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Schach der Königin!« sagte Regierungsrat Forst zu seiner alten Freundin, der verwitweten Frau Gerda Heider, bei der er seit fast vierzig Jahren die Abende verbrachte.

Forst war schon als junger Mann, als man Frau Heider noch die schöne Gerda Hold nannte, täglich in die Villa gekommen, die zur Maschinenfabrik Hold-Heider gehörte.

Die Tochter des Hauses war seine erste und einzige Liebe gewesen; und damals hatte er sich sogar eine Zeitlang in der Hoffnung gewiegt, ihr Herz zu gewinnen.

Aber für Gerda Hold war er immer nur einer von vielen. Als er einmal schüchtern um sie zu werben wagte, schnitt sie ihm mit ihrem reizenden, kühlen Lächeln das Wort ab: »Still, still, mein Lieber, reden Sie keinen Unsinn, sonst müßte ich Ihnen ja einen Korb geben, und das wäre schlimm für mich! Denn wie sollte ich mich ohne meinen getreuen Forst behelfen? Nein, Sie müssen mein Freund bleiben.«

Forst empfand nicht die kalte Selbstsucht, die in ihren Worten lag. Er hörte nur, er solle ihr Freund bleiben, und er blieb es wirklich, auch als sie ein paar Jahre darauf den späteren Teilhaber ihres Vaters, Herrn Heider, geheiratet hatte – ohne Liebe. Denn eines solchen Gefühls war Gerda nur für sich selbst fähig.

Immerhin war es eine ganz glückliche Ehe geworden. Gerda war eine gute Ehefrau, erhielt sich ihre Schönheit und die Liebe ihres Mannes bis an die Schwelle des Alters und wußte die Vorteile ihrer Heirat, das große Vermögen, nach Gebühr zu schätzen.

Von den vier Kindern dieser Ehe blieb nur eines am Leben – der jüngste Sohn Hans.

Auf ihn war nach des Vaters Tod die Maschinenfabrik Heider-Hold übergegangen. Frau Gerda liebte ihn auf ihre Weise, selbstisch und tyrannisch. Hans glich ihr äußerlich sehr. Innerlich war er ganz verschieden geartet, er besaß ein heißes Herz, viel Temperament, aber auch Güte. Kurz nach dem Tod seines Vaters schloß er mit Alma Werner, der Tochter eines Amtsrichters, eine Liebesheirat, der zwei Kinder, Alfred und Gritli, entsprossen.

Leider kostete Gritlis Geburt die junge Mutter das Leben, und obwohl seitdem fünf Jahre vergangen waren, konnte der leidenschaftlich trauernde Witwer sich noch immer nicht in sein Schicksal finden.

Nur die Kinder, um die sich die Großmutter herzlich wenig kümmerte, hielten ihn in der Villa, die er sonst am liebsten verkauft hätte, weil ihn alles an sein verlorenes Glück erinnerte.

Durch all die Jahre hatte Regierungsrat Forst, glücklich in seiner selbstlosen Freundschaft zu Frau Gerda, Freud und Leid der Familie getreulich geteilt. Herr Heider hatte ihn als Freund geschätzt, Hans, dessen Pate er war, liebte ihn aufrichtig und dankbar, denn Onkel Forst war seinen von der Großmutter kühl und streng behandelten Kindern oft ein wohlwollender Anwalt.

»Schach der Königin!« wiederholte Forst, da Frau Gerda seine Worte anscheinend überhört hatte.

Aber mit einer ungeduldigen Bewegung schob sie das Schachbrett von sich.

»Ich mag heute nicht mehr spielen. Ich muß etwas mit Ihnen besprechen, Forst, ehe Hans aus der Fabrik heimkommt.«

»Oho! Und dazu machen Sie ein so sorgenvolles Gesicht?«

»Ja. Denken Sie sich: Heute habe ich einen Brief von Herta bekommen. Sie wissen – Herta Kiesebrech, die das Trauerjahr nach dem Tod ihres Mannes bei ihrer Schwiegermutter verbrachte. Das Jahr ist um, und sie fragt an, ob ich sie vorläufig als Gast aufnehmen wolle. Sie sehne sich hierher, es sei ihre zweite Heimat seit ihrer Mutter Tod. Ablehnen ist natürlich nicht gut möglich, da sie sonst keine Verwandten hat, also werde ich wohl in den sauren Apfel beißen müssen.«

»Warum sauer? Herta war doch immer ein munteres Ding, dessen Gegenwart belebend wirken wird. Seit Frau Almas Tod ist die Stimmung ja ohnehin zu ernst.«

»O ja. Aufmuntern! Das beabsichtigt sie ja wohl«, sagte Frau Gerda mit trockener Ironie. »Vermutlich aber noch viel mehr.«

»Ich verstehe Sie nicht, liebe Freundin. Was –«

»Gott, wie schwer von Begriff ihr Männer seid! Haben Sie denn alles vergessen? Daß Herta Hans' erste Liebe war, daß er auch ihr nicht gleichgültig war und daß sie sich vermutlich dessen jetzt zu erinnern beliebt! Das ist doch sonnenklar!«

»Verzeihen Sie, Gerda, aber das scheint mir recht unwahrscheinlich. Herta hat sich doch damals freiwillig für Kiesebrech entschieden.«

»Weil er Gutsbesitzer und reich war. Sie war immer eine gute Rechnerin, die liebe Herta. Jetzt, wo sie das Kiesebrechsche Vermögen in der Tasche hat, erinnert sie sich ihrer Jugendliebe und wird Jagd auf Hans machen. Daran zweifle ich nicht im geringsten.«

Forst zuckte die Achseln.

»Und wenn? Falls sie ihn wirklich liebt –«

»Bah, nehmen Sie doch nicht immer alles von der sentimentalen Seite! Liebe! Sie ist Witwe und will wieder einen Mann. Sie ist reich und will noch reicher werden. Auch ist sie herrschsüchtig und will eine Stellung in der Welt, wo sie herrschen kann. Als Witwe spielt sie keine Rolle. Das taugt für mich, weil ich Ruhe und Bequemlichkeit über alles liebe, aber nicht für Herta.«

»Verzeihen Sie, aber Sie wollen doch immer, daß Hans sich wieder verheiratet.«

»Aber durchaus nicht mit Herta Kiesebrech! Ich will, daß mir jemand all diese lästigen Geschichten mit dem Haushalt und den Kindern abnimmt, nicht aber mich verdrängt. Herrin im Hause will ich bleiben, aber neben Herta bliebe ich es keine Stunde. Glauben Sie, ich hätte Lust, hier der Niemand zu werden?«

»Daran ist ja nicht zu denken! Eine Frau wie Sie!«

»Verlassen Sie sich darauf, daß es so käme, wenn alles sich nach Hertas Wünschen gestaltete.«

»Liebe Freundin, Sie vergessen, daß Hans damals sehr unter Hertas Treulosigkeit litt, daß er sie ihr weder vergeben noch vergessen hat, auch wenn nachher sein ganzes Herz Alma gehörte.«

»Frauen vom Schlag Hertas können alles vergessen lassen.«

»Und sein Stolz?«

»Unsinn! Stolz ist nichts gegen den Willen einer entschlossenen, verführerischen Frau, und das ist Herta. Nein, Hans muß heiraten, ehe sie kommt, ein einfaches, bescheidenes Mädchen, das ohne Umsturzideen das Haus betritt. Mit einem Wort: ein Mädchen wie Gertrud Vorbeck, die ich mir schon lange zur Schwiegertochter wünsche. Und dazu müssen Sie mir helfen, lieber Freund.«

Frau Heider fuhr nervös zusammen. Draußen im Gang ertönte Kindergeschrei, dazwischen eine weinerliche Knabenstimme.

»So laß mich doch, Gritli! Ich sag es sonst Großmama! Den Apfel hat mir Fräulein Andermatt gegeben als Trost, weil ich –«

»Und ich will ihn haben! Haben! Haben!« schrie die zweite Kinderstimme.

»Schrecklich, diese Kinder! Sie sind noch mein Tod!« klagte Frau Gerda und hielt sich die Schläfen. »Gritlis Geschrei bei jeder Gelegenheit ist fürchterlich, und der ewig weinerliche, kränkliche Bub, der fortgesetzt geschont werden soll, geht mir erst recht auf die Nerven. Wo nur Gritlis Fräulein wieder steckt? Dr. Neuhäuser ist auch nie, wo er sein soll – bitte, lieber Forst, klingeln Sie doch nach Johanne, daß sie die Kinder fortschafft!« –

Während dies im ersten Stockwerk des Hauses vor sich ging, kam Hans Heider ahnungslos durch die Lindenallee auf das Haus zu.

Er hatte länger als sonst im Büro gearbeitet. Nun dämmerte es schon stark. Hinter den Linden, die in voller Blüte standen, stieg silbern der Mond auf. In den Wiesen zirpten die Grillen, alles blühte und duftete ringsum, geheimnisvoll umwoben vom Zauber des Sommerabends.

Heider ging langsam; er genoß diesen Zauber. Die Fabrik lag etwa eine Viertelstunde von der Villa entfernt, getrennt durch die Arbeiterkolonie und die Lindenallee, die am Parktor endete.

Plötzlich blieb er stehen und blickte neugierig zwischen den Bäumen durch auf ein kaum dem Kindesalter entwachsenes Mädchen, das inmitten der Wiese saß und sich angelegentlich mit einem weißumhüllten Gegenstand beschäftigte.

Er erkannte Brigitta Andermatt, die älteste Tochter seines Buchhalters, dessen Häuschen in der Nähe lag.

Sie hatte rötlich blondes, gelocktes Haar, das im Licht des aufsteigenden Mondes seltsam schimmerte, und ein süßes Gesicht mit zwei großen, dunklen Augen.

Ein paar Haarsträhnen fielen über das Gesicht und wurden zuweilen mit ungeduldiger Bewegung nach rückwärts geschüttelt.

Dabei plauderte das Mädchen halblaut:

»Sei gut, ich laß dir ja nichts geschehen, es wird gleich nicht mehr wehtun – so, das frische Wasser tut gut, gelt?«

»Was machen Sie denn da, Fräulein Britta?« fragte Heider neugierig, nachdem er ihr eine Weile zugesehen hatte.

Sie fuhr beim Klang seiner Stimme zusammen und wurde rot, während sie hastig aufstand.

»Sie sind es, Herr Heider«, sagte sie verwirrt. »Ich dachte schon, daß Mama – was ich hier mache?« Sie schüttelte die Locken aus dem Gesicht. »Einen kleinen, fremden Hund verbinden, der überfahren oder von anderen Hunden gebissen worden sein muß. Er hat sich gerade noch mühsam an unsere Türschwelle geschleppt. Aber Mutter erlaubt nicht, daß ich ihn ins Haus nehme, der kleinen Brüder wegen, die sich eine Krankheit holen könnten, meint sie. So habe ich ihn hierher genommen, nachdem ich seine Wunden am Bach ausgewaschen habe. Jetzt verbinde ich ihn, so gut es geht.«

»Und wo wollen Sie dann mit dem kranken Tier hin?«

»Das weiß ich noch nicht«, sagte Britta bekümmert. »Mutter hat mir eigentlich verboten, mich weiter mit dem Tier zu beschäftigen. Aber ich bringe es nicht übers Herz – es ist ja so erbarmungswürdig und kann sich selber nicht fortbewegen! Bis morgen früh wäre es vielleicht tot. Da wollte ich versuchen, es drüben in der Siedlung einstweilen in Pflege zu geben. Werkmeister Schattel nimmt es sicher.«

»Da weiß ich etwas Besseres, Fräulein Britta. Mein Förster Kulmer ist so gut wie ein Tierarzt und hat für Hunde ein besonderes Herz. Er nimmt Ihnen Ihren Schützling mit tausend Freuden ab und doktert ihn gesund. Sie brauchen ihm das Tier nur ins Forsthaus zu bringen.«

Britta machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Jetzt am Abend? Beim Heimweg wäre es schon Nacht, und der Weg führt doch zur Hälfte durch Wald.«

»Sie haben recht, das geht nicht. Das heißt – wenn Sie warten wollten, Fräulein Britta, bis ich einen Sprung im Haus war, würde ich Sie gern zur Försterei begleiten.«

Heider meinte das ganz harmlos, denn in seinen Augen war die siebzehnjährige Britta noch immer ein Kind.

Sie aber wurde blutrot.

»Ich danke, Herr Heider. Es würde zu lange dauern, und Mutter schimpft, wenn ich nicht zum Abendessen daheim bin. Ich will es doch lieber bei Werkmeister Schattel probieren.«

»Wie Sie wollen, Fräulein Britta. Gute Nacht und dem Patienten baldige Besserung!«

»Danke. Gute Nacht auch, Herr Heider!«

Der Fabrikant setzte seinen Weg fort. Armes, kleines Ding, dachte er mitleidig. Sie hat's auch nicht gut daheim neben der herrschsüchtigen, lieblosen Stiefmutter, die nur auf ihre eigene Brut bedacht ist. Andermatt hat mir öfter geklagt, wie er darunter leidet – aber geht's mir denn besser? Dort ist's die Stief-, hier die eigene Großmutter, an deren innerer Kälte liebebedürftige Kinderherzen langsam zugrunde gehen.

Britta kniete noch auf der taufeuchten Wiese inmitten all der blühenden Blumen und starrte Heider verträumt nach.

Wie gut er war! Gleich wäre er mit ihr wegen eines fremden Hundes den weiten Weg bis zur Försterei gegangen!

Der schrille Ruf einer Frauenstimme riß sie aus ihrer Verzückung.

»Britta! Britta, wo zum Kuckuck steckst du denn schon wieder? Wirst du augenblicklich heimkommen!«

Britta drückte noch rasch einen Kuß auf den verbundenen Kopf des Hündchens, ließ es dann sanft ins Gras gleiten und flüsterte ihm zu: »Wart nur, ich komme schon wieder, bald!«

Dann eilte sie dem Haus zu.

*

Frau Heider mischte mit nervösen Fingern die Karten zu ihrer Patience, die sie täglich nach dem Abendessen legte, während Forst und Hans ihre Zigarren rauchten. Sie nahm das unterbrochene Gespräch wieder auf:

»Gewiß ist es eine Sache, die überlegt sein will. Aber dazu, lieber Hans, glaube ich, hast du ja wohl lange Zeit gehabt. Zu lange überlegen tut beim Heiraten auch nicht gut. Und in der Sache selbst sind wir ja einig, denke ich: So kann es nicht weitergehen.«

»Das heißt –«

»Nein, so geht es nicht weiter! Ich bin zu alt zum Kindererziehen, und Fräulein Rodach und Dr. Neuhäuser sind nur bezahlte Kräfte. Dabei verwildern die Kinder. Ich hoffe also, du siehst es endlich ein und machst dieser Wirtschaft so rasch wie möglich ein Ende, lieber Hans.«

»Du weißt, Mutter, daß mir der Sinn nach allem eher als nach Liebe steht.«

»Liebe! Mein Gott, wer spricht denn davon? Ein Witwer mit Kindern, ein Mann in deinen Jahren – du wirst bald vierzig – heiratet doch nicht aus Liebe, sondern einfach aus Pflichtgefühl. Daß ich dir das erst sagen muß?«

Heider errötete.

»Ich habe nicht gewußt, daß man mit siebenunddreißig Jahren schon zu den alten Männern gehört.«

»Gehört man auch nicht. Nur für Dummheiten ist man da schon zu alt. Du brauchst daher bei deiner zweiten Frau nur gewisse Charaktereigenschaften in Betracht zu ziehen. Sie muß gewissenhaft, pflichtgetreu, bescheiden und anspruchslos sein. Das ist alles.«

»Eine solche Frau findet man nicht im Handumdrehen.«

»Du brauchst sie nicht erst zu suchen, denn sie ist schon da: Gertrud Vorbeck. Sie ist nicht hübsch, aber von angenehmem Äußeren, paßt mit ihren dreißig Jahren dem Alter nach zu dir und besitzt alle erwünschten Eigenschaften. Übrigens weißt du das alles so gut wie ich, denn wir sprechen heute ja nicht zum erstenmal darüber.«

»Es ist wahr, du preisest sie mir seit Jahr und Tag an, Mutter.«

»Weil ich dein Bestes will. Und jetzt überschlafe die Sache noch einmal und tu morgen den ersten Schritt: Begleite mich und Onkel Forst zu Frau Vorbeck, wo wir morgen Whistabend haben!« Frau Heider blickte auf die Uhr und erhob sich.

»Meine Schlafenszeit. Du begleitest Onkel Forst wohl noch hinunter, Hans, und schließt ihm das Tor auf, ja?«

»Selbstverständlich, Mutter. Ich werde Onkel Forst sogar heimbegleiten, wenn er will, denn ich möchte doch auch seine Ansicht hören.«

»Tu das, mein Junge! Besprecht euch nur!«

Sie lächelte zufrieden, denn sie wußte genau, daß ihr getreuer Freund längst nur mit ihren Augen sah, mit ihrem Hirn dachte.

Heider begleitete den Regierungsrat bis zum Haus des Bezirksarztes, wo Forst drei Zimmer bewohnte.

Frau Gerda hatte richtig vermutet: Forst redete Hans zu, dem allzeit klugen und bewährten Rat seiner Mutter zu folgen.

Über dem inhaltsschweren Gespräch war Heider der Schlaf gründlich vergangen, so daß er, statt heimzugehen, noch einen Spaziergang machen wollte.

Die Stille der lauen Sommernacht schien ihm das beste Mittel, seine unruhigen Gedanken zu sammeln.

Im Grunde war er nicht abgeneigt, dem Wunsch seiner Mutter nachzukommen. Er sah ein, daß seine Kinder eine Mutter brauchten; nicht darum, weil sie sonst verwilderten, was er nicht befürchtete, sondern weil ihre Jugend unter der kühlen, liebeleeren Atmosphäre, die Frau Gerda um sich verbreitete, leiden würden.

Nur daß es gerade Gertrud Vorbeck sein sollte, gefiel ihm nicht. Er mochte sie nicht besonders. Freilich – Ansprüche an sein Herz würde sie nicht stellen, denn ihr fehlte jedes Temperament. Und das war gut, denn seine Liebe gehörte noch immer Alma, würde wohl nie einer anderen Frau gehören können.

Den Kindern wäre sie eine pflichtgetreue Mutter, dafür bürgte ihr Charakter. Auch gutmütig schien sie zu sein, klug und anspruchslos.

Sein Weg hatte ihn in die Nähe des Friedhofs geführt, der gleich hinter der Siedlung lag. Da erfaßte ihn die unwiderstehliche Sehnsucht, einzutreten und sich am Grab Almas noch einmal mit sich selbst zu beraten, ehe er einen endgültigen Entschluß faßte.

Aber er kam nicht bis zum Grab am Ende des Friedhofs, denn auf dem Weg dahin hielt ihn plötzlich etwas auf. Zwischen zwei Grabhügeln sah er eine dunkle Gestalt lang hingestreckt, als habe sie sich im Übermaß des Schmerzes da hingeworfen. Leises Weinen durchdrang die Stille der Nacht. Die Weinende war ein junges Mädchen, dessen metallisch gleißendes, rotgoldenes Haar Heider sofort an Britta Andermatt erinnerte. Nähertretend erkannte er, daß sie es wirklich war.

Erschüttert blieb er stehen, unschlüssig, ob er sie anreden sollte oder nicht. Auch das Grab mit dem weißen Marmorkreuz erkannte er, um das ein Rosenstrauch blütenschwer seine Äste schlang. Es war das ihrer Mutter.

Arme, kleine Britta! Wie tief und leidenschaftlich mußte ihr Schmerz sein, wenn er selbst das so natürliche Grauen vor der nächtlichen Einsamkeit dieses traurigen Ortes in dem Kind übertäubte!

Er konnte nicht vorübergehen, ohne wenigstens den Versuch zu machen, sie zu trösten.

Britta hatte den Kopf in den Rasen des Hügels gedrückt und weinte so leidenschaftlich, daß sie Heiders Schritte nicht hörte. Erst als er ihr die Hand auf die Schulter legte und sanft sagte: »Fräulein Britta, was tun Sie hier nachts allein auf dem Friedhof, und warum weinen Sie so?« fuhr sie erschrocken auf.

Ein scheuer Blick streifte ihn, dann senkten sich die langen Wimpern hastig wieder, während dunkle Glut das verweinte Gesicht überzog. Sie blieb stumm.

Heider setzte sich neben sie und nahm ihre Hände in die seinen. Er tröstete sie voll Güte, fragte auch nach der Ursache ihres Kummers, aber Britta blieb stumm; der trostlose Ausdruck schwand nicht aus ihrem süßen Kindergesicht.

Erst als Heider sie aufforderte, heimzugehen, denn der Friedhof sei nachts kein Aufenthalt für kleine Mädchen und daheim werde man sich wohl schon sorgen um sie, schüttelte Britta trotzig den Kopf und stieß bitter heraus:

»O nein, um mich sorgt sich niemand! Papa ist über den Sonntag zu seinem Bruder gefahren, und sie – wenn ich nie wieder käme, wäre es ihr nur recht!«

Die Stiefmutter war also schuld an ihrem Kummer! Heider hatte es sich gleich gedacht. Sein Mitleid wuchs. Er streichelte die von Tau und Tränen feuchten Hände Brittas, und seinem Zuspruch gelang es endlich auch, die Ursache von Brittas Schmerz nach und nach aus ihr herauszufragen.

Sie hatte mit den beiden kleinen Brüdern, Buben von fünf und sechs Jahren, auf deren Bitten spielen wollen, aber die Stiefmutter hatte es verboten; Britta könne nicht richtig mit Kindern umgehen, die bei ihr nur ungezogen und ausgelassen würden. Die Brüder gingen sie überhaupt nichts an.

Andere harte Worte fielen noch. Besonders die Bemerkung, sie sei schuld, wenn kein Frieden im Haus wäre, immer stehe sie im Weg und sei der Stein des Anstoßes, traf Britta bis ins Herz.

»Und ich habe doch immer getan, was ich ihr nur von den Augen absehen konnte.«

»Ich werde mit Ihrer Mutter sprechen«, sagte Heider, dem das Herz vor Empörung und Mitleid zitterte. »So darf das nicht weitergehen. Man muß Frau Andermatt nur einmal ernstlich ins Gewissen reden.«

»Ach, das würde alles nur verschlimmern.«

»Aber ich will und werde Ihnen helfen, Britta.«

Britta blickte zaghaft zu ihm auf.

»Wenn Sie das wirklich wollen, Herr Heider, dann helfen Sie mir, fortzukommen. Ich möchte eine Stellung annehmen, als Stütze oder zu Kindern. Ja, zu Kindern am liebsten, denn ich habe Kinder so gern. Deshalb hat es mich ja so tief getroffen, daß ich nicht mehr mit den Brüdern spielen soll. Kinder und Tiere – mein Leben gäbe ich dafür hin! Glauben Sie, daß sich etwas für mich finden würde?«

Heider schwieg. Wirr kreuzten sich die Gedanken in seinem Kopf. Dieses halbe Kind bei fremden Leuten? Die Vorstellung empörte ihn. Er sah sie an, wie sie, vom Mond beleuchtet, neben ihm saß, die dunklen Augen erwartungsvoll zu ihm aufgeschlagen. Wie fein alles an ihr war! Die weichen Linien des Gesichts, der Schultern und Arme, der rote Mund –

Was würde ihr Los sein unter fremden Menschen? Die Männer würden hinter ihrer Schönheit her sein. Die Frauen sie hassen und drangsalieren.

Das durfte nicht sein!

Zwischen diesen blitzschnell sich kreuzenden Gedanken klangen immer wieder Brittas Worte auf: »Ich habe Kinder so gern, mein Leben gäbe ich für sie hin.«

Heiders Herz schlug plötzlich schnell und beklommen in der Brust.

War's Zufall, der ihn heute hierhergeführt hatte, oder Schicksal?

»Wollen Sie mir helfen, eine Stelle zu finden, Herr Heider?« sagte Britta schüchtern, die sein Schweigen bedrückte. »Ich weiß ja nicht, wie man das anstellt, und Vater müßte man es auch begreiflich machen, daß es so am besten für uns alle wäre.«

Heider atmete tief auf. Sein Entschluß war gefaßt. Ob Gertrud Vorbeck oder sie – für ihn war es gleich. Nein, Britta war besser, besonders für die Kinder, denn sie hatte ein Herz.

»Liebe Britta«, begann er mit nicht ganz sicherer Stimme, »eine Stelle als Kinderfräulein kann ich Ihnen nicht verschaffen –«

»Oh, Herr Heider!«

»Aber«, fuhr er ruhig fort, »ich möchte Ihnen einen anderen Vorschlag machen. Meine Kinder brauchen eine Mutter, die sie liebhat – und Sie haben Kinder ja gern – werden Sie also meine Frau! Ich glaube, wir würden alle dabei gewinnen. Meinen Sie nicht auch?«

Sie war so verwirrt, daß sie keinen Laut herausbrachte.

»Habe ich Sie erschreckt, Britta?« fragte er leise. »Ich weiß, ich bin gegen Sie ein alter Mann und hätte eigentlich kein Recht, Ihre Jugend an mich zu fesseln. Aber Sie fühlen sich unglücklich und verlassen, und besser wäre es doch als fremder Leute Brot essen. Oder – ist Ihr Herz nicht mehr frei, Britta?«

»Doch – ganz frei«, flüsterte sie.

»Und – Sie haben keine Abneigung gegen mich?«

»Nein, o nein«, kam es noch leiser über ihre Lippen.

»Dann sagen Sie also – ja?«

Britta nickte.

Da küßte er sie auf die Stirn wie ein Bruder seine Schwester, ruhig und leidenschaftslos.

»Liebe, kleine Britta«, sagte er herzlich, »du sollst keine Furcht vor der Zukunft haben. Ich werde dir das Leben so angenehm wie möglich gestalten und dir nicht lästig fallen. Alles, was ich von dir erwarte und erbitte, ist: Habe meine armen Kleinen lieb und trachte in Frieden mit meiner Mutter auszukommen! Willst du das?«

»Oh, gern – so gern!«

Heider hörte nicht den leisen Jubel, der in ihrer Stimme zitterte. Er warf noch einen scheuen Blick auf das Grab am Ende des Friedhofs, unter dem seine erste Frau ruhte, dann erhob er sich.

Er wollte ihren Arm an den seinen ziehen, aber Britta kniete auf dem Grabhügel nieder. Leise bewegten sich ihre Lippen.

»Komm, Britta, wir wollen jetzt heimgehen! Hier unter den Toten ist wirklich kein passender Platz für ein Brautpaar.«

Heider, der glaubte, sie bete, trat etwas zurück. Aber es war kein Gebet, das Britta murmelte, sondern ein Dank. »Du hast mir ihn gegeben, Mutter«, flüsterte sie, »weil du dein Kind nicht länger verlassen und unglücklich wissen willst. Hilf mir auch, dieses Glück zu tragen und seiner würdig zu werden!«

*

»Nun, Hans, hast du es dir überlegt?« fragte Frau Gerda am anderen Morgen. Ein Blick neugieriger Spannung begleitete die Worte. Der Sohn schien ihr anders als sonst, verändert, ernster und doch unruhig.

»Ja, Mutter.«

»Nun, und – habe ich nicht recht mit meinem Rat? Wirst du ihn befolgen?«

»Ich habe es bereits getan, Mutter.«

»Wie?« Frau Heider starrte den Sohn verständnislos an. »Du hast …?«

»Ich habe mich bereits verlobt«, antwortete Heider gelassen.

»Aber das ist doch nicht möglich! Von gestern auf heute morgen? Es war doch schon viel zu spät für einen Besuch bei Vorbecks.«

»Ich habe mich nicht mit Gertrud Vorbeck verlobt, Mutter, sondern mit Britta Andermatt.«

»Was? Mit der rothaarigen Tochter deines Buchhalters? Hans, um Gottes willen, bist du denn verrückt?« fuhr Frau Gerda heftig auf.

»Durchaus nicht. Britta ist übrigens nicht rothaarig, sondern höchstens tizianblond. Und sie wird genau das sein, was ich brauche: ein anspruchsloses, bescheidenes Wesen, das meine Kinder liebhat.«

Frau Heider konnte sich noch immer nicht fassen. Die Wahl des Sohnes an sich beunruhigte sie nicht sehr. Britta war in ihren Augen ein Nichts. Sie würde weder herrschen wollen noch können. Außerdem mußte sie sich als Tochter eines Angestellten natürlich ducken, das war selbstverständlich. Zu fürchten also war sie nicht, und eine Liebesheirat war es auch nicht, wie man an Hans' gleichgültigem Ton merkte. Somit erfüllte diese Heirat genau den Zweck, den sie haben sollte: eine Schranke zu sein gegen ehrgeizige Pläne von anderer, gefährlicherer Seite.

Nur daß es die Tochter eines Untergebenen sein mußte, verletzte Frau Heiders Stolz.

»Wie ist denn das so schnell gegangen?« fragte sie neugierig.

Hans erzählte kurz.

»Hm, da hat es ja nicht mal an Romantik gefehlt. Freilich nur – Kirchhofsromantik!« bemerkte Frau Gerda spöttisch. »Nun, ich habe nichts einzuwenden. Wann willst du heiraten? Bald vermutlich?«

»So rasch wie möglich. Es liegt ja kein Grund vor, die Heirat hinauszuschieben. Heute abend kommt Andermatt zurück. Ich will ihn mit meinem Wagen von der Station abholen und auf der Rückfahrt mit der Sachlage bekannt machen. Eine feierliche Werbung widerstrebt mir. Da es keinerlei Hindernisse gibt, wird ja auch Andermatt nichts einzuwenden haben.«

»Das wäre noch schöner! Der gute Mann kann sich ja nur geehrt fühlen.«

»Somit«, schloß Heider, »kann ich bereits morgen mit dem Pfarrer wegen des Aufgebots reden, und in ein paar Wochen kann die Hochzeit sein; in aller Stille natürlich, ohne Aufsehen, das ist Bedingung.«

Er warf einen Blick auf die Uhr und stand hastig auf.

»Höchste Zeit, in die Fabrik zu gehen! Da hätte ich mich beinahe verplaudert. Guten Morgen, Mutter!«

Ein flüchtiger Kuß auf die Stirn der Mutter, und Frau Heider war allein. Sie blieb noch ein paar Minuten gedankenversunken sitzen, dann erhob sie sich und rief nach dem Diener Anton.

»Gehen Sie gleich ins Dorf zu Regierungsrat Forst, Anton! Ich lasse ihn bitten, schleunigst zu mir zu kommen.«

»Sehr wohl, gnädige Frau.«

Regierungsrat Forst richtete eben sein Angelzeug, um fischen zu gehen, denn er war ein leidenschaftlicher Sportfischer, als Anton mit seiner Botschaft bei ihm erschien.

»Jetzt am Vormittag? Und es ist dringend? Ist denn etwas geschehen?«

Anton wußte von nichts.

Die Aufforderung fiel so sehr aus dem Rahmen der beiderseitigen Gewohnheiten, daß Forst alles liegen und stehen ließ und zur Villa eilte, wo er dann sofort die große Neuigkeit erfuhr.

Frau Gerda aber pries sich wieder einmal glücklich, den ehemaligen Anbeter in einen so ergebenen, treuen Freund verwandelt zu haben. So brauchte sie nicht mit ihren Gedanken allein zu bleiben, sondern konnte sich mit ihm aussprechen.

Sich mit jemand aussprechen, der ihr in allem beistimmte, war etwas, worauf Frau Gerda immer Wert gelegt hatte. Nun gar in diesem Fall, wo es so viel zu überlegen gab, denn natürlich fiel es ihr nicht ein, diese Andermatts etwa in Zukunft als Verwandtschaft mit in Kauf zu nehmen oder auch nur mit ihnen in Fühlung zu treten.

Die Tochter in Gottes Namen! Sie wurde ihre Schwiegertochter, und man würde alles so einrichten, daß sie nicht störte. Aber die Eltern mußten aus dem Gesichtskreis Heiders verschwinden. Abgesehen davon, daß Brittas Vater nicht in einem Angestelltenverhältnis zu seinem Schwiegersohn stehen konnte, hätte ihre Anwesenheit lästige Konsequenzen. Schon bei der Hochzeit – Frau Gerda schauderte, wenn sie sich vorstellte, daß die Buchhaltersleute an ihrem Tisch sitzen, in der Kirche neben ihr stehen und womöglich das verwandtschaftliche Du beanspruchen könnten. Und dann die beiden Sprößlinge! Unmöglich! Sie wollte das alles gleich nachher mit Forst überlegen.

*

Es geschah alles, wie Frau Gerda es wünschte.

Heider ließ seiner Mutter völlig freie Hand, stimmte allen Vorschlägen zu und tat, was sie ihm riet.

Die Hochzeit sollte in drei Wochen ohne jedes Gepränge stattfinden und Heider bis dahin nach Wien gehen, wo er kürzlich ein Zweiggeschäft eingerichtet hatte. Es gab dort noch allerlei für ihn zu tun, und er entging durch diese Reise allen Bräutigamspflichten, die ihm in seiner Lage nur lästig erschienen wären.

Wegen der Schwiegereltern traf es sich gut, daß ein Grazer Geschäftsfreund Heiders einen Buchhalter suchte und sich deshalb vor kurzem an ihn gewandt hatte. Heider empfahl Andermatt und setzte nicht nur durch, daß sein Gehalt dort erhöht wurde, sondern auch, daß der Posten sofort angetreten werden mußte.

Britta sollte bis zu ihrer Hochzeit ins Schulhaus übersiedeln, wo die Oberlehrerin, eine entfernte Verwandte von Frau Andermatt, Mutterstelle bei ihr vertreten würde.

Vater Andermatt, ein durch die Verhältnisse gedrückter, von Natur aus überbescheidener Mensch, war mit allem einverstanden und froh, seine Älteste, die dauernd der Zankapfel zwischen ihm und seiner Frau war, so glänzend versorgt zu sehen und endlich daheim Frieden zu haben.

Frau Andermatt aber, der durch die Verlobung der Stieftochter mit dem reichen Fabrikanten gewaltig der Kamm geschwollen war, entrüstete sich nicht wenig, als ihr Mann mit diesen Nachrichten heimkam.

Ihre Träume von Macht zerrannen jäh.

»So ist er?« rief sie erbost. »Er will uns also ganz einfach los sein und nicht einmal bei der Hochzeit dulden? Ein schöner Schwiegersohn! Da muß er ja Britta gewaltig lieben, wenn er so mit ihren Eltern umgeht!«

Andermatt gab sich alle Mühe, sie zu beruhigen, indem er ihr die Vorteile ihrer künftigen verbesserten Lebenslage vorstellte. Zuletzt meinte er bedrückt:

»Was die Liebe angeht, liebe Käthe, so fürchte ich, ist es von seiner Seite keine Liebesheirat. Er sucht eben eine Mutter für seine Kinder. Gott gebe, daß Britta, die ihn zweifellos liebt, es nie merkt.«

Frau Käthe beruhigte sich. Der Gedanke, daß die ihr verhaßte Stieftochter, die sie im stillen schon rasend beneidet hatte, es doch nicht ganz so schön haben würde, versöhnte sie mit der Demütigung, die Heider ihr angetan hatte. So zuckte sie nur leichthin die Achseln.

»Gott, man kann eben nicht alles haben. Liebe? Was weiß Britta davon! Nichts! Was man nicht kennt, vermißt man auch nicht.«

Darin hatte sie recht. Britta vermißte nichts. Sie liebte Heider leidenschaftlich, aber noch voll Respekt, wie jemand, der turmhoch über ihr stand. Was er tat und beschloß, war in ihren Augen untadelig. Seine Freundlichkeiten nahm sie für Liebe. Das Fehlen jeder Zärtlichkeit fiel ihr nicht auf. Denn in den zwei Tagen zwischen der Verlobung und Heiders Abreise waren sie nicht einen Augenblick allein. Auch drängte sich so vieles zusammen: die Vorstellung bei Frau Gerda, der gemeinsame Besuch in der Kinderstube, wo Britta mit Fredy und Gritli gleich Freundschaft schloß, Besprechungen über die Hochzeit, Besuch im Pfarrhaus, die Übersiedlungsvorbereitungen daheim – Britta kam nicht zur Besinnung.

Außerdem war sie unverdorben, weltfremd und noch ganz kindlich. Noch wußte sie nicht, was Leidenschaft war. Für sie war die Frage Liebe so einfach: Da er sie zur Frau wollte, mußte er sie doch lieben!

Er aber atmete auf, als er im Zug saß. Wie ein dumpfer Druck hatte es in diesen Tagen auf ihm gelegen.

Äußerlich hatte er alles getan, was er konnte. Die Mutter sollte die Wohnung während seiner Abwesenheit instand setzen lassen und an nichts dabei sparen, um Brittas Wünsche zu erfüllen. Auch die persönliche Ausstattung der Braut war ihr übertragen worden. Der Gärtner war angewiesen, jeden Morgen einen Blumenstrauß zu Fräulein Andermatt zu schicken. Fräulein Rodach, die Kindergärtnerin, und Dr. Neuhäuser, Fredys Lehrer, hatte ihr täglich die Kinder zu bringen.

Konnte er mehr tun? Er verneinte die Frage, aber sie beunruhigte ihn doch.

Frau Gerda machte sich die ihr zugewiesene Aufgabe bequem. Sie schrieb an ein erstklassiges Modehaus und bestellte einige vollständige Ausstattungen an Kleidern, Wäsche und Schuhen, wünschte aber mit Anfragen und Proben verschont zu werden. Am zwanzigsten Juni mußte alles geliefert sein.

Dann ließ sie Britta kommen und führte sie in die früher von Alma und Hans bewohnten Zimmer. Sie sollte sagen, was sie geändert wünschte. Überwältigt von der gediegenen Einrichtung, wagte sich Britta kaum recht umzusehen und erklärte, es sei ja ohnehin alles so schön. Da schenkte ihr Frau Gerda, zufrieden, aller weiteren Mühen enthoben zu sein, eine kostbare Diamantenagraffe und entließ sie in Gnaden.

So blieben die Zimmer, wie sie zur Zeit von Heiders erster Ehe gewesen waren. Am zweiten Juli sollte die Hochzeit sein. Den Brief von Herta Kiesebrech hatte Frau Gerda bisher nicht beantwortet. Damit hatte es Zeit bis zur Rückkehr von Hans. Dann wollte sie ihr gleich die bevorstehende Hochzeit anzeigen.

*

Am achtundzwanzigsten Juni kam Heider in gedrückter Stimmung zurück. Immer klarer war ihm während seines Wiener Aufenthalts geworden, welche Verantwortung er durch eine Verlobung mit einem so jungen Wesen auf sich genommen hatte, er, in dessen Herzen unverwischt Almas Bild lebte! Er kam sich geradezu wahnsinnig vor und machte sich die bittersten Vorwürfe. Es war eine Treulosigkeit gegen Alma, ein Verbrechen an Britta, die heute noch ein Kind war, morgen eine Frau sein würde und ihn für ein zerstörtes Leben verantwortlich machen konnte. Am liebsten hätte er alles rückgängig gemacht, aber das ließ sein Stolz nicht zu. Es war auch unmöglich, Brittas wegen. Was hätte er ihr sagen sollen, ihr, die so vertrauend zu ihm aufsah?

Er zitterte im stillen vor dem Wiedersehen mit Britta.

Er war unangemeldet am Abend angekommen. Frau Gerda und Forst legten wie gewöhnlich ihre Patience.

»Oh, du wirst bestimmt glücklich mit der kleinen Britta, Hans!« sagte Frau Heider lächelnd und mischte von neuem die Karten. »Sie wird aufblühen, ich sehe es schon! Sie ist wirklich ein nettes, liebes Ding.«

Heider stand eine Weile neben dem Kartentisch und starrte schweigend auf die bunten Blätter, die die schlanken, gepflegten Hände seiner Mutter auflegten und zusammenschoben, mischten und wieder auflegten. Der Eifer und die Spannung in den alten Gesichtern machten ihn nervös.

Unter dem Vorwand, müde von der Reise zu sein, empfahl er sich.

»Wie, du willst den Ausgang der Patience gar nicht abwarten?« fragte seine Mutter und blickte auf.

»Nein, ich möchte lieber schlafen gehen.«

»Nun, dann geh, mein Junge!«

Aber Heider ging nicht ins Bett. Es trieb ihn zu den Zimmern, in denen er einst mit Alma glücklich gewesen war und die er seither nur selten betreten hatte.

Eine Art Neugier war in ihm. Seine Mutter hatte ihm geschrieben, daß sie alles für den Einzug der jungen Frau in Ordnung gebracht habe. Nun war er begierig zu sehen, welche Veränderungen in den Räumen vorgenommen worden waren. Hoffentlich hatte man sie durch Umstellen und Neuanschaffungen so verwandelt, daß nichts mehr an vergangene Zeiten erinnerte.

In dieser Hoffnung wurde er jedoch enttäuscht. Es war alles geblieben, wie es war. Frau Gerda hatte es nicht für nötig gefunden, auch nur eine Blumenschale zu verrücken oder ein Bild anders zu hängen.

Mit großen Augen und finster gefalteter Stirn starrte er um sich. Hier sollte er leben? Mit einem fremden Wesen, wo jeder Gegenstand noch gleichsam von Almas Hauch durchtränkt, die Luft von Erinnerungen erfüllt war?

Er stand in dem kleinen Wohnzimmer Almas; dort an dem runden Mahagonitischchen hatte sie gefrühstückt, in der traulichen Kaminecke hatten sie die Abende verbracht. Klang nicht Almas Lachen noch durch den Raum? Sie hatte so gern gelacht!

Die Flügeltüren zum anstoßenden Schlafzimmer standen offen. Heider hatte alle Lichter angedreht, auch die Ampel über den Betten.

Vorbei, vorbei, für immer! Ein rasender Schmerz krampfte ihm das Herz zusammen.

Und vor dem Spiegel sollte nun die Fremde sitzen? Eine Fremde auf den Kissen liegen?

Er ging in sein Zimmer und klingelte dem Diener.

»Warum ist drüben in der Wohnung noch nichts instandgesetzt worden, Knauer? Ich habe doch vor meiner Abreise angeordnet, daß alles zum Empfang der gnädigen Frau vorbereitet werden soll.«

Der Diener machte ein verlegenes Gesicht.

»Es ist alles geputzt und gesäubert worden, gnädiger Herr. Frau Heider ließ auch alles mit frischer Wäsche beziehen. Sie meinte, es sei recht so.«

»Ah, man glaubt, ich werde meine junge Frau mit altem Kram umgeben? Soll sie vielleicht auch noch die vorhandene gebrauchte Wäsche auftragen? Nein, mein Lieber, da habt ihr mich falsch verstanden! Es muß alles von Grund auf neu angeschafft werden. Alles! Sie werden das sofort in Angriff nehmen, Knauer. Rufen Sie morgen früh gleich die einschlägigen Geschäfte an! Man soll nicht sparen und mit den Möbeln gleich Tapezierer und Dekorateure herausschicken. In drei Tagen muß alles fertig sein. Die vorhandene Einrichtung wird einstweilen in der Mansarde untergebracht. Haben Sie mich verstanden?«

»Jawohl, gnädiger Herr. Nur – in drei Tagen wird es kaum möglich sein.«

»Alles ist möglich, wenn man will.«

Heider hatte so kurz gesprochen wie nie sonst.

Als Knauer schon an der Tür war, rief er ihn noch einmal zurück.

»Noch eines, Knauer!« Er sah den Diener dabei nicht an. »Die Einteilung muß geändert werden. Ich leide in letzter Zeit an Schlaflosigkeit und habe mir angewöhnt, bis in den Morgen hinein im Bett zu lesen. Das würde meine Frau natürlich stören. Ich behalte also die beiden Stuben hier – Wohn- und Schlafzimmer – bei. Das Schlafzimmer drüben ist daher nur für die gnädige Frau einzurichten.«

Der Diener verschwand mit verblüffter Miene.

Am nächsten Morgen beim Frühstück sagte Frau Heider:

»Was ist das für ein Gepolter drüben bei dir, Hans? Den ganzen Morgen höre ich es schon.«

Heider stand auf.

»Ich habe den Auftrag gegeben, daß die alten Möbel in die Mansarde geschafft und neue aufgestellt werden. Du hättest selbst daran denken sollen, Mutter, daß ich Almas Sachen nicht fremden Händen überlassen werde!«

»Fremden Händen?« Frau Heider starrte ihren Sohn bestürzt an. »Aber Hans, wie kann ich ahnen, daß dir Britta …«

»Schon gut, Mutter«, unterbrach er sie hastig. »Es ist ja alles in die Wege geleitet. Knauer weiß Bescheid und wird alles in meinem Sinn ordnen. Verzeih, wenn ich mich jetzt empfehle, aber man erwartet mich drüben in der Fabrik. Nachher muß ich auch Britta begrüßen.«

Er küßte Frau Gerda flüchtig auf die Stirn und entfernte sich rasch.

Kopfschüttelnd sah sie ihm nach.

War er auf der Reise so nervös geworden, oder was ging sonst in ihm vor? Als er das Haus vor drei Wochen verlassen hatte, schien es, als habe er die Vergangenheit überwunden. Und nun …

*

Heider hielt sich nicht lange in der Fabrik auf. Nachdem er die notwendigsten Geschäfte erledigt hatte, machte er sich auf den Weg zu Britta.

Sie war im Schulgarten, als er kam, und band Schlingrosen auf. Sie trug ein einfaches weißes Leinenkleid und sah inmitten des grünen Geranks bezaubernd aus. Als sie ihn sah, stieß sie einen leisen Jubelschrei aus und lief ihm mit ausgebreiteten Armen entgegen.

Sie hatte sich in diesen drei Wochen so unausgesetzt mit ihm beschäftigt, daß er ihr so vertraut geworden war, als wäre er immer um sie gewesen.

Aber ihre Arme sanken in scheuer Verlegenheit herab, als sie dem kühlen Blick seiner Augen begegnete, die fremd auf ihr ruhten. So stammelte sie nur ein paar verlegene Begrüßungsworte.

Heider nahm sie in die Arme und küßte sie auf die Stirn, wie er sie damals geküßt hatte, als er sich mit ihr verlobte – freundlich, brüderlich.

Auch sein Ton war freundlich, als er ihr von seiner Reise erzählte und fragte, was sie inzwischen getrieben habe. Aber diesmal empfand Britta schon etwas wie Enttäuschung; dunkel und unklar erwachte ein schmerzliches Gefühl in ihr.

Heider spürte es instinktiv. Er nahm sich zusammen, verdoppelte seine Freundlichkeit und wurde immer beredter, besonders, als die Rede auf die Kinder kam und er merkte, wie eng sie sich während seiner Abwesenheit schon an Britta angeschlossen hatten.

Das erfüllte ihn mit aufrichtiger Dankbarkeit, so daß sein Ton unwillkürlich warm und herzlich wurde.

Britta atmete auf.

»Warum hast du sie nicht mitgebracht?« fragte sie. Und als er etwas beschämt gestand, daß er die Kinder noch nicht begrüßt habe, denn gestern abend und heute morgen hatten sie noch geschlafen, und dann war er gleich in die Fabrik gegangen, schlug sie erschrocken die Hände zusammen. »Aber das ist abscheulich von dir! Die Kleinen freuen sich so auf dich! Schnell, hole es nach! Wie würde es sie kränken, wüßten sie, daß du bei mir bist – ohne sie!«

»Willst du mitkommen, Britta?«

»Gern.«

Heider bot ihr den Arm.

»Wir können gleich hier am Bach entlanggehen und durch den Park. Vielleicht finden wir sie auf ihrem Spielplatz am Schwanenteich.«

Die Kinder waren dort und sprangen mit Jubelgeschrei auf, als sie die beiden erblickten.

»Papa! Prinzessin Goldhaar!«

Heider blickte Britta fragend an.

»Sie nennen mich so«, erklärte sie errötend. »Ich habe ihnen einmal ein Märchen von einer Prinzessin mit goldenem Haar erzählt.«

»Solches hat sie auch«, fiel Fredy wichtig ein. »Wenn die Sonne darauf scheint, ist es wie wirkliches Gold.«

»Willst du wohl ruhig sein!« verwies Britta ihn und errötete noch tiefer. »So ein kleiner Bub weiß gerade, wie wirkliches Gold aussieht! Geht lieber und begrüßt euren lieben Papa! Ihr habt euch doch schon so sehr auf ihn gefreut.«

Die Kinder umarmten Heider. Er nahm Gritli auf den Arm und Fredy an die Hand.

»So, und jetzt wollen wir ins Haus gehen und sehen, was Papa mitgebracht hat, ja?« sagte er fröhlich. Alle Befangenheit war von ihm gewichen, seit er mit Britta bei den Kindern war.

»Aber die Prinzessin Goldhaar muß auch mit«, sagte Gritli: »Hast du der Prinzessin auch etwas mitgebracht?«

»Natürlich! Sollst mal sehen, Kleines, wie schön sie dann aussieht.«

Knauer hatte bereits ausgepackt. In Heiders Wohnzimmer lagen die Pakete. Fredy bekam ein großes Segelschiff mit Matrosen aus Zelluloid: »Die gehen nicht unter, weißt du!« Für Gritli gab es eine prachtvolle Puppe mit Schlafaugen, die Mama und Papa sagen konnte, wenn man sie schaukelte. Sie hatte langes blondes Haar und ein Schleppkleid aus rosa Seide. Gritli drückte sie entzückt an sich.

»Und was bekommt die Prinzessin?« fragte sie dann. Heider öffnete bereits ein kleines, in Seidenpapier gewickeltes Paket; ein Schmucketui wurde sichtbar. Er drückte auf die Feder.

»Das da«, sagte er lächelnd, entnahm dem Etui eine kostbare Diamantenhalskette und legte sie Britta um.

Erschrocken wich sie zurück, während Purpurröte das Gesicht überzog.

Heider lächelte.

»Für meine Frau ist sie nicht zu kostbar, Britta! Übrigens steht sie dir vorzüglich. Schau dich nur an!«

Er drehte sie so, daß sie sich im Spiegel sehen konnte.

In diesem Augenblick klopfte es an die Tür.

»Herein!« sagte Heider mechanisch, ohne sich umzuwenden, denn er vermutete, daß es der Diener sei.

Im nächsten Augenblick fuhr er herum, als habe er einen Schlag erhalten.

»Darf man?« hatte eine helle Frauenstimme gesagt. Zugleich erschien an der geöffneten Tür eine bildschöne junge Dame, frisch wie die Rose, die sie im schmalen Gürtel ihres hellblauen Kleides trug.

Auf dem braunen Haar, das das feingeschnittene Gesicht mit den feurigen schwarzen Augen umrahmte, saß ein kokettes Hütchen.

Ihre Augen schienen nur Heider zu sehen, der erblaßt war und wortlos auf die Eingetretene starrte.

»Herta – du?« stammelte er endlich und faßte sich gewaltsam, wobei sich eine finstere Falte in seine Stirn grub.

»Ja, ich«, nickte sie lächelnd. »Und ich sehe mit Vergnügen, daß du mich doch noch auf den ersten Blick erkennst, obwohl wir einander so viele Jahre nicht gesehen haben.«

Sie reichte ihm die Hand, die er flüchtig berührte.

»Grüß Gott, Hans! Ach, wenn du wüßtest, wie ich mich nach diesem Haus gesehnt habe! Ich konnte es zuletzt einfach nicht länger aushalten. Und da Tante Gerda so lange nicht auf meinen Brief geantwortet hat, habe ich beschlossen, euch einfach ins Haus zu fallen.«

»Mutter weiß also noch nicht …«

»Kein Wort! Ich wollte euch ja überraschen. Ich ließ den Wagen gleich in die Garage fahren und schlich mich ins Haus wie ein Dieb. Dann hörte ich hier Stimmen« – sie unterbrach sich –, »ah, das sind wohl deine Kinder? Und – aber verzeih, ich sehe erst jetzt, daß du Besuch hast.«

Sie maß Britta, die verständnislos zugehört hatte, mit raschem, kritischem Blick, der dann erstaunt auf dem kostbaren Diamantenhalsband ruhen blieb.

Heider hatte seine Fassung wiedererlangt. Er ergriff Brittas Hand.

»Meine Braut, Britta Andermatt«, sagte er gemessen. »Erlaube, liebe Britta, daß ich dich mit meiner Kusine, Frau Kiesebrech, bekannt mache.«

Britta verneigte sich höflich.

Die schöne, junge Witwe stand starr wie eine Bildsäule.

»Deine – Braut?« sagte sie dann mit Anstrengung. »Du bist – verlobt?«

»Ja. Hast du es nicht gewußt?«

»Kein Wort. Deine Mutter hat ja meinen Brief bis heute noch nicht beantwortet.«

»Wahrscheinlich wollte sie deinen angekündigten Besuch in Ruhe genießen und dir den Hochzeitstrubel ersparen, denn ich heirate in vier Tagen.«

»In vier Tagen«, wiederholte Frau Kiesebrech mechanisch. Die Frische des Gesichts war grau-grüner Blässe gewichen.

Heider sah es – und empfand Mitleid. Also war er ihr doch nicht ganz gleichgültig geworden. Er hätte kein Mann sein müssen, wenn ihm diese Entdeckung nicht geschmeichelt und ihn milder gestimmt hätte.

Er bot Herta den Arm.

»Komm, wir wollen zur Mutter gehen! Die wird Augen machen!«

Er schien Brittas Anwesenheit für den Augenblick ganz vergessen zu haben. Sie stand daneben, unbeachtet, verständnislos.

Sie hatte das Halsband schweigend abgenommen und auf den Tisch gelegt. Ein banges Gefühl schnürte ihr die Brust zusammen. Ohne daß sie es wußte, kam ein Seufzer über ihre Lippen.

Dadurch erst wieder an sie erinnert, wandte sich Heider nun zu ihr.

»Du bist wohl so freundlich, Britta, und übergibst die Kinder Johanna. Wenn es mir möglich ist, komme ich nachmittags noch einen Sprung ins Schulhaus. Für jetzt entschuldige mich bitte!«

Sein Ton klang zerstreut und förmlich.

In Hertas Antlitz kam die Farbe wieder. Was Britta nur unklar empfand, begriff sie blitzartig: Er liebte seine Braut nicht!

Mit strahlendem Lächeln hängte sie sich an seinen Arm.

Frau Gerda war von der überraschenden Ankunft ihrer Nichte nicht gerade entzückt. Aber sie machte gute Miene zum bösen Spiel und empfing sie wenigstens äußerlich mit großer Herzlichkeit.

In vier Tagen war ja Hochzeit, dieser Gedanke beruhigte sie. So gab sie sich auch weiter keine Mühe, die Dinge vor Herta zu verschleiern, als die junge Witwe abends vor dem Schlafengehen noch zum Plaudern in ihr Schlafzimmer kam.

»Ich muß doch wissen, wie alles so rasch gekommen ist, Tante. Du hast mir ja nie ein Wort von dieser Britta Andermatt geschrieben. Wer ist sie eigentlich? Kennt Hans sie schon lange?«

Frau Gerda berichtete kurz die Tatsachen, nicht ohne ein leises Beigefühl spöttischer Zufriedenheit, das Herta nicht entging.

»Also hast du ihm die Braut ausgesucht?« fragte sie, als Frau Gerda schwieg.

»Nein, nicht gerade. Aber ich bin mit seiner Wahl einverstanden. Britta ist bescheiden und anspruchslos und – was bei Hans den Ausschlag gegeben hat: sehr kinderlieb.«

»So heiratet er sie also nicht aus Liebe?«

»Gott bewahre! Dazu trauert er ja noch viel zu tief um Alma.«

»Seine erste Ehe war also wirklich so glücklich?« fragte die junge Witwe stirnrunzelnd.

»Er hat Alma vergöttert, obwohl sie ja, unter uns gesagt, ein ziemlich unbedeutendes Wesen war, so recht ein Spielzeug, wie Männer es lieben. Er kann ihren Verlust immer noch nicht verwinden.«

Herta biß sich auf die Lippen. Also hatte Hans sie schon vor Jahren vergessen! Von der Jugendliebe war jede Spur verweht.

Ihre Eitelkeit litt unter dieser Erkenntnis. Dennoch – wäre Britta nicht gewesen, hätten die alten Fäden sich jetzt wohl wieder anknüpfen lassen.

Aber es war vielleicht noch nicht zu spät. Er liebte ja Britta nicht, und Ehen können getrennt werden. Man mußte nur Geduld haben.

»Jetzt erzähle mir aber endlich auch von dir, liebe Herta«, sagte Frau Heider. »Wir haben uns ja so lange nicht gesehen – ich glaube, außer ein paar flüchtigen Begegnungen in Badeorten über fünfzehn Jahre nicht.«

»Wirklich? So lange ist es schon her?«

»Ja, so lange warst du nicht mehr bei uns. Du hast ja ein Jahr früher als Hans geheiratet und bist schon ein Jahr Witwe. Ja, ja, die Zeit vergeht! Ich sehe dich noch vor mir, wie du damals als Braut mit Kiesebrech am Altar gestanden und noch am selben Abend deine Vaterstadt verlassen hast, um in deine neue Heimat zu gehen. Wie es dir aber dann eigentlich weiter ergangen ist, ob du dich dort wohl fühltest, ob du in deiner Ehe glücklich geworden bist, darüber weiß ich nichts, denn deine Briefe, liebes Kind, so lang sie auch waren und soviel du auch über äußere Dinge berichtetest, von dir selbst enthielten sie herzlich wenig.«

Frau Kiesebrech seufzte leicht.

»Sollte nicht gerade dieser Umstand dir, einer so klugen Frau, alles gesagt haben, Tante?«

»Herta?«

»Ja, Tante Gerda, schau mich nicht so bestürzt an, es ist schon so: Meine Ehe war ein Fehlgriff, und deswegen bin ich auch dort nie heimisch geworden. Keine frohe Stunde hatte ich. Oh, man hat mir übel mitgespielt dort, von allen Seiten, das kannst du mir glauben!«

»Aber dein Mann hat dich doch geliebt.«

»Das bißchen Leidenschaft, wie bald ist das verflogen bei Männern. Nach einem halben Jahr schon war er der schlimmste Tyrann, der krasseste Egoist mir gegenüber, er und seine Mutter – und die ganze Kiesebrechsche Sippe! Nicht rühren durfte ich mich, kaum, daß sie mir das Leben gönnten.« Sie ballte die Hände zu Fäusten. »Wie ich sie hasse! Ah, wie ich sie hasse dafür!« stieß sie wild heraus.

Frau Gerda erschrak.

»Armes Kind! Aber rege dich nicht so auf! Jetzt ist ja alles gut. Du bist noch jung, dreiunddreißig ist kein Alter, besonders wenn man so gut aussieht wie du. Man würde dir kaum fünfundzwanzig geben. Dazu bist du schön, frei, reich …«

Ein bitteres Auflachen Hertas unterbrach sie.

»Meinst du? Nicht einmal das haben sie mir gelassen! Auch diese Hoffnung hat mich getrogen. Kiesebrech war der größte Geizkragen, der je gelebt hat. Nicht genug, daß er mich bei Lebzeiten wie ein Schulmädchen behandelt hat, dem man die Pfennige vorzählt, auch nach dem Tod ist er dem Familienprinzip treu geblieben: kein Kiesebrechsches Geld in fremde Hände! Seine Mutter ist Universalerbin geworden, nach ihr erbt ein Vetter alles. Mir hat Kiesebrech nur hinterlassen, was das Gesetz vorschreibt. Ach, sprechen wir nicht mehr über diese Dinge, Tante Gerda, sonst platze ich noch vor Wut!«

Sie lehnte sich erschöpft in den Sessel zurück und schob nervös die kostbaren Ringe auf den schlanken Fingern auf und ab.

Eine Pause trat ein. Frau Heider war noch ganz benommen von dem eben Gehörten.

Sie begriff plötzlich manches.

Zuletzt rang sich aus dem Wust verworrener Gedanken der eine klar empor: Wie gut, daß Hans mit Britta verlobt ist und schon in vier Tagen heiratet! Denn Herta hätte alles darangelegt, sich hier für das schadlos zu halten, was ihr in ihrer ersten Ehe entgangen war.

Sie klopfte Herta beruhigend auf die Schulter.

»Das ist ja alles sehr schlimm für dich gewesen, armes Kind, aber da sich geschehene Dinge nicht ändern lassen, solltest du sie vergessen. Vorläufig erholst du dich gründlich bei uns; später werden wir ja sehen. Wir haben eine Menge guter Partien hier herum und in Mahrenburg! Für heute aber wollen wir ans Schlafen denken. Du wirst nach der langen Reise jetzt Ruhe nötig haben.«

»Ja, ich bin müde, Tante. Gute Nacht also!«

Herta war trotz der eben durchlebten Erregung in vergnügter Stimmung.

Das war ja alles, was sie wollte: hierbleiben! Und das hatte sie glücklich erreicht.

*

Es war, als sei mit Hertas Erscheinen ein guter Geist ins Haus eingezogen, den alle brauchten.

Die letzten Tage vor einer Hochzeit bringen selbst im bestgeordneten Haushalt immer unvorhergesehene Schwierigkeiten, Unordnung und kleine Verlegenheiten mit sich.

Dank Hertas Umsicht merkte man nichts davon. Sie nahm Frau Gerda und Hans alle lästigen Arbeiten ab, sprang überall mit Rat und Tat ein und wußte dabei doch die eigene Person so bescheiden im Hintergrund zu halten, daß alle entzückt von ihr waren.

»Sie ist doch anders, als ich sie in Erinnerung hatte«, sagte Frau Gerda anerkennend zu Forst. »Viel fügsamer und bescheidener. Ich hätte mir gerade jetzt keine bessere Haustochter als Herta wünschen können und bin froh, daß sie da ist, um all diese dummen Geschichten, wie Speisefolge und Tischordnung am Hochzeitstag und das Auspacken und Einordnen von Brittas Aussteuer zu besorgen. Ich habe ihr auch gleich erklärt, sie soll die Leute anweisen, sich mit allen Fragen an sie zu wenden und mich in Ruhe zu lassen.«

Mit Britta hatte Herta sich auf schwesterlich vertrauten Fuß gestellt und versuchte sich ihr auf jede Weise unentbehrlich zu machen, indem sie das schüchterne, unerfahrene junge Mädchen mit Liebenswürdigkeiten überschüttete.

Oberlehrerin Mannert, die sich Brittas angenommen hatte, fühlte sich zurückgesetzt und behandelte sie bald wie einen fremden Gast, den man zwar beherbergt, aber seine eigenen Wege gehen läßt.

»Mach dir nichts draus, Herzchen«, sagte Herta zu Britta. »Diese Frau Mannert ist eine beschränkte Frau, die später ohnehin kein Verkehr für dich wäre. Wende dich in allem an mich wie eine Schwester, die ich dir ja eigentlich auch bin! Denn siehst du, Hans und ich sind doch immer wie Geschwister miteinander gewesen, und wenn ich auch durch meine Heirat lange von hier fort war, ist und bleibt es doch immer meine wahre Heimat. Niemand kennt Hans so genau wie ich und weiß, wie er alles haben will.«

Britta zweifelte in ihrer Arglosigkeit keinen Augenblick an der Aufrichtigkeit dieser so herzlich dargebotenen Freundschaft.

»Niemand als ich soll dir auch an deinem Hochzeitstag den Kranz aufsetzen«, fuhr Herta fort. »Versprich mir, daß ich dich ankleiden darf.«

Am glücklichsten war Hans über Frau Kiesebrechs Anwesenheit gerade in diesen Tagen.

Denn sie enthob ihn nicht nur des Alleinseins mit Britta, sondern ebnete ihm auch manche Klippe, über die sein schwerfälliger Männerverstand sonst nicht hinweggekommen wäre.

Da war vor allem die Frage der Flitterwochen. Ihm graute ebenso vor einer Hochzeitsreise wie vor der ersten Zeit im Haus, wo ihn alles an die verliebten Wochen seiner ersten Ehe gemahnte.

Was sollte er allein mit Britta anfangen? Das unbewußt Zärtliche in ihrem Blick quälte ihn schon jetzt. Er wollte ja nicht geliebt sein!

Später, wenn erst ihrer beider Leben im festen Gleis des Alltags verankert lag, würde sich alles von selbst ordnen und ihre Mädchenschwärmerei wie Strohfeuer verflackern.

Herta, die in ihm wie in einem Buch las und es durch geschickt hingeworfene Bemerkungen dahinzubringen wußte, daß er sich ihr gegenüber aussprach, zeigte ihm lachend den rettenden Ausweg.

»Das ist doch so einfach, Hans! Du hast die neu eröffnete Filiale in Wien. Kannst du nicht einfach erklären, du seist gerade jetzt dort persönlich dringend nötig? Wer kann dir das Gegenteil beweisen oder nachprüfen, ob du wirklich den ganzen Tag geschäftlich in Anspruch genommen bist? Britta wird es glauben.«

Er schüttelte unschlüssig den Kopf.

»Und sie? Was soll sie dazwischen …«

»Gott, nichts einfacher als das. Du bringst Britta gleich am ersten Tag zu Bekannten und bittest sie, sich deiner jungen Frau anzunehmen, da du dich ihr aus Geschäftsrücksichten nicht so widmen kannst, wie du möchtest. Deine Mutter hat mir erzählt, daß die Tochter des Mahrenberger Bezirksamtmannes Alderfingen Herrn Erkel geheiratet hat, in Wien lebt und ein großes Haus macht. Ferner daß sie mit euch befreundet sei …«

Hans stimmte mit einem Kopfnicken zu.

»Das ist wahr. Ich habe auch bei meinem letzten Aufenthalt in Wien die Abende fast täglich bei Erkels verbracht.«

»Nun also, nichts einfacher, als daß du Frau Erkel jetzt deine junge Frau ans Herz legst. Sie wird sich ein Vergnügen daraus machen, ihr Wien zu zeigen und sie in die Gesellschaft einzuführen. Abends geht ihr mit Erkels ins Theater oder sonstwohin; niemand kann dir den Vorwurf der Vernachlässigung machen. Ist das nicht ein guter Ausweg?«

»Ein glänzender sogar. Du bist ein Engel, Herta! Mein rettender Engel, und ich weiß nicht, wie ich dir danken soll.«

»Wie?« Sie lächelte und blitzte ihn mit ihren dunklen Augen an. »Indem du mich hier nicht als Eindringling betrachtest, sondern als Schwester.«

»Als ob ich das nicht schon von ganzem Herzen täte! Ja, eine Schwester, ein treuer Kamerad, von dem man sich verstanden fühlt, das bist du mir, Herta«, versicherte Hans.

Er meinte es ehrlich, als er ihr in warmem Dankgefühl die Hand drückte. Die erste Mißstimmung, die er bei ihrem Kommen empfunden hatte, war längst verflogen. Seit sie auch ihm von ihrer verfehlten Ehe erzählt hatte, die sie nur auf Drängen ihrer damals schon todkranken Mutter und mit blutendem Herzen geschlossen habe, war auch der letzte Groll über ihre einstige Treulosigkeit in ihm erloschen.

*

Am zweiten Juli war Heiders Hochzeit. Britta war schon am frühen Morgen am Grab ihrer Mutter gewesen. Ihr war, als müsse sie sich dort den Segen der Verstorbenen holen.

Hochzeitsgeschenke waren von allen Seiten gekommen. Britta hatte sie kaum angesehen. Wie im Traum war ihr die Zeit vergangen.

Nun sollte er Wirklichkeit werden, ihr Traum, nichts würde sie mehr von dem geliebten Mann trennen, niemand mehr zwischen ihnen stehen. Nicht einmal seine Mutter, nicht einmal Herta. Endlich würden sie allein sein und sich aussprechen können.

Denn das war der einzige Schatten in ihrem bisherigen Glück: Sie waren nie einen Augenblick allein.

»Wie schön sie ist!« dachte Herta neidvoll, während sie Kranz und Schleier auf Brittas prachtvolles rotgoldenes Haar setzte. »Und so jung! Wenn ihm je die Augen aufgingen …«

»Du zitterst ja«, sagte sie spöttisch. »Friert dich, oder fürchtest du dich?«

Britta sah sie unschuldig an.

»Fürchten? Nein, wovor? Aber ich bin so glücklich! Ich glaube, ich habe Fieber vor Glück. Ich liebe ihn so sehr!«

»Wie dumm! Du bist noch ein richtiges kleines Mädchen, Britta. Denkst du denn nicht, daß es auch Enttäuschungen in der Ehe geben kann?«

»Enttäuschungen?«

»Nun ja, besonders wenn der Mann schon allerlei hinter sich hat. Ein Männerherz ist oft seltsam, kleine Britta. Es sucht sich zuweilen in einer neuen Liebe zu betäuben, bloß weil es die alte nicht vergessen kann.«

Mit diesen Worten wollte Herta den ersten giftigen Pfeil in die junge Mädchenseele senken.

Aber er glitt ab. Britta sah sie mit ihren reinen, großen Kinderaugen verständnislos an.

Unten fuhr der Wagen vor, der beide zur Kirche bringen sollte. Die Trauung fand in der Sakristei unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt.

Heider hatte sich jede Feier verbeten, in seiner Fabrik wußte man nicht einmal die Stunde. Es wurde dort gearbeitet wie gewöhnlich. Morgen, wenn er fort war, sollten sie frei haben und auf seine Kosten nach Belieben feiern können.

Auch Gäste waren nicht geladen worden. Direktor Herz von der Fabrik war Brittas Trauzeuge und ein Jugendfreund, Dr. Torgau vom Mahrenberger Amtsgericht, der Heiders.

Sie allein bildeten mit dem Brautpaar, Regierungsrat Forst, Frau Gerda und Herta die kleine Tafelrunde, die dann in der Villa das Essen vor der Abreise des jungen Paares einnahm.

Die Stimmung war nichts weniger als hochzeitlich. Man sprach von Politik, Tagesereignissen und allerlei gleichgültigen Dingen. Hätte Forst und nach ihm Dr. Torgau nicht einen Toast auf das junge Paar angebracht, man hätte wahrlich vergessen können, daß man an einer Hochzeitstafel saß.

Heider litt Qualen, so oft er Britta ansah, deren verträumter Blick ihn zuweilen schüchtern streifte, oder die Mutter, die ihn mißbilligend beobachtete.

Nur fort, endlich fort, dachte er. Im Dunkeln des Wagens, dem Rollen des Schnellzugs, dem Trubel der Großstadt, unter fremden Menschen wird alles leichter sein.«

Endlich erhob sich Herta mit einem Blick auf Britta. Es war Zeit zum Umkleiden, denn der Wagen, der sie zur Bahn bringen sollte, würde bald vorfahren. In Hertas Zimmer war alles vorbereitet, und in wenigen Minuten stand Britta im Reisekleid vor Herta. Nun sollte noch Abschied von den Kindern genommen werden, die auf Frau Gerdas ausdrücklichen Wunsch nicht bei Tisch hatten erscheinen dürfen, weil das zuviel Unruhe gemacht hätte.

»Ich hole sie dir hierher«, sagte Herta und verschwand.

Da fiel es Britta ein, daß zum Abschied von den Kindern doch vor allem der Vater gehöre, und da Hans vielleicht glaubte, daß sie noch nicht fertig sei, beschloß sie, ihn rasch zu holen.

Als sie das Speisezimmer betrat, war es bereits leer.

»Herr Heider ist mit dem Herrn Regierungsrat im Rauchzimmer«, sagte Knauer, der Gläser auf ein Tablett stellte.

Britta wollte eben die Vorhänge beiseiteschieben, als Worte an ihr Ohr schlugen, die sie erstarrt innehalten ließen.

»Du wirst sie schon liebenlernen«, sagte Forst drinnen. »Zum Teufel, mach doch die Augen auf, sie ist ja entzückend, die kleine Britta!«

»Möglich«, antwortete Heider kalt. »Aber du weißt, Onkel Forst, daß mein Herz einer anderen gehört, die ich nie vergessen kann.«

Mehr hörte Britta nicht. In ihren Ohren war ein Brausen, in ihren Gliedern bleierne Schwere, als müsse sie zusammenbrechen. Mit Mühe hielt sie sich aufrecht und ging mechanisch zurück.

Als sie Hertas Zimmer wieder erreichte, trat die junge Witwe eben mit den Kindern ein. »Britta, um Gottes willen, was ist dir?« rief Herta bei ihrem Anblick erschrocken.

»Nichts«, stammelte Britta. Aber ihre Zähne klirrten dabei wie im Fieberfrost.

»Du bist krank! Du fieberst ja!«

»Nein, mir ist nichts.« Britta beugte sich hastig zu den Kindern, die sie stürmisch begrüßten.

»Liebe, liebe kleine Mama«, schluchzte Fredy, außer sich durch diesen ersten Trennungsschmerz. »Wirst du auch ganz bestimmt bald wiederkommen? Versprich es mir!«

»Ja, Fredy.«

»Wann? Sag nur den Tag, damit ich mir ausrechnen kann, wie lange das dauert!«

»Britta«, sagte eine Männerstimme von der Tür her, »es ist höchste Zeit, daß wir fahren. Laßt die Mama los, Kinder, und seid hübsch brav, bis sie wiederkommt, dann bringt sie euch etwas Schönes mit!«

Britta zitterte beim Klang dieser Stimme. Jähe Angst packte sie plötzlich. Sie wollte nicht mit ihm gehen, sie konnte das nicht. Er war ihr ja mit einemmal so fremd geworden.

»Laß mich bitte bei ihnen!«

Sie sank neben den Kindern auf die Knie. »Laß mich hier!« stammelte sie außer sich. »Ich mag nicht fort, laß mich bleiben!«

Einen Augenblick sah er sie halb erschrocken, halb erstaunt an. Dann hob er sie ungeduldig auf.

»Bitte, keine Szene! Ich mag das nicht. Es ist wirklich höchste Zeit.«

Da nahm sie blaß und zitternd den Arm, den er ihr bot.

Die vier Augenpaare, die auf ihr ruhten – denn Frau Heider und Forst waren mit Hans eingetreten – lähmten ihren Mut.

Was auch hätte sie als Grund für einen so plötzlichen Entschluß angeben können?

Die anderen aber schoben es auf bräutliche Verwirrung.

Neidisch, aber ohne Eifersucht blickte Herta dem Paar nach. Sie beneidete Britta glühend um den Platz an seiner Seite.

Aber er liebt sie nicht, dachte sie befriedigt, wird sie nie lieben! Und das wird sie nur zu bald merken.

*

Seltsam verändert kamen die beiden aus Wien zurück, wo sie sechs Wochen statt der geplanten vierzehn Tage geblieben waren.

»Auf Brittas Wunsch«, sagte Heider in gereiztem Ton. »Sie wollte ausdrücklich, daß wir länger bleiben. Es scheint, daß sie von ihrem gesellschaftlichen Erfolg nicht genug kriegen konnte.«

Britta, die blasser als früher, aber noch anziehender aussah, sagte kein Wort dazu. Sie benutzte die erste Gelegenheit nach der Begrüßung, um zu verschwinden. Sie ging mit den Kindern in deren Spielzimmer.

Heider blickte ihr schweigend nach. Ein fremder, nervöser Ausdruck lag in seinem Gesicht.

Herta, die beide scharf beobachtet hatte, dachte befriedigt: Na, näher sind sie einander nicht gekommen, das Glück sieht anders aus.

Als sich Frau Gerda und Forst in die Geheimnisse des Patiencelegens vertieften, begann sie Hans vorsichtig auszufragen, wie es denn in Wien gewesen sei.

Er antwortete knapp und zerstreut, während seine Hände nervös mit einem zufällig auf dem Tisch liegenden Papiermesser spielten.

In Wien war alles gegangen, wie man es erwartet hatte. Frau Erkel, entzückt wie alle lebenslustigen Frauen von derartigen Missionen, nahm Britta wie eine Schwester bei sich auf und machte gleich ein Programm: Bei Tag wollte man die Sehenswürdigkeiten von Wien besuchen, Bauten, Galerien, Sammlungen und die herrliche Umgebung, abends Geselligkeiten. Sie trommelte alles zusammen, was in Wien an hervorragenden Persönlichkeiten war, und Britta schwamm in einem Meer von Vergnügen. »Ein Vetter von Melanie Erkel, Sternbach, Nichtstuer von Beruf und Maler aus Liebhaberei, übrigens ein anmaßender, überspannter Mensch, machte bei allem den maître de plaisir. So hat mich Britta nicht vermißt, und wir haben alle Abende auswärts verbracht, bis auf den letzten, wo Britta Kopfschmerzen hatte.« Er brach unvermittelt ab und begann von anderen Dingen zu sprechen.

Brauchte denn Herta alles zu wissen? Zum Beispiel, daß Britta damals offenbar keine Kopfschmerzen gehabt, sondern sie nur vorgeschützt hatte, um sich seiner Gesellschaft zu entziehen?

Ja, seiner, ihres angetrauten Mannes Gesellschaft! Es war ja eigentlich zum Lachen, wenn es nicht so demütigend für ihn gewesen wäre, wie dieses kleine, unbedeutende Mädchen ihm damals plötzlich mit der Miene einer großen Dame erklärt hatte: »Ich ziehe es vor, allein zu bleiben.«

Dabei hatten ihre Augen ihn mit einem Blick angesehen, in dem eine Welt von Schmerz, Vorwurf und Entrüstung lag.

Dieser Blick verfolgte ihn seitdem.

Und warum das alles? Weil er ihr vorgeworfen hatte, sie kokettiere mit Sternbach und fordere dadurch dessen ziemlich deutliche Aufmerksamkeit heraus. Nicht, daß Hans eifersüchtig gewesen wäre! Gott bewahre! Das wäre ja bei der Gleichgültigkeit, die er für seine Frau empfand, lächerlich gewesen.

Aber es hatte ihn geärgert, daß Britta überall Aufsehen erregte, wo sie sich nur zeigte. Ihr rotgoldenes Haar, der klare Teint mit den wie von Malerhand hingeworfenen zarten Farben und die seltsamen Augen, die bald tiefblau wie ein Bergsee erschienen, bald dunkel, bald schwarz, lockten alle Männer an. Im Theater richteten sich die Operngläser auf sie, sobald sie neben Frau Erkel Platz nahm, in Gesellschaft drängte man sich um die schöne junge Frau. Am eifrigsten suchte Sternbach ihre Nähe. All das hatte ihn unbeschreiblich gereizt. Wenn Britta ihm auch gleichgültig war, so brauchte man ihr doch nicht den Hof zu machen. Das hatte er ihr denn auch endlich am vorletzten Abend gesagt.

Vielleicht zu schroff – denn nachträglich mußte er sich gestehen, daß sie selbst ihm nicht den geringsten Anlaß zur Klage gab. Aber er war eben gereizt und mußte sich Luft machen.

Daraufhin hatte sie ihn, ohne eine Silbe zu erwidern, stehengelassen, war in ihr Zimmer gegangen und hatte sich dort eingeschlossen. Am nächsten Tag, dem letzten in Wien, als sie bei Erkels Abschied feiern wollten, erklärte Britta, sie habe Kopfschmerzen und könne nicht in Gesellschaft gehen. Das war ihm gerade recht. Er wollte sich einmal gründlich mit ihr aussprechen und trachten, ein erträglicheres Verhältnis herbeizuführen. Denn Britta war ihm ein Rätsel. Von dem warmherzigen fröhlichen Kind, das er geheiratet hatte, war keine Spur mehr vorhanden. Das mußte in Zukunft anders werden.

Als er aber in der Absicht, ihr Gesellschaft zu leisten und sich mit ihr auszusprechen, bei Britta erschien, erklärte sie ihm kühl, sie ziehe es vor, allein zu bleiben.

Es war eine Demütigung, wie er noch keine erlebt hatte, und er kam noch jetzt nicht darüber hinweg.

Aber davon brauchte Herta nichts zu wissen.

Sie begriff, daß er ihr etwas verschwieg, drang aber nicht weiter in ihn. Und da Britta nicht mehr im Wohnzimmer erschien, trennte man sich bald, um schlafen zu gehen.

Heider erschien am nächsten Morgen nur für ein paar Minuten in der Fabrik, wo er dem erstaunten Direktor erklärte, daß er alles Geschäftliche auf morgen verschieben wolle, da er heute nach Hansental, einem Heiderschen Meierhof, fahre.

Hansental war seine Schöpfung und sein Stolz. Er hatte das ehemalige Bauerngut vor drei Jahren gekauft und zu einer Musterwirtschaft ausgestaltet, weil Frau Gerda sich beständig darüber aufhielt, daß Ställe und landwirtschaftliche Arbeiten in dem hinter dem Haus gelegenen Wirtschaftshof ihr Luft und Ruhe verdürben.

Seit die Wirtschaft nach Hansental verlegt worden war, dienten die ehemaligen Nutzgebäude nur noch als Vorratsräume.

Heider kam erst kurz vor dem Abendessen heim. Wie gestern schien er zerstreut und verstimmt. So merkte er auch nicht, daß seine Mutter ein steifes Gesicht machte, Forst verlegen dreinsah und Britta bleich und schweigend kaum einen Bissen hinunterbrachte.

Britta hatte nämlich gebeten, daß die Kinder künftig an den Mahlzeiten teilnehmen dürften, dafür aber eine scharfe Zurechtweisung von Seiten ihrer Schwiegermutter bekommen.

»Ich muß sehr bitten, daß du uns mit Neuerungen verschonst, Britta. Ich liebe Ruhe bei Tisch und würde mich sehr bedanken, wenn du mir die Kinder zumuten wolltest. Überhaupt wirst du am besten tun, dich nirgends einzumischen; Herta, die weiß, wie ich alles haben will, wird das Richtige anordnen.«

Damit war sowohl Brittas als Hertas Stellung von Frau Gerda bestimmt, und Britta fühlte schmerzlich, daß ihre in diesem Haus gleich null war.

Nach dem Essen legte Frau Gerda mit dem Regierungsrat ihre tägliche Patience. Herta setzte sich in einen Sessel und zog Hans ins Gespräch. Britta wollte sich schweigend entfernen, um noch zu den Kindern zu gehen, denn hier fühlte sie sich überflüssig.

Da hielt sie Heiders Stimme zurück:

»Wenn du noch nicht schlafen gehst, Britta, darf ich dich wohl bitten, hierzubleiben. Mutter ist gewöhnt, daß die Familienmitglieder nach dem Abendessen noch eine Stunde im Wohnzimmer bleiben.«

Britta griff schweigend nach einer Handarbeit und setzte sich an den runden Mitteltisch.

Ein paar Schritte von ihr entfernt dehnte sich Herta behaglich im Sessel und stellte kokett ihre in durchbrochenen Seidenstrümpfen steckenden Beine zur Schau.

Heider meinte nachdenklich:

»Die schönen Beine hast du noch immer.« Er sagte es, ohne sich etwas dabei zu denken.

Sie lachte leise.

»Die und auch sonst noch alles! Denn innerlich bin ich das impulsive Mädel geblieben, das ich mit sechzehn Jahren war: romantisch, vertrauend, vom Schicksal das große Los erhoffend. Wie schön war's damals! Weißt du noch, Hans, wie uns die alte Wasenko aus ihren schmutzigen Karten die Zukunft geweissagt hat?«

»Ja. Aber es ist alles anders gekommen, als sie prophezeite.«

»Leider.« Hertas Blick versenkte sich für einen Augenblick heiß und tief in den seinen, so daß er unwillig die Stirne runzelte. Da fuhr sie, anscheinend harmlos, fort: »Übrigens, bei der alten Wasenko fällt mir ein: Was sagst du zu ihrem Sohn? Direktor Merz wird dir ja alles erzählt haben. Es ist unglaublich, wie sich der Mensch benommen hat! Mir hat nur deine arme Mutter leid getan.«

»Wovon sprichst du? Ich weiß kein Wort, da ich nur ein paar Minuten in der Fabrik war. Ist während meiner Abwesenheit etwas vorgefallen?«

Herta spielte mit den Falten ihres Seidenkleides, während sie lässig antwortete: »Ach, eine dumme Geschichte. Als wir vor acht Tagen vormittags ausfuhren, Mutter und ich, ist eines der Wasenko'schen Kinder knapp vor unserem Auto zu Fall gekommen, und da der Fahrer nicht mehr bremsen konnte, überfahren worden.«

»Um Gottes willen – überfahren? Es ist doch hoffentlich nicht tot?« unterbrach Heider sie erschrocken.

»Nein. Wir hatten sogar den Eindruck, daß dem Kind gar nicht viel geschehen war, denn es weinte bloß ein bißchen. Dann ist mittags, gerade während wir bei Tisch saßen, Wasenko gekommen und hat um den Wagen gebeten, da er sein Kind nicht vom Fabrikarzt behandeln lassen, sondern es nach Mahrenberg ins Krankenhaus schaffen wollte.«

»Nun? Der Wagen wurde ihm natürlich sofort zur Verfügung gestellt?«

»Unglücklicherweise brauchten wir den Wagen gleich nach dem Essen selber, weil wir in Delzlingen eingeladen waren. So mußten wir Wasenkos Bitte abschlagen. Deine Mutter sandte ihm dann durch Knauer Geld hinaus, aber Wasenko verweigerte die Annahme. Knauer sagte, er habe ihm das Geld vor die Füße geworfen und sei so rabiat geworden, daß er sich vor ihm gefürchtet habe.«

Heider war blaß geworden und hatte eine finstere Falte auf der Stirn.

»Wasenko ist einer meiner besten Arbeiter, und Mutter weiß, daß ich stets den größten Wert auf gutes Einvernehmen mit den Arbeitern lege. Es ist unbegreiflich und grausam, ihm den Wagen zu verweigern, und taktlos, ihm Geld zu bieten. Hoffentlich hat man versucht, diese Kränkung durch persönliche Teilnahme zu mildern. War jemand von euch seitdem drüben?«

»Nein«, antwortete Herta zögernd. »Mutter meinte, nach dem Benehmen des Mannes –«

»Aber begreift ihr denn nicht«, unterbrach Heider sie heftig, »daß der Mann im Recht war? Stellt euch doch vor, was ein Vater bei diesem Unglück leidet!«

»Ach, mach doch nicht solche Geschichten, Hans!« rief Frau Gerda, die sich bisher den Anschein gegeben, nichts gehört zu haben, ärgerlich vom Kartentisch herüber. »Du übertreibst immer. Wasenko war frech, und ich verlange als Mitbesitzerin der Fabrik, daß du ihn entläßt. Für die Krankenkosten des Kindes komme ich natürlich auf, aber auf Wasenkos Entlassung bestehe ich.«

»Über Entlassungen entscheide ich allein, Mutter. Wasenko bleibt. Im übrigen liegt die Angelegenheit von heute an in meiner Hand. Ist das Kind schwer verletzt?« wandte er sich an Herta.

»Ich weiß es nicht. Es liegt jetzt im Mahrenberger Krankenhaus, wohin Wasenko es am nächsten Morgen erst bringen konnte, da er früher keinen Wagen aufgetrieben hat.«

»Welches der beiden Kinder ist es denn?«

»Ein kleines Mädchen von fünf Jahren.«

»Grete also«, sagte Heider, dessen Stirn sich immer düsterer umwölkt hatte. »Arme Kleine! Sie ist am selben Tag geboren wie Gritli und hat dann denselben Taufnamen erhalten.«

Britta hatte ihre Arbeit längst sinken lassen. Schreckensstarr hatte sie zugehört. Auch sie kannte das schöne, blondgelockte Kind seit dem Tag seiner Geburt, und gerade in den letzten Wochen vor ihrer Hochzeit hatte sie sich auch viel mit Grete Wasenko abgegeben.

Britta erhob sich plötzlich und verließ das Zimmer. Da niemand sie beachtete, bemerkte auch niemand ihr Weggehen. Sie schlug ein Tuch um ihren Kopf und verließ das Haus. Es trieb sie zu den Eltern des verunglückten Kindes, deren Sorge sie auf das lebhafteste mitempfand.

Sie würde sie wohl noch antreffen. Da man zeitig zu Abend gegessen hatte, war es kaum neun Uhr vorbei. Und Kummer vertreibt den Schlaf – diese Weisheit hatte Britta auch schon in ihrer Ehe gelernt.

*

Eine halbe Stunde später erst bemerkte Heider Brittas Abwesenheit, und zwar bei einer Bemerkung seiner Mutter über die Rücksichtslosigkeit Brittas, die sich ohne Gutenachtgruß davonmachte.

Er verteidigte sie nicht und sagte kein Wort zu ihren Gunsten. Aber es kränkte ihn, daß sie so gegangen war. Ein Gefühl der inneren Verlassenheit überkam ihn, wie er es nie zuvor empfunden hatte. Er wollte, wie früher oft, in dem Gedanken an Alma Ablenkung suchen, aber auch dieses Mittel versagte. Statt schlafen zu gehen, verließ er das Haus.

Die Sache mit Wasenko, einem seiner tüchtigsten Arbeiter, ließ ihm keine Ruhe. Vielleicht waren sie noch auf in dem kleinen Häuschen in der Siedlung.

Die ganze Geschichte war ihm, abgesehen von der persönlichen Seite, als Arbeitgeber äußerst unangenehm. Nur zu gut wußte er, wie rasch solche Dinge böses Blut machten. Daß Mutter das nie bedachte und ihrem Hochmut nie Zügel anlegte! So oft hatte er sie gebeten, mit den selbstherrlichen Grundsätzen einer längst überholten Zeit zu brechen, wenn schon nicht aus eigener Erkenntnis, so doch wenigstens aus Klugheit. Aber es half nichts. Die Mutter ließ sich nun einmal nicht beeinflussen.

Die Nacht war mild und hell. Heider ging rasch und hatte nach zehn Minuten das rebenumrankte Häuschen erreicht. Da die Haustür offen stand und in der Stube noch Licht brannte, trat er ohne weiteres ein.

Er klopfte an die Stubentür. Als niemand antwortete, öffnete er. Die Stube war leer, doch stand die Tür zu einem Nebenraum offen, und dort bot sich seinem Blick ein erschütterndes Bild.

Mitten in der Kammer stand ein Kinderbett, auf dem, von Blumen umgeben, der Leichnam Klein-Gretchens lag. Zwei Kerzen brannten zu Häupten des Bettchens, und am Fußende kniete der Vater des Kindes. Die Mutter aber kauerte schmerzgebrochen auf einer Bank daneben, umschlungen von Brittas Armen, die leise auf sie einsprach.

Tot! Das hatte er nicht erwartet.

Und Britta hier! Britta, die allein von ihnen allen das Richtige getan hatte, um wenn nicht gutzumachen, so doch zu mildern.

Etwas wie Rührung und Dankbarkeit quoll in ihm auf. In diesem Augenblick erschien sie ihm nicht so fremd wie bisher.

Das Kind war an Blutvergiftung gestorben, wie Heider dann erfuhr. Nach Ansicht der Krankenhausärzte wäre es wahrscheinlich zu retten gewesen, wenn es noch am Tag des Unglücks ins Spital gebracht worden wäre.

Als die Eltern heute dorthin gegangen waren, um sich nach dem Befinden ihres Lieblings zu erkundigen, war es in ihren Armen verschieden. Sie hatten dann den kleinen Leichnam mitgenommen, um ihn hier beerdigen zu lassen. Das Grab des Kindes wenigstens sollte ihnen nahe bleiben.

Britta war schwer zu bewegen, die unglücklichen Eltern zu verlassen. Sie wollte durchaus die Nacht über bei Frau Wasenko bleiben. Erst als sie selbst und ihr Mann sie baten, nach Hause zu gehen, da sie doch versuchen wollten, ein paar Stunden Schlaf zu finden, um den Anforderungen der nächsten Tage standhalten zu können, entschloß sich Britta, zu gehen.

Heider wollte ihr draußen den Arm bieten. Aber sie dankte hastig. Sie sei es nicht gewohnt, eingehakt zu gehen.

»Aber jetzt bist du doch verheiratet und mußt es lernen, Britta.«

Darauf schwieg sie.

Heider, dem das Herz unruhevoll schlug, ging eine Weile stumm neben ihr her. Dann sagte er: »Ich danke dir, Britta, daß du zu ihnen gegangen bist! Es war auch mein erster Gedanke, als ich von der unglücklichen Geschichte erfuhr. Aber ich konnte nicht gleich loskommen. Es hat mich sehr gefreut, daß du so in meinem Sinn gehandelt hast.«

»Du brauchst mir nicht zu danken, ich habe es ja nicht deinetwegen getan«, antwortete sie abweisend. »Es war einfach Menschenpflicht.«

Er blieb stehen und sah aufmerksam in ihr verschlossenes Gesicht.

»Britta, du bist so seltsam zu mir, kaum, daß du mir ein Wort gönnst. Bist du noch böse wegen damals in Wien? Du weißt, daß ich dir Vorwürfe wegen Sternbach machte, und du –«

»Laß das«, unterbrach sie ihn kühl. »Ich denke längst nicht mehr daran. Ich müßte alle Achtung vor dir verlieren, wenn ich deine Worte damals ernstgenommen hätte.«

»Aber dann – schau, Britta, als Braut warst du anders zu mir, viel lieber.«

Er wußte selbst nicht, wie ihm die Worte auf die Lippen kamen und warum mit der Erinnerung an ihr damaliges Wesen, an ihre kindliche Unbefangenheit, an die unbewußte Zärtlichkeit plötzlich der Wunsch in ihm aufstieg, sie möchte wieder sein wie damals.

In Britta tobte ein Sturm von bitteren, zornigen und schmerzlichen Gedanken.

Damals – als Braut! Wie war sie damals glücklich gewesen! Wie viel heißes Hoffen, seliges Erwarten hatte da noch in ihr gelebt!

Und dann – in einer einzigen Minute war alles vorbei!

Sie fuhr sich über die Schläfen.

Etwas von der schmerzlichen Qual, die sie empfand, spiegelte sich trotz aller äußeren Selbstbeherrschung in ihrem Gesicht.

Heider sah es. Er sah auch plötzlich die rührende Lieblichkeit des jungen Wesens.

»Britta«, sagte er weich und nahm ihre Hände in die seinen, »was ist dir? Bist du nicht glücklich?«

Ein bitteres Lächeln zuckte um ihren Mund, aber die Lippen blieben stumm.

»Britta – du schweigst? Soll das heißen, daß ich richtig vermutet habe? Was fehlt dir? Warum sprichst du dich nicht offen mit mir aus?«

Einen Augenblick lang fuhr es ihr durch den Kopf, ihm alles zu sagen. Ihm ins Gesicht zu schleudern, wie schändlich er sie um alles betrogen habe, was ein Leben lebenswert macht, als er sie ohne Liebe heiratete. Dann schoß ihr das Blut ins Gesicht. Ihm das sagen? Damit er erriet, wie es um ihr Herz stand, als sie ihm die Hand am Altar reichte?

Nie! Lieber sterben! Sie hätte sich ja zu Tode schämen müssen, für sich und ihn!

Wild entriß sie ihm ihre Hände.

»Laß mich! Was geht's dich an, ob ich glücklich bin oder nicht?« stieß sie trotzig heraus.

Heider war schon als Bub jähzornig gewesen. Trotz erbitterte und reizte ihn immer am meisten. Er wurde blaß, und die Adern an seiner Stirn schwollen an.

Mit einem Schritt vertrat er ihr den Weg und ergriff heftig ihre Hände wieder.

»Das ist keine Antwort, Britta«, sagte er herrisch. »Ich will wissen, was in dir vorgeht! Ja, jetzt will, jetzt verlange ich, es zu wissen! Ich bin dein Mann, du bist mir Rechenschaft schuldig!«

Diesmal war es kein bitteres Lächeln, das stumm um ihre Lippen zuckte. Diesmal war es ein Lachen voll Bitterkeit und Hohn, das sich wie ein Krampf ihren blassen Lippen entrang.

»Warum lachst du?« herrschte er sie an. »Antworte lieber!«

»Dir? Nie! Du bist der letzte Mensch auf Erden, der Anspruch auf mein Vertrauen haben könnte«, lautete ihre kalte und verächtlich gegebene Antwort.

Heider erschrak ernstlich.

»Britta, das klingt ja beinahe wie Haß.«

Flammend ruhten beider Blicke ineinander wie die zweier Kämpfer, die sich auf den letzten, entscheidenden Schlag vorbereiten.

Dann sagte Britta heiser vor innerer Erregung:

»Und wenn. Hast du etwa je danach gefragt, ob ich dich hasse oder liebe?«

Heider wurde blaß. Das hatte er nicht erwartet.

Jäh ließ er ihre Hände los und trat einen Schritt zurück.

Britta aber benützte die Freiheit sofort. Ohne ihn noch eines Blicks zu würdigen, eilte sie an ihm vorbei und dem Haus zu.

Heider folgte ihr nicht. Fassungslos starrte er ihr nach. Haß? Darauf war er nicht vorbereitet gewesen.

Ein wildes Gefühl, das er für Zorn hielt, krampfte ihm die Brust zusammen. Dazu also hatte er geheiratet, damit man ihn haßte. Und dieses Mädchen, dieses Kind, das er aus unerträglichen Verhältnissen herausgeholt hatte, wagte ihm das ins Gesicht zu sagen!

Aber warum hatte sie ihn denn dann genommen?

Er lachte plötzlich spöttisch auf.

Warum? Tor, der er war! Warum sonst, als weil die glänzende Lebensstellung sie lockte? Es war so einfach; ein armes Mädchen, eine gute Partie! Die Persönlichkeit spielte dabei wirklich keine Rolle.

Ekel überkam ihn. Es war so entwürdigend, nur seines Geldes wegen geheiratet zu werden!

Aber jetzt war auch er fertig, endgültig fertig mit Britta. Sie würde seine Gedanken nicht mehr beständig beschäftigen wie bisher. Es gab keine Geheimnisse mehr zu ergründen, ihr Wesen lag klar vor ihm.

Und das war eigentlich Befreiung. Jetzt konnten seine Gedanken wieder ruhig zu der Einen, Einzigen zurückkehren, die ihn geliebt und verstanden hatte, zu Alma!

Aber seltsam – als er sich Almas Bild wieder vergegenwärtigen wollte, konnte er es nicht. Wie im Nebel verschwommen war das einst so geliebte Gesicht.

Scharf und klar sah er ein anderes vor sich, totenbleich, trotzig, aus dem zwei fast schwarz scheinende Augen ihn anstarrten.

*

Frau Kiesebrech, die sich vom ersten Tag an mit verblüffender Selbstverständlichkeit der Führung des Haushalts bemächtigt hatte, fuhr mit Heider nach Hansental. Sie brauchte Obst und Gemüse zum Einkochen.

»Da ich in Hansental noch fremd bin, begleitest du mich wohl dahin, Hans? Ich möchte auch zu gern, daß du mir dein Mustergut zeigst«, bat sie schmeichelnd.

Ihm war es recht. Er war froh, auf diese Weise einen Tag totzuschlagen, denn seit jener nächtlichen Auseinandersetzung fühlte er sich beständig schlechter Laune. Hertas munteres Geplauder würde ihn ein wenig ablenken.

Herta hatte sich längst gewünscht, ihn einen ganzen Tag ungestört für sich zu haben; sie wollte die Zeit schon nützen.

Mit Frau Gerda stand sie auf dem besten Fuß. Obwohl sie alles im Haus nach eigenem Gutdünken anordnete, unterließ sie es doch nie, bei jeder Kleinigkeit zu sagen: »Es ist dir doch recht so, Tante? Oder willst du es anders haben? Denn die Hauptperson im Haus, nach deren Wünschen alles zu geschehen hat, bist doch du.«

Frau Gerda war viel zu träge, um etwas anderes zu wünschen, da Herta klugerweise nie in ihre Gewohnheiten eingriff. Und Britta, die gern ihre Hausfrauenpflichten selbst ausgeübt hätte, sei es auch nur, um sich durch Arbeit zu betäuben, wurde schon am ersten Tag von Herta kurz abgefertigt:

»Laß das nur, Kind, du verstehst das ja doch nicht so; ich habe immer einen großen Haushalt geführt. Du bist für die Kinder, ich fürs Haus da.«

Insgeheim unterließ es aber Herta nie, zu Frau Gerda scheinheilig über Brittas Mangel an häuslichen Talenten und ihre Gleichgültigkeit gegen ihren Mann zu klagen. So kam Frau Gerda immer mehr zu der Überzeugung, daß ihr Sohn durch Britta unglücklich werde, worin sein wortkarges Wesen sie bestärkte. Zur Strafe beachtete sie die Schwiegertochter von Tag zu Tag weniger.

Aber Herta sagte sich, daß es nicht genug sei, die Mutter gegen Britta aufzubringen, Hans selbst mußte zur Überzeugung kommen, daß diese Frau sein Unglück sei. Damit wollte sie heute beginnen.

Als sie in Hansental ihre Geschäfte erledigt hatten und auf Heiders Vorschlag zur Försterei hinauswanderten, wo sie zu Mittag essen wollten, sagte sie plötzlich:

»Hans, ich wollte es dir schon immer sagen – findest du nicht, daß Britta seit einiger Zeit recht schlecht aussieht, gar nicht mehr so blühend wie als Braut?«

Er zuckte zusammen, denn sie hatte einen wunden Punkt berührt. Dann zwang er sich, gleichmütig zu antworten:

»Gewiß, es ist mir auch schon aufgefallen, ich glaube, sie überanstrengt sich mit den Kindern, die ja vom Morgen bis zum Abend wie die Kletten an ihr hängen. Es war nicht richtig, ihrem Wunsch nachzugeben und Fräulein Rodach zu entlassen.«

»Ach nein, die Kinder sind das nicht, Hans. Britta hat ja auch Rosa als Hilfe in der Kinderstube. Ich glaube vielmehr, es sind diese ewigen Samaritergänge in die Armeleutestuben, die ihr schaden. Sie läuft ja zu allen Kranken und hilft dann noch den Leuten bei der Hausarbeit. Mit den Wasenkos unterhält sie sogar ein Freundschaftsverhältnis. Diese Dinge sind weder gesund noch passen sie für ihre jetzige Stellung. Schließlich ist Britta doch nicht mehr die kleine Buchhalterstochter von einst. Du solltest ihr das einfach verbieten.«

Heider lachte bitter auf.

»Da kennst du Britta schlecht! Sie läßt sich von mir nichts verbieten.«

»Ich dachte, sie sei so fügsam. Das jedenfalls sagte deine Mutter einmal. Und schließlich bist du doch ihr Mann und hast das Recht –«

»Ach was, ich mag mich nicht streiten.«

»Hättest du was dagegen, wenn ich einmal in diesem Sinn mit ihr spräche?«

»Ganz und gar nicht. Aber du wirst keinen Erfolg haben. Britta ist in Wien sehr gefeiert worden, das fehlt ihr offenbar hier. Sie sehnt sich nach Zerstreuungen und langweilt sich bei uns, das ist alles.«

»Langeweile – neben dir?« Einer der zündenden Blitze, die Hertas Augen ausschicken konnten, begleitete ihre Antwort. »Das kann ich nicht glauben, für so beschränkt halte ich Britta nicht. Und wonach sollte sie sich sehnen? Man ist ihr hier überall freundlich entgegengekommen, an Umgang fehlt es ihr also nicht, und Männer braucht sie doch wirklich nicht.«

Heider schwieg. Seine Stirn war umwölkt. Vor seinen Augen stand ein durchgeistigter Künstlerkopf, dessen schwärmerische Augen auf Britta ruhten wie auf einem Gnadenbild.

Sie hatte immer ein freundliches Lächeln für diesen Sternbach gehabt und sich gefreut, wenn er kam; er war dann stets an ihrer Seite geblieben, als gehörten sie zusammen.

Mittags aßen sie in einer Laube im Garten des Försters. Frau Lunz, die sich als gute Köchin erwies, bediente sie.

»Warum haben Sie denn Ihre Frau nicht auch mitgebracht, Herr Heider? Wir hätten sie alle gern einmal in der Nähe gesehen«, sagte Frau Lunz, als sie nachher den Tisch abräumte. »Von weitem im Kirchenstuhl habe ich sie ja schon gesehen, und mein Alter und ich sind ganz weg gewesen, was für ein süßes, liebes Gesicht die junge Frau hat. Und wie sie sich mit den Kindern abgibt! Ja, da haben Sie sicher einen guten Griff getan.«

»Meine Frau liebt Wagenfahrten nicht«, log Heider.

Dann zündete er sich eine Zigarette an und lehnte sich zurück. Die arglosen Worte der Försterin verstimmten ihn noch mehr.

Auch Herta war schweigsam geworden. Der Reichtum des Besitzes, den sie sich bei weitem nicht so großartig vorgestellt hatte, wirkte überwältigend auf sie.

Das alles hatte diese alberne Britta miterheiratet und wußte es nicht zu schätzen.

Heider fuhr plötzlich aus seinen Gedanken auf. Ein tiefer Seufzer aus Hertas Brust war an sein Ohr gedrungen.

»Verzeih, ich bin ein schlechter Gesellschafter!«

»Aber Hans! Du bist doch mein Freund und als solcher nicht verpflichtet, den redseligen Gesellschafter zu spielen. Solchen lästigen Zwang wollen wir nicht zwischen uns aufkommen lassen.«

»Aber du hast eben aus Langweile geseufzt. Daran bin ich schuld.«

»Erstens kenne ich Langweile überhaupt nicht, zweitens ist sie in deiner Gesellschaft nicht denkbar. Und endlich galt mein Seufzer ganz anderen Dingen.«

»Darf man wissen, welchen?«

»Gott ja. Ich habe an mein verpfuschtes Leben gedacht und wie anders es hätte sein können, wenn Kiesebrech nur ein Tausendstel von deiner Vielseitigkeit und Klugheit gehabt hätte. Wie reich wäre mir das Leben erschienen – auch ohne Liebe! Denn siehst du, heute glaube ich, daß Liebe nicht so wichtig und notwendig im Leben ist, wie wir uns in der ersten Jugend einbilden. Verständnis der Seelen, Übereinstimmung der Neigungen und eine treue Kameradschaft sind viel mehr wert.«

»Das möchte ich doch bezweifeln. Oder vielmehr, alles zusammengenommen ist eben Liebe.«

»Doch nicht! Nimm zum Beispiel uns beide. Wir lieben uns nicht, und dennoch, wie gut verstehen wir einander! Wie harmonieren wir in allem! So sehr, daß ich, wenn ich bei dir bin, völlig ausgefüllt bin, mit deinen Augen sehe, mit deinem Kopf denke und deine Interessen so lebhaft mitempfinde, als wären es meine eigenen. Geht es dir nicht ähnlich?«

»Ja, es ist wahr«, nickte Heider nachdenklich. »Wir stimmen gut zusammen.« Und doch, dachte er insgeheim, ausgefüllt? Nein, das bin ich nicht. Mitten in der friedlichen Harmonie packt mich oft ein wildes Sehnen – wonach? Nach etwas Niegekanntem.

Aber diese Gedanken sprach er nicht aus.

Wenn Alma noch lebte! Er klammerte sich an diese Vorstellung. Aber zugleich empfand er mit schmerzlicher Deutlichkeit, daß auch die geliebte Tote ihn nie in diesem Sinn ausgefüllt hatte, von dem er jetzt zuweilen träumte. Sie war sein Abgott gewesen, gewiß, aber eher wie ein geliebtes, bewundertes Spielzeug. Und jetzt in der Reife seiner Mannesjahre sehnte er sich nach mehr.

Britta verbrachte den Vormittag wie gewöhnlich. Sie lernte mit Gritli, und als Fredys Stunden bei Dr. Neuhäuser vorüber waren, ging sie mit den beiden Kindern in den Wald. Dort wurde praktische Naturgeschichte getrieben: Britta machte die Kinder auf jede Kleinigkeit aufmerksam. Pflanzen, Tiere, Gestein – alles lehrte sie mit liebenden Augen sehen.

Britta hatte im Mahrenberger Töchterheim eine gute Ausbildung genossen und sich besonders für Naturkunde interessiert. Seit sie sich entschlossen hatte, Gritlis Unterricht später selbst zu besorgen, lernte sie mit Feuereifer nach, wo sie Lücken in ihrem Wissen fühlte. Bis tief in die Nacht hinein saß sie oft über ihren Büchern, die sie sich heimlich aus der Bibliothek holte.

Es war nicht nur Interesse an der Sache. Es war auch der Wunsch, sich zu betäuben, sich einen festen Lebensinhalt zu schaffen, was sie antrieb, zu lernen.

Denn so kann ich nicht weiterleben, hatte sie sich eines Tages gesagt. Die Nächte durchweinen und bei Tag überflüssig herumhocken, immer besessen von denselben trostlosen Gedanken – nein, das hält kein Mensch aus. Man geht dabei zugrunde oder wird verrückt. Ich will aber weder das eine noch das andere. Dagegen will ich mir selbst beweisen, daß auch ein Leben ohne Glück und Liebe noch zu etwas nütze sein kann.

Aber obwohl Britta es so ernst mit ihren neuen Mutterpflichten nahm, obwohl sie sich ganz den Kindern widmete und von ihnen leidenschaftlich geliebt wurde, fühlte sie sich grenzenlos vereinsamt. Die furchtbare Enttäuschung, die sie erlitten hatte, wirkte so niederdrückend, daß sie das Lachen und Fröhlichsein darüber verlernt hatte.

Sie war ja gewiß weder anspruchsvoll noch verwöhnt. Auch daheim im Elternhaus hatte sie keine rosigen Zeiten gehabt. Aber ihr angeborener Frohsinn hatte ihr doch immer wieder aufgeholfen. Sie lachte ja so gern und konnte sich über jede Kleinigkeit von Herzen freuen.

Erst als reiche Frau war sie so arm geworden! Heute fühlte sie sich besonders unglücklich. Als die Kinder sie nach Tisch bestürmten, mit ihnen zu spielen, wies sie sie beinahe ungeduldig ab.

»Mama hat Kopfweh, Mama will Ruhe haben. Ach, geht doch, Kinder, laßt mich allein! Später vielleicht«, stammelte sie nervös.

Sie kämpfte mit den Tränen. Fredy, der ein sehr kluger Bub war, hatte keinen Blick von ihr gewandt. Jetzt nahm er Gritli entschlossen bei der Hand.

»Komm, Gritli, wie wollen ein schönes Haus bauen und kleine Käfer hineinsetzen und uns denken, es wären verzauberte Prinzessinnen. Mama ruft uns, wenn sie uns wieder haben will.«

Ein dankbarer Blick Brittas folgte ihm.

Wie klug und feinfühlig er doch war! Und wie er äußerlich schon jetzt dem Vater glich!

Brittas Gedanken wanderten nach Hansental. Herta, die Glückliche, durfte alles sehen. Wie fröhlich würde sie wieder plaudern und damit die Schatten von Hans' Stirn vertreiben. Ihr gelang das ja immer. Und Hans hielt große Stücke auf seine Base. Wußte sie vielleicht auch um seine Liebe? War sie seine Vertraute?

Manchmal schon hatte Britta es vermutet. Einmal, als Hans wegen einer Kleinigkeit in besonders gereizter Stimmung war, hatte Herta nachher zu Britta gesagt: »Man darf ihm nicht gram sein. Sein Herz trägt eine schwere Wunde.«

Britta hätte damals gern eine Frage gestellt. Aber ein ihr selbst unverständlicher Trotz verschloß ihr die Lippen.

»Nein, nicht durch diese Frau«, sagte eine Stimme in ihrem Innern.

Denn es war merkwürdig: Trotz der freundlichen Art Hertas empfand Britta instinktiv eine wachsende Abneigung gegen Frau Kiesebrech.

Sie ist nicht aufrichtig, dachte sie immer wieder, wenn sie Hertas Art beobachtete. Und sie hat bei allem, was sie tut, einen bestimmten, geheimen Zweck.

Ein Diener kam vom Haus her. Frau Heider lasse bitten, in den Salon zu kommen, es sei Besuch da, meldete er.

Britta erhob sich und rief die Kinder zu sich.

»Wer ist es denn, Franz?« fragte sie.

»Frau Erkel aus Wien mit ihrer Schwägerin, Fräulein Erkel, und Herr Sternbach.«

Die Wiener Freunde also, die alle so nett und gut zu ihr gewesen waren, als sie damals fremd und hilflos den ersten Schritt in ein neues Leben getan hatte! Freudiges Rot stieg in Brittas Wangen. Besonders freute sie sich, Melanie Erkel wiederzusehen; Frau Erkel hatte ihr damals das Du angeboten, und sie waren fast Freundinnen geworden.

»Führen Sie Gritli zu Rosa, Franz! Du, Fredy, geh einstweilen zu Dr. Neuhäuser!«

Als Britta fünf Minuten später eintrat, wurde sie mit lautem Hallo begrüßt.

Frau Melanie küßte sie stürmisch.

»Nun, da bist du ja, Liebe! Weißt du, daß ich mich schon schrecklich nach dir gesehnt habe? Olga gleichfalls. Wir sind erst gestern abend in Mahrenberg angekommen, und Papa wollte durchaus, daß wir heute mit ihm nach Satzenberg fahren, wo er zu tun hat und wir Tante Glimpf besuchen sollten. Aber ich habe gesagt: »Nein, mein erster Weg soll zu Britta Heider sein! Vetter Sternbach war der gleichen Ansicht.«

Sie warf einen lächelnden Seitenblick auf den Mann zu ihrer Linken und fuhr fröhlich fort:

»So sind wir denn nun glücklich hier in der löblichen Absicht, so bald nicht wieder fortzugehen – vorausgesetzt, daß du uns nicht hinauswirfst.«

Britta umarmte sie herzlich.

»So liebe Gäste kann ich nur von ganzem Herzen willkommen heißen! Schade, daß mein Mann gerade heute nicht da ist.«

»Oh, wir warten schon auf ihn!« lachte Frau Erkel munter. »Bis acht haben wir Zeit, dann will uns Papa auf der Rückfahrt abholen. Sie haben doch auch nichts dagegen, liebste Mama Heider?« wandte sich die junge Frau an Frau Gerda, die etwas steif dasaß.

»O bitte, selbstverständlich nicht. Es ist ja so liebenswürdig, daß Sie meine Schwiegertochter so bald aufsuchen.«

Frau Erkel tätschelte Brittas Wange.

»Wir haben uns sehr liebgewonnen in Wien. Sie wissen gar nicht, welche Lücke sie in unserem Kreis hinterlassen hat. Ja, ja, Britta, nicht rot werden! Du kannst ja nichts dafür, daß du so reizend bist und alle Welt dich liebhaben muß.«

Frau Gerda, die improvisierte Gäste haßte und sich außerdem ärgerte, daß man mit dieser albernen Britta solche Geschichten machte, schwieg zu dieser Bemerkung.

*

Heider hatte in Hansental ganz plötzlich zum Aufbruch gedrängt. Im Westen steige ein Gewitter auf, behauptete er, als sie von der Försterei auf einem Umweg über die kürzlich dazugekaufte Dampfsäge zum Meierhof zurückkehrten.

Herta konnte zwar am klaren Nachmittagshimmel keine Wolken entdecken, willigte aber sofort ein. Als erfahrene Männerkennerin wußte sie, daß nichts einer Frau so großen Einfluß verschafft wie scheinbares Sichfügen und bereitwilliges Eingehen auf Launen und Stimmungen.

In Wahrheit empfand Heider plötzlich eine innere Unruhe. Hertas liebenswürdiges Geplauder, erst so angenehm, machte ihn jetzt nervös. Er wollte heim und allein sein.

Er ließ den Wagen gleich in die Garage fahren und betrat das Haus mit Herta von der Rückseite. Da horchten sie betroffen auf. Von oben klang Musik, eine prachtvolle Frauenstimme.

»Frau Ebert mit ihren Töchtern wird dasein. Da singt wohl eine von ihnen. Wir wollen rasch die Kleider wechseln und zusammen in den Salon gehen, ja?«

Er nickte.

Zehn Minuten später öffnete er leise die Salontür, denn es wurde noch immer musiziert, und ließ Herta den Vortritt. Dann blieben beide wie angewurzelt stehen: Die Sängerin war Britta! Sie stand in einem einfachen Mullkleid am Klavier, den schönen, rotgoldenen Lockenkopf etwas im Nacken, die dunkel schimmernden Augen wie entrückt in die Ferne gerichtet.

Ihre Stimme war von einer Fülle und Süße, die bestrickend wirkte. Sie sang den Lindenbaum von Schubert. Ihre ganze Seele lag in den Tönen. Ohne daß sie es wußte, entschleierte sich darin alles, was sie bewegte und was sie sonst ängstlich verbarg: das tiefe Leid enttäuschter Hoffnungen, Schwermut, Sehnsucht, Resignation. Heider hatte nicht gewußt, das Britta überhaupt sang. Daß sie so sang, versetzte ihn in eine sprachlose Verblüffung.

Aber nicht das allein – ihre Erscheinung in dem halbdunklen Winkel am Klavier, das weiße, fließende Gewand, der wunderschöne, vom Strahl der Klavierlampe beleuchtete Kopf wirkten überwältigend auf ihn.

Er starrte darauf hin wie auf eine Vision. Ihm war, als erblicke er Britta zum erstenmal.

Minutenlang sah er nur sie. Erst als sie schwieg und alle Anwesenden Beifall klatschten, kam es wie ein Erwachen über ihn. Frau Erkel, Olga Erkel, der Maler Sternbach waren von Wien gekommen.

Sternbach hatte Britta am Klavier begleitet. Er war der letzte, der sich erhob, um den Hausherrn zu begrüßen. Dabei merkte Heider, daß sein Blick nur zögernd von der Sängerin ließ.

Heider hörte höflich zu, sagte, er freue sich, daß die Herrschaften zu längerem Aufenthalt nach Mahrenberg gekommen seien und daß auch Herr Erkel ihnen bald folgen werde; aber sein Herz wußte nichts von dem, was der Mund sprach.

Ein dumpfer Zorn kochte in ihm. Warum hatte ihm Britta nie gesagt, daß sie sang? Warum strahlte ihr Gesicht plötzlich so? Was hatte dieser Sternbach in seinem Haus zu suchen? Natürlich, er hatte ihn damals in Wien eingeladen zu kommen, falls er Erkels einmal nach Mahrenberg begleiten sollte. Aber er hatte damit nur notgedrungen der äußeren Form gehorcht. War Sternbach so dickfellig, daß er es nicht schon am Ton gemerkt hatte?

Weder er noch die anderen hatten bis jetzt auf Herta Kiesebrech geachtet, die noch immer an der Tür stand, totenblaß, die weit aufgerissenen Augen erschrocken auf Sternbach gerichtet.

Träumte sie oder war das wirklich der Mann, der ihr vor wenigen Jahren Dinge ins Gesicht geschleudert hatte – nein, nein, nicht daran denken! Jene Stunde war zu entsetzlich gewesen. Ein Zittern lief durch ihre Gestalt. Er war es! Jeder Zug dieses feingeschnittenen Gesichts mit den leuchtenden Augen hatte sich ihr ja damals unauslöschlich eingeprägt.

Was tun? Sich wieder fortschleichen, ehe jemand sie bemerkt hatte?

Sie wollte es eben tun, als Frau Gerda ihrer ansichtig wurde und sie lebhaft zu sich winkte.

Kalter Schauer rann ihr über den Rücken, als sie dem Wink folgte.

Dann sagte Frau Gerda:

»Liebe Herta, erlaube, daß ich dir einen Neffen Herrn Alderfingers, den berühmten Maler Sternbach, vorstelle, der nach Mahrenberg gekommen ist, um in der Umgebung Skizzen zu machen.«

Frau Kiesebrech blickte auf. Sekundenlang begegnete ihr flimmernder Blick den kalt und fest auf sie gerichteten Augen Sternbachs. Gewohnheitsmäßig murmelte sie ein paar Worte und wollte dem ihr Vorgestellten, der mit keiner Miene verriet, daß er sie bereits kannte, ebenso gewohnheitsmäßig die Hand reichen. Da aber geschah etwas Unerwartetes: Sternbach tat, als sähe er Hertas Hand nicht, verbeugte sich kurz und steif und wandte sich dann einfach ab, ohne eine Silbe mit Frau Kiesebrech gewechselt zu haben.

Frau Gerda war sprachlos. Herta aber, die noch froh war, so davongekommen zu sein, fand plötzlich ihre Zungenfertigkeit wieder und flüsterte ihrer Tante ein paar spöttische Bemerkungen über dieses gelungene Exemplar von Naturburschen zu, der wohl wie die meisten Künstler einen Sparren im Kopf und über der Farbenkleckserei seine Erziehung vergessen habe.

Von den anderen hatte niemand den Vorfall bemerkt.

*

Für Britta hatte mit der Ankunft Melanie Erkels eine neue Zeit begonnen, in der sie ordentlich auflebte. War Frau Erkel auch ziemlich oberflächlich, hatte sie doch ein warmes Herz und brachte Britta aufrichtige Freundschaft entgegen. Die Lage der jungen Frau hatte sie schon in Wien ziemlich durchschaut, wenn sie auch nie ein Wort darüber verlor.

Hier auf dem Land, als sie nun auch Brittas häusliche Stellung erkannte, nahm sie sich ihrer doppelt warm an. Britta mußte überall dabeisein, bei den Musikabenden im Haus Alderfingen, bei allen Spaziergängen und Ausflügen. Kam sie nicht freiwillig, holte Frau Erkel sie einfach mit Brachialgewalt ab, wie sie lachend sagte.

Aber Britta kam gern. Manchmal allein, meist mit Fredy, der sich unter ihrer Pflege zusehends zu einem gesunden Buben herausmachte. Ihrem vereinsamten Herzen tat die Zuneigung der Fremden wohl. Mit Sternbach verband sie ein eigentümliches, herzlich offenes Freundschaftsverhältnis, das ihr geistig reichlich Anregung bot, denn Sternbach war viel gereist, wußte fesselnd zu erzählen und besaß den seltenen Blick für das Innenleben der Menschen. So erriet er auch oft, was in Britta vorging, mit einer Sicherheit, die sie erschreckt haben würde, wenn er nicht zartfühlend den Schleier des Schweigens darübergebreitet hätte.

Was Melanie Erkel längst erraten hatte – daß ihren Vetter eine tiefe, schwärmerische Liebe zu Britta erfaßt hatte – ahnte Britta selbst nicht. Darum wußte sie auch nicht, wie triumphierend Herta diese Freundschaft mit Sternbach hinter ihrem Rücken ausspielte, um Frau Gerda immer mehr gegen die Schwiegertochter aufzuhetzen.

Eines Tages hatte man einen größeren Ausflug nach St. Martin verabredet, und Britta sollte die aus Mahrenberg kommenden Freunde beim Hirschkreuz am Kreuzweg treffen. Fredy begleitete sie.

Britta hatte eben von Gritli Abschied genommen und eilte nun mit dem Knaben dem Ort der Zusammenkunft zu.

Eng aneinandergeschmiegt gingen sie zum Haus hinaus.

Britta blickte stolz und zärtlich auf ihn.

»Wie schnell du gehen kannst, Bub! Wird es dir nicht zuviel werden, auf den Mitterberg hinaufzusteigen und dann noch den Rückweg über St. Martin zu machen?«

»Aber keine Spur, Mama! Ich bin doch kein so kleiner Bub mehr!« Fredy reckte die schlanke, hochaufgeschossene Knabengestalt, die schon fast bis an Brittas Schulter reichte. »Und dann«, fuhr er stolz fort, »weißt du, was Onkel Sternbach neulich sagte?«

»Nun?«

»Daß ich dein Kavalier sein müßte, wenn Papa keine Zeit hätte, dich wohin zu begleiten. Und Papa hat ja nie Zeit.«

Ein Schatten flog über Brittas Gesicht. Nein, er hatte nie Zeit. Er wich ihr aus wie einer Aussätzigen. Sie fuhr sich über die Stirn. Nein, sie wollte sich nicht mehr aufregen. Es war ja auch am besten so, da er die andere nie vergessen konnte. Nur so würde auch sie selbst allmählich innerlich frei werden.

Britta drückte den lockigen Knabenkopf zärtlich an sich.

»Also komm, mein kleiner Herr!«

In dieser Minute war sie wieder die alte kindliche Britta, die sich an einem Sonnenstrahl freuen und über einen bunten Schmetterling in helles Entzücken geraten konnte.

Plötzlich fiel ein Schatten über ihren Weg, und Herta, die auf einem Seitenweg vom Glashaus kam, stand vor ihr.

»Nun, wohin denn so eilig, Britta? Ihr lauft ja, als wäre die Polizei hinter euch her!«

»Wir müssen laufen, denn Erkels erwarten uns um drei Uhr am Kreuzweg.«

»Ah, du machst schon wieder einen Ausflug? Geht Hans auch mit?«

»Nein, er hat es vorgezogen, zum Karwinkel zu gehen, wo Förster Lunz, glaube ich, einen Hirsch aufgespürt hat.«

»Wo wollt ihr denn hin?«

»Über den Mitterberg nach St. Martin.«

»Wie? Und da soll Fredy mit? Er kränkelt doch immer!«

»Oh, Fredy ist jetzt kerngesund. Dr. Hammer sagt auch, Fredy sei nur zu sehr verweichlicht worden und müsse abgehärtet werden.«

Herta zuckte spöttisch die Schultern.

»Dr. Hammer! Nun ja, der sagt natürlich immer, was du gerade hören willst. Er ist ja …« Sie brach ab und gab Fredy einen Wink. »Es ist nicht nötig, daß du auf jedes Wort aufpaßt, das wir Erwachsenen sprechen. Lauf lieber etwas voraus! Mama wird schon nachkommen.«

Der Knabe gehorchte schweigend.

Herta wandte sich wieder an Britta.

»Hör mal, Britta, findest du es eigentlich passend, daß du dauernd mit fremden Leuten außer Haus bist? Du machst es dir wahrlich in letzter Zeit recht bequem mit deinen häuslichen Pflichten.«

»Ich? Welche Pflichten meinst du?« stammelte Britta erstaunt. »Du hast sie mir ja alle abgenommen, und sonst …«

»Ich meine die Pflichten gegen deinen Mann und deine Schwiegermutter, auf deren Wünsche und Stellung du herzlich wenig Rücksicht nimmst. Verzeih, daß ich dir das sage, aber ich halte es schon lange für meine Pflicht, dich darauf aufmerksam zu machen.«

»Was meinst du eigentlich?«

»Verstehst du wirklich nicht, wie peinlich es deiner Schwiegermutter sein muß, daß du täglich zu diesen Wasenkos gehst, die sich so ungebührlich gegen sie betragen haben? Auch deinem Mann ist es als Herr der Fabrik peinlich, daß du mit seinen Arbeitern verkehrst wie mit deinesgleichen.«

»Ich gehe doch nur zu den Kranken und Armen. Auch Frau Wasenko ist krank.«

»Und wenn! Die Rücksicht auf deinen Mann und seine Mutter müßte dir doch vorgehen. Aber um beides kümmerst du dich ja nicht ein bißchen. Seit den drei Wochen, da Erkels da sind, schon gar nicht. Es ist ja vielleicht begreiflich, daß du dich lieber von diesem überspannten Sternbach anschmachten läßt, als bei einer alten Frau und deinem Mann daheimzusitzen, aber …«

»Herta, ich verbiete dir …«

»Bitte, laß mich aussprechen! Aber schön ist es nicht, wollte ich sagen. Und beide empfinden es als Kränkung. Auch mit den Kindern verfährst du ganz nach eigenem Gutdünken, regst ihre Phantasie durch diese ewigen Märchenerzählungen an, obwohl Mama wiederholt bemerkt hatte, daß sie grundsätzlich gegen Märchen ist bei Kindern, und kokettierst neuestens geradezu als zärtliche Mutter mit deinen Stiefkindern – vermutlich, weil du weißt, daß Männer auf so etwas fliegen.«

Britta war abwechselnd rot und blaß geworden. Jetzt richtete sie sich stolz auf.

»Noch einmal, Herta, ich verbiete dir …«

»Was? Die Wahrheit zu sagen?« fiel ihr die andere mit unbarmherziger Schärfe ins Wort. »Ich muß es einmal tun, meine Liebe, da du sie dir selber nicht klarmachst. Eine feinfühlige Frau hätte schon aus dem Umstand ihre Schlüsse gezogen, daß ihr Mann lieber auf die Jagd geht als mit Erkels.«

Britta sagte kein Wort mehr. Sie war viel zu stolz, um sich gegen Vorwürfe zu verteidigen, deren Unhaltbarkeit auf der Hand lag, stellte man sie ins Licht der Tatsachen.

Schweigen ist die beste Antwort, dachte sie. Ich kann doch weder meinen Mann noch meine Schwiegermutter ihr gegenüber der Lieblosigkeit anklagen.

Damit hielt Britta die Sache für abgetan, grüßte kurz und eilte Fredy nach, der sie bereits ungeduldig erwartete.

Britta ahnte nicht, daß es zum großen Teil eifersüchtige Erbitterung war, die Herta zu dieser Szene getrieben hatte: Erbitterung darüber, daß im Erkelschen Kreis, wo man Britta so huldigte, niemand von ihr selbst Notiz nahm. Sie ahnte ja, daß hinter dieser völligen Nichtbeachtung Sternbach steckte. Aber an ihn wagte sie sich aus guten Gründen nicht heran.

»Was haben Sie heute, Frau Britta?« fragte Sternbach eine Stunde später seine Begleiterin, die schweigend neben ihm herging. »Sie sind verstimmt. Ich habe es Ihnen gleich angemerkt.«

»Ich? O nein, Sie irren. Ich habe nur ein wenig Kopfschmerzen.«

»Oder man hat Sie geärgert – daheim. Glauben Sie, ich hätte nicht längst bemerkt, wie rücksichtslos man dort gegen Sie …«

»Still! Kein Wort weiter!« unterbrach ihn Britta und richtete sich stolz auf. »Ich habe Ihnen ein für alle mal gesagt, daß ich es nicht liebe, wenn man sich mit mir beschäftigt.«

»Ja! Aber eben damit verlangen Sie Unmögliches von mir, denn ich beschäftige mich Tag und Nacht – mißverstehen Sie mich nicht«, unterbrach er sich, als Britta eine abweisende Bewegung machte. »Ich habe nur geschworen, Ihr Freund zu sein, weil ich Ihnen nichts anderes sein darf. Ein wahrer und selbstloser Freund. Als solcher aber kann ich nicht ruhig sein, wenn ich Gefahren für Sie sehe.«

»Gefahren? Für mich? Sie träumen wohl!«

Er schüttelte ernst den Kopf.

»Durchaus nicht. Sie haben da in Ihrem Haus eine sehr gefährliche Dame – Frau Kiesebrech. Ich rate Ihnen dringend, sie so bald wie möglich daraus zu entfernen.«

Britta lächelte gezwungen.

»Frau Kiesebrech? Wie kommen Sie auf diesen Einfall? Sie kennen Herta ja doch kaum.«

»Aus dem Gesicht eines Menschen lese ich alles heraus, was in ihm steckt und ihn bewegt.«

»Wirklich? Und was lesen Sie aus Hertas Gesicht?«

»Daß sie kalt, grausam und berechnend ist. Vor allem, daß sie Ihnen nicht gut gesinnt ist. Daß, wenn sie Sie je verderben könnte, sie sich keinen Augenblick besinnen würde, es zu tun.«

»Ich glaube nicht, daß sie je in diese Lage kommen wird.«

»Wer weiß. Seien Sie nicht zu sicher! Man kann Lagen, die man wünscht, manchmal künstlich schaffen. Das wäre gerade etwas für eine Herta Kiesebrech.«

»Aber, warum sollte sie mich verderben wollen? Ich verstehe nicht, wie Sie zu dieser Annahme kommen.«

»Das kann ich im Augenblick noch nicht sagen, denn dazu habe ich zu wenig Einblick in Ihre Ehe.«

Britta blickte immer verwunderter drein.

»Was könnte Herta mit meiner Ehe zu schaffen haben?«

»Nun, nehmen wir zum Beispiel einmal an, sie sei eifersüchtig, beneidet Sie …«

»Mich?« Britta lächelte, aber dabei zuckte es verräterisch um ihren Mund. »Mich beneidet niemand«, sagte sie dann wider Willen voll Bitterkeit.

Sternbach betrachtete sie sekundenlang aufmerksam von der Seite, wie sie mit gesenktem Kopf neben ihm ging. Mitleid, Rührung und noch etwas anderes, das heiß und mühsam zurückgedrängt in seinen Augen brannte, spiegelte sich in seinem Gesicht. Dann nickte er vor sich hin, als habe er nichts anderes erwartet.

»Wer weiß!« begann er dann nach einer Pause von neuem. »So wenig Wert Sie selbst vielleicht auf Äußerlichkeiten legen, so viel gelten sie möglicherweise anderen. Ihr Mann ist reich und angesehen. Fabrik und Haus sind ein schöner Besitz – und alte Liebe rostet nicht. Vergessen Sie das nicht!«

Britta war plötzlich stehengeblieben. Ihre Augen richteten sich in unruhiger Spannung auf den Sprecher.

»Was wollen Sie damit sagen, Herr Sternbach?«

»Sollten Sie nicht wissen, daß Frau Kiesebrech als junges Mädchen ihren Vetter Heider geliebt hat und nahe daran war, sich mit ihm zu verloben? Nur daß damals Kiesebrech die weitaus bessere Partie schien …«

»Woher wissen Sie das?«

»Oh, ich glaube, meine Kusine Melanie hat es mir einmal erzählt oder sonst jemand.«

Brittas Gesicht war farblos und verstört.

»Und – er? Wissen Sie auch, ob er …?« stammelte sie.

»Er?« Sternbachs Stimme klang hart und kalt. »Sie war seine erste Liebe. Er hat es nur schwer verwunden, daß sie ihn treulos verließ, um einen anderen zu heiraten. Ob er sie später vergessen hat, weiß ich natürlich nicht.«

Brittas Herz schlug so stürmisch, daß sie nach Luft rang. Der Vorhang war zerrissen, der vor ihren Augen gehangen hatte.

Sie war es – Herta, die er nicht vergessen konnte! Brittas elastischer Schritt war müde und schleppend geworden.

War es denn nicht gleichgültig, ob Herta oder Alma? Es wäre leichter gewesen, nichts zu wissen, als mit diesem Wissen fortan Herta täglich um sich zu sehen, sie im Haus dulden, ihre Bemühungen um Hans stillschweigend mitansehen zu müssen.

Sie blieb plötzlich stehen und sah Sternbach mit traurigen Augen vorwurfsvoll an.

»Warum haben Sie mir das gesagt, Herr Sternbach? Ich wußte von nichts. Wäre es nicht freundlicher gewesen, mich blind zu lassen?«

»Nein! Sie sind nicht glücklich, das habe ich seit langem gemerkt, wenn Sie es auch verbergen wollen. Als ich diese Frau in Ihrem Haus sah, ist mir vieles klargeworden, vor allem, daß Frau Kiesebrech sich nicht umsonst hier lieb Kind gemacht hat, sondern sich ganz einfach an Ihre Stelle setzen will. Darüber mußte ich Ihnen doch die Augen öffnen. Sind Sie mir böse deshalb?«

»Nein, Sie meinen es ja gut. Aber wenn es so wäre, was soll – was kann ich dagegen tun?«

»Was?« Sternbach sah sie verwundert an. »Nun, was sonst als kämpfen und Ihren Platz entschlossen behaupten. Vor allem diese Frau so rasch wie möglich aus Ihrem Haus entfernen. Sie lieben Ihren Mann doch? Ich nehme es wenigstens an – eine Frau wie Sie heiratet nicht ohne Liebe.«

Eine leise Frage klang in seinen letzten Worten.

Britta schien sie zu überhören.

Wieder gingen sie eine Weile stumm weiter, bis Sternbach fragte: »Zürnen Sie mir, Frau Britta, daß ich es gewagt habe, mich in Ihr Schicksal zu mengen?«

»Nein. Aber ich frage mich vergebens, aus welchem Grund Sie das tun.«

»Warum?« Seine Stimme nahm plötzlich einen leidenschaftlichen Klang an. »Weil ich Sie liebe, Britta, und glücklich sehen will, so oder so! Erschrecken Sie nicht über diese Worte, da sie Sie weder beleidigen noch Ihnen nahetreten sollen, denn sie kommen aus reinem Herzen, glauben Sie mir. Nie würde ich es wagen, Ihnen von meinen Gefühlen zu sprechen, nie der glücklichen Frau mehr sein wollen als ein treuer, selbstloser Freund. Aber merken Sie wohl auf, Britta: Der verratenen Frau würde ich helfen, aus unwürdigen Banden frei zu werden und dann versuchen, um ihr Herz zu werben. Jetzt wissen Sie alles. Und nun frage ich Sie zum drittenmal: Sind Sie mir böse?«

In Brittas Antlitz wechselten Röte und Blässe, so hatte dieses Geständnis sie im ersten Augenblick erschreckt. Dann aber heftete sich ihr reiner, klarer Blick bewegt auf den Sprecher.

»Und ich antworte zum drittenmal – nein, denn Sie meinen es gewiß gut und ehrlich. Nur eines haben Sie vergessen, Herr Sternbach: daß man nur einmal im Leben wahrhaft lieben kann und dann auch alles trägt.«

»Alles? Nein …«

Britta unterbrach ihn mit einer so hoheitsvollen Gebärde, daß er unwillkürlich verstummte.

»Wir wollen vergessen, was eben gesprochen wurde«, sagte sie sanft. »Eilen wir, um die anderen einzuholen. Ich bin in Sorge um Fredy, den ich nicht mehr sehe.«

*

»Du magst sagen, was du willst, Tante Gerda, es war doch ein Mißgriff, daß du Hans bei dieser unglückseligen Heirat Vorschub geleistet hast. Britta ist weder eine gute Hausfrau noch eine gute Mutter; der Wille allein tut es nicht, wo der Verstand fehlt. Und als Frau? Du lieber Gott, heute mußt du es ja selber sehen, wie unglücklich sich Hans neben dieser unbedeutenden Frau fühlt. Er sieht elend aus und wird von Tag zu Tag melancholischer.«

Frau Heider nickte seufzend.

»Leider, leider. Aber ich habe ihm ja nicht zugeredet, Britta zu nehmen. Du tust mir wirklich unrecht, Herta. Ich war überrascht und begreife es noch heute nicht, daß er gerade sie gewählt hat.«

»Nun, du hast ihn gedrängt, zu heiraten, und da hat er eben die erste Beste genommen. Hättest du ihm doch nur Zeit gelassen, vernünftig zu wählen! Es gibt andere, die ihn gewiß glücklich gemacht hätten, ohne dir dabei nahezutreten.«

Frau Heider schwieg. Angesichts der täglich zunehmenden Gereiztheit und Unzufriedenheit des einzigen Sohnes, schlug ihr in der Tat das Gewissen, und sie bedauerte insgeheim längst, den Dingen nicht ihren Lauf gelassen zu haben. Zudem war Forst seit einigen Tagen an Grippe erkrankt, so daß sie sich nicht einmal mit dem altbewährten Freund aussprechen konnte, was ihre Laune noch verschlimmerte.

Hertas wohlberechnete Ausfälle gegen Britta trugen nicht dazu bei, sie besser zu stimmen.

Es dämmerte schon stark. Die beiden saßen in Frau Gerdas Wohnzimmer, wo sie auch Tee getrunken hatten.

»Soll ich Licht machen?« fragte Herta.

»Wie du willst. Aber ich denke, Britta wird wohl bald von diesem Ausflug zurück sein, und dann können wir ja gleich zum Essen hinübergehen.«

»Gut, dann plaudern wir im Dunkeln, das ist viel gemütlicher. Übrigens glaube ich nicht, daß Britta sich so bald von ihren geliebten Freunden trennen kann.«

»Sie hat doch das Kind mit.«

»Hm, aber da ist auch dieser nette Herr Sternbach mit seinem interessanten Künstlerkopf, der es Britta entschieden angetan hat.«

»Du meinst?« fragte Frau Gerda erschrocken.

»Ich bin doch nicht blind, Tantchen! Er ist rasend verliebt in Britta und sie nicht minder in ihn.«

»Aber das wäre ja schrecklich! Was soll daraus werden? Das fehlte noch, daß sie unseren Namen ins Gerede brächte! Wenn Hans etwas Derartiges merken sollte …« Sie unterbrach sich aufhorchend. »Ist da nicht jemand gekommen? Mir war, als wäre die Tür gegangen.«

»Ich habe nichts gehört, Tante. Übrigens, wer sollte es sein? Die Leute kommen nicht ungerufen; Britta ist noch nicht da, und Hans kommt sicher erst spät abends von der Jagd heim.«

»Das ist wahr. Und ich bin jetzt froh, daß Hans sich wenigstens durch die Jagd etwas ablenkt. Es wäre wirklich schrecklich, wenn er von Britta und diesem Sternbach etwas merkte.«

»Ich fürchte nur, Tante Gerda, er hat es schon gemerkt, und das ist mit ein Grund für seine Verstimmung. Von einer ungeliebten Frau auch noch betrogen und der Lächerlichkeit preisgegeben zu werden, kann auch den gelassensten Menschen zur Verzweiflung bringen.«

»Ich begreife nur diesen Sternbach nicht. Wie kann er es wagen, Britta zum Gegenstand seiner Handlungen zu machen?«

»Frauen, die von ihren Männern vernachlässigt werden, sind immer Freiwild für andere.«

Frau Gerda seufzte wieder.

»Armer Junge! Und in seiner ersten Ehe hat er nur Glück gehabt. Kein Wunder, daß er Alma nicht vergessen kann! Übrigens, was ist dieser Sternbach eigentlich, daß er sich gleich auf Wochen und Monate in Mahrenberg festsetzen kann? Es heißt ja, daß er sogar den Winter hier verbringen will. Hat er denn kein Amt?«

»Nein. Er ist bloß ein reicher Mann und nebenbei Maler aus Liebhaberei. Melanie Erkel hat mir neulich erzählt, er wolle hier Skizzen machen.«

»Früher war er doch nie bei Adlerfingen auf Besuch.«

»Er reist viel, glaube ich. Und dann – früher hatte er ja auch Britta noch nicht entdeckt.«

Wieder hob Frau Heider horchend den Kopf. Ein leises Rauschen, wie wenn jemand den Türvorhang zum Nebenzimmer hätte fallen lassen, war an ihr Ohr gedrungen.

»Ist jemand da?« fragte sie laut in die Dunkelheit hinein. Keine Antwort.

Und doch hatte Heider fünf Minuten lang an der Tür gestanden und sich eben erst leise wieder entfernt.

Heider war auf die Jagd gegangen, um von daheim fortzukommen, wo ihn alles nervös machte. Zwar hatte ihn Herr Erkel, mit dem er seit vielen Jahren eng befreundet war, zu dem heutigen Ausflug gleichfalls eingeladen, aber Heider hatte abgelehnt.

Denn gerade zwischen Erkel und ihm bestand in letzter Zeit eine wachsende Verstimmung.

Erkel war von Britta entzückt, stand vom ersten Tag an auf ihrer Seite und tadelte und warnte Heider beständig wegen seines Benehmens gegen sie.

Schon in Wien hatten sie eine ziemlich scharfe Auseinandersetzung darüber gehabt.

»Britta ist eine so wundervolle Frau«, hatte Herr Erkel gesagt, »die du nicht genug auf Händen tragen kannst. Statt dessen schiebst du sie achtlos beiseite wie ein unreifer Bub, der den Wert einer Kostbarkeit nicht versteht. Willst du wirklich warten, bis Britta begriffen hat, welche demütigende Rolle du ihr in deinem Leben zugedacht hast, und dir einfach den Rücken kehrt?«

Heider, der sich Ähnliches, wenn auch nicht so klar, schon selbst gesagt hatte, es aber um keinen Preis zugeben wollte, zuckte ärgerlich die Achseln.

»Man kann sich doch nicht zu Gefühlen zwingen! Du, der du die schwerste Zeit meines Lebens seinerzeit getreulich mit mir durchlebt hast, solltest am besten wissen, daß mein Herz tot ist.«

»Unsinn! Du redest dir das ein.«

Das war damals in Wien gewesen. Jetzt sprach Herr Erkel noch viel schärfer, denn er hatte inzwischen Sternbachs Liebe zu Britta erkannt und fühlte sich im Gegensatz zu seiner Frau verpflichtet, Heider zu warnen.

Erst gestern wieder hatte er den Punkt berührt.

»Es scheint mir gar nicht klug von dir«, hatte er gesagt, »daß du deine Frau immer anderen Leuten überläßt. Du mußt doch sehen, welche Schlüsse die anderen daraus ziehen.«

Da war Heider aufgefahren.

»Was willst du damit sagen?«

»Genau, was die Worte bedeuten: daß andere Mut bekommen müssen, eine schöne Frau erobern zu wollen, wenn ihr Mann sie dauernd sich selbst überläßt.«

Trotzdem hatte er die heutige Einladung wieder ausgeschlagen. Diesmal aus Furcht vor sich selbst, denn er fühlte, wenn Sternbach Britta wieder nicht von der Seite ging, würde er nicht Herr seiner selbst bleiben können.

Aber er hoffte bestimmt, daß auch sie daheimgeblieben war. Sie mußte doch fühlen, daß er es wünschte! Dann packte ihn plötzlich die Angst, sie wäre doch gegangen. Warum sollte sie seine Wünsche berücksichtigen, da sie ihn haßte? Er hatte keine Ruhe mehr auf dem Anstand.

In knapp einer Stunde hatte er den Weg von Karwinkel nach Hause zurückgelegt. Leise stieg er die Treppe hinauf. Britta brauchte nichts von seiner Anwesenheit zu wissen. War sie da, war alles gut.

Aber er fand sie nicht, weder in ihrem Zimmer noch im Kinderzimmer. Da trieb es Heider zu seiner Mutter. Er wollte mit ihr über Britta reden.

Was, war ihm zwar unklar. Aber die Mutter würde ihn hoffentlich verstehen: seine Angst und Sorge.

In dieser Stimmung betrat Heider den kleinen Raum, der an das Wohnzimmer seiner Mutter stieß. Er vernahm Hertas helle, etwas harte Stimme und blieb plötzlich aufhorchend stehen. Sie sprachen von Britta.

Und da packte ihn mit einemmal etwas Niegekanntes: Schmerz, Zorn, Todesangst.

Sprach sie wahr, diese helle, diese harte Stimme? War es zu spät? Seine Ehre in den Schmutz getreten, sein Name der Lächerlichkeit preisgegeben, sein Glück dahin?

Lautlos schlich er hinaus, wie er gekommen war.

Sein Glück? Was war denn das – sein Glück?

Immer wieder sprach er mechanisch das Wort vor sich hin, während er schwer atmend die Treppe hinaufstieg, Stufe um Stufe, bis in die Mansarde.

Mit zitternder Hand schloß er die Tür auf, die zu den Zimmern führte, in denen er Almas Möbel hatte verwahren lassen. Das Licht flammte auf. Mild strahlte die rosa Ampel über all die zierlichen Dinge ringsum. Auch Almas Bild hing da.

Sein Glück, war es da? Nein, da war es nicht! Nicht mehr.

Er sank auf einen Stuhl und vergrub das Gesicht in den Händen.

»Britta – Britta …«, murmelte er mehrmals, weich und sehnsüchtig. Mit einemmal begriff Heider, begriff, was in ihm vorging, was ihn seit Monaten rastlos umhertrieb, was seine Nächte schlaflos, seine Tage so unruhig machte.

Liebe war es! Liebe zu Britta!

Heimlich war sie ihm ins Herz geschlichen im Truggewand von Haß und Erbitterung. Und so groß, so heiß, so tief war die Liebe, daß alles davor versank, was er je für andere Frauen empfunden hatte.

Die Erkenntnis überwältigte ihn. Jetzt plötzlich wußte er, wo sein Glück war, das Glück, das er ahnungsvoll ersehnte und erst begriff, als es dahin war.

Was nun? Sich selbst bezwingen und sie freigeben, da ein anderer das Herz gewonnen hatte, das er achtlos von sich stieß?

Oder sie halten mit Gewalt, um sie zu werben, um sie zu dienen, und dauerte es auch Jahre, und wäre es auch nur, um ihr nahezubleiben?

Stunden verrannen, er wußte es nicht. Draußen vor den Fenstern stand die Nacht, kalt und schwarz, stumm und drohend. Kein Stern am Himmel, dunkle Wolken nur, aus denen zuweilen bläuliche Blitze zuckten.

Heider fuhr auf, als ein Donnerschlag an sein Ohr klang.

*

Wild fegte plötzlich der Sturm über Haus und Park, riß die ersten gelben Herbstblätter von den Bäumen und trieb sie in tollem Wirbel vor sich her.

Frau Heider und ihre Nichte, die eben schlafen gehen wollten, horchten erschrocken auf.

»Du lieber Gott!« seufzte Frau Gerda halb besorgt, halb empört, »da bricht ein Gewitter los, und Britta ist mit dem Kind noch immer nicht daheim! Fredy kann den Tod davon haben.«

»Oh, der liebe Sternbach wird schon irgendwie für die beiden sorgen«, meinte Herta spöttisch.

Knauer konnte nicht rasch genug die Fenster schließen. Als er gerade halbwegs damit zurechtgekommen war, stand plötzlich Heider neben ihm.

»Knauer, meine Frau ist wohl schon daheim?« fragte er mit eigentümlich gepreßter Stimme.

»Nein, Herr Heider. Ich war eben drüben im Kinderzimmer, um die Fenster zu schließen. Rosa ist auch schon recht unruhig wegen Fredy, der nur einen leichten Sommermantel bei sich hat.«

»Ah, Fredy ist auch mit von der Partie? Geben Sie in der Küche Auftrag, daß heißer Tee bereitgehalten wird.«

Heider trat ans Fenster und starrte hinaus in die undurchdringliche Nacht. Wo blieben sie nur? Es ging auf elf Uhr zu. Draußen schüttete es wie aus Kannen. Das Rauschen des Regens war so stark, daß es jedes andere Geräusch verschlang. So hörte Heider auch nicht das Rollen eines Wagens, der sich rasch näherte.

Erst als der Schein der Lichter auf dem nassen Kies aufleuchtete, wurde er aufmerksam; da hielt der Wagen schon unten am Tor. Heider kam gerade noch zurecht, um zu sehen, wie Britta, von Sternbach unterstützt, ausstieg und hastig die Halle betrat. Ihr Begleiter war noch einmal im Wagen verschwunden und kam nun gleichfalls in die Halle, Fredy auf den Armen, der das Köpfchen müde und zutraulich auf seine Schulter lehnte.

Heider stand unbeweglich, den Blick starr auf Sternbach gerichtet. Er war blaß wie der Tod.

Britta erblickte ihn zuerst und erschrak sichtlich.

Sie näherte sich ihm aber sofort und sagte nach kurzer Begrüßung:

»Entschuldige, daß wir so spät kommen, aber das Wetter überraschte uns in St. Martin. Die anderen haben den Zug benützt, uns hat Herr Sternbach einen Wagen verschafft und war dann noch so liebenswürdig, mit uns hierher zu fahren, damit wir wohlbehalten heimkamen.«

Heider hörte nur heraus, daß Britta sich von den anderen getrennt und einen Teil des Abends allein mit Sternbach verbracht hatte.

Dunkel fühlte er, daß es die Form erfordert hätte, Sternbach für diesen Dienst zu danken, ihn mindestens zu begrüßen. Aber kein Laut kam über seine Lippen; sein Blick ruhte noch immer starr auf Sternbachs erstauntem Gesicht.

Britta war erblaßt. Verstört sah sie von einem zum anderen. Um der peinlichen Szene ein Ende zu machen, nahm sie Sternbach das Kind ab und reichte ihm die Hand zum Abschied.

»Ich danke Ihnen für den Freundschaftsdienst, den Sie mir geleistet haben, Herr Sternbach«, sagte sie, wegen Heiders Unhöflichkeit vielleicht um einen Grad wärmer, als sie sonst gesprochen hätte. »Hoffentlich kommen auch Sie gut heim. Gute Nacht!«

»Gute Nacht, gnädige Frau, gute Nacht, Fredy!«

Sternbach verbeugte sich und führte Brittas Hand an die Lippen. Der Hausherr schien für ihn nicht mehr zu existieren.

Dann verließ er rasch die Halle. Man hörte draußen den Schlag zuklappen und den Kies knirschen.

Britta war noch einen Augenblick unschlüssig stehengeblieben. Dann nahm sie den Knaben bei der Hand, sagte leise: »Gute Nacht!« und flüchtete die Treppe hinauf.

Jetzt erst raffte Heider sich aus seiner Erstarrung auf. Mit zwei Sätzen hatte er Britta eingeholt und vertrat ihr den Weg.

»Willst du nicht wenigstens warten, bis Fredy sich so weit besonnen hat, seinem Vater gute Nacht zu sagen?« fragte er bebend, während es drohend in seinen Augen aufblitzte. »Soviel Anstand und Rücksicht darf ich doch verlangen?«

Verwirrt und ängstlich sah Britta zu ihm auf.

»Verzeih, aber das Kind kann sich ja vor Schlaf kaum aufrecht halten. Fredy, gib deinem Papa die Hand und sage gute Nacht!«

Der Knabe, dem vor Müdigkeit die Augen zufielen, gehorchte mechanisch.

Heider aber, vor Schmerz und Eifersucht nicht mehr Herr seiner selbst, stieß die Kinderhand rauh zurück.

»Danke! Wenn du nicht aus eigenem Antrieb grüßen kannst, verzichte ich.« Er trat dicht an Britta heran. »Dir aber verbiete ich in Zukunft derartige Ausflüge, die nur Ärgernis erregen müssen und die Gesundheit des Buben gefährden! Kinder gehören am Abend zeitig ins Bett und anständige Frauen in das Haus ihres Mannes. Danach richte dich künftig! Wenn du Gesellschaft haben willst, findest du sie bei meiner Mutter und Herta. An sie halte dich, nicht an fremde Leute! Mein Haus war nie ein Taubenschlag, in dem jeder ein- und ausfliegen kann. Gute Nacht!«

Er hatte schroff und kalt gesprochen. Dann wandte er sich rasch um und ging in sein Zimmer.

Sprachlos starrte Britta ihm nach. Sie begriff nicht, was ihn so in Zorn versetzt haben konnte, aber sie hatte verstanden, daß er sie ausschließlich auf die Gesellschaft seiner Mutter und Kusine anweisen wollte; dagegen empörte sich alles in ihr.

*

Britta dachte nicht daran, ihren Verkehr mit Melanie Erkel aufzugeben, weil er mit mißliebigen Augen betrachtet wurde.

Hatte sie früher schweigend unter der Vereinsamung und den tausend kleinen Demütigungen gelitten, denen sie im Haus ihres Mannes ausgesetzt war, so erfüllten jetzt Trotz und Bitterkeit ihr Herz.

Daß Heiders Herz einer anderen gehörte, daß er sie selbst ohne Liebe geheiratet hatte, darein hatte sie sich inzwischen ergeben. Aber daß diese andere mit ihr unter einem Dach leben sollte, empörte Britta maßlos.

Wie kam sie dazu, sich in diesem schmählichen Spiel eine so demütigende Rolle aufnötigen zu lassen? War es nicht genug, daß Hans ihr Leben zerstört, ihr Herz zertreten und sie unsäglich elend gemacht hatte – nicht genug, daß sie innerlich trotz allem nicht von ihm loskam, sondern ihn genauso liebte wie am Tag ihrer Hochzeit?

Ihm zürnte sie nicht, ihm vergab sie alles, für ihn wollte sie auch alles ertragen. Aber für Herta empfand sie nur Abscheu und Verachtung.

Einige Tage nach dem Ausflug saß Britta mit den Kindern auf der Terrasse. Fredy machte Aufgaben, Gritli schnipselte an einem Ausschneideblatt herum. Ein paar Schritte entfernt räkelte sich Herta im Liegestuhl und studierte das letzte Modeblatt. Dabei schaute sie zuweilen verstohlen auf ihre Armbanduhr.

Es war bald sechs Uhr. Dann kam Heider gewöhnlich aus der Fabrik herüber, und Herta wußte es so einzurichten, daß sie ihm stets in der Halle begegnete. Er blieb seit einigen Tagen auch bereitwillig stehen und ließ sich erzählen, was es daheim Neues gab. Und jedesmal flocht er dann scheinbar absichtslos die Frage ins Gespräch: »War Besuch da?«

Herta, die erriet, was er wissen wollte – sie hatte damals, als Britta in Sternbachs Begleitung von dem Ausflug zurückkam, in einem dunklen Winkel der Halle jedes Wort gehört –, gab sich dann den Anschein, seine Spannung nicht zu bemerken. Leider konnte sie ihm nie etwas Wesentliches berichten, denn außer einem Brief Frau Erkels an Britta, den ein Bote überbracht hatte, war niemand gekommen.

Auch Britta sah zuweilen in heimlicher Ungeduld auf die Uhr. Bis sechs Uhr hatte Fredy Aufgaben zu machen, dann war er frei. Und dann konnte sie endlich fort aus der sie quälenden Nähe dieser Frau.

Da erschien plötzlich Rosa mit einer Karte, die sie Britta überreichte.

»Herr Sternbach läßt anfragen, ob die gnädige Frau ihn empfangen will.«

Britta errötete und drehte die Karte unschlüssig in den Händen.

Sollte sie ja sagen, obwohl Heider ausdrücklich keine Besuche in seinem Haus wünschte? Eine Ausrede ließ sich schließlich leicht ersinnen.

Da sagte Herta Kiesebrech, ohne Brittas Entscheidung abzuwarten:

»Nein, die gnädige Frau will nicht! Sagen Sie, die gnädige Frau sei beschäftigt.«

Rosa blickte Britta fragend an, denn die Leute hielten es insgeheim alle mit ihr, weil Hertas hochmütige Art sie verdroß und sie sie durchschauten.

Brittas Wangen hatten sich vor Ärger dunkelrot gefärbt. Sie stand mit einem Ruck auf.

»Entschuldige, Herta, aber Herr Sternbach ließ sich bei mir melden.« Zu dem Mädchen sagte sie ruhig: »Ich lasse bitten! Führen Sie den Herrn in mein Wohnzimmer.«

Rosa entfernte sich.

Herta sah die junge Frau mit blitzenden Augen an.

»Wie kannst du mich vor Rosa so bloßstellen?«

»Entschuldige, aber daran bist du selbst schuld. Ich habe dich nicht ersucht, in meinem Namen Entscheidungen zu treffen.«

»Ich habe es als selbstverständlich angenommen, daß du diesen Menschen nicht empfängst, nachdem dir Hans neulich durch sein Verhalten gezeigt hat, wie zuwider er ihm ist. Auch hat er es dir geradezu gesagt.«

»Hat mein Mann sich bei dir über mich beklagt?« stieß Britta zornbebend heraus.

In Frau Kiesebrechs schwarzen Augen funkelte es triumphierend auf.

»Und wenn er es getan hätte, dürfte es dich wundern? Ich bin ihm nahegestanden, lang ehe er dich kannte, und er weiß gut, daß niemand ihn so gut versteht wie ich!« Sie trat dicht an Britta heran und zischte: »So alte Bindungen, meine liebe Britta, können deine kindischen Hände nicht zerreißen, das mache dir klar!«

Britta erblaßte angesichts dieser zynischen Unverfrorenheit.

»Das – wagst du mir ins Gesicht zu sagen?« stammelte sie außer sich.

»Warum nicht, da es die Wahrheit ist?«

Britta stützte sich schwer auf die Lehne des Stuhls, neben dem sie stand. Unfähig, länger in sich zu verschließen, was sie seit Tagen quälte, rief sie:

»Und wenn es die Wahrheit ist – warum hat er mich geheiratet und nicht dich?«

Herta Kiesebrech lächelte spöttisch.

»Ach, du hast nicht erraten, daß diese Heirat einzig und allein das Werk seiner Mutter ist, die meine Macht über den einzigen Sohn fürchtete? Eine ungeliebte Frau raubt ihr nichts, eine geliebte Frau – alles. Das ist doch so einfach! Ich bin eben drei Wochen zu spät gekommen.«

»So einfach«, sagte Britta leise vor sich hin. Ja, es war sehr einfach!

Eiskalte Schauer jagten durch ihren Leib. Ohne ein Wort der Erwiderung entfernte sie sich.

Sternbach starrte sie erschrocken an, als sie zu ihm ins Zimmer trat, bleich wie der Tod, mit seltsam erloschenem Blick.

»Gnädige Frau – liebe Frau Britta, was ist Ihnen? Sind Sie krank?«

»Nein. Mir ist nichts. Bitte, nehmen Sie Platz! Und erzählen Sie mir etwas – irgend etwas!«

Sie sprach ruhig und seelenlos wie ein Automat. Sie gab Rede und Antwort, aber ihr ganzes Wesen berührte Sternbach unheimlich.

Inzwischen erwartete Herta in der Halle Heider mit Ungeduld. Genugtuung erfüllte sie. Endlich hatte sie den Abgrund vor Britta aufreißen können, der dieser Frau jeden Weg zu Heider für immer versperren mußte. Wenn es jetzt noch gelang, auch ihn an den Rand der Kluft zu bringen, konnte sie darangehen, sich den eigenen Weg zu ebnen.

Heider betrat pünktlich viertel nach sechs die Halle.

»Guten Abend, Herta!« sagte er. »Wie geht's? Was gibt es Neues? Du machst ein so sonderbares Gesicht, als hättest du dich eben geärgert.«

»Das habe ich auch, leider! Ich bin nämlich mit Britta ein wenig aneinandergeraten, in bester Absicht meinerseits; aber die gute Britta kann mitunter, wenn es sich um ihre eigenen Angelegenheiten handelt, sehr verletzend werden.«

»Du hast Streit mit Britta gehabt? Worüber?«

»Ach, lassen wir das, Hans! Ich will ihr ja auch die in der Heftigkeit ausgestoßenen Beleidigungen nicht nachtragen.«

»Wie? Britta hätte dich beleidigt?«

»Wohl absichtslos. Dennoch – es tut natürlich weh.«

»Aber zum Kuckuck, was hat's denn gegeben? Sprich doch deutlicher, Herta!«

Sie blickte ihn aus feuchtgewordenen Augen an.

»Laß es gut sein, Hans! Es ist wirklich besser, wir reden nicht davon.«

»Im Gegenteil, ich will es wissen, und zwar sofort! Andernfalls werde ich mir die Auskunft bei Britta selbst holen.«

»Um Gottes willen, nein, nur das nicht!« rief Herta scheinbar erschrocken. »Störe sie jetzt nicht, sie würde sich nur ärgern, denn sie hat Besuch.«

»Besuch? Wen?«

»Herrn Sternbach.«

Heider fuhr auf. »Was? Dieser Mensch – schon wieder, obwohl ich –«

»Ja, siehst du, Hans, das war es ja eben: Ich weiß, daß du Sternbach nicht magst, und wollte Britta veranlassen, ihn nicht zu empfangen. Da hat sie mich mit Vorwürfen überschüttet: Ich hätte mich da nicht einzumischen, habe überhaupt nichts zu bestimmen, und sie lasse sich den einzigen Freund, den sie habe, nicht nehmen. Gott, ich wußte ja wirklich nicht, daß ihr so viel an ihm liegt.«

Heider hörte mit gerunzelter Stirn zu.

»Wo sind sie? Im Park?« fragte er finster.

»Nein. Britta ist mit ihm im Wohnzimmer. Wahrscheinlich will sie ungestört sein.«

Jedes Wort wirkte wie ein Pfeil in offene Wunden. Instinktiv machte er eine Bewegung auf die Treppe zu.

Herta hielt ihn zurück.

»Sei vernünftig, Hans! Ich begreife dich ja vollkommen, aber willst du die Sache zum Skandal treiben? Änderst du etwas damit? Bedenke: Wer den Schaden hat, hat den Spott. Sei vornehm, Hans! Und vor allem tue nichts Übereiltes, zeige niemandem, am wenigsten den beiden, wie tief Brittas Untreue deinen Stolz trifft!«

Untreue! Das Wort, mit Bedacht gewählt, war heraus!

Heider zuckte zusammen, als habe er einen Schlag erhalten. Ein dumpfes Stöhnen entrang sich seiner Brust. Seinen Stolz! Wenn Herta wüßte, daß nicht nur der Stolz, sondern tausendmal mehr noch sein Herz getroffen war!

Herta legte die Hand sanft auf seinen Arm und sprach beruhigend auf ihn ein. Ihre Stimme klang jetzt weich und zärtlich wie die einer Mutter, die ein Kind tröstet.

Ihre Teilnahme tat Heider wohl, demütigte ihn aber zugleich. Sein kochendes Blut drängte stürmisch zu sofortiger Auseinandersetzung. Aber Herta wußte ihn mit geschickt angeführten Vernunftgründen zurückzuhalten.

»Nicht jetzt! Nicht heute! Warte und beobachte! Ein Besuch ist schließlich kein Verbrechen, und andere Beweise für deine Vermutung hast du ja nicht.«

Er mußte das endlich zugeben. Aber es schien ihm unmöglich, hier zu bleiben, solange Sternbach da war.

»Entschuldige mich bitte bei Tisch, Herta!« sagte er und wandte sich dem Garten zu.

»Du willst wieder fort? Wohin?«

»Ich weiß nicht – gleichviel, wohin, nur weg! Die Luft hier erstickt mich.«

»Wann kommst du wieder?«

»Ich weiß nicht.«

Sie drückte ihm hastig die Hand.

»Dann mit Gott, Hans! Und noch einmal: Nimm's nicht so schwer!«

Hans achtete weder auf den Händedruck noch auf ihre Worte. Ungeduldig stieß er die Tür auf und war im nächsten Augenblick in der Dämmerung verschwunden.

»Hans läßt sich entschuldigen, er mußte in Geschäften noch einmal fort«, sagte Herta zu Frau Gerda und Forst, der heute zum erstenmal wieder erschienen war.

Britta kam nicht zum Abendessen, sondern ließ sich mit Kopfschmerzen entschuldigen.

Sie saß oben im dunklen Wohnzimmer und starrte trostlos in die Finsternis. Gab es wirklich keinen Ausweg aus dieser qualvollen und schmählichen Lage? Es war ja unmöglich, daß sie hier blieb, jetzt, nach allem, was geschehen war, neben dieser Frau, die sie haßte und verachtete! Unmöglich, ruhig zuzusehen, wie die beiden einander gut waren.

Wenn sie aber ging – welchen Grund sollte sie anführen – die Wahrheit?

Unmöglich! Herta Kiesebrech würde sofort erraten, daß nur verschmähte Liebe sie wegtrieb, wie immer sonst sie es auch erklären mochte.

Sie wollte es nicht von Herta hören müssen: »Ei, du bist eifersüchtig? Du liebst ihn also, obwohl er sich nichts aus dir macht?«

Sie schauderte. Nie durfte das geschehen! Es hieß ausharren und warten. Warten, bis er selber den Mut fand, das erlösende Wort zu sprechen.

*

Der Herbst war ins Land gezogen, und mit ihm lief Herrn Erkels Urlaub ab. Er hatte keine Gelegenheit mehr gefunden, mit Heider über Britta zu sprechen, denn Heider machte sich für alle Welt unsichtbar. Er verkehrte ausschließlich mit seiner Kusine, die ihn täglich aus der Fabrik abholte und weite Ausflüge mit ihm machte, so daß bereits die Arbeiter darüber redeten.

Frau Erkel nahm die Dinge philosophisch.

»Es ist aussichtslos, da noch versöhnen zu wollen«, sagte sie zu ihrem Mann. »Frau Kiesebrech hat alle so aufgehetzt, daß sie die arme Britta geradezu hassen. Der beste und einzige Ausweg für Britta bleibt die Scheidung.«

»Damit wäre ihr Leben erst recht zerstört. Sie ist geschaffen, zu lieben und geliebt zu werden.«

»Gewiß. Aber laß sie doch nur erst frei sein! Dann weiß ich schon einen, der sie auf Händen durchs Leben trägt.«

Herr Erkel schüttelte den Kopf.

»Ich glaube, Liebste, du schätzt Britta nicht richtig ein.«

Sternbach hatte sich entschlossen, in Mahrenburg zu bleiben. Er male ein großes Bild, hieß es. Nur Melanie Erkel gegenüber hatte er sich ausgesprochen.

»Ich kann Frau Britta nicht sich selbst überlassen. In ihrer Lage kann sie plötzlich Hilfe brauchen. Dann will ich wenigstens in der Nähe sein.«

Am Tag nach Herrn und Frau Erkels Abreise machte sich Britta gegen Abend auf den Weg zu Frau Wasenko, deren Geburtstag morgen war.

Wie immer, wenn Britta durch die Siedlung ging, grüßte man sie von allen Seiten mit großer Herzlichkeit. Kinder liefen ihr zu, Frauen sprachen sie an und trugen ihr kleine Anliegen vor, die Männer sahen ihr respektvoll nach.

Für diese Leute war sie mehr als nur die Frau des Arbeitgebers. Eine gütige, hilfreiche Schwester war sie ihnen, die in ihrer Mitte groß geworden war und sich dessen nicht schämte.

Die andere, Herta Kiesebrech, der schwarze Satan, wie die Leute sie insgeheim nannten, haßten sie. Für Britta aber wären sie durchs Feuer gegangen.

Im Vorübergehen trat sie auch einen Augenblick bei Werkmeister Schattel ein, dem sie damals das verletzte Hündchen in Pflege gegeben hatte. Sie mochte das Tier, das sich völlig erholt hatte, und brachte auch häufig Fredy und Gritli mit.

Da sich niemand wegen dem Hund meldete und man daher seinen Namen nicht wußte, hatte man ihn Liddy getauft.

Das Tier, ein allerliebster Seidenpinscher mit langem Haar, hing sehr an Britta und den Kindern, die ihm oft kleine Leckerbissen brachten. Britta hätte es gern ganz zu sich genommen, aber als sie diese Absicht einmal aussprach, erklärte ihre Schwiegermutter aufs bestimmteste, daß sie Hunde nicht leiden könne und sich einen solchen Störenfried in ihrem Haus verbitte.

Heute kam Britta seit langer Zeit wieder einmal ohne die Kinder zu Schattel. Der Werkmeister erzählte nach seiner Gewohnheit allerlei aus der Fabrik, während Britta auf der Hausbank saß und Liddy auf ihrem Schoß liebkoste.

Plötzlich sagte Schattel, der zu den ältesten Arbeitern der Fabrik gehörte und sich daher zuweilen ein freieres Wort erlaubte:

»Nichts für ungut, gnädige Frau, aber Sie sollten ein schärferes Auge auf den Herrn haben. Er sieht schlecht aus in letzter Zeit und ist auch sonst nimmer der alte. Die Leute klagen alle über ihn. Er war früher immer gütig und hat sich um jeden einzelnen in der Fabrik gekümmert. Wenn ihm jetzt einer mit etwas kommt, hört er kaum hin, wird barsch und ungerecht und überläßt alles den Beamten. Das tut nicht gut bei einem so großen Unternehmen, sage ich Ihnen. Es gibt allemal Unzufriedene, die das nachher gegen ihn ausnützen.«

Britta hatte erschrocken aufgehorcht.

»Sie müssen sich irren, Schattel«, sagte sie dann. »Mein Mann barsch und ungerecht gegen seine Arbeiter, die er wie seine Familie liebt? Das ist unmöglich!«

»Und doch ist es so, gnädige Frau. Ich habe es selber schon gespürt. Wir gelten ihm nichts mehr. Auch kommt er oft wochenlang nicht in die Arbeitsräume, wo doch früher alles nur unter seiner Aufsicht gemacht werden durfte. Er muß krank sein, anders kann ich mir das nicht erklären.«

»Aber seit wann ist das so?«

»Oh, schon länger. Anfangs merkte man es ja nicht so. Aber in letzter Zeit, besonders seit er so viel mit der jungen Frau Kiesebrech zusammen ist. Sie kommt ja alle Augenblicke unter allerlei Vorwänden herüber in die Fabrik und holt ihn fort, und er muß mit ihr da und dort hin. Und sie hetzt gegen die Arbeiter, ich hab's selber beobachtet. Das ist keine gute Frau, die. Sie sollten ihr nicht soviel Recht lassen im Haus, gnädige Frau, und einmal mit dem Herrn reden.«

Britta hatte die Farbe gewechselt.

Also auch die Leute merkten es schon!

»Was könnte ich dagegen tun?« murmelte sie unsicher.

»Nun, Sie sind doch die Frau.«

Ein bitteres Lächeln zuckte um Brittas Mund.

»Lieber Schattel«, sagte sie, hob Liddy von ihrem Schoß und stand auf, »ich habe keinen Einfluß in Geschäftssachen. Im übrigen irren Sie sich sicher. Herr Heider kann nicht ungerecht sein.«

»Doch, er ist es! Erst neulich hat er zwei Arbeiter entlassen, bloß weil sie Frau Kiesebrech nicht gegrüßt haben. Die Leute wollen sie nun einmal nicht hier! Sie sagen, sie sei Herrn Heiders böser Geist. Wenn Sie das dem Herrn nun einmal klarmachen wollten – unsereins darf ja nichts sagen, aber Sie, wo Sie doch seine Frau sind und so gut zu uns –«

Britta war blaß geworden.

»Ich kann da nichts tun«, sagte sie kurz. »Und jetzt muß ich gehen. Auf Wiedersehen!«

Der alte Werkmeister blickte ihr bekümmert nach.

»Arme Frau! Jetzt ist sie böse, und ich hab's doch weiß Gott gut gemeint. Einer muß sie doch darauf aufmerksam machen«, murmelte er. »Freilich, wenn sie nicht sehen will –«

Britta war eilig davongegangen, als könne sie den Gespenstern entfliehen, die die Worte des alten Arbeiters heraufbeschworen hatten.

»Nicht denken! Nicht denken!« sagte sie sich selber vor. »Sei blind und taub, sonst kannst du all das nicht mehr ertragen.«

Aber die Gedanken kamen trotzdem und jagten hinter ihr drein.

Als sie das kleine Haus der Wasenko erreicht hatte, war es schon dämmerig. Die Haustür stand noch offen, aber in der Stube brannte bereits Licht.

Man hatte vergessen, die Vorhänge zuzuziehen. Britta, die sich erst ein wenig beruhigen wollte, ehe sie eintrat, blieb unwillkürlich am Fenster stehen und blickte durch die blanken Scheiben in die Stube.

Ein Bild ruhevollen Glücks bot sich ihren Augen. Am Tisch saß Frau Wasenko und hülste Erbsenschoten aus; ihr Mann half ihr. Ab und zu wechselte das Ehepaar einen freundlichen Blick. Die beiden Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, saßen neben der Mutter und lasen eifrig in Bilderbüchern.

Reines Glück und tiefer Friede lagen über der kleinen Familie.

Brittas Augen füllten sich plötzlich mit Tränen. Etwas Heißes, Sehnsüchtiges quoll in ihr auf.

Wie glücklich, wie beneidenswert waren sie! Und sie selber, eine reiche Frau, wie arm! Wie eine Bettlerin stand sie draußen, die Augen blind von Tränen, das Herz zum Brechen schwer.

Sie konnte den Anblick nicht länger ertragen. Es schien ihr unmöglich, jetzt einzutreten und von gleichgültigen Dingen zu sprechen.

Unhörbar glitt sie über die Schwelle der offenen Haustür, legte ihr Geburtstagsgeschenk auf den nächstbesten Stuhl, schob ihre Karte darunter und floh, als werde sie verfolgt.

Erst im Park machte sie halt. Dunkelheit herrschte ringsum. Nur in der Ferne, zwischen den zwei großen Ulmen, die den rückwärtigen Eingang des Herrenhauses flankierten, strahlte die Bogenlampe ihr weißes Licht über den Kiesplatz.

Da erhellten sich auch die Fenster des Eßzimmers im ersten Stockwerk. Das bedeutete, Rosa deckte dort zum Abendessen.

Britta blieb schaudernd stehen. Nein, nicht ins Haus! Alles in ihr war aufgewühlt und wund. Unmöglich konnte sie jetzt bei Tisch den andern mit gleichgültiger Miene gegenübersitzen. Immer würde das Bild aus Wasenkos Stube vor ihren Augen stehen, dieses Bild eines glücklichen Familienlebens, wo alle einander liebten, immer die Worte Werkmeister Schattels ihr in den Ohren klingen: »Sie ist sein böser Geist!«

Wieder kräuselte ein bitteres Lächeln ihre Lippen. Sie! Mit ihm reden über Herta? Wenn der gute Schattel wüßte!

Matt aus dem Dunkel leuchtend, stand eine weiße Gartenbank am Weg. Britta sank darauf nieder und vergrub das Gesicht in den Händen.

*

Heider und Herta waren an diesem Nachmittag nach Hansental gefahren. Er hatte geschäftlich dort zu tun, und als der Wagen ihn in der Fabrik abholte, saß Herta darin und bettelte, er solle sie mitnehmen, da es ein so wundervoller Tag sei.

Heider hatte nichts dagegen. Sie war die einzige, vor der er sich nicht zu verstellen brauchte, denn von ihr glaubte er sich völlig verstanden. Auch dachte er manchmal in seiner hilflosen Verzweiflung, sie könne ihm vielleicht raten. Denn immer klarer wurde ihm, daß es so nicht weitergehen könne, daß irgend etwas geschehen müsse, um ihm die verlorene Ruhe und mit ihr Arbeitskraft, Lebensmut und das innere Gleichgewicht wiederzugeben.

»Wollen wir den Rückweg zu Fuß machen?« schlug Herta vor, nachdem er seine Geschäfte erledigt hatte. »Der Abend ist so mild wie im Sommer, und wir kämen gerade rechtzeitig zum Abendessen heim.«

Auch damit war Heider einverstanden. Der Wald stand in der flammenden Farbenpracht des Herbstes, und die sinkende Sonne breitete ein helles Leuchten über die Landschaft.

Wie Brittas Haar, mußte Heider denken; wenn sie so heiter plaudernd an meiner Seite ginge wie Herta, welches Glück das wäre!

Aber Britta lächelte nie, wenn sie mit ihm sprach. Ihr Lachen und ihre Fröhlichkeit gehörten den Kindern und – er preßte die Lippen zusammen und ballte unwillkürlich die Faust.

Hertas Geplauder verklang unbeachtet an seinem Ohr.

Plötzlich aber horchte er auf.

»Hast du noch nicht bemerkt, Hans«, sagte sie geheimnisvoll, »daß Britta in letzter Zeit so oft in der Mansarde oben ist? Manchmal mit den Kindern, manchmal allein. Sie hält sich im blauen Zimmer auf, schließt sich dort ein und trägt sonst den Schlüssel beständig bei sich.«

Heider blieb stehen und starrte seine Kusine betroffen an.

Also war es Wahrheit? Auch andere hatten beobachtet, was ihm selbst bereits wiederholt aufgefallen war und ihn mit unruhigem Mißtrauen erfüllte. Denn wozu schloß Britta das blaue Zimmer ab, wenn sie nicht ein Geheimnis darin hatte?

»Was denkst du?« begann er nach einer Weile zögernd. »Was kann Britta oben tun? Und weshalb schließt sie das Zimmer ab?«

Herta zuckte die Achsel.

»Ich kann mir nur eins denken«, meinte sie dann, »daß sie dort Briefe schreibt, die niemand sehen soll.«

Die Worte klangen anscheinend harmlos, und doch hatten sie für den aufhorchenden Mann eine furchtbare Bedeutung.

Er atmete rasch und heftig. Eine Weile ging er stumm dahin. Dann stieß er finster heraus:

»Wie kommst du auf diese Idee?«

»Sie liegt doch nahe. Es wäre so natürlich – in ihrer Lage. Wenn man sich mit jemand, der einem nahesteht, nicht nach Belieben mündlich aussprechen kann, schreibt man sich eben.«

Es war finster geworden.

Heider stieß das kleine Gitterpförtchen auf, das in den Park führte. Ohne auf Hertas letzte Worte einzugehen, ging er stumm, mit zusammengebissenen Zähnen den kürzesten Weg auf das Haus zu.

Herta störte sein Schweigen nicht. Mochte er nun über ihre Worte nachdenken und den richtigen Schluß ziehen!

Plötzlich stockten beide wie auf Kommando. Aus dem Dunkel vor ihnen drang leidenschaftliches Schluchzen. Es konnte nur von der Gartenbank herkommen, die da seitwärts vom Weg unter den Birken stand.

Einen Augenblick lang horchten beide schweigend. Dann flüsterte Herta leise: »Gehen wir weiter! Es wird wohl eines der Mädchen sein, das hier seinen Liebeskummer ausweint.«

Gleichgültig an fremdem Leid vorüberzugehen, lag nicht in Heiders Natur.

»Wer ist da?« fragte er laut.

Das Schluchzen verstummte jäh. Totenstille lag über dem Park. Da näherte er sich rasch der Bank und ließ das Licht seiner Taschenlampe aufflammen. Der grelle Lichtschein hatte für den Bruchteil einer Sekunde ein blasses, verweintes Gesicht beleuchtet, das ihn entsetzt anstarrte. Im nächsten Augenblick war Britta im Dunkel verschwunden.

»Britta!« stammelte Heider fassungslos.

Herta war gleichfalls betroffen zurückgetreten. Minutenlang herrschte beklommenes Schweigen zwischen beiden. Dann trat Herta dicht an Heider heran und sagte leise, in dem mitleidigen Ton, den sie so gut zu treffen wußte:

»Arme Britta! Ich ahnte es schon lange.«

»Was hast du geahnt?«

»Daß sie leidet und tief unglücklich ist. Begreifst du denn nicht, Hans? Sie war ein Kind, als sie ihre Freiheit hingab. Und jetzt ist sie eine Frau, die von Ketten erdrückt wird, die sie ahnungslos auf sich genommen hat. Sei großmütig, Hans, sei barmherzig, gib sie frei!«

Der Mann an ihrer Seite stöhnte dumpf auf.

»Ich – sie freigeben? Nie! Nie!« stieß er heftig heraus. »Du weißt nicht, was du redest, Herta!«

Der Ton, in dem er sprach, verriet alles. Tödlicher Schreck krampfte Herta das Herz zusammen; sie zitterte plötzlich an allen Gliedern.

»Hans! Du liebst sie?«

Er antwortete nicht.

In Herta kämpften Schreck, Zorn und wilde Eifersucht. Darauf war sie nicht gefaßt! So waren alle ihre Anstrengungen umsonst gewesen, ihre Tage hier gezählt, ihre Hoffnungen auf die Zukunft Hirngespinste, weil diese rothaarige Britta mit den Nixenaugen Heiders Sinne doch betört hatte!

Sie hatten das Haus erreicht. Schweigend stieß Heider die Tür auf. Da sagte Herta – nicht mehr mitleidig, sondern in kaltem und aufreizendem Ton:

»Worauf willst du eigentlich warten? Bis sie von selber geht und dann vielleicht nicht allein?«

Er antwortete auch jetzt nicht. Ein verstörter Blick irrte scheu an ihr vorüber.

Im Eßzimmer wurden sie bereits ungeduldig erwartet. Frau Gerda liebte keine Unpünktlichkeit, und die gewöhnliche Essenszeit war bereits um zehn Minuten überschritten. Auch fehlte Britta noch. Man schickte Rosa nach ihr, aber sie ließ sich mit Kopfweh entschuldigen.

»Ich finde, Britta hat jetzt merkwürdig oft Kopfschmerzen«, bemerkte Frau Heider spitz. »Du solltest ihr wirklich einmal begreiflich machen, lieber Hans, daß ich Wert auf geregelte Hausordnung lege.«

Heider schwieg. Er sprach an diesem Abend überhaupt keine zehn Worte bei Tisch.

Herta zog sich bald zurück. Die Entdeckung über Heiders Gefühle für Britta hielt ihre Nerven noch immer so stark in Erregung, daß sie das dringende Bedürfnis hatte, mit ihren Gedanken allein zu sein.

Kaum hatte sie sich entfernt, als Frau Heider Regierungsrat Forst einen auffordernden Blick zuwarf und sich gleichfalls erhob.

»Ich muß noch mit der Köchin reden«, sagte sie und verschwand im Nebenzimmer.

Heider zündete sich zum drittenmal eine Zigarre an, die immer wieder ausging, weil er, statt zu rauchen, tiefsinnig vor sich hinstarrte.

Forst betrachtete ihn eine Weile bekümmert und sagte endlich unsicher:

»Hör mal, Hans, was ist eigentlich zwischen dir und Britta? Deine Mutter macht sich ernstlich Sorge um euch. Ihr sprecht ja kaum mehr ein Wort miteinander und seht beide nicht gut aus. Das ist doch mehr als ungemütlich. Du solltest wirklich ernstlich mit deiner Frau reden.«

»Hat Mutter dich beauftragt, mir das zu sagen?«

»Ja, das heißt, ich hätte es eigentlich sonst auch von allein getan, denn die Geschichte gefällt mir nicht.«

»Welche Geschichte, Onkel?«

»Nun, daß Britta sich so fernhält von uns allen. Schließlich ist sie doch deine Frau und gehört zur Familie. Aber es scheint, als ob sie lieber mit anderen Leuten verkehrte als mit uns. Deine Mutter meint auch, es wird schon geredet. Mißversteh mich nicht, mein Junge«, setzte er rasch hinzu, als Heider eine ärgerliche Bewegung machte, »ich gebe ja nichts auf Klatsch, das weißt du. Immerhin – eine so junge Frau bedürfte der Leitung, einer festen Stütze, und ich an deiner Stelle würde –«

Er brach erschrocken ab. Heider hatte sich jäh erhoben. Seine Augen funkelten, die Worte kamen bitter und abgerissen aus seinem Mund, als verbisse er sie zwischen den Zähnen:

»Warum sagst du das alles mir und nicht Britta selbst? Kann ich dafür, wenn sie andere lieber mag als uns?«

»Nun, nun, nur ruhig, Junge! Reg dich doch nicht gleich so auf! Ich meinte nur, ein offenes Wort zwischen Mann und Frau –«

Ein bitteres Auflachen Heiders unterbrach ihn.

»Mann und Frau! Britta war nie meine Frau! Sie hat mich nie gemocht. Mein Geld war es und ihre traurigen häuslichen Verhältnisse, die sie zu dieser Heirat getrieben haben. Und ich – aber darum habt ihr euch ja nicht gekümmert. Mutter wollte ja nur, daß ich heirate, gleichwohl wen, nur rasch, Gott weiß, warum. Eine Mutter für die Kinder, die ihr auf die Nerven gingen – nun, die hat sie ja jetzt. So mag sie sich zufriedengeben und mich in Ruhe lassen. Ich bin gestraft genug.«

»Hans, um Gottes willen!«

»Jawohl, genug! Genug! Genug!«

Heider schrie es. Im nächsten Augenblick war er zur Tür hinaus.

Forst rannte ihm sprachlos nach.

Der Gedanke an das Mansardenzimmer, in dem sich Britta so oft einschloß, um angeblich Briefe zu schreiben, ließ Heider keine Ruhe mehr.

Tag und Nacht marterten ihn die grausamsten Vorstellungen. An wen konnte sie schreiben? Brittas Briefe an die kleinen Brüder und ab und zu an Frau Erkel gingen durch seine Hände, denn er selbst verschloß täglich den Postbeutel, den ein Bote zweimal am Tag abholte.

Aus diesen Briefen machte Britta so wenig ein Geheimnis, daß sie sie stets offen an einem bestimmten Platz im Eßzimmer niederlegte, von wo Heider sie dann an sich nahm.

Aber Hertas Worte hatten keinen Zweifel darüber gelassen, an wen ihrer Meinung nach diese Briefe gerichtet seien. Es konnte sich nur um Sternbach handeln.

Die bloße Vorstellung dieser Möglichkeit machte Heider rasend.

Tagelang ging er herum wie ein Mensch, der seine Sinne nicht beisammen hat.

Gewißheit! Gewißheit! Der Gedanke bohrte sich förmlich in sein Hirn.

Während er scheinbar seine gewohnte Tagesordnung beibehielt, belauerte er heimlich Britta unausgesetzt.

Der schöne, sonnige Herbst war plötzlich in naßkaltes Wetter umgeschlagen, dem schon Mitte Oktober der erste Schnee folgte.

Britta verließ das Haus nur selten und nie ohne die Kinder. Sie blieb den größten Teil des Tages unsichtbar, entweder in ihrem oder den Zimmern der Kinder. Was sie trieb, womit sie sich beschäftigte – er wußte es nicht, und das erregte seine Phantasie noch mehr.

Er hatte für nichts mehr Sinn und Interesse als für Britta. Wenn sie früh in ihrem hellen Morgenkleid bleich und still am Frühstückstisch erschien, tat ihm das Herz weh. Verließ sie abends gleich nach dem Essen das Wohnzimmer, angeblich um schlafen zu gehen, schien ihm alles in Dunkel und Traurigkeit zu versinken.

In lichten Augenblicken kam ihm die Größe seiner Leidenschaft zum Bewußtsein, und dann erschrak er. War es nicht unmännlich, so zu lieben, wie er Britta liebte?

Was war sein Gefühl für Alma dagegen gewesen? Ein Schatten, ein Nichts, eine Spielerei. Und er hatte sich anfangs eingebildet, er könne Alma nie vergessen!

Als Forst ihm vorsichtig den Wunsch seiner Mutter übermittelte, sich von Britta scheiden zu lassen, damit wieder Ruhe in sein Leben käme, wurde er blaß vor Zorn.

»So? Und was veranlaßt diesen mütterlichen Wunsch, wenn man fragen darf?«

Der Regierungsrat, nie sehr gewandt im Reden, stotterte etwas von »ohnehin nicht liebhaben« und »besser bewahrt als beklagt«, in diesem Fall: »Man täte besser, sich freiwillig zurückzuziehen, als zu warten, bis man betrogen wird.«

Da lachte Heider gellend auf.

»Mich betrügen? Was fällt euch ein? Lüge, alles Lüge! Und wenn daran nur ein wahres Wort wäre, würde ich meine Frau trotzdem nicht freigeben.«

Es gab Tage, da Heider wirklich glaubte, alles sei nur ein Hirngespinst. Brittas reiner Blick konnte nicht so schmählich täuschen! Wenn sie ihn auch nicht liebte, würde sie ihn doch nie verraten. Auch war sie ja fast immer daheim; ohne daß Sternbach wiedergekommen war, waren Wochen vergangen.

Wenn er aber dann an den Abend dachte, als er sie schluchzend unter den Birken überrascht hatte, wenn er ihr gedrücktes Wesen beobachtete und merkte, wie sie jedesmal scheu den Blick senkte, so oft er sie forschend anschaute, dann packte ihn wieder qualvoller Zweifel.

Und das Mansardenzimmer! Er mußte wissen, was sie dort trieb!

Als Britta einmal mit den Kindern ausgegangen war, schlich Heider in die Mansarde, um das blaue Zimmer zu untersuchen.

Die fünf in einer Reihe liegenden Mansardenzimmer hatten immer unbenutzt gestanden. In einigen war uralter Hausrat untergebracht, zwei standen überhaupt leer, bis er Almas Möbel hatte hinaufschaffen lassen. Das blaue Zimmer – es hatte kornblumenblaue Tapeten und ebensolche Polstermöbel aus Großvaters Zeiten – war mit ihnen durch eine niedere Holztür verbunden.

Da die Außentür des blauen Zimmers versperrt war, trat Heider durch die Verbindungstür ein.

Der Raum war merkwürdig anheimelnd und sauber für ein Zimmer, das nicht benutzt wurde.

Ein runder Tisch vor einem hochbeinigen, mit blauem Rips überzogenen Sofa und mehrere dazugehörige Polsterstühle, zwei altertümliche Kommoden mit Messingbeschlägen und ein Glasschrank und allerlei Porzellankram bildeten die Hauptstücke der Einrichtung.

Am Fenster war ein hoher Tritt angebracht, auf dem ein verschnörkelter Großvaterstuhl und zwei alte Fußbänkchen standen. Man hatte von hier aus einen prachtvollen Blick über die weite Landschaft, und da das Zimmer nach Südwesten lag, schien die Sonne durch die breiten Doppelfenster tief hinein.

Alles war sauber und staubfrei, als sei das Zimmer eben erst gefegt worden. Heider blickte sich suchend um, konnte aber weder Schreibzeug noch Tinte entdecken. Da fiel ihm ein, daß vielleicht eine der Kommoden ein herabklappbares Fach besitze, das als Schreibtisch benützt werden konnte. Rasch zog er die beiden obersten Fächer auf. Es war wirklich so. Beide Kommoden ließen sich als Schreibpult benutzen. Auch standen in beiden Tintenfässer, und je eine Mappe mit Briefpapier lag darin. Aber das Papier war vergilbt, die Tinte längst eingetrocknet, und die Staubschicht im Innern der Fächer bewies, daß sie in jüngster Zeit nicht benutzt worden waren.

Heider atmete erleichtert auf. Nein, geschrieben schien Britta hier nicht zu haben.

Was aber konnte sie sonst hier heraufführen? Er blickte noch einmal aufmerksam umher, konnte aber nichts entdecken, was ihm Aufschluß gegeben hätte.

Da bemerkte er in der Tür zum Nebenzimmer, durch das er gekommen war, ein kleines Astloch, groß genug, um von drüben beobachten zu können, was hier vorging.

Wenn er sich diesen Zufall zunutze machte und Britta einmal vom Nebenraum aus zusähe? Es war nicht anständig, aber war sie nicht seine Frau? Hatte er nicht das Recht, ihre Geheimnisse zu kennen?

Er errötete vor sich selber und wollte den Gedanken verscheuchen. Aber er kam immer wieder.

Da verließ er die Mansarde und stieg langsam die Treppe hinunter.

Wie es kam, daß er dann plötzlich in Brittas Wohnzimmer an dem kleinen, zierlichen Damenschreibtisch stand, hätte er selber nicht zu sagen gewußt.

Aber der Drang nach Gewißheit trieb ihn. Zitternd vor Aufregung wühlte er in Brittas Papieren.

Nichts – nichts, und es mußte doch …

Da ging im Nebenzimmer die Tür. Ein leichter Schritt glitt über das Parkett des Vorzimmers, Britta trat ein.

Heider fühlte eisige Schauer über seinen Rücken laufen. Reglos wie ein ertappter Sünder stand er am Schreibtisch. Er hätte vor Scham in die Erde sinken mögen.

Britta wurde blutrot bei seinem unerwarteten Anblick. Noch nie, seit sie verheiratet waren, hatte er ihre Schwelle übertreten.

Aber sie war viel zu rein und arglos, um die Wahrheit auch nur von fern zu ahnen.

»Suchst du etwas?« fragte sie und verbarg ihre Befangenheit.

»Ja«, stammelte er verwirrt, »eine Adresse. Ich dachte, sie sei vielleicht durch Zufall hierhergekommen – mit Zeitungen oder Briefen.«

Er wagte nicht, sie anzusehen.

»Welche Adresse? Vielleicht kann ich …«

»O bitte, bemühe dich nicht! Es ist nicht wichtig. Eben fällt mir auch ein, daß ich sie vielleicht drüben bei mir in den Wandschrank geschlossen habe. Verzeih die Störung!«

Ohne aufzublicken, eilte er hastig an ihr vorüber und verließ das Zimmer.

Traurig sah ihm die junge Frau nach.

Wie eilig er es hatte, fortzukommen! Als wäre ihre Nähe Gift!

Zwei Tage später war Brittas Geburtstag. Herta hatte es sich nicht nehmen lassen, trotz der zwischen ihnen herrschenden Spannung ihr den Geburtstagstisch herzurichten. Sie versprach sich von diesem Edelmut eine günstige Wirkung auf Hans.

Mama Heider, die sich mit dem Auswählen von Geschenken nie viel Mühe machte, am wenigsten für Britta, hatte einfach einen größeren Geldbetrag in ein Kuvert geschlossen und auf den Tisch gelegt. Heider, der am liebsten die Sterne für Britta vom Himmel gerissen hätte, aber nicht wagte, seine Gefühle auch nur anzudeuten, hatte nach langem Überlegen zwei kostbare Brillantohrringe als Geschenk gewählt, Herta ein angeblich von ihr selbst gesticktes Taschentuch.

All das verschwand aber vor dem großartigen Anblick, den ein Riesenkorb mit den seltensten und kostbarsten Treibhausblumen bot, der fast den ganzen Geburtstagstisch einnahm.

Britta, die Blumen sehr liebte und glaubte, daß der Korb ein Geschenk Heiders sei, betrachtete ihn mit leuchtenden Augen.

»Wie schön!« murmelte sie entzückt. »Ich danke euch allen vielmals für die kostbaren Gaben, aber die Blumen sind doch das Allerschönste!«

Sie neigte ihr liebliches Gesicht tief auf die Blumen herab.

Frau Heider runzelte die Stirn und wechselte einen Blick mit Herta, in dem Erstaunen mit Entrüstung um die Herrschaft stritt. Aber Frau Kiesebrech wandte sich nun mit spöttischem Achselzucken ab, als wollte sie sagen: Habt ihr denn etwas anderes erwartet?

Heider war aschfahl geworden. Niemand sprach ein Wort. Verwundert über dieses Schweigen blickte Britta endlich wieder auf und sah in feindlich abgewandte Gesichter.

Ein wehes Gefühl krampfte ihr das Herz zusammen. Nie vielleicht hatte sie ihre Vereinsamung so tief empfunden wie in diesem Augenblick.

Da öffnete sich die Tür, und Gritli trat ein, geführt von Fredy, der seinen Sonntagsanzug trug. Beide waren mit großen Sträußen bewaffnet. Etwas schüchtern und befangen wie immer in Gegenwart der strengen Großmutter und des Papas, der ihnen in letzter Zeit seltsam fremd geworden war, trippelten sie auf Britta zu. Gritli stotterte einen Gratulationsvers, Fredy sagte ein Gedicht auf.

Britta hörte die Worte kaum. Aber ihr armes, nach Liebe dürstendes Herz tat sich weit auf wie die Arme, die beide Kinder fest an sich zogen.

Heiders Blick streifte die Gruppe sekundenlang. Dann stand er auf und schob die Kinder beiseite.

»Genug jetzt! Laßt Mama in Ruhe und geht wieder hinüber ins Kinderzimmer.«

Und als Gritli, die es sich auf Brittas Schoß bequem gemacht hatte, nicht gleich gehorchte, fuhr er sie hart an:

»Hörst du nicht, Gritli? Du sollst Mama nicht länger belästigen! Sie hat ja noch nicht einmal Zeit gehabt, den Brief in ihrem Blumenkorb zu lesen, wonach sie sich gewiß schon rasend sehnt«, schloß er mit hohnvoller Bitterkeit.

Britta, die erst jetzt einen weißen Umschlag zwischen den Orchideen bemerkte, griff errötend danach. Sie hatte weder die Bitterkeit noch den boshaften Sinn seiner Worte erfaßt und dachte nur enttäuscht: Also nicht von ihm sind die Blumen!

»Geh, Gritli!« flüsterte sie dem Kind zu, eingeschüchtert durch Heiders Ton. »Und wartet drüben auf mich, ich hole euch bald ab, dann gehen wir hinauf ins blaue Zimmer.«

Gritli, deren Gesichtchen plötzlich wieder strahlte, trippelte eilig davon und zog Fredy mit sich.

»Nun, willst du deinen Brief nicht endlich lesen?« fragte Heider.

Britta öffnete mechanisch das Kuvert. Es enthielt nur ein Kartonblatt mit Sternbachs Namen und den von ihm daruntergeschriebenen Worten:

 

»Tausend Glück- und Segenswünsche zum heutigen Tag! Vor allem den einen: Möge der böse Dämon, vor dem ich Sie gewarnt habe, bald aus Ihrer Nähe verschwinden!«

 

Britta, die fühlte, daß alle Blicke auf ihr ruhten, war rot geworden und tat das Blatt hastig weg.

Inzwischen hatte Frau Gerda ihren Kaffee ausgetrunken, erhob sich und verließ mit kurzem Gruß das Frühstückszimmer.

Sie fand es unerhört, daß Britta Sternbachs Gratulation verschwinden ließ, ohne sie ihrem Mann zum Lesen zu geben.

Heider, der keinen Blick von Britta gewandt hatte, trat zu ihr. Die Flamme der Eifersucht loderte so wild in ihm auf, daß er alle Zurückhaltung vergaß.

»Nun, darf man nicht wissen, was Sternbach dir schreibt?« fragte er mit mühsam verhaltenem Grimm.

Britta war in tödlichster Verlegenheit. Wäre sie mit ihrem Mann allein gewesen, hätte sie ihm die Karte vielleicht gegeben und alles gesagt, was seit Monaten mit Zentnerschwere auf ihr lastete. Aber sie waren nicht allein. Wie immer saß die daneben, die Sternbach ihren bösen Dämon nannte.

»Er schreibt nichts von Belang, nur einen Geburtstagswunsch«, stammelte sie unsicher. »Es kann niemand interessieren als mich.«

»Ach so! Entschuldige! Ich sehe ein, daß meine Frage zudringlich und unpassend war.«

Eiskalt fielen die Worte von seinen Lippen. Im nächsten Augenblick hatte auch er das Zimmer verlassen.

Herta seufzte ostentativ.

»Du solltest ihn doch ein wenig mehr schonen, liebe Britta«, sagte sie im Ton sanften Vorwurfs. »Er trägt ja schon schwer genug an seinem Schicksal. Eine großmütige Frau würde, wenn sie ihm schon nicht die heißersehnte Freiheit geben will, ihn doch wenigstens nicht noch beständig durch Widerspruch reizen. Schließlich kann dir doch Sternbach keine Geheimnisse geschrieben haben.«

Britta überhörte die lauernde Frage in den letzten Worten. Fassungslos starrte sie die Sprecherin an, von deren Lippen scheinbar absichtslos das grausame Wort gefallen war: »Eine großmütige Frau würde ihm die Freiheit geben.«

Er sehnte sich also nach seiner Freiheit, er litt unter der Fessel, die er sich unbedacht auferlegt hatte, und erwartete von ihr, was er selbst nicht den Mut hatte in Worte zu kleiden. So weit war es also schon gekommen!

Verstört erhob sich Britta. Sie wollte etwas sagen, brachte aber keinen Laut über ihre Lippen.

Herta, die wußte, was in ihr vorging, glitt dicht an sie heran und sagte gedämpft:

»Überlege, Britta, und berate dich mit einem erfahrenen Freund, du hast ja Sternbach, und glaube mir: Ich spreche nicht für mich, sondern nur für ihn, der zugrundegeht, wenn du ihm nicht hilfst.«

Britta war allein. Mit leerem Blick starrte sie um sich. Plötzlich griff sie sich verzweifelt an die Schläfen und sank mit einem dumpfen Wehlaut zu Boden.

*

Gritli und Fredy warteten auf die Mama. Sie kam nicht. Draußen schneite es. Eine Weile standen die beiden Kinder am Fenster und blickten den lustig niederwirbelnden Flocken nach. Als sie dann in das Schneegestöber hinein erst den Papa und bald danach Tante Herta reiten sahen, flüsterte Fredy zuversichtlich: »Jetzt wird Mama gleich kommen!«

Aber sie kam nicht.

Da entschlossen sich die Kinder, sie zu holen. Sicher war sie noch im Frühstückszimmer. Sie schlichen also dahin zurück, leise, damit Großmama sie nicht hören sollte.

Britta war wirklich noch im Frühstückszimmer, aber sie lag auf dem Teppich, hatte die Augen geschlossen und rührte sich nicht.

Da riefen die Kinder ängstlich nach Rosa, die auch gleich kam. Unter ihren Bemühungen schlug Britta die Augen auf. Ihr erstes Wort war:

»Bitte, sagen Sie um Gottes willen niemand etwas von der dummen Geschichte, Rosa! Ich weiß nicht, was das war – mir wurden die Beine auf einmal so schwach, aber jetzt ist mir wieder ganz gut.«

Rosa, die ein kluges, gutherziges Ding war und sehr an Britta hing, setzte es durch, daß die junge Frau sich in ihrem Zimmer auf die Couch legte, um ein paar Stunden zu ruhen.

Rosa wollte auch die Kinder durchaus mit sich nehmen. Aber Britta bestand darauf, daß sie bei ihr bleiben sollten.

Heider war wie ein Rasender fortgeritten. Er brauchte Luft und Bewegung, sollte er nicht ersticken. Seine leidenschaftliche Natur hatte jedes Gleichmaß verloren.

Er wußte nicht, wohin er ritt, was er wollte, wie er sich von den marternden Vorstellungen befreien könnte. Instinktiv mied er die Fabrik, wo er in ähnlicher Stimmung schon wiederholt mit den Angestellten in Konflikt geraten war.

Die kalte Schneeluft, die sich eisig auf seine glühende Stirn legte, tat ihm wohl.

Plötzlich, an einer Biegung des Weges, kam ihm Herta entgegengeritten. Sie sah erhitzt aus, das Reitkleid war sichtlich in Eile übergeworfen worden.

Bei Heiders Anblick hielt sie ihr Pferd an.

»Gott sei Dank, daß ich dich endlich finde, Hans!«

»Warum? Hast du mich gesucht? Ist etwas geschehen daheim?«

»Nein. Aber ich habe dich fortreiten sehen und – ach, Hans, du sollst nicht allein sein jetzt. Laß mich bei dir bleiben!«

Wie schon so oft, griff ihm ihr warmer Ton ans Herz. Beschämt dachte er daran, wie er sie manchmal schroff von sich gewiesen hatte, wenn ihre immer wieder durchbrechende Anhänglichkeit ihm lästig gewesen war. Etwas wie Reue überkam ihn.

»Du bist gut, Herta, ich danke dir«, murmelte er bewegt. »Ja, bleib bei mir! Aber sprich kein Wort von ihr, hörst du? Ich bin fertig, ich mag nichts mehr hören.«

»Wie du willst.«

Sie ritten weiter, ohne bestimmtes Ziel, und sprachen von gleichgültigen Dingen. Heiders Nerven beruhigten sich ein wenig, aber die innere Gereiztheit blieb. Gegen Mittag kehrten sie um.

»Macht es dir etwas, wenn wir zur Fabrik reiten?« fragte Heider. »Ich möchte den Posteinlauf rasch durchsehen und Merz einige Aufträge geben.«

»Natürlich reiten wir hin. Was soll es mir denn schon ausmachen? Ich kann, während du deine Geschäfte erledigst, einen Sprung zu der Bienenzüchterei Weitusch machen, wo ich Honig bestellen will.«

Nach zehn Minuten tauchten die ersten Häuser der Siedlung auf. Das Häuschen der Wasenkos sah auch jetzt, wo der wilde Wein nur in wirrem Durcheinander entlaubter Äste die Mauern umklammerte, hübscher aus als die anderen Wohnungen.

Heider, der nie an dem Häuschen vorüberkonnte, ohne an die Nacht zu denken, als Britta am Bett des toten Kindes Frau Wasenko so liebevoll tröstend im Arm gehalten hatte, ließ den Blick finster darüberhinschweifen.

Sein ganzes Elend fiel ihm wieder ein.

Mit diesen Leuten lacht und weint sie, dachte er. Zu ihnen zieht ihr Herz sie, während sie für mich nicht einmal einen Blick übrig hat.

Plötzlich hielt er mit einem Ruck sein Pferd an und starrte aus weit geöffneten Augen auf die Haustür, die sich eben auftat, um zwei Personen herauszulassen: Frau Wasenko und Herrn Sternbach.

Die junge Frau, die sich mit einem Taschentuch die Augen trocknete, sprach leise und erregt auf den Maler ein, der ihr freundlich die Hand reichte, ihr zunickte und sich dann rasch auf einem Feldweg in Richtung der Station entfernte. Frau Wasenko trat ins Haus zurück.

Frau Kiesebrech, der gleichfalls nichts entgangen war, wandte langsam den Kopf und blickte Heider an. Ein eigentümliches Licht brannte in ihren schwarzen Augen, ein halb spöttischer, halb mitleidiger Ausdruck trat auf ihr Gesicht.

Daher also die Freundschaft, sagte ihr Blick. Im nächsten Augenblick schrie sie erschrocken auf.

»Hans, um Gottes willen, was willst du tun? Geh nicht …«

Aber es war schon zu spät. Heider war bereits aus dem Sattel und band das Pferd an den nächsten Pfahl.

Mit zwei Sprüngen war er an der Haustür und stieß sie auf. Frau Wasenko, die eben in die Küche treten wollte, erschrak, als sie Heider so plötzlich vor sich sah.

»Wo ist meine Frau?« stieß er herrisch hervor.

»Die gnädige Frau? Aber die ist doch nicht hier, Herr Heider!«

»Sie lügen! Sie ist hier; sie muß hier sein!«

Frau Wasenko wich erschrocken zurück. Sie fürchtete sich vor diesem starren Blick in dem leichenfahlen Gesicht. War er etwa plötzlich wahnsinnig geworden?

»Die gnädige Frau war aber wirklich nicht hier, schon über acht Tage nicht. Ich …«

Heider schob sie ohne Umstände beiseite, stürmte in die Küche und von da in die anderen Räume des Hauses. Da die beiden Kinder Wasenkos kurz zuvor fortgegangen waren, um ihrem Vater das Essen zu bringen, fand Heider alle Räume leer.

Er wandte sich abermals der Frau zu. Sein Blick durchbohrte sie.

»Wo haben Sie sie versteckt? Das ist Kuppelei!« schrie er sie an.

Frau Wasenko stieß einen Schreckensschrei aus und war mit einem Satz zum Haus hinaus, wo sie wie gejagt die Straße hinabrannte.

Sie war fest davon überzeugt, daß Heider den Verstand verloren habe.

Heider folgte ihr langsam auf die Straße. Die naßkalte Luft und der eisige Wind, der durch die Straßen fegte, ernüchterten ihn ein wenig. Auch schämte er sich vor Herta, die ihn besorgt anblickte.

»Sie ist nicht da«, murmelte er. »Wenigstens heute nicht. Sonst …«

Ohne den Satz zu vollenden, schwang er sich auf sein Pferd und ritt vorwärts. Herta folgte ihm schweigend und beklommen. Sie hatte das Gefühl, als verliere sie die Fäden allmählich aus der Hand.

Vor Heiders Büro trennten sie sich. Ein Diener übernahm die Pferde.

»Ich gehe meinen Honig bestellen, dann hole ich dich wieder hier ab«, sagte Frau Herta und ging.

Heider betrat sein Büro und öffnete die Tür zum Nebenraum, wo zwei Buchhalter und ein Schreiber saßen.

»Guten Morgen. Herr Wächter, bitte, telefonieren Sie ins Maschinenhaus«, wandte er sich an den Schreiber. »Der Maschinist Wasenko soll sofort zu mir kommen.«

Es dauerte keine fünf Minuten, da trat Wasenko ein.

»Sie wollen mich sprechen, Herr Heider?«

»Ja.« Heider schob ihm einen Umschlag zu. »Ich wollte Ihnen nur sagen, daß Sie entlassen sind. Hier ist Ihr Arbeitsbuch und der Lohn für einen Monat. Die Wohnung ist in drei Tagen zu räumen.«

Wasenko, ein hübscher Bursche mit intelligentem Gesicht, starrte seinen Arbeitgeber fassungslos an. Jeder Tropfen Blut war aus seinem Gesicht gewichen.

»Entlassen?« stammelte er. »Und warum, Herr Heider? Arbeite ich etwa schlechter als die anderen? Bin ich weniger gewissenhaft?«

»Über die Gründe bin ich Ihnen keine Erklärung schuldig.«

Heiders Augen ruhten hart auf dem Arbeiter.

»Aber ich will die Gründe wissen!« brauste der auf. »Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen und brauche mir wahrlich nicht gefallen zu lassen, daß man mich wegschickt wie einen, der etwas angestellt hat. Nein, Herr Heider, das nehme ich nicht an. Ich will den Grund wissen!«

»Ich verweigere jede Erklärung. Gehen Sie!«

»Nicht eher, bis Sie mir das erklären. Das sind Sie mir wohl schuldig für zehn Jahre Arbeit!«

Kein Muskel zuckte in Heiders Gesicht. Gelassen drückte er auf einen Knopf. Gleich darauf erschien der Bürodiener.

»Spielmann, führen Sie den Mann hinaus«, sagte er eisig. »Er weiß nicht, mit wem er spricht.«

Wasenko wurde fahl.

»Ach so ist's gemeint!« stieß er zornig hervor. »Gut, ich gehe. Aber merken Sie sich, Herr Heider, das letzte Wort ist in dieser Sache noch nicht gesprochen!« Er warf die Tür hinter sich ins Schloß.

Heider achtete nicht auf die Drohung. Er hatte den Kopf auf beide Hände gestützt und blickte starr vor sich hin. Grenzenlose Müdigkeit überkam ihn plötzlich. Warum hatte er das getan? Wurde denn etwas anders, wenn er Wasenko entließ?

*

Britta hatte den Tag still in ihrem Zimmer verbracht, war auch weder zum Mittagessen noch abends bei Tisch erschienen.

Niemand fragte nach ihr. Sie aß mit den Kindern und schickte sie dann zeitig ins Bett.

Ihr Entschluß war gefaßt. Sie wollte die erste Gelegenheit ergreifen, Hans die ersehnte Freiheit zu geben.

Um ihretwillen sollte er nicht länger leiden.

Beim Auskleiden bemerkte sie plötzlich den Verlust von Sternbachs Glückwunschkarte und erschrak heftig. Wenn Herta oder sonst jemand die betreffenden Worte läse!

Sie besann sich. Das Kärtchen konnte sie nur im Frühstückszimmer verloren haben, als sie dort ohnmächtig geworden war. Sie mußte unbedingt sofort danach suchen. Hastig warf sie ein Morgenkleid über und eilte hinunter.

Als sie das Frühstückszimmer betrat, erschrak sie: In dem Raum stand ihr Mann und las eben Sternbachs Karte.

Hans sah sie an. Wie schön sie war! Wie berückend schön in dem weißen losen Morgenkleid!

Er mußte alle Kraft zusammennehmen, um nicht auf sie zuzustürzen und sie in seine Arme zu reißen.

Aber da war das Blatt Papier in seiner Hand.

»Du kommst wohl, um diesen kostbaren Wisch zu suchen, den du verloren hast?« sagte er in dem kalten, höhnenden Ton, der Britta immer so weh tat.

Sie nickte.

»Ja. Bitte, gib her!«

»Einen Augenblick noch! Ich möchte doch erst gern eine Erklärung von dir hören, was dieser seltsame Glückwunsch eigentlich zu bedeuten hat, wer der schöne Dämon ist, vor dem Sternbach dich warnen will.«

Britta schwieg verlegen. Was sollte sie sagen? Er liebte diese Frau ja!

»Nun? Du schweigst? Ich bin wohl nicht würdig, die zärtlichen Geheimnisse zu teilen, die dich mit diesem Menschen verbinden?«

»Ich habe mit niemandem Geheimnisse«, sagte sie abweisend, »aber ich bin wohl auch niemand Rechenschaft schuldig über eine so einfache, mich allein betreffende Angelegenheit.«

»Du irrst, als dein Mann habe ich das Recht, Aufklärung zu verlangen. Also antworte! Wer ist der böse Dämon, vor dem man dich warnt und der aus deiner Nähe verschwinden soll? Bin ich es? Ist es meine Mutter?«

»Gott behüte! Wie kannst du so etwas glauben!«

»Nun also – wer sonst? Herta etwa?«

Britta schwieg.

Heider trat erstaunt einen Schritt zurück.

»Herta? Wirklich – sie?« Dann fuhr er heftig fort: »Aber wie kommt er dazu, dich vor Herta zu warnen, sie einen bösen Dämon zu nennen? Herta, die unsere Hausgenossin ist, die dir nur Gutes und Liebes getan hat, die keinem Menschen etwas in den Weg legt, sie läßt du von einem Fremden derart beleidigen und schweigst, gibst ihm wohl gar noch recht?«

Britta ließ den zornigen Wortschwall schweigend über sich ergehen, ohne mit einer Wimper zu zucken. Aber gerade ihr Schweigen reizte Heider noch mehr.

»Warum antwortest du nicht?« schrie er sie an. »Ich will wissen, was das zu bedeuten hat, wie dieser Mensch dazukommt, dich zu warnen.«

Britta fuhr entrüstet auf.

»Was fällt dir ein? Wie kannst du mir solch eine Erbärmlichkeit zutrauen? Wenn mir jemand in bester Absicht etwas sagt …«

»Dir hat kein Mensch etwas im Vertrauen zu sagen, verstanden!« unterbrach sie Heider. »Hüte dich, Britta! Auch meine Geduld hat ihre Grenzen. Du mutest mir Übermenschliches zu. Aber es könnte sein, daß der Faden zwischen uns eines Tages jäh zerreißt und dann …«

Britta trat dicht vor ihn hin. Ihre Augen leuchteten dunkel aus dem weißen Gesicht, ihre Lippen zitterten.

»Genug!« sagte sie bebend. »Wozu machst du so viele Worte? Der Faden zwischen uns, wenn es je einen gegeben hat, ist längst zerrissen. Und da du von den Grenzen deiner Geduld sprichst, will ich dir mit dem antworten, was ich längst hätte aussprechen sollen: Nimm deine Freiheit wieder und gib mir die meine!«

Totenstille folgte ihren Worten. Heider stand da wie vom Blitz getroffen.

»Du willst – die Scheidung?« stammelte er endlich.

»Ja! Weil es keinen Zweck hat, wenn Menschen äußerlich aneinandergekettet bleiben, zwischen denen kein inneres Band besteht.«

Britta sagte es herb und voll Bitterkeit. Er sollte nicht ahnen, daß sie um seine Liebe zu Herta wußte, sollte nicht erröten vor ihr und nicht wissen, wie unermeßlich sie litt, weil sie ihn liebte.

Heider hörte nur die kalte Bitterkeit der Worte, sah nur den herb verschlossenen Ausdruck dieses jungen Gesichts, in dem keine Spur der einstigen kindlichen Fröhlichkeit mehr lebte, und dachte an den Mann, der seiner Meinung nach alles verschuldet hatte. Aber Sternbach sollte nicht triumphieren! Er gehörte nicht zu den edlen Helden, die aus selbstloser Liebe eine Frau freigeben, damit sie mit einem anderen glücklich werden kann.

»Es tut mir leid, deinen Wunsch nach Freiheit nicht erfüllen zu können, Britta«, sagte er endlich nach einer Pause kühl. »Ich gebe zu, daß es vielleicht besser gewesen wäre, wir hätten nicht geheiratet. Da es aber nun einmal geschehen ist, gibt es kein Zurück mehr.«

»Wie, du willst nicht?«

»Nie! In unserer Familie sind Ehescheidungen nicht üblich. Rechne also nicht darauf.«

»Und wenn wir beide darüber zugrundegehen?« fragte Britta leise.

»Besser tot als fahnenflüchtig! Und Wortbruch ist so gut wie Fahnenflucht, merke dir das, Britta! Gute Nacht!«

Er legte die Karte Sternbachs vor Britta auf den Tisch und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer.

*

Britta erfuhr Wasenkos Kündigung von einer Arbeiterfrau, die zufällig des Weges kam, als sie ratlos vor dem verschlossenen Häuschen stand.

Bestürzt ging sie zu ihrem alten Freund, Werkmeister Schattel. Dort erfuhr sie, daß Wasenko die drei Tage Frist gar nicht erst abgewartet habe, sondern schon am nächsten Tag nach Mahrenburg gezogen sei. Er selbst treibe sich in Wirtshäusern herum, wo sich unruhige Elemente um ihn sammelten. Fast alle Arbeiter wären auf seiner Seite und erklärten sich mit ihm solidarisch.

Britta war tief erschrocken. Wasenko, dieser ordentliche und fleißige Mensch, ein Wirtshausheld und Unruhestifter! Und Hans, wie konnte er nur? Er, der sonst so gerecht war! Sie begriff es nicht.

»Kein Mensch kann es begreifen«, meinte Schattel bekümmert, »was in Herrn Heider gefahren ist. Es ist, als wäre er zeitweilig nicht mehr normal. Die Leute sind auch nicht einmal so sehr gegen ihn wie gegen Frau Kiesebrech, deren Einfluß sie alles zuschreiben. Die Geschichte mit Wasenkos überfahrenem Kind taucht auch wieder auf und macht böses Blut. Kurz, es steht schlimm um die Stimmung hier!«

»Aber was soll da werden?« fragte Britta angstvoll. Der alte Werkmeister zuckte die Achseln.

»Was werden soll, gnädige Frau? Streik, wenn Herr Heider nicht nachgibt und Wasenko wieder einstellt, denn das verlangen sie!«

»Er wird es nie tun«, murmelte Britta verstört. »Es hieße ein Unrecht eingestehen, und das liegt nicht in seiner Natur.«

»So wird er es lernen müssen wie jedermann im Leben«, sagte der alte Werkmeister hart. »Wehe dem, der über viele gesetzt ist und sich für unfehlbar hält!«

Zwei Tage später traten die Arbeiter der Heiderschen Maschinenfabrik in den Streik und erklärten, die Arbeit erst aufzunehmen, wenn Wasenko und zwei früher entlassene Arbeiter wieder eingestellt würden. Heider würdigte sie keiner Antwort, sondern ließ ihnen nur durch den Direktor erklären, daß er dann andere Arbeiter einstellen werde.

Frau Gerda war außer sich vor Empörung, als sie durch Herta von diesen Dingen erfuhr. Streik in »ihrer« Fabrik!

Heider selbst schien kaum berührt. Was lag ihm an dem Streik! Er hatte andere Schmerzen, andere Sorgen, andere Gedanken.

Britta, deren Gerechtigkeitsgefühl unter der Erkenntnis litt, daß Hans sich offenbar ins Unrecht gesetzt hatte, faßte sich ein Herz und versuchte ihn zur Milde zu stimmen.

Sie erinnerte ihn an Wasenkos Fleiß und Tüchtigkeit und daß er selbst doch früher so große Stücke auf ihn gehalten habe. Zuletzt bat sie ihn, den Wünschen der Arbeiter entgegenzukommen und Wasenko wieder einzustellen.

Hans sah sie erst groß an, dann lachte er bitter.

»Das hätte ich mir ja eigentlich denken können, daß meine Frau wieder auf der Seite der Gegenpartei steht.«

»Der Gegenpartei? Willst du mir nicht wenigstens sagen, warum du Wasenko entlassen hast? Es kann sich ja nur um ein Mißverständnis gehandelt haben, denn …«

»O nein. Verlaß dich drauf, daß es kein Mißverständnis ist, was meine eigenen Augen gesehen haben! Übrigens wundert mich deine Frage. Gerade von dir hätte ich sie zu allerletzt erwartet.«

»Warum von mir?« fragte sie verständnislos.

»Weil du sie dir selbst beantworten könntest«, sagte er dann schroff und trat, Britta den Rücken kehrend, ans Fenster.

Britta ließen die Worte ihres Mannes keine Ruhe. Warum sollte gerade sie besser wissen als alle anderen, warum er Wasenko entlassen hatte?

Sie grübelte die ganze Nacht darüber nach, konnte aber keine Antwort finden.

Am anderen Morgen, als sie zufällig mit Herta allein im Frühstückszimmer war, überwand sie ihre Abneigung und bat um Aufklärung.

Sie, seine Vertraute in allen Dingen, wird ja wohl auch das wissen, dachte sie bitter.

Herta antwortete sofort im Ton liebenswürdigen Erstaunens:

»Aber liebes Kind, das ist doch klar. Ich habe dir ja schon gesagt, daß dein Verkehr mit diesen Leuten Hans peinlich ist. Weil du nicht hören wolltest, hat er sich gezwungen gesehen, anders Ordnung zu schaffen.«

Britta dachte an die Sommernacht, als Heider sie bei Gretchens Leiche gefunden und ihr auf dem Heimweg so warm für ihren Besuch bei Wasenkos gedankt hatte. Es sei immer sein Wunsch gewesen, sich in Freud und Leid eins mit jedem seiner Arbeiter zu fühlen, und es freue ihn, daß sie ebenso empfinde.

Ungläubig schüttelte sie daher den Kopf.

»Nein, das kann es nicht sein. Du mußt dich irren. Aber ich sehe wohl, es ist wie immer – er hält es nicht einmal der Mühe wert, mir auf eine offene Frage offen zu antworten.«

»Du bist ungerecht gegen Hans, Britta. Du willst eben nicht sehen, daß er ein unglücklicher Mann ist, der schwer leidet.«

»Bin ich etwa schuld daran?« unterbrach Britta sie. »Immer wieder fängst du davon an, als könnte ich dafür, daß ihr einander nicht angehören dürft.«

»Aber Britta!«

»Ach, laß doch! Warum nicht offen darüber sprechen? Glaubst du denn, ich sei blind und taub und wüßte nicht längst, wie es zwischen euch steht? Warum soll ich es denn nicht einmal in klaren Worten aussprechen? Ich war ja auch bereit, dir den Platz zu räumen und ihm die ersehnte Freiheit wiederzugeben – daß Hans es ablehnte, dafür kann ich wahrlich nichts.«

Herta horchte auf.

»Wie, Britta, du hättest mit Hans darüber gesprochen?« fragte sie hastig. »Was hat er dir geantwortet?«

»Frag ihn doch selbst!«

Britta wandte sich stolz ab, um das Zimmer zu verlassen. Da eilte Herta ihr nach und schlang den Arm um sie.

»Warte doch, bleib doch, Britta! Laß uns doch eingehender über die Sache reden! Wir haben so lange nicht miteinander geplaudert, vielleicht finden wir zusammen einen Ausweg.«

Britta machte sich heftig los.

»Mach das mit dir selber aus!« sagte sie kalt. »Ich habe das meinige getan, mehr als genug.«

*

Blutrot schien die Wintersonne durch das blaue Mansardenfenster. In dem altertümlichen Kamin brannte ein knatterndes Feuer, das Britta mit Fredy angelegt hatte, und auf dem runden Mahagonitisch am Fenstertritt stand ein Henkelkorb mit Kuchen und Obst, den Britta heimlich aus der Speisekammer heraufschaffte, denn sie hatte den Kindern einen Festtag im blauen Zimmer versprochen.

Festtag im blauen Zimmer hieß den Nachmittag dort zubringen, Kuchen essen, Märchen erzählen und sich selber wie im Märchen fühlen. Es war das höchste Glück, das die Kinder kannten, die einzige Freude, die Brittas trauriges Leben zuweilen erhellte.

Hier oben war sie allem entrückt, was sie da unten marterte. Hier war sie niemand im Weg, keine kalten, mißbilligenden Blicke begleiteten ihr Tun, keine lieblosen Bemerkungen preßten ihr das Herz zusammen. Die Zärtlichkeit der beiden Kinder warf Sonnenschein in Brittas arme Seele. Die Märchen, die sie ihnen erzählte, führten sie für Stunden in eine andere Welt, wo sie vergaß, was sie sonst bedrückte.

Sie erzählte meist Märchen, die sie selbst erdachte.

Gritli, das Mündchen in atemloser Spannung geöffnet, saß auf ihrem Schoß, Fredy auf einem blauen Seidenpolster zu ihren Füßen.

Britta blickte träumerisch in die Glut des Kamins und schwieg, als habe sie alles ringsum vergessen.

Aber Gritli war ungeduldig. Sie zupfte Britta am Ohrläppchen.

»Erzähl weiter, Mama, was hat die schöne Prinzessin gesagt?«

Britta fuhr gedankenverloren fort: »Sie sagte zu dem König: ›Ich will alles tun, bloß lieb mußt du mich haben.‹« Dann änderte sie plötzlich den Ton und sprach lebhaft: »Aber da war die böse Oberhofmeisterin, die immer zwischen ihnen stand, obwohl die unsichtbaren Zwerglein die Prinzessin heimlich schützten. Und wenn die lange, dürre Oberhofmeisterin ihre spitze Nase in alles steckte, dann stießen ihr die treuen Zwerglein oft unversehens den Kopf in das Salzfaß oder in die Dose mit Staubzucker, daß die Nasenspitze ganz weiß wurde, wovon das Wort naseweis stammt!«

Gritli und Fredy klatschten in die Hände.

»Das muß aber lustig gewesen sein!«

Auch Britta lachte mit, angesteckt von der Fröhlichkeit der Kinder. Dieses Lachen, das so selten geworden war, ließ ihr Gesicht wieder hinreißend jung und kindlich erscheinen.

Ein leiser Seufzer schwebte plötzlich wie Geisterhauch durchs Zimmer.

Britta fuhr zusammen, Fredy hob horchend den Kopf. Was war das gewesen?

Nur Gritli, die nichts gehört hatte, drängte zum Weitererzählen.

Als Britta ihre Geschichte eben wieder fortsetzen wollte, erklang unten im verschneiten Park Hertas Stimme:

»Hans! Hans, wo bist du?«

Die Kinder sahen erschrocken die Mutter an.

Britta horchte klopfenden Herzens. Gerade unter dem Mansardenfenster lag Heiders Arbeitszimmer. Würde er dem Ruf folgen?

Aber nichts rührte sich unten, und nachdem Frau Herta noch ein paarmal vergebens gerufen hatte, entfernte sie sich.

Da nahm Britta den Faden ihrer Erzählung wieder auf.

Weder sie noch Herta ahnten, daß sich Heider nebenan befand und kein Wort von der Unterhaltung Brittas mit seinen Kindern verlor, während seine Augen durch den Spalt in der Tür auf der Märchenerzählerin ruhten.

Endlich war es ihm gelungen, das Geheimnis des blauen Zimmers zu erlauschen. Beschämt und erschüttert hörte er zu. Wie unschuldig, wie rührend war dieses Geheimnis, das ihm so viel Unruhe bereitet hatte!

Vielleicht aber war es nur heute so. Es mochte Stunden geben, da Britta allein hier weilte und heimlich Briefe an den Mann schrieb, dem ihr vereinsamtes Herz sich zugewandt hatte.

Britta erzählte ihr Märchen zu Ende. Dann holte sie eine Flasche mit Himbeersaft aus einem Wandschränkchen, zu dem sie den Schlüssel bei sich trug, und gab den Kindern zu trinken.

Sie saßen dann um den altväterlichen runden Tisch, aßen Kuchen und schwatzten über allerlei kleine Vorkommnisse des täglichen Lebens, die ihnen wichtig waren. Zum Beispiel, ob die Vorstehhündin von Förster Balzer wohl schon Junge bekommen hätte. Dann, daß Knauer in seiner Kammer einen Star habe, der wirkliche Worte sprechen könne. Daß sie heute morgen in der Küche eine Maus gefangen hätten, daß Papas Reitknecht mit den Ohren wackeln könne, daß Tante Herta zur Mamsell gesagt habe, zu Sonntag müßten wieder die kleinen Sandtörtchen mit Schlagsahne und Apfelmus gemacht werden, weil Papa sie so gern äße.

»Und da hat sie endlich mal was Gescheites gesagt«, meinte Fredy verschmitzt, »ich esse sie nämlich auch gern.«

Britta hörte dem Geplauder der Kinder zerstreut zu. Ihre Gedanken gingen in Sorge und Liebe zu dem Mann, der ihre Seele erfüllte. Wenn sie nur ein Mittel gewußt hätte, ihn zu bestimmen, daß er Wasenko wieder einstellte! Es könnte böse werden drüben in der Fabrik, wenn er nicht nachgab. Schattel, dem sie heute zufällig begegnet war, als sie mit den Kindern ausging, hatte ihr Angst gemacht.

Er hatte Britta beschworen, ihren Einfluß geltend zu machen, um Heider zum Nachgeben zu bestimmen.

Ihr Einfluß! Du lieber Gott! Jedermann im Haus hatte mehr als sie. Aber auch gegen Frau Gerda und Herta begann die Erbitterung zu wachsen, seit es sich herumgesprochen hatte, wie abfällig sich beide ständig über die Arbeiter aussprachen.

Gritli gähnte. Draußen dämmerte es, nachdem die Sonne längst in Nebel versunken war. Britta sah sich verwundert um. Wo war die Zeit plötzlich hingekommen? Es wollte wirklich schon Abend werden.

»Gritli muß jetzt bald ihren Milchreis essen und sich dann von Rosa zu Bett bringen lassen«, sagte Britta. »Du aber, Fredy, lernst noch einmal deine Aufgabe für Dr. Neuhäuser. Du weißt, sehr gut kannst du die Regeln noch nicht.«

»Ja, Mama. Kommst du mit uns hinunter?«

»Nein. Ich möchte noch hier bleiben. Bring Gritli einstweilen zu Rosa und mach dich an deine Aufgabe! Später höre ich dich ab.«

»Kommst du zu mir auch noch?« fragte Gritli weinerlich. »Ich mag nicht einschlafen, wenn du nicht mit mir gebetet hast.«

»Natürlich komme ich auch noch zu dir, Herzchen.«

Die Kinder entfernten sich.

Britta stand auf und trat an den Kamin, wo ein schwerer Armleuchter stand, dessen Kerzen sie anzündete.

Mit dem Leuchter in der Hand ging sie dann an den Wandschrank, schloß ihn auf und kramte eine Weile darin herum.

Der Schrank barg Brittas kostbarsten Schatz und ihr Geheimnis: ein Tagebuch, das sie seit ihrer Brautzeit führte und dem sie alles anvertraute, was sie sonst niemand auf Erden sagen konnte, und ein Bild von Hans.

Dieses Bild hatte sie noch als Braut heimlich aus einer Kassette mit Photographien entwendet, die im Zimmer ihrer Schwiegermutter stand.

Es war das einzige Bild, das sie von ihm besaß, denn weder er noch seine Mutter hatten je daran gedacht, ihr eins zu schenken.

Britta stand lang in den Anblick des geliebten Bildes versunken. Dann nahm sie das Tagebuch und einen Tintenstift, rückte einen Stuhl heran und stellte den Leuchter auf die neben dem Wandschrank stehende Kommode.

Das Buch im Schoß, umflossen vom Schein der Kerzen, begann sie in das Buch zu schreiben – ahnungslos, daß Hans ihr zusah.

Heider konnte nicht sehen, was Britta in dem Wandschränkchen so lang und in stummer Hingabe betrachtet hatte. Er sah nur den Ausdruck unermeßlicher Liebe in ihrem Gesicht; dann schrieb sie, hastig, mit brennenden Wangen und leuchtenden Augen.

*

Das Abendessen verlief ziemlich schweigsam wie immer. Nur Frau Gerda, die bei Brittas Eintritt erregt mit Forst getuschelt hatte, dann aber plötzlich verstummt war, schien in besonders gereizter Stimmung zu sein. Kaum war aufgetragen, wandte sie sich an Hans:

»Wie lange willst du eigentlich dem Streik noch zusehen, Hans? Ich finde deinen Langmut reichlich rücksichtslos gegen mich. Man grüßt mich nicht einmal mehr, und ich riskiere, daß mir einmal ein paar Steine an den Kopf fliegen.«

»Nun, diese Besorgnis ist wohl übertrieben, Mutter. Die Leute haben sich bisher nicht zu Ausschreitungen hinreißen lassen. Übrigens wird die Sache nächstens in Ordnung sein.«

»Ah, kriechen Sie zu Kreuz? Denn nachgeben wirst du hoffentlich nicht?«

»Nein. Aber ich werde nun doch Arbeiter von auswärts kommen lassen.«

Britta horchte erschrocken auf.

Sein Blick begegnete trotzig den angstvoll auf ihn gerichteten Augen Brittas. Aber sein Herz war verhärtet gegen diese stumme Sprache.

Als Hans später das Zimmer verließ, trat ihm Britta in den Weg.

»Hans«, begann sie stockend, »ich möchte dich um etwas bitten. Laß keine fremden Arbeiter kommen! Es muß böses Blut machen und sie noch mehr gegen dich aufbringen, die früher so treu zu dir gehalten haben. Deine Freunde hast du deine Arbeiter genannt. Laß es doch wieder so werden! Gib nach, komm ihnen entgegen! Wenn du wirklich fremde Arbeiter kommen lassen willst, bedenke, wie das sie aufs neue erbittern muß. Sie werden es nicht ruhig hinnehmen, es wird zu Ausschreitungen, vielleicht gar zu Blutvergießen kommen, und das kann ja nicht dein Wunsch sein. Darum gib nach, nur diesmal, ich beschwöre dich!«

Ohne daß sie es wußte, war ein Ton verhaltener Angst in ihrer Stimme, der ihn erschütterte.

Lange sah er sie schweigend an. Dann sagte er, den Blick durchdringend auf sie gerichtet: »Und wenn ich es täte, was gibst du mir dafür zum Lohn?«

»Ich – dir? Was könnte ich dir geben?« stammelte sie verwirrt.

»Dein Vertrauen! Gib mir den Schlüssel zum Wandschrank im blauen Zimmer, und ich tue alles, was du willst.«

»Nie!« stammelte sie verstört. »Lieber sterben!«

»Und wenn ich den Schlüssel verlange?«

»Ich kann ihn dir nicht geben.«

Er wandte sich schroff ab.

»Dann haben wir kein Wort weiter miteinander zu reden. Deine Bitte ist abgeschlagen. Gute Nacht!«

Damit ließ er sie stehen und verschwand in seinem Zimmer.

*

Das Gerücht, Herr Heider wolle fremde Arbeiter kommen lassen und sei dazu von seiner Mutter und Frau Kiesebrech gedrängt worden, verbreitete sich unter den Arbeitern. Die Erregung wuchs. Man hielt Versammlungen ab und beschloß, sich zu wehren.

Am Abend des nächsten Tages wurde Britta von Rosa in den Park gerufen, weil Frau Wasenko sie sprechen wollte. Sie hielt es in Erinnerung an alles Gute, das Britta ihr und den Ihren erwiesen hatte, für ihre Pflicht, sie zu warnen. Britta solle lieber mit den Kindern das Haus für ein paar Tage verlassen und nach Hansental gehen.

Von Frau Wasenko erfuhr Britta jetzt endlich auch alle mit der Entlassung Wasenkos verbundenen Vorgänge. Harmlos berichtete die Frau, wie zuvor Sternbach bei ihr gewesen sei und ihr ein wunderschönes Bild Gretchens gebracht habe. Frau Britta habe ihm von ihrem Verlust erzählt, und er habe der Mutter deshalb eine Freude machen wollen. Das Bild sei nach einer Photographie gemacht, die Britta ihm verschafft habe.

»Kaum war er fort, stürzte Herr Heider herein. Er sah so böse aus, daß ich mich fürchtete, und er wollte durchaus wissen, wo Sie wären. Und obwohl ich sagte, daß Sie nicht hier wären, durchsuchte er das ganze Haus. Zuletzt schrie er mich an: Wo haben Sie sie versteckt? Das ist Kuppelei! Da war mir klar, daß er wahnsinnig sein mußte.«

Britta hatte entgeistert zugehört.

»Das hat er gesagt?« rang es sich endlich von ihren Lippen.

»Ja. Und dann ist er in die Fabrik gegangen und hat meinen Mann entlassen, ohne zu sagen, warum.«

Britta begriff mit einemmal vieles. Ekel und Empörung schüttelten sie förmlich.

So dachte er von ihr, so niedrig, daß er sie für fähig hielt, Gleiches mit Gleichem zu vergelten!

Sie verabschiedete Frau Wasenko hastig und kehrte verwirrt ins Haus zurück.

Alles hätte sie ertragen. Aber das vergab sie ihm nicht. Dieser entwürdigende Verdacht!

*

Am folgenden Morgen brachte ein Bote ein Schreiben für Britta.

»Sehr geehrte gnädige Frau!

Ich muß Sie dringend sprechen. Da ich aber aus Gründen, die besser unerörtert bleiben, das Haus Ihres Mannes nicht wieder betreten will, bitte ich Sie, mir umgehend Ort und Stunde bekanntzugeben, wo dieses geschehen kann.

In unwandelbarer Ergebenheit küsse ich Ihnen die Hände.

Ihr Sternbach.«

 

Britta las den Brief schon zum drittenmal. Was konnte Sternbach von ihr wollen?

Daß sie nach dem, was sie gestern aus den Worten Frau Wasenkos nur zu deutlich begriffen hatte, Sternbach keine Zusammenkunft gewähren durfte, stand fest. So lächerlich und niedrig der Verdacht war, den Hans zu hegen schien – er durfte sich nicht noch verstärken. Andererseits hätte Sternbach wohl kaum so dringend geschrieben, wenn es sich nicht um Wichtiges handelte.

Britta überlegte noch, als es an ihre Tür klopfte und Herta eintrat.

»Liebe Britta, willst du nicht so gut sein und einen Augenblick ins Kinderzimmer kommen? Gritli ist vom Stuhl gefallen, und Rosa weiß sich keinen Rat, denn das Kind wimmert nach dir.«

Britta war erschrocken aufgesprungen, und alles vergessend eilte sie zur Tür. In ihrer Erregung dachte sie weder daran, Sternbachs Brief mitzunehmen noch ihn einzuschließen. Aber Herta, deren Neugier schon vorhin, als sie ihn dem Boten abnahm und die Schrift erkannte, rege geworden war, bemerkte das offen auf dem Schreibtisch liegende Blatt mit aufblitzenden Augen.

Sie ließ Herta vorausgehen, kehrte auf dem Gang um, ging zurück und las Sternbachs Zeilen.

Dann überlegte sie. Es war kein ausgesprochener Liebesbrief; somit hatte es keinen Zweck, ihm Heider in die Hände zu spielen.

Aber vielleicht ließ sich sonst etwas damit machen, etwas, das die verhaßte Britta endlich forttrieb.

Hertas anfänglich halb mitleidige, halb spöttische Geringschätzung Brittas war längst in glühenden Haß umgeschlagen, seit sie wußte, daß Hans Britta liebte.

Sie zu verderben war Tag und Nacht ihr heißester Wunsch.

Gritli hatte sich beim Fall vom Stuhl nur unbedeutend an der Stirn verletzt und beruhigte sich sofort, als Britta bei ihr war und auch den Tag über zu bleiben versprach.

So kam es, daß Britta sich erst spät abends, als sie zu Bett ging, an Sternbachs Brief erinnerte. Jetzt war es zu spät für eine Antwort und vielleicht am besten so. Keine Antwort ist auch eine Antwort, dachte sie. Er wird daraus erkennen, daß ich keine Zusammenkunft wünsche und schreiben, was er zu sagen hat.

Im Haus herrschte an diesem Abend eine gedrückte Stimmung.

Alle hatten das Gefühl kommender ernster Stunden.

Forst hatte aus dem Dorf allerlei Gerüchte mitgebracht, die zwar widersprechend waren, aber besonders Frau Gerda ernstlich beunruhigten.

Dazu kam, daß der Regierungsrat es zum erstenmal im Leben wagte, Gerda zu widersprechen.

Er fand nämlich, daß man die Dinge keinesfalls so weit hätte kommen lassen dürfen. Statt Heider zum Widerstand aufzureizen, hätte man ihn beruhigen sollen.

»Wollen Sie damit sagen, daß er hätte nachgeben sollen?« wandte sich Frau Gerda scharf an Forst.

Und da antwortete er zu ihrem Erstaunen energisch:

»Ich meine, teure Freundin, daß Hans diesen Wasenko nie hätte entlassen dürfen. Eine Übereilung gutmachen, ehrt den Einsichtigen.«

Unten in der Gesindestube ging es ebenfalls erregt zu. Auch da hatte der Hausknecht allerlei Gerüchte aus dem Dorf über Beschlüsse mitgebracht, die in der Arbeiterversammlung gefaßt worden waren.

Alle Angestellten mit Ausnahme Knauers und Rosas standen auf Seiten der Arbeiter.

Die Köchin, der Herta vor ein paar Tagen gekündigt hatte, schlug zuletzt vor, morgen eine Art passiver Resistenz zu zeigen. Jeder solle sich außer Haus zu tun machen. »Wenn sie dann Krawall machen, sind wir einfach nicht da. Sonst kann es uns noch passieren, daß wir die Suppe, die denen dort oben eingebrockt wird, mit ausessen müssen. Denn da heißt es allemal: Wie der Herr, so 's Gescherr.«

*

Der Morgen verlief aber ganz ruhig, wenigstens im Haus. Oben in der Fabrik freilich schien es zu gären. Als Heider am Morgen zu Direktor Merz hinüber wollte, kam ihm dieser schon auf halbem Weg entgegen und beschwor ihn umzukehren. Die Arbeiter führten nichts Gutes im Schild und rotteten sich zusammen.

Heider starrte finster vor sich hin. Das waren die Leute, denen er Altersversorgung, Gewinnanteil und Erholungsheime gab, die ihn noch vor einem Vierteljahr hochgeschätzt hatten.

Wie war das nur gekommen? Während er mit zusammengezogenen Brauen in die Luft starrte, war ihm, als sinke plötzlich ein Schleier von seinen Augen, und eine Stimme in seinem Innern sprach: Nicht sie, du bist schuld. Nicht sie, du hast dich geändert. Deines Lebens Arbeit hast du achtlos um deiner Leidenschaft willen beiseitegeschoben, die dich blind und ungerecht machte. Die Frau, die du gewinnen wolltest, hat sich einem anderen zugeneigt, und die Liebe deiner Arbeiter hast du darüber auch verloren.

Gestrandet – diese Erkenntnis war hart für einen Mann seiner Art. Aber umkehren, Zugeständnisse machen? Nein!

Direktor Merz rieb sich verlegen die Hände. Heider kehrte um, ohne ihn zu beachten.

Der Direktor lief ihm nach.

»Herr Heider, auf ein Wort!«

»Was ist? Haben Sie mir noch etwas zu sagen?«

»Ja. So ganz im Unrecht sind die Leute wirklich nicht. Ein bißchen Entgegenkommen, ein gutes Wort, schließlich war Wasenko immer ein ordentlicher Mensch –«

Merz verstummte unter dem Blick, der ihn traf.

»Sie haben vor acht Tagen anders gesprochen, Herr Direktor«, sagte Heider schroff. »Sie haben mich im Namen der Autorität beschworen, fest zu bleiben. Wenn ich damals von einem Einsichtsvolleren beraten worden wäre – aber es hat keinen Zweck, jetzt weiter darüber zu reden. Heute ist es zu spät, einzulenken. Mag geschehen, was will – lächerlich mache ich mich nicht.«

Ohne Gruß ließ er ihn stehen und ging heim.

Dort kam ihm Herta entgegen.

»Nun, du bist schon da, Hans? Es ist also alles glatt abgelaufen?«

Er schüttelte den Kopf und teilte ihr kurz mit, was Merz berichtet hatte.

Sie erblaßte.

»Und jetzt? Was wirst du tun?«

»Nichts. Die Fabrik bleibt eben geschlossen, ich werde wahrscheinlich verkaufen.«

»Wie, verkaufen? Diese Goldgrube, dieses blühende Unternehmen?«

Er zuckte die Achseln.

Ohne Herta weiter zu beachten, stieg er die Treppe hinauf, ging in sein Zimmer und schloß sich ein.

Herta verließ die Halle, um in den Wirtschaftshof zu gehen, wo sie einen Auftrag Frau Gerdas zu überbringen hatte. Frau Heider war nämlich über Nacht zu dem Entschluß gekommen, in aller Stille abzureisen.

Sie fühlte sich nicht mehr sicher, seit sogar die Dienstboten im Haus zwar verstohlen, ihr selbst aber nur zu deutlich wahrnehmbar, von einem Geist dumpfer Widerspenstigkeit beherrscht schienen. Man grüßte sie verdrossen, und ihre Bequemlichkeit litt unter der Saumseligkeit, mit der ihre Anordnungen befolgt wurden.

Dieselbe Beobachtung hatte Herta machen müssen. Ihr gegenüber war es heute morgen sogar zu offener Unbotmäßigkeit gekommen.

Herta hatte danach eine lange Unterredung mit ihrer Tante gehabt. Beide waren sich einig: Britta ist an allem schuld! Sie hetzt die Leute auf. Und es würde nicht eher Ruhe geben, bis man sie los war. Um dies zu erreichen, wollte Frau Gerda noch einmal mit Hans sprechen.

Dann aber war Frau Gerda die Sorge um ihre eigene Person doch wichtiger als alles andere, und sie beschloß zu gehen, ehe die Dinge sich noch mehr zuspitzten. Jedoch sollte niemand, nicht einmal Herta, etwas von ihrem Entschluß ahnen, ehe er ausgeführt war. Denn sie fürchtete, man könnte versuchen, sie umstimmen zu wollen. Sie wollte den Wagen bestellen wie zu einer Spazierfahrt, sich dann aber nach Mahrenberg zum Bahnhof fahren lassen und von dort mit dem nächsten Zug nach Bad Neuhaus fahren, wo eine Freundin von ihr sie schon öfter eingeladen hatte. Forst sollte mit ihrem Gepäck nachkommen.

Sie legte also allerlei an Wäsche, Kleidern und Bedarfsartikeln in einem Schrank zurecht, damit er später von Herta gepackt und Forst übergeben werden konnte, und klingelte dann dem Mädchen, um den Wagen zu bestellen.

Aber seltsamerweise erschien niemand auf ihr wiederholtes Klingeln, so daß sie schließlich Herta bitten mußte, den Fahrer zu verständigen.

Als Herta nach ihrem kurzen Gespräch mit Hans in den Wirtschaftshof kam, fand sie die Tür zum Zimmer des Chauffeurs verschlossen und von ihm keine Spur.

Befremdet blickte sie sich nach jemand um, den sie nach dem Verbleib der Leute hätte fragen können, konnte aber nirgends eine menschliche Seele entdecken. Wie ausgestorben lag der Hof vor ihr. Nur die Pferde stampften im Stall, und Tyras, die große Dogge, die allein hier den Wachdienst zu besorgen schien, strich langsam an den geschlossenen Stalltüren vorüber.

Da bemerkte ihr scharfes Auge plötzlich einen Buben, der verstohlen zum äußeren Tor hereinlugte, unschlüssig, ob er es angesichts der Dogge wagen solle, den Hof zu betreten. Er trug einen Brief in der Hand.

Die unsichre Art des Buben, der offenbar nicht gesehen werden wollte, und der Brief in seiner Hand erregten sofort Hertas Mißtrauen.

»Wen suchst du und was willst du hier?« fragte sie plötzlich.

Der Bub, der sie nicht bemerkt hatte, fuhr erschrocken zusammen und verbarg mit einer instinktiven Bewegung den Brief hinter seinem Rücken.

Mit ein paar Schritten stand Herta vor ihm.

»Was versteckst du da vor mir?«

»Ich? Nichts«, stammelte der Junge, der offenbar nicht an Lügen gewöhnt war, verwirrt. Dann setzte er verlegen hinzu: »Wo kann ich Frau Heider finden? Ich – möchte zu ihr.«

In Hertas Augen blitzte es auf. Also für Britta war der Brief bestimmt. Wohl wieder von Sternbach!

Sofort stand der Entschluß in ihr fest, unter allen Umständen Einblick in den Brief zu bekommen. Wer wußte, ob der Zufall ihr da nicht endlich ein Mittel in die Hände spielte, die Verhaßte unmöglich zu machen!

»Gib mir den Brief!« befahl sie herrisch.

»Das darf ich nicht. Ich soll ihn nur Frau Heider selbst –«

»Unsinn, ich werde ihn ihr geben.«

Der Knabe schüttelte den Kopf.

»Ich habe versprochen, daß ich ihn nur Frau Heider abgebe.«

»Tyras!« rief Herta.

Der Hund, der knurrend stehengeblieben war und den fremden Eindringling mißtrauisch beobachtete, sprang herzu.

»Willst du mir den Brief jetzt geben, dummer Bub, oder warten, bis ich den Hund auf dich hetze? Ich gebe dir eine Minute Zeit, dann hast du dir die Folgen selbst zuzuschreiben.«

Der Bub zitterte vor Angst, konnte sich aber trotzdem noch nicht entschließen, dem Befehl Folge zu leisten.

Im nächsten Augenblick fuhr er mit einem gellenden Aufschrei zurück. Frau Kiesebrech hatte rot vor Zorn gesagt: »Tyras, faß ihn!« worauf die Dogge, die offenbar auf den Befehl gewartet hatte, sich auf den armen Kerl stürzte, ihn zu Boden riß und sich über ihn stellte. Obwohl der Hund den Knaben nicht verletzte, erpreßte die Todesangst diesem doch ein jämmerliches Geheul, das Herta aber nicht im mindesten zu rühren schien.

Ihre Aufmerksamkeit galt vielmehr dem Brief, der dem Buben beim Sturz entfallen war und ein paar Schritte von ihm entfernt im Kies lag.

Sie bückte sich danach, hob ihn auf und überlegte im stillen, ob sie ihn gleich öffnen oder damit erst in ihr Zimmer gehen sollte.

Sie entschloß sich für ersteres.

Der Inhalt lautete:

 

»Verehrte gnädige Frau.

Da Sie meine gestrige Bitte unbeantwortet ließen, ich Sie aber unbedingt sprechen muß, erwarte ich Sie zur Zeit auf dem Trockenplatz hinter dem Wirtschaftshof und beschwöre Sie um Ihrer persönlichen Sicherheit willen, mir fünf Minuten Zeit zu schenken.

Sternbach.«

 

Herta hatte die paar Zeilen kaum gelesen, als sie den Brief erschrocken in die Tasche schob und die Flucht ergreifen wollte. Denn wenn Sternbach so nahe war, konnte er auf das Geschrei des Buben hin jeden Augenblick erscheinen. Und sie hatte alle Ursache, seinen Zorn nicht zu reizen.

»Tyras, zurück!« rief sie hastig. »Und du steh auf und sei endlich still! Es ist dir ja nichts geschehen!«

Damit wollte sie fort. Aber es war schon zu spät. Als sie sich umwenden wollte, stand Sternbach vor ihr.

Ein Blick erklärte ihm die Sachlage.

»Wo ist mein Brief an Frau Heider?« fragte er den Knaben. Der wies auf Herta.

»Sie hat ihn genommen, und weil ich ihn nicht hergeben wollte, hat sie den Hund auf mich gehetzt.«

Ein furchtbarer Blick streifte Herta, die blaß und trotzig dastand.

»Es ist gut, Berti. Geh jetzt heim und warte dort auf mich! Du sollst für deinen Schrecken nachher entschädigt werden.« Dann wandte sich Sternbach an Herta. »Sie aber, Frau Kiesebrech, werden so freundlich sein, noch ein Weilchen hierzubleiben. Denn ich glaube, es ist wirklich Zeit, daß wir unsere alte Rechnung endlich begleichen, ehe Sie noch weiteres Unheil anrichten.«

Herta starrte ihn feindselig an.

»Was wollen Sie von mir, Herr Sternbach? Ich denke, zwischen uns ist das letzte Wort schon vor drei Jahren gesprochen worden.«

»So habe auch ich gehofft«, antwortete Sternbach gelassen. »Leider haben Sie dieses letzte Wort vergessen und zwingen mich dadurch, es Ihnen noch nachdrücklicher als damals zu sagen.«

*

Während sich diese Ereignisse im Wirtschaftshof abspielten, wartete Frau Gerda ungeduldig auf Herta oder das Erscheinen eines dienstbaren Geistes, nachdem sie vergebens von Zeit zu Zeit läutete. Aber niemand kam. Wie ausgestorben schien das Haus.

Die ungewohnte Stille beunruhigte die alte Dame schließlich so sehr, daß sie es in der Einsamkeit ihres Zimmers nicht mehr aushielt. Sie beschloß daher, selbst nachzusehen, warum niemand auf ihr Klingeln erschien.

Jedoch fand sie die Küche leer. Kein Feuer im Ofen, keine Vorbereitungen für das Mittagessen. Es war klar, daß alle das Haus verlassen hatten.

Frau Gerda erschrak ernstlich. Stand es so schlimm, daß sie wie die Ratten das sinkende Schiff verließen? Dann war es höchste Zeit, sich in Sicherheit zu bringen!

Sie trat ans Fenster und spähte ängstlich nach Herta hinaus. Draußen herrschte prächtiges Winterwetter. Schnee bedeckte die Fluren, und aus wolkenlosem Himmel strahlte die Sonne.

Unweit vom Haus spielte Rosa mit Gritli und Fredy. Der Anblick beruhigte Frau Gerda etwas. Gottlob, ganz allein war sie also noch nicht!

Als Frau Gerda sich umwandte, um in ihr Zimmer zurückzukehren, kam Britta die Treppe herunter, zum Ausgehen angekleidet.

Die Ruhe eines festen Entschlusses lag auf ihrem bleichen Gesicht. Sie trug ihren Pelzmantel und ein kleines Pelzbarett auf dem Haar und war so in Gedanken vertieft, daß sie ihre Schwiegermutter nicht bemerkte.

In Frau Gerda aber erweckte Brittas Anblick die Erinnerung an alles, was Herta ihr gestern und heute mitgeteilt hatte, und entfachte von neuem ihre zornige Entrüstung gegen die Schwiegertochter, die an allen Unannehmlichkeiten schuld war.

Sie trat rasch auf die erschrocken aufblickende junge Frau zu.

»Du willst fort?« fragte sie kurz. »Wohin?«

Britta schwieg verlegen. Was sie vorhatte, sollte niemand wissen, ehe es nicht von Erfolg gekrönt war.

»Ich habe dich gefragt, wohin du gehen willst. Warum antwortest du nicht?« sagte Frau Gerda. »Hast du wieder Heimlichkeiten?«

»Heimlichkeiten? Ich?«

»Tu nicht so! Wir wissen nur zu gut, daß du ständig auf lichtscheuen Wegen wandelst. Nicht genug, daß du uns mit deinem verstockten Wesen jeden Tag vergällst, daß du an dem Streik der Arbeiter schuld hast, meinen armen Sohn betrügst und unglücklich machst –«

»Mutter! Was sprichst du da?« unterbrach Britta sie tief erschrocken. »Ich hätte –«

»Nun – etwa nicht? Willst du leugnen, daß du mit den Arbeitern sympathisierst und sie dadurch in ihrer Auflehnung bestärkst? Wer hat denn diese Wasenkos aufgehetzt, wenn nicht du? Und willst du leugnen, mit Sternbach eine Liebschaft zu haben?«

»Mutter, um Gottes willen, ich beschwöre dich –«

»Laß mich ausreden! Wenn niemand es wagt, dir die Wahrheit zu sagen, so habe ich den Mut dazu, denn bei Gott, mir brennt die Empörung schon lange in der Seele. Glaubst du, es kann einer Mutter gleichgültig sein, wenn sie mitansehen muß, wie ihrem Sohn das Leben vergällt wird und er täglich schwerer an seinem Unglück trägt? Denn Hans ist unglücklich. Ein Blinder kann es sehen, nur du nicht! Nichts hast du uns ins Haus gebracht als Unglück, Schmach und Schande. Und wenn du nur ein Fünkchen Ehrgefühl im Leib hättest, wärst du längst gegangen. Was hält dich denn noch hier? Du liebst ja deinen Mann nicht, und Reichtum hättest du bei Sternbach auch. Warum klammerst du dich an etwas, das dir nichts gilt, nie etwas gegolten hat?«

Frau Gerda schwieg erschöpft.

Britta, die totenblaß und unfähig, auch nur einen Laut von sich zu geben, vor ihr stand, starrte sie in wortlosem Entsetzen an.

Endlich rang es sich bebend von ihren Lippen:

»Du tust mir unrecht, Mutter. Ich wollte ja gehen –«

»O ja, du hast wenigstens so getan! Als aber mein Sohn in übertriebenem Edelmut nicht gleich ja sagte, bist du ganz einfach geblieben. Wäre es dir wirklich ernst gewesen, hättest du nicht erst lange herumgeredet, sondern wärst einfach verschwunden.«

Wie Keulenschläge waren die ungerechten Vorwürfe ihrer Schwiegermutter auf Britta niedergesaust. Bei den letzten Worten Frau Gerdas schnellte sie empor, und ihr Blick richtete sich so hoheitsvoll auf die alte Frau, daß diese unwillkürlich die Augen senkte.

»Beruhige dich, Mutter«, sagte sie mit ruhiger Würde, »es war mir ernst. Und was du mir als Unterlassungssünde zum Vorwurf machen willst, bin ich jetzt im Begriff zu tun. Ich werde hier niemand mehr im Weg stehen.«

»Wie – du wolltest –«

»Dieses Haus für immer verlassen«, nickte Britta und fügte leise und schmerzlich hinzu: »Wenn dein Sohn wirklich durch mich unglücklich geworden ist, ist es wenigstens ohne meine Schuld und Absicht geschehen, und ich werde jetzt versuchen, seinem Leben wieder Inhalt und Freude zu geben. Vielleicht denkt ihr dann milder von mir.«

Frau Gerda sah sie verständnislos an.

»Was willst du tun, Britta?«

»Laß mich darüber schweigen! Noch weiß ich nicht, ob ich nicht zu schwach bin, Gestürztes wieder aufzurichten. Und nun, Mutter, leb wohl.«

Es lag etwas in Brittas Wesen, das selbst die kaltherzige Frau ergriff: eine stille Überlegenheit, die ihr Achtung einflößte.

Sie schämte sich plötzlich, ohne recht zu wissen, warum, und bereute ihre Heftigkeit. Verlegen streckte sie Britta die Hand entgegen.

»Wir wollen wenigstens nicht im Zorn auseinandergehen, Britta.«

»Ich grolle niemand. Leb wohl!« sagte Britta, ohne die dargebotene Hand zu ergreifen. Im nächsten Augenblick war sie aus der Halle verschwunden. Frau Gerda blieb in sonderbar beklommener Stimmung zurück.

Ich hätte sie nicht gehen lassen dürfen, dachte sie. Was wird Hans dazu sagen?

*

Britta hatte die Hand ihrer Schwiegermutter nicht ergriffen, weil sie sie nicht sah. Ihre Augen waren plötzlich von aufsteigenden Tränen blind geworden.

Die kalte, klare Winterluft, die eisig über ihre brennende Stirn strich, brachte sie rasch wieder zu sich. Tränen! Dazu hatte sie jetzt keine Zeit! Die konnten später fließen, wenn sie allein war.

Jetzt lag noch eine schwere Aufgabe vor ihr.

Brittas Schritt wurde plötzlich fest, ihr Blick klar. Ohne Zögern schlug sie den Weg zur Fabrik ein.

Die Arbeiter, die auf dem großen Vorplatz erregt beisammenstanden, sahen mit Verwunderung die junge Frau auf sich zukommen.

Seine Frau! Was wollte sie von ihnen? Hatte Heider sie geschickt? Flüsternde Bemerkungen wurden ausgetauscht. Erwartungsvoll starrten sie ihr entgegen.

Brittas Blick streifte von einem zum anderen. Sie kannte fast alle seit Jahren. Schon als Mädchen, wo sie sich daheim vereinsamt gefühlt hatte, war sie der gute Engel in vielen Arbeiterfamilien gewesen, hatte sich der Kinder angenommen und den Frauen im Haushalt geholfen. Es waren wenige unter den Arbeitern, denen sie nicht schon Gefälligkeiten erwiesen hatte, und selten war eine Heirat freudiger begrüßt worden als ihre mit Heider.

Eben darum aber hatte auch nichts Heider seinen Arbeitern mehr entfremdet als die allgemeine Erkenntnis, daß Britta in seinem Haus nicht den ihr gebührenden Platz einnahm.

Durch Herta Kiesebrechs taktloses Auftreten hatten alle bald die Überzeugung gewonnen, daß sie an dem Unglück dieser Ehe schuld war; man nahm um so lebhafter für Britta Partei, als Heider sie auf Kosten seiner Kusine wirklich zu vernachlässigen schien.

Der alte Werkmeister Schattel, der sie besonders ins Herz geschlossen hatte, trat Britta zuerst entgegen und fragte freundlich, was sie herführte.

Britta reichte ihm die Hand, nickte einigen der ihr bekannten Arbeiter zu und erkundigte sich, wer ihr Sprecher sei. Ein paar jüngere Vorarbeiter, von denen sie nur zwei kannte, wurden ihr vorgestellt. An sie wandte sich nun Britta, sprach aber so, daß es auch die anderen hören konnten.

Sie sagte, daß sie als Bittende komme. Ihr Mann leide sehr unter dem Zerwürfnis mit seinen Arbeitern, die er immer wie Brüder geliebt habe und denen er doch stets aus allen Kräften entgegengekommen sei. Sie sollten doch daran denken, was er ihnen alles getan, wie er für sie gesorgt habe und wie er gut sei. Sie wisse genau, daß es ihrem Mann leid tue, Wasenko eines Mißverständnisses wegen entlassen zu haben, aber man dürfe einer Persönlichkeit wie ihm auch nicht zuviel zumuten. Ein Unrecht erkennen und es öffentlich eingestehen, sei zweierlei. Einer stolzen Natur sei Demütigung unmöglich, und trotzige Forderung erzeuge wieder Trotz. Aber alles würde sich ausgleichen, wenn sie nur den guten Willen und etwas Entgegenkommen hätten. Ihr Mann wisse nichts von ihrem Hierherkommen, hätte es auch sicher nicht gestattet. Ihr aber habe es keine Ruhe gelassen, sie kenne sein gutes Herz, kenne aber auch sie, die Arbeiter, und sei überzeugt, daß sie ihr zuliebe nachgeben würden.

Britta sprach noch viel; niemand unterbrach sie. Staunen und Ergriffenheit malten sich in den Gesichtern ringsum, denn sie hatten Britta bisher nur als schüchternes Kind gekannt, fröhlich, warmherzig und wenig gesprächig.

Jetzt flossen ihr die Worte nur so von den Lippen; und da sie aus tiefstem Herzen kamen, drangen sie auch zu den Herzen der Zuhörer. Außerdem war es etwas nie Dagewesenes, daß die Frau des Mannes, den sie befehdeten, zu ihnen kam und um Frieden warb. Etwas kindlich Naives lag in diesem Schritt Brittas, der die rauhen Männer rührte. Instinktiv fühlten sie die Triebfeder – Brittas Liebe – heraus.

Niemand lächelte über sie, keiner mißverstand sie. Als sie endlich schwieg und ihre schönen blauen Augen – tief und dunkel wie Bergseen – ängstlich an den Gesichtern der Männer hingen, da nickten diese ihr freundlich zu. Hie und da warf wohl einer noch Bemerkungen hin, die einen bedingungslosen Frieden verwerfen wollten, aber die Mehrzahl war durch Britta gewonnen.

Nach kurzer Beratung erklärten die Führer, wenn die Dinge so lägen, wie Frau Heider sie darstellte, sei man bereit, die Arbeit in der Fabrik morgen wieder aufzunehmen. Man bestehe nicht mehr auf der vorherigen Wiedereinstellung der zu Unrecht entlassenen Genossen, erwarte aber, daß sie freiwillig erfolgen werde.

Britta atmete auf, als sie eine Viertelstunde später die Fabrik verließ.

Es war gelungen! Ihr Glauben an das Gute im Menschen hatte sie nicht getrogen. Und er, den sie heißer liebte als alles auf Erden, er würde nun endlich glücklich sein. Der Platz an seiner Seite war frei für die Frau, der sein Herz gehörte, die Fabrik würde unter seinen Händen weiter blühen und gedeihen.

In Heiders Privatkontor hinterlegte sie ein paar Zeilen für ihn, in denen sie ihm kurz über ihre Unterredung mit den Arbeitern berichtete und ihn bat, nun auch die entlassenen Arbeiter wieder einzustellen.

 

»Es ist die einzige und letzte Bitte, die ich an Dich richte«, schloß sie. »Dann vergiß mich und sei glücklich.«

 

Ihr eigener Weg lag klar vor ihr: Sie wollte jetzt zur Bahn und von dort mit dem Nachmittagszug nach Wien zu Melanie Erkel. Bei ihr würde sie bleiben, bis sie eine passende Stelle gefunden hatte. Sie wollte niemand zur Last fallen, nicht rückwärts schauen, sich nicht in haltloser Verzweiflung verlieren, sondern mutig zu vergessen versuchen und ein neues Leben zu beginnen, das ausschließlich anderen gewidmet sein sollte, am liebsten mutterlosen Kindern.

Einsam und frei! Noch liefen ihr kalte Schauer durch den Leib, wenn sie an dieses Leben dachte. Sie war so jung, so liebebedürftig! Sie liebte so heiß, hing noch mit allen Fasern der Seele an der Heimat.

*

Herta Kiesebrech starrte Sternbach feindselig an.

»Ich begreife wirklich nicht, was Sie noch von mir wollen«, stieß sie trotzig heraus.

»Sie sollen es sofort erfahren«, gab er zurück. »Sie werden noch in dieser Stunde Ihre Koffer packen und das Haus verlassen, das Sie nie hätten betreten dürfen. Ihr Platz ist anderswo.«

Herta fuhr auf.

»Ah, das ist mehr als unverschämt! Mit welchem Recht wollen Sie mir vorschreiben, was ich zu tun oder zu lassen habe? Was kümmert es Sie?«

»Mein Recht ist das eines Mannes, der andere vor Schaden bewahren will. Einmal ist es Ihnen gelungen, ein Familienglück zu zerstören, weil niemand da war, Sie daran zu hindern. Diesmal bin ich da, obwohl Sie sich ja alle Mühe gegeben haben, mich von hier zu vertreiben«, fügte er höhnisch hinzu. »Denn die grundlose Eifersucht Herrn Heiders ist ja wohl nur Ihr Werk und würdig Ihres –«

Er brach ab. Heiders zornbebende Stimme erklang dicht neben ihm:

»Was geht hier vor? Wie können Sie sich erdreisten, mit meiner Kusine in diesem Ton zu reden?«

Sternbach schwieg, nicht aus Überraschung, sondern weil er erst nach geeigneten Worten suchte, das einzuleiten, was er sagen wollte.

Statt seiner sagte Herta, die blaß geworden war, hastig:

»Laß doch, Hans, es ist nichts von Bedeutung zwischen Herrn Sternbach und mir! Lediglich eine kleine Meinungsverschiedenheit, die schon erledigt ist.«

»Sie irren, gnädige Frau. Unsere Angelegenheit ist erst dann erledigt, wenn ich Ihr Versprechen habe, daß meine Forderung erfüllt ist. Und das muß auf der Stelle geschehen«, sagte Sternbach ruhig. Etwas Unbeugsames lag plötzlich in seinen Zügen.

Heider blickte von einem zum anderen.

»Welche Forderung?«

»Daß sie noch heute Ihr Haus verläßt!«

Heider fuhr auf.

»Ah, das ist unerhört! Mit welchem Recht –«

Heider blickte auf Herta. Die aber schien das Reden verlernt zu haben. Aschfahl im Gesicht stand sie da, vergeblich bemüht, des Schreckens Herr zu werden.

Ihr Blick flehte Sternbach um Gnade an. Aber der Blick, dem sie begegnete, war hart und kalt wie Stein.

Heider schüttelte ihren Arm ungeduldig:

»Antworte! Ich will wissen, was das alles zu bedeuten hat!«

Da trat Sternbach rasch auf Heider zu.

»Beenden wir diese peinliche Szene, Herr Heider! Ich bin bereit, Ihnen jede gewünschte Aufklärung über diese Dame zu geben, die sich mit unlauteren Absichten in Ihr Haus geschlichen hat und deren Entfernung ich seit langem anstrebe.«

»Ich weiß«, sagte Heider finster. »Sie haben ja auch meine Frau vor ihr gewarnt.«

»Weil ich es für meine Pflicht gehalten habe. Frau Kiesebrech hat das Recht verwirkt, in einem anständigen Haus als Gast zu leben.«

»Erklären Sie sich deutlicher!«

»Sofort. Frau Kiesebrech hat Ihnen gewiß erzählt, daß ihre Ehe sehr unglücklich war, daß ihr Mann sie tyrannisierte und schließlich sogar enterbte?«

»Allerdings.«

»Schön. Sie hat Ihnen aber gewiß nicht erzählt, daß sie ihren Mann betrogen und durch ihre Verschwendungssucht beinahe ruiniert hat. Mehr als die Hälfte seines Vermögens hat er ihr geopfert und sich schließlich wie ein Einsiedler vor aller Welt zurückgezogen, um seine Schande zu verbergen. Denn diese Frau, die heimlich das Silber ihrer Schwiegermutter versetzte, hat ihre Liebhaber wie die Handschuhe gewechselt. Ihr letztes Opfer war mein lieber, alter Freund Christens. Er war ein Ehrenmann, bis er Frau Kiesebrech kennenlernte. Jung verheiratet, glücklich, geliebt und liebend, trat er in ihren verhängnisvollen Bannkreis. Sie aber wußte es durch tausend Künste dahin zu bringen, daß er alles vergaß, was ihm bis dahin heilig gewesen war. Und als sie ihn so weit hatte, opferte sie ihn kaltblütig ihren Zwecken.« Sternbach starrte sekundenlang düster vor sich hin. Dann fuhr er gepreßt fort: »Frau Kiesebrech befand sich damals wieder in Geldverlegenheiten und beschloß, sich daraus durch den heimlichen Verkauf des Kiesebrechschen Familienschmucks zu befreien. Sie benutzte Christens dazu, um durch ihn das Kästchen fortschaffen zu lassen, ohne daß der Ärmste eine Ahnung hatte, was sich darin befand, noch was damit geschehen sollte. Als Kiesebrech den Verlust vorzeitig entdeckte und gleich Verdacht gegen seine Frau faßte, beging diese Frau das unerhörte Verbrechen, einen Diebstahl zu markieren und dreist Christens als Täter zu bezeichnen.«

Heider schrie auf. Entsetzt packte er die immer noch vor Schreck wie gelähmt dastehende Herta am Handgelenk und schüttelte sie.

»Sage, daß es nicht wahr ist, du! Schwöre, daß dieses Entsetzliche nicht wahr ist!«

Da stammelte Herta mit Anstrengung: »Lüge – Lüge!«

Aber ihre Stimme war klanglos, und die Zähne schlugen klirrend aneinander wie im Schüttelfrost.

Sternbach warf ihr einen vernichtenden Blick zu und fuhr mit bebender Stimme fort:

»Christens war mein Freund. Als er erkannte, was die Frau war, die er liebte, hat er sich zu ihren Füßen erschossen und ist mit einem Fluch gegen sie auf den Lippen gestorben. An seiner Leiche habe ich dieser Frau ins Gesicht gesagt, was ich, was jeder anständige Mensch von ihr denken mußte. Denn Christens hatte mir am Abend vor seinem Tod alles erzählt, was zwischen ihm und ihr vorgefallen war. Sie sagt, ich lüge. Ich aber bitte Sie nur noch um ein paar Minuten Geduld, Herr Heider, damit ich Ihnen die Beweise für meine Behauptungen vorlegen kann.«

»Sie haben Beweise?« stammelte Heider verstört.

»Ja. Kiesebrech hat sie gesammelt. Er wollte seine Frau damals einfach fortjagen, ließ sich aber doch von seiner Mutter bestimmen, Schweigen über die Dinge zu breiten. Aber er zwang sie, ein volles Geständnis zu unterschreiben. Unter dieser Bedingung durfte sie bleiben; auch wurde ihr nach seinem Tod eine bestimmte Summe ausbezahlt, vorausgesetzt, daß sie sich der Aufsicht ihrer Schwiegermutter nicht entziehe.

Ein Jahr lang hat sie sich darein gefügt. Dann aber ist sie unter dem Vorgeben abgereist, für kurze Zeit der Einladung Ihrer Mutter hierher zu folgen. Hier habe ich sie wiedergetroffen. Zu welchem Zweck sie hierher fuhr, wurde mir bald nur zu klar. Und da ich merkte, daß das Glück der Frau, die mir teuer geworden war wie eine Schwester, darunter litt, ja, daß es durch diesen Dämon in die Brüche zu gehen drohte, habe ich Ihre Frau gewarnt.«

Heider starrte Sternbach fragend an. Beide hatten nicht bemerkt, daß Herta plötzlich verschwunden war, als Sternbach von Beweisen zu sprechen begann. Sternbach fuhr fort:

»Da die Warnung nicht genügte, offenbar weil Ihre Frau entweder zu vornehm war, um ihr den nötigen Nachdruck zu geben, oder nicht die Macht besaß, Frau Kiesebrech zu entfernen, wollte ich die Sache selbst vorantreiben. Erst persönlich und wenn dies nichts half, durch Sie. Zu diesem Zweck habe ich mir von der alten Frau Kiesebrech jenes Geständnis erbeten, das ich hiermit zur Durchsicht in Ihre Hände lege.«

Heider griff mechanisch nach dem Dokument, das ihm Sternbach reichte.

»Sie haben vorhin gesagt«, begann er stockend, »daß das Glück meiner Frau unter der Anwesenheit dieser Frau gelitten habe. Wie meinten Sie das?«

Sternbach sah ihn betroffen an.

»Sollten Sie es nicht selbst gefühlt haben, Herr Heider?« fragte er nach einer Pause leise. »Eine Frau, die liebt und sich durch eine andere verdrängt fühlt –«

Ein bitteres Auflachen Heiders ließ ihn verstummen.

»Eine Frau, die liebt?« stieß er heftig heraus. »Wozu die Komödie, Herr Sternbach? Wollen Sie mich verhöhnen? Sie, der Sie besser als jeder andere wissen, wen meine Frau liebt? Sie, der Sie mir ihr Herz gestohlen haben?«

»Herr Heider«, sagte Sternbach ernst und bewegt, »ich will ganz offen sein. Ja, es hat eine Zeit gegeben, da ich hoffte. Es hat eine Stunde gegeben, damals, als ich Frau Britta zum erstenmal vor ihrer Feindin warnte, da sie mich fragte: ›Warum sagen Sie mir das?‹ Und ich antwortete: ›Weil ich Sie liebe!‹«

»Und was hat Ihnen Britta geantwortet?« stieß Heider ungestüm heraus.

»Nichts. Sie hat mich nur erschrocken angesehen mit ihren reinen Kinderaugen, und da habe ich gewußt, daß ihr Herz nie einem anderen gehören wird als ihrem Mann. Ich glaube, sie hat dann auch in diesem Sinn gesprochen, aber ich weiß die Worte nicht mehr. Wir sind nie mehr auf diesen Punkt zurückgekommen. Ich wußte nur, daß ich ihr als Freund helfen mußte, die andere zu entfernen. Das ist heute geschehen, und so kann ich wohl in den nächsten Tagen abreisen.«

Heider war so erschüttert, daß er nach Worten rang, aber keinen Laut herausbrachte. Ungeheurer Jubel erfüllte ihm die Brust. Britta liebte ihn! Und Sternbach ging! Alles, was Herta ihm eingeflüstert hatte, war gelogen, erfunden, bloß weil sie selbst gehofft hatte!

Wilder Zorn packte ihn plötzlich gegen diese Frau, an der sein Lebensglück beinahe gescheitert wäre.

Er sah sich nach ihr um. Aber Herta war verschwunden. Sternbach, der es jetzt auch bemerkte und Heiders suchenden Blick verstand, sagte nur:

»Lassen Sie sie laufen! Sie kann hier niemand mehr gefährlich werden.«

Heider preßte ihm die Hand.

»Dank! Dank für alles! Sie haben mir das Leben wiedergegeben. Und verzeihen Sie, was ich …«

Er wollte weitersprechen, aber ein erschreckter Schrei vom Haus her ließ beide bestürzt aufhorchen. Eine Sekunde später sahen sie Frau Gerda in fliegender Eile auf sie zukommen. Totenbleich und schlotternd vor Angst, rief sie schon von weitem:

»Hans, Hans! Zu Hilfe! Sie kommen!«

»Wer?« fragten Heider und Sternbach wie aus einem Mund.

»Die Arbeiter! O Gott, o Gott, sie werden uns ermorden!«

»Aber Mutter, was fällt dir ein? Beruhige dich doch! Das sind doch keine Mörder!«

Sternbach bot ihr den Arm.

»Kommen Sie, gnädige Frau, ich führe Sie in Ihr Zimmer, während Herr Heider mit ihnen redet. Sie werden sehen, daß nichts Schlimmes passiert.«

Sein sicherer Ton beruhigte die alte Dame etwas.

»Aber Sie bleiben bei mir, Herr Sternbach, nicht wahr? Ich fürchte mich so!«

»Ich bleibe, solange Sie es wünschen.«

»Wo ist Britta?« fragte Heider, während alle drei eilig zum Haus zurückgingen.

»Britta?« Frau Gerda wandte scheu den Blick ab und schwieg.

Kaum hatten sie den Wirtschaftshof verlassen, als sich die Stalltür öffnete und Hertas fahles Gesicht spähend herausblickte.

Gottlob, sie waren fort! Nun konnte sie die Flucht ergreifen, denn nicht um die Welt hätte sie sich Heiders verächtlichen Blicken noch einmal aussetzen mögen. Ihr Plan war gefaßt. Im Schuppen stand das Auto, das sie öfter zu Fahrten zu benützen pflegte. Geld trug sie zum Glück bei sich. Also fort zur Station und mit dem nächsten Zug nach Mahrenberg! Ihre Sachen konnte man ihr nachsenden.

Fünf Minuten später brauste sie zum rückwärtigen Hoftor hinaus.

Dumm ist nur, daß ich an der Fabrik vorbei muß! fuhr es ihr durch den Kopf, denn dort treiben sich sicher die streikenden Arbeiter herum. Aber einerlei – ich rase durch, ehe sie noch Zeit haben, mich zu erkennen!

*

Es war eine Abordnung, die nach dem Britta gegebenen Versprechen in friedlicher Absicht gekommen war, um Heider ihren Entschluß mitzuteilen, die Arbeit wiederaufzunehmen.

Sie fanden einen anderen Mann als den, der ihnen bisher so schroff gegenübergestanden hatte. Einen Mann, aus dessen Augen wieder Güte strahlte wie einst, dessen Ton die alte Herzlichkeit hatte.

Ehe sie noch den Zweck ihres Kommens erklären konnten, schüttelte er ihnen die Hände, bot ihnen Platz an und sagte, daß er sich freue, sie hier zu sehen, denn es sei seine Absicht gewesen, sie eben jetzt aufzusuchen, um ihnen zu sagen, daß sie den Streit begraben und wieder Frieden machen wollten. Was sie einander entfremdet hatte, sei ein Mißverständnis gewesen, das gottlob aufgeklärt sei, und es täte ihm leid, daß er sich von seiner Heftigkeit habe hinreißen lassen. Zum Beweis, daß er es ernstlich bedauere, wolle er die Entlassenen nicht nur sofort wieder einstellen, sondern sie auch entschädigen.

Das war mehr, als die Arbeiter erwarteten, die ein so offenes Bekenntnis von dem stolzen Mann nicht für möglich gehalten hätten.

Unter diesen Umständen war der Friede rasch geschlossen.

Heider atmete auf, als er wieder allein war. Nun zu ihr, zu ihr, war sein einziger Gedanke.

Klopfenden Herzens durcheilte er das Haus. Aber Britta war nicht da, weder in ihrem Zimmer noch bei den Kindern oben im blauen Mansardenzimmer. Rosa, die bei Gritli saß und Bilderbücher mit ihr ansah, berichtete, daß Frau Heider vor etwa einer Stunde das Haus verlassen habe. Vorher sei sie zu Gritli gekommen, habe das Kind aufgehoben und leidenschaftlich geküßt. Dabei hatte Rosa bemerkt, daß Tränen in ihren Augen standen, und gehört, wie sie mit halberstickter Stimme murmelte: »Vergiß mich nicht ganz!«

Heider erschrak. Ob denn seine Frau sonst nichts gesagt, keinen Auftrag gegeben, nicht erwähnt hätte, wann sie zurückkommen würde?

»Nein«, lautete die Antwort, »aber«, fügte Rosa verlegen hinzu, »Ihre Frau Mutter wird es ja wohl wissen, denn sie hat zuletzt mit ihr gesprochen.«

»Meine Mutter?«

»Ja. In der Halle. Sie hat sehr laut gesprochen, denn ich habe es bis hier herauf gehört. Es hat geklungen, als wäre sie böse.«

Heider fragte nicht weiter, sondern eilte zu seiner Mutter, von der sich Sternbach eben verabschiedet hatte.

»Was hast du mit Britta gehabt, Mutter?«

Diesmal erschrak Frau Gerda nicht über die Frage. Mut und Selbstgefühl waren ihr zurückgekehrt, als sie vom Fenster aus die Arbeiter hatte abziehen sehen.

»Warum fragst du?« sagte sie trotzig. »Britta ist fort, für immer. Du bist wieder frei, und die Unruhe, die sie ins Haus gebracht hat, ist nun hoffentlich vorbei.«

Er starrte sie an, als habe er nicht recht gehört.

»Sie ist fort? Warum? Wohin?« stammelte er erbleichend.

Frau Gerda zuckte die Schultern.

»Weiß ich, wohin sie gegangen ist? Warum fragst du überhaupt? Gott, sie wollte ja schon lange fort, weil sie so gut wie du fühlt, daß ihr nicht zusammenpaßt und – und sie auch mir nicht paßt als Schwiegertochter. Und da niemand sonst den Mut zu haben scheint, ihr das einmal klar und deutlich zu sagen, so habe ich es eben getan. So konnten die Dinge ja nicht weitergehen.«

Sie verstummte erschrocken vor dem wilden Blick, der ihr aus des Sohnes Augen entgegenfunkelte.

»Mutter, das hast du getan? Du?« stieß er drohend heraus. »Du hast sie fortgetrieben?«

Sie wich unwillkürlich zurück.

»Was hast du, Hans? Es ist doch am besten so, auch für dich! Da du sie doch nicht liebst und unglücklich warst …«

Wieder verstummte sie erschrocken. Heider war dicht an sie herangetreten.

»Weißt du, was du getan hast, Mutter? Mein Glück hast zu zertreten, mir das Liebste geraubt, das ich je im Leben besaß! Denn ich liebe sie! Und wenn eines gehen muß, so bist du es, nicht sie, die du deiner Herrschsucht geopfert hast!«

Ohne sich weiter um sie zu kümmern, verließ er das Zimmer.

Ihr nach, ihr nach, sie suchen, und müßte er bis ans Ende der Welt gehen!

Er hielt sich die Schläfen, in denen ein wildes Brausen war. Wohin konnte sie sich gewendet haben? Zu den Eltern, zu Erkels? Oder – nein, nur das nicht!

Wie Sturmvögel jagten die Gedanken durch sein erregtes Hirn, während er blindlings aus dem Haus stürzte.

*

Britta war von der Fabrik langsam auf verlassenen Seitenwegen weitergegangen. Sie wollte niemanden sehen, niemandem begegnen. Bis zum Abgang des nächsten Zuges hatte sie vier Stunden Zeit. Wie sie hinbringen, ohne in der Gegend aufzufallen, wo sie jeder kannte?

An der Station würde sie sicher Bekannte treffen, die Fragen stellen konnten, deren Beantwortung peinlich wäre. Nein, dorthin wollte sie erst knapp vor Ankunft des Zuges.

Da fiel ihr das Grab ihrer Mutter ein. Dort mußte sie noch Abschied nehmen. Und dort würde sie jetzt auch niemand begegnen.

Sie kehrte also um und ging auf den Friedhof.

Schnee lag auf den Gräbern, aber das Bänkchen, das sie einst dort hatte anbringen lassen, hatte der Totengräber gesäubert, denn er wußte, daß sie es oft benutzte.

Erschöpft ließ sie sich darauf nieder. Sie wollte nicht weinen, nur still Abschied nehmen.

Es war ja nicht nur das Grab der geliebten Toten, sondern auch der Platz, wo in einer Sommernacht das Glück zu ihr gekommen war. Sie hatte es nicht festhalten können. Wie die Blumen, die damals geblüht hatten, war es verwelkt.

Traurig in ihrer Nacktheit ragten die Zweige des Rosenstrauchs, der damals geblüht hatte, als …

Da kamen die Tränen doch! Wild aufschluchzend verbarg sie das Gesicht in den Händen.

Auch damals hatte sie geweint, auch damals sich von aller Welt verlassen gefühlt. Aber was bedeutete der kindliche Schmerz von damals gegen den, den sie heute fühlte!

Sie wußte nicht, daß Viertelstunde um Viertelstunde verging. Sie hörte die Turmuhr nicht schlagen, sah die Nebel nicht, die vor die Sonne zogen und alles in kaltes Grau tauchten. Zeit und Welt waren ihr versunken.

So sah sie auch Hans Heider nicht, der am Gittertor erschien, einen Blick hineinwarf und dann hastig eintrat.

Erst als ein Laut an ihr Ohr drang, halb Stöhnen, halb Jubel, fuhr sie erschrocken empor.

»Britta!«

Fassungslos starrte sie in das blasse Gesicht, auf dessen Stirn Schweißtropfen standen und aus dessen Augen ein Leuchten brach, wie sie es nie zuvor gesehen hatte.

Langsam stieg ihr das Blut in Wangen und Stirn.

»Du hier?« stammelte sie verwirrt.

»Ich suche dich, seit zwei Stunden laufe ich wie verrückt herum, Britta, um dich zu finden! Zuletzt treibt mich der Instinkt hierher, ich dachte an das Grab deiner Mutter, das dir so teuer ist.«

Er schwieg, nicht weniger verwirrt als Britta. Es war doch nicht so leicht, wie er gedacht hatte, ihr alles zu sagen, was er auf dem Herzen trug, oder gar sie einfach an seine Brust zu reißen und mit Zärtlichkeiten zu überschütten.

Ungeschickt wie ein Knabe stand er vor ihr und suchte vergebens nach den rechten Worten. Britta, die seine Verlegenheit mißverstand, faßte sich zuerst. Auch dieser letzte, schwerste Kelch mußte geleert werden; den Abschied von ihm hätte sie so gern vermieden.

»Warum suchst du mich, Hans?« fragte sie leise. »Wäre es nicht besser gewesen für uns beide, mich ruhig gehen zu lassen?«

»Britta, du wärst also wirklich gegangen, ohne ein Wort des Abschieds von mir gegangen?« rief Heider schmerzlich.

»Ich wollte dir keine Umstände mehr machen«, murmelte sie. »Du bist gut und hättest dich vielleicht noch einmal verpflichtet gefühlt, mich zurückzuhalten. Ich aber will nichts, als dich glücklich wissen.«

»Glücklich ohne dich? O Britta, so wenig hast du in meiner Seele gelesen?«

Plötzlich wich alle Befangenheit von ihm. Er schlang die Arme um sie und preßte sie leidenschaftlich an sich, während er in abgerissenen Worten alles herausstammelte, was ihn seit Monaten bedrückt hatte.

Britta lag an seiner Brust. War es ein Traum? Dann nur nicht erwachen, sich nicht rühren!

Innig flüsterte er: »Lebe du für mich und meine Kinder als guter Engel des Hauses! Weine nicht, Britta, ich kann es nicht sehen! Denke daran, daß heute unser Glück beginnt, auf das wir beide so lange warten mußten.«

Da lächelte Britta unter Glückstränen zu ihm auf.

»Und ich? Ich liebte dich ja schon, als du damals an das Grab gekommen bist. Und wenn ich mir auch vorgenommen hatte, tapfer zu sein, so wäre ich doch fern von dir gestorben vor Herzeleid!«

*


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