlagen hatte, die Zeit bis zum Tee mit einem Spaziergang auszufüllen. Des anfänglich so herrlichen Wetters wegen hatten sie keine Mäntel mitgenommen. Aber es war April, und nun drohte das erste Gewitter des Jahres jeden Augenblick loszubrechen. Bis Fichtenegg auf der gegenüberliegenden Talseite aber waren es noch gute zwanzig Minuten.

»Werden wir trocken heimkommen?« fragte Ilse zweifelnd. Erich Leske wußte keinen Rat.

Da fielen schon die ersten Tropfen schwer und klatschend nieder.

»Rasch, rasch ins Bürohaus, es ist am nächsten. Dort wollen wir den Regen abwarten«, rief Ilse und begann zu laufen.

Sie erreichten das Haus noch, ehe der ärgste Guß einsetzte, und da sie Robert in seinem Büro vermuten mußten, aber ein Zusammentreffen vermeiden wollten, blieben sie still im Flur stehen, obwohl Wind und Sprühregen ihnen durch das offenstehende Tor entgegenschlugen und den Aufenthalt nichts weniger als angenehm machten.

Dann kam plötzlich aus einer Tür links der erste Buchhalter, der in den Kassenraum wollte. Als er Ilse erkannte, grüßte er höflich und erkundigte sich, ob sie nicht lieber in Herrn Reinitz' Zimmer treten wollte, statt hier im zugigen Flur zu stehen.

»Danke, wir wollen meinen Mann nicht stören«, beeilte sich Ilse zu erwidern. »Er hat zu arbeiten.«

»Herr Reinitz hat das Haus schon vor einer Viertelstunde verlassen, um zur Fabrik zu gehen. Aber ich habe einen zweiten Schlüssel, und wenn Sie –«

»Ja, dann allerdings. Bitte schließen Sie uns auf, Herr Hubel.«

Ilse wechselte einen erleichterten Blick mit Erich, als sie das Büro betraten.

Es war entschieden angenehmer, den Regen hier abzuwarten als draußen. Ilse ließ sich behaglich in einen Sessel fallen und musterte den Raum, den sie zum erstenmal betrat.

Hier also arbeitete er. Sie sah Berge von Papieren auf dem breiten, quer ans Fenster gerückten Schreibtisch, ausgebreitete Pläne, neben denen lose Blätter lagen, auf die mit Bleistift einzelne Bemerkungen geschrieben waren, und ein Bild seiner verstorbenen Eltern.

Ihr eigenes Bild war nirgends zu sehen, obwohl Robert, wie sie wußte, verschiedene Aufnahmen von ihr hatte.

An den Wänden hingen Landkarten, standen ein paar Eichenschränke mit Büchern und ein Regal mit vielen kleinen Einzelfächern, die Nummern trugen. In der Kaminecke, wo sie saß, befanden sich ein Liegesessel und ein niedriges Kacheltischchen.

Der Raum machte einen ernsten, aber doch behaglichen Eindruck.

Erich war ans Fenster getreten und sah dem mit aller Wucht niederrauschenden Regen zu. Seine Miene war finster, eine nervöse Gereiztheit hatte ihn erfaßt.

Es war wohl nur Einbildung, aber schon beim Betreten des Raumes war ihm gewesen, als liege ein schwacher Duft von Narzissen in der Luft.

Und Narzissen war Bettinas Lieblingsparfüm. Sie benützte nie ein anderes. Alle ihre Kleider strömten diesen zarten, nie aufdringlichen Duft aus.

Auch Ilse dachte an Bettina. Und plötzlich sagte sie:

»Warum kommt eigentlich Bettina nie zu mir? Ich finde es sonderbar, daß sie Fichtenegg geradezu zu meiden scheint, wo sie doch weiß, daß du täglich dort bist.«

Erich zuckte die Achseln.

»Danach mußt du sie schon selber fragen. Ich weiß es nicht.«

Ilse blickte eine Weile stumm vor sich hin. Dann erhob sie sich und reckte sich entschlossen.

»Ja, ich will sie fragen! Denn ich muß wissen –«

Sie verstummte und starrte mit großen Augen auf etwas Glänzendes, das gerade vor dem Stuhl an Roberts Schreibtisch auf dem Teppich lag. Unwillkürlich war Erich der Richtung ihres Blickes gefolgt.

Da wich das Blut langsam aus seinem Gesicht. Hastig bückte er sich und hob eine kleine, goldene Eule auf, deren Augen aus funkelnden Brillanten bestanden.

Wie gut er das kleine Ding kannte, das er selbst einst Bettina als Bräutigam geschenkt hatte!

Auch Ilse kannte es. Und das –

Schneidender Schmerz durchzuckte ihn.

Nur Bettina konnte das verloren haben. Sie mußte also hier gewesen sein! Heute, eben erst vielleicht.

Tiefe Stille herrschte in dem Raum, draußen verrauschte der Regen. Jäh, wie es gekommen, war das Aprilwetter vorüber, lachte die Sonne wieder vom Himmel.

»Wir können gehen«, sagte Ilse mit fremdklingender Stimme.

Erich schob die kleine goldene Eule in die Tasche. Stumm folgte er Ilse, die gleichfalls zur Tür ging.

Und stumm, ohne den Fund mit einem Wort zu erwähnen, nahmen sie den Weg nach Fichtenegg.

*

Ein paar Wochen später wurde auf dem Waldhof der fünfzigste Geburtstag des Hausherrn gefeiert. Die ganze Familie hatte sich vollzählig eingefunden und gab sich Mühe, die Feier möglichst festlich zu gestalten. Bettina, die schon am frühen Morgen gekommen war, brachte als erste ihre Glückwünsche dar.

Sie war in den letzten Wochen selten und immer nur auf einen Sprung daheim gewesen, da sie vom Morgen bis zum Abend eifrig hinter geschlossener Tür Hüte garnierte.

Dank Roberts Vermittlung hatte sich die Verbindung mit Fräulein Harland rasch und glatt ergeben, und da Bettina viel Geschick zeigte und guten Geschmack bewies, versah Fräulein Harland sie mit so viel Arbeit, wie Bettina nur bewältigen konnte.

Für Bettina war die Arbeit in diesen Tagen Rettung vor sich selbst, denn ohne sie hätte die Verzweiflung sie wohl übermannt. Erich, der fast nie daheim war, behandelte sie mit einer stummen Feindseligkeit, die ihr das Herz zerriß. Es war, als sei sie für ihn nicht vorhanden.

Von dem Fund in Roberts Kontor hatte er kein Wort erwähnt, und Bettina, die nicht wußte, wo sie die kleine Eule verloren hatte, sprach nicht davon, weil andere Dinge sie zu sehr beschäftigten.

Natürlich kümmerte er sich nicht im mindesten darum, was sie in seiner Abwesenheit trieb. Auch Frau Ludwine fragte nie, was Bettina eigentlich in ihrem Zimmer mache, obwohl sie heimlich längst alles beobachtete, ausgeschnüffelt und zum Teil erraten hatte.

Denn das Mädchen, das jeden zweiten Tag mit großen Hutkartons kam und ging, war Frau Ludwines geschickten Fragen gegenüber nicht stumm geblieben.

Da Bettina seit kurzem regelmäßig ansehnliche Summen als Beisteuer zum Haushalt in die Hände der Schwiegermutter legte, fand diese es für klüger, zu tun, als merke sie nichts.

»Das ist wohl von dem Taschengeld, das dein Vater dir gibt?« fragte sie einmal beiläufig, und als Bettina darauf nur etwas Undeutliches murmelte, fragte sie nicht weiter.

Hauptsache war doch, daß Geld ins Haus kam. –

Dem festlichen Tag, für den sich Bettina natürlich frei gemacht hatte, lebte sie seit langem entgegen. Im stillen hoffte sie, Erich werde gleich frühmorgens mit ihr hinauskommen, und vielleicht – vielleicht konnte sie es unterwegs sogar zu einer Aussprache bringen, die alles zwischen ihnen wieder gutmachen würde.

Denn sie war überzeugt, daß im Grund alles nur auf Mißverständnissen beruhte, hinter denen wohl zum größten Teil die Schwiegermutter steckte.

Nur einmal Erich ehrlich und herzlich fragen, ihn zum Reden bringen, dachte Bettina, und alles wäre gut.

Als sie ihn fragte, ob er mit ihr schon morgens auf den Waldhof kommen wolle und schüchtern andeutete, wie sehr sie sich auf die Fußwanderung mit ihm an diesem schönen Maitag freue, blickte er sie kalt an und lehnte rundweg ab.

»Fällt mir gar nicht ein, mir im Morgentau nasse Füße zu holen. Wozu denn auch so zeitig anrücken? Es wird wohl genügen, wenn wir eine Stunde vor dem Essen erscheinen. Deine Schwester Ilse kommt auch nicht früher.«

Ilse! Bettina preßte trotzig die Lippen zusammen.

»Was Ilse tut, war nie maßgebend für mich! Ich möchte Papa gern schon zum Frühstück überraschen.«

»Es ist wirklich überflüssig, daß du dich bei dieser Gelegenheit über deine Schwester mokierst«, fiel Erich ihr beißend ins Wort. »Du könntest sie dir viel eher in manchen Stücken zum Beispiel nehmen.«

Verletzt wendete Bettina sich ab.

»Du willst mich also nicht begleiten?«

»Nein. Du hast mich ja auch bisher nicht dazu gebraucht. Vielleicht triffst du unterwegs sogar angenehmere Gesellschaft, und ich würde nur stören.«

Bettina sah ihn verständnislos an.

»Was meinst du damit?« fragte sie.

»Oh – nichts. Es war nur so ein Einfall«, antwortete er höhnisch. »Geh also ruhig allein, ich komme mit Mutter gegen Mittag nach.«

Bettina sagte nichts mehr. Sie hatte sich in ihrer Ehe allmählich daran gewöhnt, Hoffnungen zerschellen zu sehen.

Zeitig brach sie am anderen Morgen auf und war wirklich die erste Gratulantin. Die Jugend lag noch in den Betten, und Großmama half Tante Helene den Geburtstagstisch schmücken. Papa sei, wie sie Bettina sagten, eben in den Park gegangen, um wie immer seinen Morgenspaziergang vor dem Frühstück zu machen.

Dort suchte ihn Bettina und fand ihn auf dem Luginsland, wo er, den Kopf sorgenvoll in die Hand gestützt, auf einer Bank saß und melancholisch ins Weite blickte.

Nachdem sie ihn herzlich umarmt und ihre Wünsche ausgesprochen hatte, sagte sie scherzend:

»Aber weißt du, daß du gar kein Geburtstagsgesicht machst, Papa? Das sind ja richtige Sorgenfalten auf deiner Stirn.«

Er versuchte zu lächeln.

»Hab ich auch, Kind. Die Sorgen, meine ich. Begreifst du's nicht? Wenn man sein Liebstes so hinschwinden sieht und nicht helfen, nicht einmal Erleichterung schaffen kann …«

»Aber du tust ja, was du kannst, Papa. Mehr als tausend andere Männer je täten. Liest du Mama nicht jeden Wunsch von den Augen ab und machst du ihr Leben nicht trotz aller Leiden reich und schön durch deine Liebe? Glaube mir, Mama hat es besser als die meisten gesunden Frauen.«

Etwas von dem Schmerz ihrer tiefen Enttäuschung zitterte, Bettina unbewußt, in ihren Worten mit. Rosner fuhr sich ein paarmal durch das Grauhaar und blickte seine Älteste scheu von der Seite an.

Daß sie nicht glücklich war, wußte er längst und ahnte den Grund. Denn Leskes Dauerbesuche auf Fichtenegg waren auch ihm nicht verborgen geblieben. Sollte er daran rühren? Lieber nicht; jedes Wort wäre da Salz auf offene Wunden.

»Mein gutes altes Mädchen«, sagte er daher nur, legte zärtlich den Arm um sie und drückte ihren Kopf an sich, »wir müssen alle Geduld haben im Leben und immer wieder Geduld! Wir sind der Amboß, das Schicksal der Hammer!«

»Ja, Papa, so denke ich auch.«

»Siehst du! Und schließlich rückt sich dann auch meist alles irgendwie wieder zurecht. Und du gerade, du bist aus gutem Holz, darum setze ich meine Hoffnung immer nur auf dich. Es ist mir lieb, daß wir mal so ungestört darüber reden können – denn schau, das macht mir die schwersten Sorgen: was hier auf dem Waldhof werden soll, wenn ich einmal nicht mehr bin.«

»Papa – was für Gedanken! Und heute an deinem Geburtstag!« rief Bettina erschrocken.

»Gerade deshalb! Fünfzig Jahre – das ist wie ein Markstein. Da steigen einem allerlei Gedanken auf.«

»Aber du bist doch so gesund, Papa!«

»Ja, das schon, aber auch gesunde Bäume stürzen manchmal plötzlich, wenn sie der Sturm packt oder ein Blitzstrahl trifft. Daran muß ich jetzt oft denken, und daß dann die Kinder zurückbleiben – fast unversorgt. Oskar und Gebhard könnten ja wohl, wenn's sein muß, in ein Geschäft eintreten und für sich selber sorgen. Aber Gina müßte doch irgendwo unterkommen. Und Großmama und der kleine Heini. Und Emil –«

»Mach dir keine Sorgen, Papa. Robert ist so gut, er verläßt die Kinder sicher nicht, wenn's je nötig wäre, für sie zu sorgen, was ja hoffentlich noch sehr lang nicht der Fall ist.«

»Ja, Robert ist gut. Aber ob er es kann? Man munkelt da allerhand in letzter Zeit.«

Bettina starrte den Vater bestürzt an.

»Über Robert? Unmöglich!«

»Ja. Er will die Fabriken verkaufen und das Sägewerk. Jetzt redet man auch von den Kalköfen, und daß er sogar Fichtenegg verkaufen will. Ich weiß ja nicht, was dran ist, mag auch nicht fragen, aber die Leute sagen, er muß verkaufen, weil er in Zahlungsschwierigkeiten sein soll.«

Bettina war bestürzt.

»Aber das kann doch nicht sein, Papa! Das ist …« sie verstummte und wurde blaß.

Es war ihr eingefallen, daß Robert ihr ja selbst von dem Verkauf der Fabriken und des Sägewerks gesprochen hatte. Wollte ihm das Schicksal auch das noch auferlegen zu all' seinem häuslichen Jammer?

»Aber warum nur?« murmelte sie. »Wie kann es so weit kommen?«

Der alte Rosner zuckte bekümmert die Achseln.

»Sie sagen, Ilses wahnsinniger Aufwand sei schuld. Sie habe das Geld sinnlos vertan und immer nur verlangt. Da habe er denn eben spekuliert und an der Börse verloren.«

»Sie! Immer sie! Diese kaltherzige Egoistin! Ist es nicht genug, daß sie ihn elend macht? Muß sie ihn auch noch ruinieren?«

Ein harter Zug lag um Bettinas Mund, als sie das sagte.

»Also ist auf Robert nicht zu rechnen, wie du siehst«, sagte Rosner nach einer Pause. »Aber du, Bettina! Ich weiß, du bist selber arm, aber du hast das beste, was Menschen haben können: Kopf, Herz und einen festen Willen, der durchführt, was er sich vorgenommen hat.«

Bettina schüttelte stumm den Kopf. ›Nein, den hatte ich nicht‹, dachte sie schmerzlich. Denn das, was sie sich am heißesten vornahm – Erichs schwankenden Charakter in die feste Bahn eines auf Arbeit und Liebe gegründeten Glückes zu führen – konnte sie nicht vollbringen.

Rosner, der mit seinen Sorgen beschäftigt war, ahnte nichts von ihren Gedanken.

»So hoffe ich auf dich«, fuhr er fort. »Du wirst sie nicht verlassen und ihnen die Heimat erhalten. Es steht nicht gut um den Waldhof. Wir haben viel verbraucht, zu viel. Und ich konnte mich nie entschließen, alle Hilfsquellen des Besitzes nutzbar zu machen. Da ist der Steinbruch oben und der liebe, alte Wald hier. Wenn man die ausbeutet, läßt sich der Hof freilich halten und wieder schuldenfrei machen. Versprich mir, daß du es tust, Bettina, und um der Kinder willen den Waldhof übernimmst, wenn ich …«

Er konnte nicht weiterreden. Drüben am Hang krachten Böller auf, und vom Wirtschaftshof herüber kam das Gesinde, sonntäglich gekleidet, die Mägde mit Blumensträußen in den Händen, begleitet von der Sankt Martiner Feuerwehrkapelle. Emils schrille Knabenstimme rief vom Haus her:

»Papa, wo bist du? So komm doch! Ganz Europa wartet hier auf dich, dir zu huldigen!«

Rosner erhob sich rasch.

»Willst du es tun, Bettina? Versprich es mir heute an meinem Geburtstag!«

Mit festem Druck umschloß ihre Hand die seine.

»Ja, Papa, ich verspreche es«, sagte sie schlicht.

Dann gingen sie Hand in Hand zum Haus hinunter, um sich dem Festjubel des Tages zu überlassen.

*

Es wurde ein wenigstens äußerlich fröhlicher Tag im Waldhof. Rosner schien alle Sorgen vergessen zu haben, ließ sich vergnügt feiern und gratulieren und war glücklich, daß er alle seine Kinder wieder einmal um sich hatte. Seit Bettinas Hochzeit war es nicht der Fall gewesen.

Seine schönste Geburtstagsfreude war, daß auch seine Frau einen besseren Tag hatte und bei den Ihren sein konnte. Da herrliches Wetter war, warm und windstill, hatte man Frau Mia unter den Birken ein Lager bereitet und Rosner sie auf seinen Armen heruntergetragen wie ein kleines Kind.

Dann lag sie still mit dem Blick auf den Hochwald und hörte dem Geplauder der Kinder zu, die um sie saßen.

»Strengt es dich nicht an? Sind sie nicht zu laut? Blendet dich das ungewohnte Sonnenlicht nicht?« fragte Rosner besorgt.

Aber die Kranke schüttelte den Kopf, und ihr feines Gesicht, das so zart und mädchenhaft geblieben war, lächelte ihm beruhigend zu.

»Nein, Waldemar. Ich bin ja so glücklich. Und die Welt ist schön, ich kann mich gar nicht satt sehen an der Pracht ringsum!«

Wenn die Eltern es auch nicht merkten und die Fröhlichkeit der jüngeren Geschwister den Ton angab – zwischen den beiden jungen Ehepaaren lag es wie dumpfe Gewitterschwüle.

Robert sprach kein Wort mit Erich, und Bettina hatte sich von Anfang an so weit entfernt von Ilse gesetzt, daß jede Unterhaltung zwischen ihnen ausgeschlossen war.

Als die Sonne sank, trug Rosner seine Frau ins Haus zurück und blieb eine Weile bei ihr. Bettina benützte die Zeit, sich aus ihrem einstigen Mädchenzimmer einiges zu holen, das sie dort verwahrt hatte und für ihre neue Tätigkeit brauchen konnte: Bänder und Spitzenreste, Agraffen und anderen fraulichen Kram.

Als sie das gegenwärtig unbewohnte Zimmer betrat, in dem die Vorhänge heruntergelassen waren, bemerkte sie bei dem herrschenden Dämmerlicht nicht gleich, daß auf dem kleinen Sofa am Kamin jemand saß. Erst als sie die Vorhänge aufgezogen hatte und sich umdrehte, erkannte sie Ilse.

Ein Schatten flog über Bettinas Gesicht; ohne ein Wort an die Schwester zu richten, wollte sie das Zimmer wieder verlassen.

Da erhob sich Ilse rasch und trat ihr in den Weg.

»Was soll dieses Benehmen, Bettina? Warum willst du fort, jetzt, nachdem du mich gesehen hast? Du tust ja gerade, als sei ich Gift für dich. Seit Monaten setzt du keinen Fuß nach Fichtenegg, so daß sich alle Welt darüber wundert, und jetzt, da ein Zufall uns hier zusammenführt, übertriffst du dich noch an Feindseligkeit! Glaubst du wirklich, daß ich mich so ruhig von dir beleidigen lasse?«

»Es liegt mir fern, dich beleidigen zu wollen«, antwortete Bettina kühl. »Aber – du wirst es ja wohl selber fühlen, daß wir bei der Verschiedenheit unserer Ansichten auf jedem Gebiet besser tun, einander zu meiden.«

»Das klingt ja recht liebevoll aus dem Mund einer Schwester! Darf man fragen, was du eigentlich an mir auszusetzen hast?«

Bettina schwieg.

»Es hätte keinen Zweck, darüber zu reden«, sagte sie endlich.

Ilse hatte längst auf eine Gelegenheit gewartet, ihrem Zorn gegen Bettina Luft zu machen und fuhr erbittert fort:

»Doch, es hat einen Zweck! Ich will endlich wissen, woher du den Mut nimmst, mich derart zu behandeln? Was habe ich dir denn getan?«

»Nichts. Aber ich kann eine Frau weder achten noch ihr gut sein, die so handelt, wie du getan hast, Ilse. Daher meide ich dich. Denn –«

»Willst du nicht lieber klipp und klar sagen, was ich Schreckliches verbrochen habe?« fiel ihr Ilse ins Wort. »Anklagen durch die Blume sind zwischen uns doch geradezu lächerlich!«

»Anzuklagen habe ich kein Recht, und davon kann auch keine Rede sein. Da du aber so sehr darauf dringst, daß ich dir die Gründe meiner Zurückhaltung offen sage, will ich es tun. Es ist deine Ehe, Ilse, und dein abscheuliches Verhalten Robert gegenüber, was uns trennt. Ich kann und mag das nicht mit ansehen.«

»Was geht dich meine Ehe an?« unterbrach Ilse aufgebracht. »Hat Robert sich bei dir beklagt?«

»Nein. Aber ich sehe, wie unglücklich du ihn gemacht hast, wie wenig du dich um ihn kümmerst und wie gewissenlos du in deiner Selbstsucht ihm gegenüber handelst. Ich müßte kein Herz im Leib haben, wenn er mir nicht in die Seele hinein leid täte, denn er ist der beste Mensch, den ich kenne.«

»Na, das ist wenigstens ein offenes Bekenntnis! Man muß nur staunen, daß du wagst, es mir so deutlich zu sagen.«

»Warum sollte ich nicht, wenn du selber nicht weißt, welchen Schatz an Güte und Selbstlosigkeit du an ihm hast! Hast du dir etwa je Mühe gegeben, ihn kennenzulernen? Hast du je daran gedacht, daß du nicht nur zu fordern, sondern auch Pflichten zu erfüllen hättest? Hast du je danach gefragt, wie ihm zumut sein muß neben einer Frau, die ihn bloß als Kassierer betrachtet und ihm nicht einen Funken Teilnahme oder Interesse entgegenbringt, die weder nach seinen Wünschen noch nach seinem Behagen fragt, die immer Zeit hat für fremde Leute, aber nie für ihn? Die, statt ihm wenigstens ein erträgliches Heim zu schaffen, ihn durch ihre Überspanntheiten und Rücksichtslosigkeit geradezu aus dem Haus treibt? Der letzte seiner Arbeiter hat es ja besser als er! Aber nach alledem fragst du natürlich nicht. Dir genügt es, wenn du selber glücklich und zufrieden bist – was du darunter verstehst – und daß deine Wünsche erfüllt werden. Und wohl nie ist dir zum Bewußtsein gekommen, welche Schmach schon allein darin liegt, wenn eine Frau ohne Liebe heiratet. Denn das ist eine Schmach! Und schon diesen ersten Schritt habe ich dir im stillen nie vergeben können, Ilse.«

Ilse hatte Bettina mit keiner Silbe unterbrochen. In wortlosem Zorn starrte sie auf die Schwester, während ein gefährliches Glimmen die Augen in dem bleich gewordenen Gesicht fast schwarz erscheinen ließ.

»Und du?« sagte sie endlich höhnisch, »warum sprichst du immer nur von mir und nicht auch von deiner Ehe? Du hast ja freilich aus Liebe geheiratet, aber was ist dabei herausgekommen? Seid ihr etwa glücklich? Bist du's? Ist Erich es? Und willst du mir wirklich einreden, es wäre eine größere Schmach für eine Frau, wenn sie ohne Liebe in die Ehe tritt, als sich einem Mann an den Hals zu werfen, der sie nur aus Trotz genommen hat?«

Der Pfeil saß. Er hatte Bettina mitten ins Herz getroffen. Erblassend wich sie zurück.

»Ilse!« schrie sie auf.

Die nickte.

»Oder hast du dir wirklich eingebildet, er hätte dich geliebt? Hast du nicht gewußt, daß er in der selben Stunde, als er um dich anhielt, von mir einen Korb bekommen hat? Daß er dich dann nur genommen hat, um mich dafür zu strafen – genommen hat, wie er jede genommen hätte, die ihm damals zufällig in den Weg gekommen wäre?«

Bettina rührte sich nicht. Wie gelähmt sah sie die Schwester an. ›Es ist nicht wahr – nicht wahr‹, dachte sie verzweifelt und wußte doch aus einer wirren Flut jäh auftauchender Erinnerungen, daß Ilse die Wahrheit gesprochen hatte.

Plötzlich sank sie, ohne einen Laut von sich zu geben, zu Boden. Da erst kam es Ilse zum Bewußtsein, was sie getan hatte, wie niedrig, wie feig sie im Zorn blinder Eifersucht, im wütenden Schmerz über Bettinas Anklagen gehandelt hatte.

Und die Schwester hatte doch recht in allem! Ilse wußte es ja selbst am besten. Nur – diese Dinge von Bettina ausgesprochen zu hören, hatte sie um alle Besinnung gebracht, gerade von Bettina, die Robert so viel besser und richtiger verstanden hatte als sie selbst.

Jetzt tat Bettina ihr doch leid. Konnte die Schwester denn dafür, daß alles so gekommen war, und daß sie heute beide unglücklich waren?

Sanft hob sie Bettina auf und bettete sie aufs Sofa. Seltsame Gefühle und längst vergessene Erinnerungen tauchten in ihrem Kopf auf, Erinnerungen an die Zeit, da sie beide noch kleine Mädchen gewesen waren und sich so innig liebhatten, daß sie kaum eine Stunde ohne einander sein mochten. In diesem Zimmer hatten sie beide gewohnt, und jeden Abend war Ilse im Dunkel zu Bettina ins Bett gekrochen, und diese hatte den Arm unter ihren Kopf gelegt und mit leiser Stimme wunderschöne Märchen erzählt. Und oft waren sie dann darüber eingeschlafen, Arm in Arm.

Etwas Wehes krampfte bei dieser Vorstellung Ilses Brust zusammen. Alles hatte sie verloren durch eigene Schuld! Eines nach dem anderen hatte sich von ihr abgewendet, und bald würde sie ganz einsam und verlassen dastehen.

Bettina schlug die Augen auf und blickte wirr um sich. Da beugte sich Ilse hastig über sie und stammelte:

»Vergib, Bettina, vergib und …«

Eine Bewegung der Schwester machte sie verstummen. Bettina hatte sich aufgerichtet, Ilses Hand von sich gestoßen und wies mit ausgestrecktem Zeigefinger auf die Tür.

»Geh«, sagte sie hart. »Geh und laß mich allein. Du bist schlecht und herzlos – schlechter als ich dachte.«

Ohne ein Wort zu erwidern, verließ Ilse die Stube. Aber in ihr waren Gefühle, denen sie bisher den Einlaß verweigert hatte: heiße Reue und ein tiefer, ehrlicher Schmerz.

»Wo steckt denn Bettina eigentlich?« fragte Robert eine Weile später, als man zum Abendessen ging.

»Ich glaube, sie hat Kopfweh und will nicht zum Essen kommen«, antwortete Tante Helene. »Sie wollte in ihren alten Sachen kramen: sie hat sich in ihrem Mädchenzimmer aufs Sofa gelegt.«

Bettina kam bis zur Abfahrt nicht mehr zum Vorschein. Im dunklen Zimmer legte sie sich ihre Zukunft zurecht: bei Erich konnte sie nicht länger bleiben nach dem, was sie jetzt wußte. Außerdem liebte er offenbar Ilse heute noch: dies allein also, nicht, wie sie bisher geglaubt, das Verlangen nach Zerstreuung und Anregung zog ihn beständig in ihre Nähe. Sein gereiztes Wesen daheim, seine Unfreundlichkeit – alles, alles wurde Bettina jetzt verständlich. Sie zürnte ihm nicht; auch er mußte gelitten haben, auch ihm mußte das Leben eine Hölle gewesen sein.

Nur das verzieh Bettina ihm nicht, daß er sie mit einer Lüge im Herzen geheiratet hatte; darüber würde sie wohl nie hinwegkommen.

Also mußte sie fort aus seinem Leben, das stand fest. Und so würde sie eben hier auf dem Waldhof weiterleben.

Leben? Ein Seufzer entrang sich ihr. Leben konnte das nicht genannt werden, wenn alles Licht ringsum erloschen war und sie in ewigem Dunkel seinen Jammer weiterschleppen mußte.

Unten fuhr ein Wagen vor. Die Tür öffnete sich, Erich trat ein und drehte das Licht an.

»Bettina? Da bist du? Der Wagen ist unten. Mutter meint auch, es ist Zeit, heimzufahren.«

Sie antwortete nicht. Mit brennenden Augen starrte sie ihn unverwandt an.

Wie hatte sie ihn geliebt, liebte ihn noch – diesen schönen Kopf, jeden Zug dieses kühngeschnittenen Gesichts – den Boden unter seinen Füßen, die Luft, die er atmete …«

Nie hatte sie ihn so angesehen, weder als Braut noch später als Frau. Nie hatte eine so an Ekstase grenzende Hingabe ihr Gesicht verklärt – nie war sie Erich so schön erschienen, schöner als alle anderen Frauen, schöner auch als die andere unten mit dem kalten Marmorgesicht.

Er kam näher. Unsicher strich seine Hand über das goldbraune Haar, das sich weich und knisternd anschmiegte.

»Bettina«, murmelte er scheu, beugte sich über sie und wollte sie küssen.

Da war es Bettina, als höre sie noch einmal die grausamen Worte der Schwester:

»Bildest du dir wirklich ein, er hätte dich geliebt? Hast du nicht gewußt, daß er dich genommen hat, wie er jede andere genommen hätte, die ihm gerade in den Weg gekommen wäre?«

Der Zauber zerriß. Wie Erwachen kam es über sie.

Sie stieß ihn jäh von sich und sprang auf.

»Laß mich, du! Rühr mich nicht an!« rief sie mit blitzenden Augen.

Erschrocken wich er zurück.

»Bettina, was soll das? Was hast du?«

Sie strich sich das Haar aus den Schläfen. Langsam kam die Vernunft wieder. Sie wollte ihm keine Szene machen. Es war so häßlich, sich im Zorn zu trennen, wenn man mit ganzer Seele geliebt hatte. Es sollte kein Aufsehen vor der Welt geben. Einmal mußte sie noch zurück in sein Haus, ihre Sachen packen und mit Fräulein Harland das Nötige vereinbaren. Dann erst wollte sie aus seinem Leben verschwinden, still und geräuschlos, daß man es kaum merkte.

»Nichts«, sagte sie ruhig. »Ich habe geschlafen, und das Licht hat mich aufgeschreckt. Jetzt bin ich wach, wir wollen gehen.«

An ihm vorbei ging sie zur Tür hinaus. Erich folgte ihr mit finsterem Gesicht.

*

Den ganzen Tag war Bettina tätig gewesen, um in aller Stille ihre Abreise vorzubereiten. Einkäufe waren zu besorgen, denn so bald würde sie nun wohl nicht zur Stadt kommen. Am Nachmittag war sie bei Fräulein Harland gewesen, denn vom Waldhof aus würde sich die Verbindung nicht aufrechterhalten lassen, meinte Bettina. Auch würde sie kaum Zeit finden, weiter zu arbeiten, da sie nur hinausginge, um ihren Vater bei der Pflege der kranken Mutter zu unterstützen.

Fräulein Harland wollte anfangs durchaus nicht auf Bettinas Mitarbeit verzichten, mußte sich aber schließlich doch dareinfinden.

Es ging schon auf den Abend, als Bettina endlich heimkam. Im Flur schon hörte sie unterdrücktes Schluchzen und aufgeregte Stimmen aus dem Wohnzimmer. Mit bangen Ahnungen trat sie ein. Da stürzten ihr Gina und Emil laut weinend in die Arme.

»Kinder – ihr? Um Gottes willen, was ist denn geschehen?« stammelte Bettina erschrocken.

Es dauerte lang, ehe sie aus dem wirren Stammeln die schreckliche Wahrheit erfuhr.

Um die Mittagsstunde war die Mutter gestorben, ganz plötzlich. Mit einem Lächeln auf den Lippen hatte sie dem kleinen Heini, der mit Papa an ihr Bett getreten war, noch über das Haar gestrichen, dann jäh die Augen aufgerissen, beide wie in tödlichem Schreck angestarrt und war lautlos zurückgesunken. Eine Stunde später hatte sich der Vater am Totenbett erschossen.

Bettina war wie zerschmettert. Die Eltern tot – beide?

Wie in einem schweren, düsteren Traum fuhr sie mit den Geschwistern hinaus und fühlte nun erst ganz die Wucht dieses Schlags, als Roberts Hand mit festem Druck die ihre faßte.

»Sorge dich um nichts, Bettina, ich werde alles Nötige besorgen. Nimm dich bloß der Kinder und Großmama an, die brauchen jetzt Hilfe.«

Tante Helene hatte Zwiesel gleich nach dem Unglück zu Robert geschickt, denn sie hatten alle den Kopf verloren und wußten nicht ein noch aus.

*

Erich Leske hatte den Tod seiner Schwiegereltern nicht, wie Bettina vermutete, schon nachmittags in Fichtenegg durch Ilse erfahren, denn er war nicht dortgewesen.

In zerrissener Stimmung, über deren Ursachen er sich nicht klar werden konnte, war er den ganzen Tag in den Bergen herumgewandert und hatte an Bettina gedacht.

Er konnte den selbstvergessenen Blick nicht loswerden. mit dem sie ihn am Abend zuvor angesehen hatte. Dann sah er sie wieder hochaufgerichtet vor sich stehen und hörte ihr leidenschaftliches: »Laß mich – du! Rühr mich nicht an!«

Dazwischen lag ein Abgrund, über den er keine Brücke fand.

Eines aber wurde ihm immer klarer: daß er sich nie zuvor – selbst nicht nach dem Verlust seiner Stimme – so verlassen und steinunglücklich gefühlt hatte wie jetzt, seit Bettina ihre eigenen Wege ging.

Als er ziemlich spät am Abend heimkam, empfing ihn seine Mutter mit der Schreckensnachricht vom Tod der Schwiegereltern und daß Bettina fort sei. Wahrscheinlich beabsichtige sie länger auf dem Waldhof zu bleiben, denn sie habe zwei große Koffer mit Kleidern und Wäsche mitgenommen.

Es war zu spät, noch hinauszugehen. Aber früh am nächsten Morgen fuhr Erich hinaus.

Er fand Bettina, die ihn im Kreis der Geschwister empfing, leidlich gefaßt. Wenigstens weinte und jammerte sie nicht laut wie Großmama Rosner, die noch immer fassungslos war.

Blaß und still saß sie da, den kleinen Heini auf dem Schoß.

»Den Eltern ist wohl«, sagte sie schmerzlich, »wir müssen es eben tragen und versuchen, damit fertig zu werden.«

»Wann gedenkst du, wieder heimzukommen?« fragte Leske.

Sie sah ihn abwesend an.

»Vorläufig ist daran nicht zu denken. Du siehst wohl ein, daß ich hier nötig bin und mein Platz jetzt hier ist.«

Wie ein fremder Eindringling kam er sich vor. Und da er nicht wagte, in ihrer gegenwärtigen Stimmung seiner Gekränktheit Luft zu machen, entfernte er sich endlich zögernd.

Bettina hielt ihn nicht zurück.

Unten im Flur sah er vor Rosners Kanzlei eine Menge Leute stehen, die aufgeregt flüsterten. Er fragte Zwiesel, der sich gleichfalls unter den Leuten befand, was hier vorgehe.

Der alte Wirtschafter, der bekümmert aussah, teilte ihm mit, daß die Leute teils mit Geldforderungen gekommen seien, teils Auskunft über die Nachlaßbestimmungen haben wollten. Da die Söhne noch minderjährig seien, wisse niemand, wie es werden, das heißt, ob jemand den Waldhof übernehmen oder der Besitz verkauft werden solle. Es seien viel Schulden da. Herrn Rosners Verhältnisse seien eben seit langem zerrüttet. Nun habe Herr Reinitz alles in die Hand genommen, sitze in der Kanzlei und werde wohl sagen, was zu geschehen habe.

Erich Leske, der sich nie um die Geldverhältnisse am Waldhof bekümmert und keine Ahnung von der Vermögenslage seines Schwiegervaters hatte, setzte seinen Weg bestürzt fort.

Unterwegs stiegen ihm allerlei Gedanken auf. Wenn Rosner kein Vermögen hinterlassen hatte, was sollte dann mit den fünf unversorgten Kindern geschehen? Und Bettina war dann also arm.

Merkwürdigerweise erfüllte ihn diese Vorstellung statt mit Schreck mit einer gewissen freudigen Genugtuung. Wenn Bettina arm war, war sie auf ihn angewiesen. Denn Robert war ja gebunden und konnte vorläufig unmöglich an Scheidung denken, wie die Dinge lagen. Unterstützungen von Robert aber würde Bettina niemals annehmen, das wußte er.

Also blieb nur er – ihr Mann! Er mußte ihr helfen, für sie sorgen. Befriedigt stellte Leske dies in Gedanken fest. Und plötzlich wurde ihm klar, daß er sich schon aus diesem Grund unverzüglich nach einem Broterwerb umsehen müsse.

Er beschloß, sofort zu Dr. Mattys und einigen einflußreichen Leuten zu gehen, die ihm schon früher ihre Verwendung zugesagt hatten. Er fand es mit einemmal nicht mehr entwürdigend, auch mit einer bescheidenen Stellung vorliebzunehmen, wenigstens für den Anfang. In Gottes Namen konnte man es sogar mit Klavierstunden versuchen.

Er war zu allem bereit. Es mußte ja sein – für Bettina. Sie sollte sehen, daß er etwas leisten konnte, nicht bloß dieser Reinitz, von dessen Tüchtigkeit sie so begeistert war.

Frau Ludwine konnte mittags die Heimkunft des Sohnes kaum erwarten. Auch sie war auf dem Waldhof gewesen, um zu kondolieren, hatte sich aber nur kurz aufgehalten, um nicht zu stören – in Wahrheit, weil ihr die Trauerstimmung auf die Nerven ging und sie alles haßte, was mit Todesfällen zusammenhing.

Auf dem Heimweg war sie mit Dr. Klüver in der Straßenbahn zusammengetroffen und hatte von ihm die letzten Neuigkeiten erfahren: daß Rosner sich nicht nur aus Schmerz um seine Frau erschossen hätte, sondern hauptsächlich, weil er ruiniert war. Die Kinder waren Bettler, der Waldhof würde wohl zwangsversteigert werden, denn schon in den nächsten Tagen werde vom Nachlaßgericht der Bankrott angemeldet.

Frau Ludwine wollte das nicht glauben. Da sei doch der reiche Reinitz mit seinen Millionen, der es bestimmt nicht so weit kommen lassen würde.

Aber da hatte Klüver höhnisch aufgelacht.

»Reinitz? Aber wissen Sie denn nicht, gnädige Frau? Er ist doch selber fertig, total fertig mit seinen Millionen! Muß alles verkaufen und sogar Fichtenegg zum Verkauf aussetzen mit allem, was drin ist. Ja, ja, der Zauber ist vorbei, und die schöne Frau Ilse wird sich natürlich scheiden lassen und nächstens wieder für den meistbietenden Bewerber zu haben sein. Aber ich fürchte«, schloß er spöttisch, »man wird sich heute um diese Schönheit nicht mehr so reißen wie früher.«

Brühwarm berichtete Frau Ludwine dem Sohn diese Neuigkeiten, als er erheblich verspätet zum Essen kam.

Schweigend hörte Erich zu. Eine wilde Freude erfüllte ihn. Reinitz ruiniert! Die vielbewunderte Tüchtigkeit hatte ihm also nichts geholfen! Und nun verschwand er vom Schauplatz und konnte einer Frau womöglich nicht einmal mehr das tägliche Brot bieten.

Erich hatte in der Musikvereinsschule die festbesoldete Stelle als Leiter der Begabtenklasse zugesagt erhalten.

Am Nachmittag fuhr er wieder auf den Waldhof. Jedoch gelang es ihm diesmal nicht, Bettina zu Gesicht zu bekommen.

Sie hatte sich mit Robert und dem Notar aus Sankt Martin eingeschlossen, um geschäftliche Angelegenheiten zu beraten, und ließ bedauern, nicht abkommen zu können.

Enttäuscht verließ Erich das Haus. Dann fiel ihm ein, daß er Ilse nach dem Tod der Eltern noch nicht aufgesucht hatte und sie wohl ein Wort der Teilnahme erwarten dürfte.

Er fuhr also nach Fichtenegg.

Dort traf er im Tor mit Frau Meerboom und dem Schriftsteller Paulsen zusammen, die beide in gereizter Stimmung waren und ihrem Zorn gegen Ilse sogleich wortreich Luft machten.

Ilse hatte gestern ihren Freunden kurz mitgeteilt, daß ihr die Trauer fortan jeden geselligen Verkehr verbiete, weshalb sie bitte, vorläufig Besuche zu unterlassen. Auch habe sie ihre Überzeugungen geändert und verzichte in Zukunft auf weitere Diskussionen.

Frau Meerboom und Paulsen hatten sich trotzdem nicht abschrecken lassen, persönlich zu kommen, um ihr Beileid auszudrücken.

»Außerdem bin ich doch Frau Ilses beste Freundin«, schloß Frau Meerboom erregt, »und hätte doch das Recht, als solche wenigstens empfangen zu werden. Aber sie hat uns glattweg abweisen lassen. Einfach abweisen! Verstehen Sie das?«

Erich Leske gönnte den beiden die Abfuhr und verabschiedete sich rasch mit ein paar Phrasen von ihnen.

Jedoch wurde dann auch er nicht angenommen. Frau Reinitz empfange durchaus niemand, meldete der Diener, der seine Karte hineingetragen hatte.

Erst nach dem Begräbnis der Schwiegereltern, das am folgenden Tag unter großer Beteiligung stattgefunden hatte, gelang es Erich, Bettina unter vier Augen zu sprechen.

Aber diese Unterredung verlief anders, als er im stillen gehofft hatte.

Bettina erklärte ihm, daß sie sich entschlossen habe, für immer hier zu bleiben. Sie werde den Waldhof übernehmen und selber bewirtschaften. Das habe sie nicht nur ihrem Vater kurz vor seinem Tod versprochen, sondern es sei auch die einzige Möglichkeit, den Geschwistern die Heimat zu erhalten und ihre Erziehung zu vollenden. Um die Schulden zu decken und den Waldhof wieder heraufzubringen, habe sie sich entschlossen, den Steinbruch auszubeuten und einen Teil des Waldes schlagen zu lassen. Reinitz, der Papas Lage viel früher durchschaut hätte als dieser selbst, habe schon vor einiger Zeit Arbeitspläne und Kostenüberschläge ausgearbeitet, die ihr das schwere Werk erleichtern würden.

Mit ruhiger Sachlichkeit hatte Bettina das vorgebracht. Sprachlos vor Schreck hörte Erich zu.

»Und ich?« stammelte er endlich, als sie schwieg. »An mich denkst du nicht? Daß ich doch dein Mann bin und Rechte an dich habe? Ich kann nicht fort aus der Stadt, denn ich habe eine Stelle im Musikpädagogium angenommen. Soll ich allein drin bleiben und du hier? Wie denkst du dir das eigentlich, Bettina? Es ist einfach unmöglich!«

»Du hast deine Mutter«, sagte Bettina. »Sie hat früher für dich gesorgt und wird es eben auch fernerhin tun.«

»Aber nicht so wie du, Bettina. Es kann dein Ernst nicht sein! Liebst du mich denn gar nicht mehr?«

Da sah ihn Bettina ernst und traurig an.

»Zu dieser Frage hast du kein Recht mehr, weil du mit Ilse im Herzen um mich geworben hast. Ich weiß es erst seit kurzem, aber du mußt begreifen, daß uns das trennt.«

Erich prallte zurück. Er war bleich geworden.

»Du weißt?« stammelte er verwirrt und bestürzt. »Wer hat –«

»Es ist gleichgültig, wie ich es erfahren habe. Aber es hat mir die Frage beantwortet, die ich mir so oft in stiller Verzweiflung gestellt hatte: Was bin ich dir eigentlich gewesen? Denn daß du mich nicht liebst, habe ich immer gefühlt. Jetzt weiß ich, daß dein Herz meiner Schwester Ilse gehört, daß alles, was ich aus Liebe schweigend ertragen habe, darin seine Erklärung findet. Ich mache dir keine Vorwürfe, Erich, auch dein Leben war durch diese Liebe zerstört, die unsere Wege scheidet. Aber dieses Leben dir weiter tragen helfen, das geht über meine Kraft. Lebe wohl!«

Ohne ihm, der wie betäubt dastand, Zeit zu einer Erwiderung zu lassen, verließ sie das Zimmer. Er hörte ihren Schritt im Nebenraum, und ihm war, als ginge das Leben selbst von ihm.

*

Ilse war schweigend an der Seite ihres Mannes vom Begräbnis heimgefahren. Ihr schönes Gesicht, hinter einem schwarzen Schleier verborgen, war blaß und ihr Herz, früher so unbewegt, jetzt so unruhig, klopfte zum Zerspringen.

War es möglich – Robert ruiniert? Sie konnte es weder fassen noch glauben. Wie hätte er sonst so fest und tatkräftig die Zügel auf dem Waldhof ergreifen und alles in die richtigen Bahnen lenken können, wenn er den Kopf mit eigenen Sorgen voll hatte?

Nur sie hatte nichts gewußt, nichts geahnt. Mit keiner Miene, keinem Blick, nicht dem kleinsten Wort hatte er sie, die seinen Namen trug, ahnen lassen, wie es um ihn stand.

Auch jetzt noch schwieg er, saß in Gedanken versunken neben ihr, als wäre sie nicht vorhanden. Sie hielt dieses Schweigen endlich nicht länger aus. Als er sich vor seinem Zimmer von ihr verabschieden wollte, da er bis zum Abendessen noch zu arbeiten habe, wie er sagte, murmelte Ilse:

»Willst du mir nicht vorher zwei Minuten schenken? Ich – ich habe eine Frage an dich.«

»Selbstverständlich. Bitte tritt ein.«

Robert schob Ilse einen Sessel in die Kaminecke und setzte sich ihr gegenüber.

»Willst du mir sagen, was du wissen möchtest?«

Sie sah ihn bang an. Zögernd kamen die Worte:

»Robert – ist es wahr, daß du – ruiniert bist?«

Er blickte überrascht auf.

»Ich? Ruiniert? Wer hat dir diesen Bären aufgebunden?«

»Großmama behauptet, du wolltest alle deine Unternehmungen, sogar Fichtenegg, verkaufen. Alle Welt wüßte es bereits, nur ich – ich –« Sie schwieg, denn sie fühlte, daß ihr die Stimme zu brechen drohte.

Ohne die Fragen wegen seines angeblichen Ruins weiter zu berühren, sagte Robert ruhig:

»Du rollst da eine Sache auf, die ich dir, sobald sie spruchreif ist, selbstverständlich zuerst mitgeteilt hätte, wären die Trauerfälle nicht dazwischengekommen. So wollte ich es in den nächsten Tagen tun. Ja, es ist wahr, daß ich meinen gesamten Besitz hier zu verkaufen beabsichtige und bereits in Unterhandlungen stehe.«

Ilse starrte ihn entgeistert an.

»Wahr also – wahr?« stammelte sie endlich. »Aber warum willst du das tun? Wo du doch mit Leib und Seele daran hängst.«

Er ging im Zimmer hin und her und fuhr, ohne sie anzusehen, rasch fort:

»Die Notwendigkeit dazu ergibt sich aus den Verhältnissen. Ich habe eingesehen, daß das Leben zwischen uns so nicht weitergehen kann und es daher am besten ist, wir trennen uns. Meine Aufgabe, dich glücklich zu machen, habe ich nicht gelöst. Es wäre daher sträflicher Egoismus, dich länger in Fesseln zu halten, die dir drückend geworden sind. Ein anderer wird es hoffentlich besser verstehen, dich dem wahren Glück entgegenzuführen. Wenn es dir recht ist, kannst du schon morgen die Scheidung einleiten, die keine Schwierigkeiten bieten wird, da ich bereit bin, alle Schuld auf mich zu nehmen. Dann steht deinem Glück nichts mehr im Weg.«

»Meinem Glück?« stieß sie heftig heraus.

Reinitz, der ihre Aufregung falsch deutete, sprach hastig weiter:

»Du brauchst keine Sorge zu haben, Ilse. Es ist selbstverständlich, daß ich dir auch finanziell die Wege ebne. Du sollst nichts von dem entbehren, was du gewohnt bist. Da für mich der Wert des Lebens nicht in Geld und Gut, sondern in Arbeit liegt, und ich sie für die nächste Zukunft mehr denn je brauche, bin ich gern bereit, dir das zu überlassen, was ich bisher erworben habe.«

Ein Zittern lief durch Ilse. Jeder Tropfen Blut war aus ihrem Gesicht gewichen, während ihre Hände sich verkrampften.

Er schickte sie also fort! Fort aus seinem Leben für immer! Und mit Geld glaubte er sie dafür entschädigen zu können.

»Und du?« murmelte sie mit blassen Lippen. »Was wird aus dir?«

»Um mich brauchst du dich nicht zu sorgen. Ich gehe irgendwohin und fange von vorn an. Leute wie ich gehen nicht unter.«

»Wird – wird Bettina mit dir gehen?« fragte sie leis.

Maßlos verblüfft fuhr Robert herum.

»Bettina? Wie kommst du auf die Idee?«

Dann lachte er kurz auf. Er glaubte zu verstehen. Wenn Ilse ihr Geschick mit Erich Leske verband, wurde auch die arme Bettina frei. Da dachte Ilse wohl, die beiden Verlassenen könnten beieinander Trost suchen.

»Nein«, antwortete er kalt, »weder Bettina noch ich haben eine solche Möglichkeit ins Auge gefaßt, die durch den Tod deiner Eltern auch nicht auszuführen wäre. Denn Bettina übernimmt ja, wie sie deinem Vater versprochen hat, den Waldhof, um den Geschwistern die Heimat zu erhalten. Außerdem wird mein Leben für den Anfang viel zu unsicher sein, als daß ich die Sorge für ein zweites Wesen auf mich nehmen könnte.«

Ilse sagte kein Wort mehr. Stumm verließ sie das Zimmer.

Robert atmete tief auf. Gottlob, es war vorbei. Aber es hatte weh getan, viel weher noch, als er gefürchtet hatte.

Ilse war in wilder Verzweiflung. Als Robert das Wort Scheidung ausgesprochen hatte, war es wie ein brennendes Schwert durch ihre Seele gefahren; alles, was dunkel und verworren in ihr seit Wochen gegärt hatte, war plötzlich hell und klar geworden.

Man klopfte an ihre Tür und rief sie zum Abendessen. Sie hörte es nicht. Sie dachte nur immer: fort aus seinem Leben für ewig! Nach einer Weile klopfte es abermals, und als sie nicht antwortete, wurde die Tür geöffnet.

»Ilse, bist du da?« fragte Roberts Stimme durch das Dunkel.

»Ja«, murmelte sie und erhob sich.

»Ist dir nicht gut? Willst du nicht zum Essen kommen?«

Er war näher getreten und tastete im Dunkel nach ihrer Hand. Da legten sich plötzlich zwei zitternde Arme wild um seinen Hals.

»Robert, schick mich nicht fort! Ich will dir keine Last sein, will dir helfen, arbeiten, alles tun, was du verlangst, aber laß mich bei dir sein!«

Robert stand unbeweglich wie eine Bildsäule. Wäre der Himmel vor ihm eingestürzt, er hätte nicht fassungsloser sein können.

»Und Leske?« sagte er endlich leis. »Was wird er dazu sagen? Liebst du ihn denn nicht?«

»Ich liebe nur dich und kann nicht leben ohne dich! Was geht mich Leske an? Warum fragst du nach ihm?«

Statt aller Antwort riß er sie in wilder Leidenschaft an sich und bedeckte ihr Gesicht mit stürmischen Küssen.

»O du – du – also doch! Endlich!«

*

Beim Essen sprang Reinitz plötzlich auf.

»Was ist? Wohin willst du?« fragte Ilse erschrocken.

Er lachte glücklich.

»Ich muß Bettina anrufen. Kein Mensch kann sich so freuen über unser Glück wie sie!«

Ilse schwieg. Im stillen dachte sie an die Szene zwischen Bettina und ihr an Vaters Geburtstag. Bettina würde sich freuen für Robert; aber ob sie es ihr verzeihen würde, daß die Schwester ihr Lebensglück zerstörte?

Später, als Robert wieder an ihrer Seite saß, fragte Ilse:

»Und wenn ich nun wirklich einen anderen geliebt hätte? Hättest du dich so leicht geschieden von der Heimat und von mir getrennt, ohne zu kämpfen, ohne einen Versuch zu machen, mich zu halten?«

»Leicht? Nein! Schon die Vorbereitungen der letzten Wochen haben mich viel Herzblut gekostet. Aber gekämpft oder dich zu halten versucht hätte ich nie. Liebe ist eben ein geheimnisvoller Urtrieb im Menschen und läßt sich weder herbeizaubern noch abtun. Zwang oder Überredung sind gleich zwecklos, sie geht doch ihren vorgezeichneten Weg. Und dann, ich hatte mir geschworen, dich unter allen Umständen glücklich zu machen, auch wenn dein Herz für mich ewig tot bliebe. Dieses Versprechen wollte ich halten, ohne Rücksicht auf mein eigenes Empfinden.«

»Aber die Heimat hättest du doch nicht aufzugeben brauchen, an der du so hängst.«

Er sah Ilse tief in die Augen.

»Doch! Fort von hier mußte ich, um dir den Weg zum Glück zu ebnen. Es aber dann mit ansehen zu müssen, wäre über meine Kraft gegangen. Wenn du heute weißt, was Liebe ist, mußt du das verstehen!«

»Ja, du hast recht. Ich verstehe das jetzt.«

»Übrigens wollte ich die Heimat ja nicht für immer verlassen, denn ich hoffte, doch einmal wieder zurückkommen zu können. Aus diesem Grunde habe ich mit Freund Mertens verabredet, daß er meinen hiesigen Besitz zwar zum Schein kaufen, in Wirklichkeit aber nur für mich verwalten sollte. Die Erträgnisse sollten dir zufallen. Diese bisher bloß mündlichen Vereinbarungen sind gottlob überflüssig geworden, und natürlich bleibt alles beim alten.«

»Und die Welt hat geglaubt, weil du verkaufen wolltest, du seiest ruiniert! Wie wirst du den Leuten deine neuerlichen Entschlüsse erklären?«

»Gar nicht! Ich habe sie ja auch nicht von meinen Absichten unterrichtet. Alles beruhte auf Klatsch und Vermutung. Mögen sich die Leute denken, was sie wollen. Meinetwegen, daß ich das große Los gewonnen habe – und damit hätten sie ja eigentlich recht, denn ich habe dich gewonnen.«

*

Bettina saß auf der Bank des Luginsland und blickte in das herbstlich buntgefärbte Land hinaus, über das graue Dämmerschatten krochen, während im Westen der Himmel noch rosig überhaucht war.

Es war Samstagabend; sie fühlte sich ermüdet von des Tages Mühen. Daher hatte sie sich fortgestohlen und war hier heraufgegangen, um endlich ein wenig auszuruhen und ihren Gedanken nachzuhängen.

Im Haus gab es für sie ja keine Ruhe. Die Kinder, Großmama, die Leute – alle wollten beständig etwas, kamen mit allen kleinen Nöten zu ihr. Denn sie hatte sowohl in der Wirtschaftsführung wie in der Leitung der Menschen eine glückliche Hand bewiesen.

Ihrer Umsicht, Klugheit und Ruhe war es gelungen, das verschuldete Gut über das Schlimmste hinwegzubringen, so daß die Zügel fest in ihrer Hand lagen und alles gedieh. Da die Ernte gut gewesen war und Bettina dank Roberts Vermittlung unerwartet günstige Abschlüsse mit dem Holz gemacht hatte, das der Wald oben liefern sollte, waren nicht nur die nötigsten Anschaffungen in der Landwirtschaft gemacht, sondern auch die dringendsten Reparaturen im Haus bereits vorgenommen worden; und für den ersten November lag neben den fälligen Zinsen auch schon die erste Abzahlungsrate der Hypothek bereit.

In dieser Richtung blieb Bettina nichts zu wünschen übrig. Freilich, zum Frühjahr mußte sie sich wohl um eine männliche Hilfskraft umsehen, denn der Betrieb war bei allem Fleiß und gutem Willen zu groß für eine Frau allein. Auch bedurften besonders die Arbeiten am Steinbruch männlicher Überwachung.

Bisher hatte Robert ihr in diesen Aufgaben viel abgenommen. Aber seine eigenen Arbeiten im Kiefertal nahmen ihn immer stärker in Anspruch, und Ilse wurde manchmal schon ungeduldig, daß sie ihn so wenig für sich hatte, besonders seit ihr Zustand ihr nicht mehr wie anfangs gestattete, ihn überallhin und bei jedem Wetter zu begleiten. Denn zum Frühjahr erwarteten sie ein Kind.

Bettinas Gedanken waren in Fichtenegg und ein tiefer Seufzer hob unwillkürlich ihre Brust.

Dort war das Glück eingezogen, ein volles, echtes Glück für beide, wie sie es nicht nur Robert von ganzem Herzen gönnte, sondern auch Ilse, die so viel weicher, selbstloser und warmherziger geworden war und mit der sie sich längst ausgesöhnt hatte.

Und doch konnte sie das schmerzliche Neidgefühl nicht unterdrücken, wenn sie an das Glück der beiden dachte.

Warum war es ihr selbst alles schuldig geblieben? Denn trotz der Befriedigung der erfüllten Pflicht, trotz aller Arbeit, in der sie tagsüber Betäubung fand, empfand sie in stillen Stunden doch immer wieder die schmerzhafte Leere ihres Lebens.

Dann stieg Erichs Gestalt, den sie nicht vergessen konnte, vor ihr auf, und ihre Seele rief nach ihm.

Wie mochte es in ihm aussehen? Hatte er Ilses Verlust verschmerzt? War er zufrieden oder litt er heimlich? Befriedigte ihn sein neuer Beruf? Tausend Fragen kamen Bettina, wenn sie ihren Gedanken nachging.

Sie wußte nichts von Erich, als daß er zurückgezogen lebte und im Musikpädagogium von seinen Vorgesetzten und Kollegen geschätzt und von den Schülern begeistert geliebt wurde. Das hatte Großmama von einer Bekannten erfahren, deren Sohn sein Schüler war.

Er selbst hatte keinen Versuch mehr gemacht, sich Bettina zu nähern.

Tiefer sank die Dämmerung. Allmählich glommen Sterne am Himmel auf, der Mond, noch hinter den Bäumen verborgen, warf einen gelbleuchtenden Schein über den Himmel.

Fröstelnd hüllte sich Bettina enger in ihren Schal, aber sie konnte sich nicht entschließen, ins Haus hinunterzugehen, wo bereits die Lichter brannten. Es war so still und schön hier oben in der Oktobernacht.

Plötzlich sah sie einen Mann den dunklen Hang heraufkommen. Robert? Nein, der ging viel elastischer.

Bettinas Herz begann plötzlich zu klopfen. Wenn – nein, das war ja dumm, unmöglich!

Da stand er schon vor ihr, müde, schlaff und so mager!

»Erich!« rief sie in Schreck und Jubel. Denn in diesem Augenblick war alles in ihr wie ausgelöscht, was sie getrennt hatte, und nichts lebendig als ein überströmendes Glücksgefühl, daß er da war – gekommen zu ihr.

Dann fiel er plötzlich vor ihr auf die Knie und vergrub den Kopf stumm in ihren Schoß. Seine Hände umklammerten sie, wie ein Versinkender die rettende Planke ergreift.

Bettina war so erschüttert durch diese stumme Sprache, die nur eine Deutung zuließ, daß auch sie kein Wort herausbrachte, und den geliebten Kopf nur fester an sich drückte.

Erst lange Zeit später begann Erich abgerissen:

»Ich habe es nicht länger ertragen, das Leben ohne dich, Bettina! Es war kein Leben, es war ein Sehnen Tag und Nacht, Bettina, wirst du mich wieder fortschicken?«

Sie war zu bewegt, um antworten zu können. Da fuhr er leis fort:

»Du sollst es wissen, Bettina, daß ich redlich gekämpft habe die Zeit her. Aus Stolz, und weil ich weiß, daß ich deiner nicht wert bin. Und weil ich keine Möglichkeit gesehen habe, dir zu beweisen, daß du mir bei allem berechtigten Groll in einem Punkt doch unrecht getan hast.«

»In welchem Punkt?«

»Weil du annimmst, ich hätte Ilse auch später noch geliebt, und du seist mir nichts gewesen. Die Liebe zu deiner Schwester aber ist längst gestorben, schon damals mit meiner Stimme. Was mich später in ihre Nähe getrieben hat, war Neugier; ich wollte hinter das Rätsel ihres Wesens kommen, das doch keiner lösen konnte als der Mann, den sie liebt. Und dann war es auch Verzweiflung, Unruhe und Eifersucht. Denn alles sprach dafür, daß du dich Reinitz zugewandt hättest.«

»Ich? Mein Gott, wie kannst du auf die Vermutung kommen? Du – wo ich doch nur für dich gelebt habe!« fuhr Bettina auf.

»Auch Ilse hat es geglaubt. Und ich habe gesehen, daß sie unglücklich darüber war wie ich. Aber wie ich hat auch sie damals noch nicht begriffen, daß es eifersüchtige Liebe war, was uns so ratlos und zerfahren machte. Denn ohne daß ich es wußte, Bettina, warst du mir alles geworden. Das Glück, das Leben selbst – aber erst als du mich von dir gestoßen hattest, ist mir das klar geworden. Und daß du mir unentbehrlich bist und ich nicht mehr leben konnte ohne dich. Denn die Liebe zu Ilse, die mich einst so närrisch gemacht hatte, ist ein Nichts gegen das, was ich dann für dich empfand!«

Er atmete tief auf.

»Jetzt weißt du alles, Bettina. Und mir ist jetzt leichter. Denn es war wie ein wildes Fieber in mir all die Zeit; einmal wenigstens muß ich es dir sagen.«

Erich preßte die Stirn auf ihre im Schoß ruhenden Hände.

»Bettina, muß ich wieder gehen, oder kannst du vergeben?« murmelte er.

Da beugte sie sich zu ihm nieder und küßte ihn leidenschaftlich.

»Nein, bleib! Das wäre ja keine Liebe, die nicht vergeben und vergessen könnte.«

*

Im Eßzimmer warteten alle ungeduldig auf Bettina, die immer noch nicht kam.

»Aber ich hab' mir's gleich gedacht«, sagte Emil ärgerlich, »wie ich Leske sah und ihm Gina dummerweise sagt, daß Bettina oben am Luginsland ist! Hätt' er mich nach ihr gefragt, ich hätte einfach geantwortet: Für Herrn Erich Leske ist meine Schwester nicht daheim, verstanden?«

»Das wäre vorlaut gewesen, Emil«, tadelte Tante Helene, »und Bettina hätte es dir wohl nie verziehen. Jetzt geh lieber und hole die beiden.«

»Was – ihn auch? Soll er denn mitessen?«

»Ich denke wohl, daß Bettina es so will, übrigens kannst du sie ja fragen.«

Emil rannte den Hang hinauf.

»Du, Bettina, es ist Essenszeit, und alle erwarten dich bereits. Dann soll ich auch fragen, ob dein – ob Herr Leske als Gast mitkommt.«

»Nein, Emil. Herr Leske kommt nicht als Gast mit, sondern als Hausherr, der sich von grünen Jungen hiemit den nötigen Respekt ausbittet, verstanden? Komm, Erich!«

Emil war sprachlos. Erich aber bot den rechten Arm Bettina, umschlang Emil mit dem linken und meinte gutmütig:

»Nichts für ungut, Emil. Wir werden uns schon vertragen, gelt?«

 

Ende

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