Ödön von Horváth
Die Unbekannte aus der Seine
Ödön von Horváth

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Zweiter Akt

Es ist inzwischen Nacht geworden, und zwar bereits ziemlich spät. Der Uhrmacher schläft schon längst in seinem Laden, hinten hinaus, und auch in der Blumenhandlung ist alles zu. Still und friedlich scheint das Haus Nummer neun – nur der Student aus dem zweiten Stock rechts befindet sich bei der Gattin des Ingenieurs im dritten Stock links, denn deren Gatte ist zur Zeit beruflich verreist. Er ist weit weg, über dreihundert Kilometer weit, und das Fenster seines Arbeitszimmers ist offen, denn die Nacht ist lind, und der Student spielt nun auf seinem Reisegrammophon einen Tango. Man hört ihn gedämpft bis auf die Gasse herab und nur eine schwache Laterne leuchtet in der Finsternis.

1. Szene

Emil, der Bräutigam, begleitet Ernst aus dem Hause, mit dem er eben Abschied nahm von seiner Junggesellenzeit.

Emil Also das war jetzt mein Polterabend – und du bist der letzte. Es fällt mir direkt schwer, dieser Abschied –

Ernst Fürchte dich nicht, ich folge dir bald. Heiraten ist doch das einzig Menschenmögliche, glaub es mir, ich als Geschäftsreisender kann darüber manches Liedlein singen – immer nur im Restaurant und in harten Hotelbetten, das vertreibt mir die Laune aus dem Gemüt. Den wahren Frieden gibt uns nur eine Frau, denn das Weib repräsentiert die Natur.

Emil Das ist richtig. Und wenn ich bei Lucille bin, dann denk ich mir oft, so jetzt möcht ich nicht mehr sein. Man kann sich auch aus einem Hochgefühl heraus umbringen.

Ernst  lauscht: Wer spielt denn da?

Emil Das ist der Student vom zweiten Stock rechts, der spielt im dritten Stock links bei der Gattin des Ingenieurs –

Ernst Tango.

Emil Der Ingenieur ist nämlich verreist und so betrügt sie ihn halt. Übrigens ein hochanständiger Mensch, dieser Ingenieur.

Ernst Trotzdem wird er betrogen. Man darf eben als Gatte nicht allzu fair sein.

Emil Stimmt.

Ernst Erinnerst du dich noch, als wir zusammen in der Schule waren und wie du es mir nicht hast glauben wollen, wie ich es dir beschrieben habe, wie ein Weib formal aussieht –

Emil Ja, so vergehen die Lebensabschnitte. Ich werde oft zurückdenken an unsere schönen Tage von Aranjuez –

Ernst  sieht auf seine Uhr: Was? Schon dreiviertel zwei?

Emil So spät? Und ich muß doch so früh heraus –

Ernst Und ich versäum noch die letzte Bahn!

Emil Wohnst du noch draußen?

Ernst Immer schon. Also nochmals alles Gute!

Emil Du bist so rührend zu mir – danke, danke!

Ernst Wiedersehen, Emil! Und nur nicht zu fair!

Emil Nein nein! Pa, lieber Freund! Pa! Gerührt ab durch das Haustor.

2. Szene

Ernst geht nun einige Schritte nach rechts, als würde er dort abgehen wollen, hält dann aber, sieht sich um, tritt vorsichtig an die Blumenhandlung und öffnet leise die Tür mit einem Schlüssel, den er von Irene erhalten hat – plötzlich stockt er und blickt fasziniert nach links.

Ernst Jetzt lehnt er an der Wand. Ist er allein? – Ist er das überhaupt – na, wenn schon! Ab in die Blumenhandlung.

3. Szene

Albert kommt mit der Unbekannten langsam von links und der Tango ist aus.

Albert hält: Jetzt wird es aber leider Zeit, schon schlägt die Abschiedsstunde – hättest mich nicht begleiten müssen.

Unbekannte Ich begleite dich gern.

Albert Wir müssen uns trennen. Ich hab noch was zu erledigen.

Unbekannte Hier im Hause?

Albert Wie kommst du darauf?

Unbekannte Nur so. Weil wir halt grad so davorstehen. Unwillkürlich.

Stille.

Albert Ich werde erwartet.

Unbekannte Geschäftlich?

Albert lächelt: Von der Liebe allein kann keiner leben.

Unbekannte Leider – Sie sucht auf der Erde. Oh jetzt hab ich meine Blume verloren – sicher bei der Bank.

Albert Ich werde dir eine neue –

Unbekannte Wann?

Albert Bald.

Unbekannte lächelt: Du, lüg nicht –

Albert Wie heißt du denn eigentlich?

Unbekannte Rat mal!

Albert Irene?

Unbekannte Weit gefehlt!

Albert Sondern?

Unbekannte Ich hab einen seltenen Namen – überhaupt bin ich nämlich sonst nicht gleich so, hörst du mich?

Albert umarmt sie.

Bei dir könnt ich alles vergessen, wer ich bin und was ich bin –

Albert Warum grad bei mir?

Unbekannte Schicksal.

Albert küßt sie.

Oh du, so schön wird es nimmer werden –

Albert Nimmer?

Unbekannte Komm, wärme mich an dir, mir ist so kalt.

Albert  läßt sie zärtlich los: Es wird Zeit.

Unbekannte Wie still so eine Weltstadt sein kann und droben die vielen Sterne. Wir haben eigentlich viel zuviel Sterne, nicht?

Albert Möglich.

Unbekannte So, und jetzt gib mir deine Adresse.

Albert Da – ich schreib sie dir auf. Er tut es.

Unbekannte Wie du da schreibst – Sie fixiert ihn auf einmal. Was bist du denn?

Albert Meinst du beruflich?

Unbekannte Nein. Nur so.

Albert Ich bin ein Mann.

Unbekannte Ein Mann – wie dumm das klingt.

Albert Sei so gut – Er übergibt ihr seine Adresse.

Unbekannte  liest sie: Zweiter Stock?

Albert Stimmt. Aber jetzt mußt du fort, bitte –

Unbekannte Du wohnst doch nicht hier?

Albert Nein.

4. Szene

Jetzt schlagen wieder alle Uhren in der Auslage des Uhrmacherladens. Silberling kommt mit Nicolo. Sie erblicken die Unbekannte und sind peinlich berührt.

Unbekannte Du, ich hab so Angst – ich weiß nicht, seit ich dich kenne, hab ich Angst –

Albert Verzeih, aber du siehst ja, ich werde erwartet.

Silberling  leise zu Albert: Wer ist denn das?

Albert Keine Ahnung – Zur Unbekannten. Gute Nacht.

Unbekannte Wiedersehen – Ab.

5. Szene

Nicolo Wer war denn das?

Albert Wir sind zuvor nur so unwillkürlich ins Gespräch gekommen.

Nicolo Purer Leichtsinn!

Silberling Spricht sich hier mit einem Mädchen – und was hernach, wenn das Kind ein Polizeispitzel ist?

Albert Ihr seht Gespenster bei der hellichten Nacht!

Silberling Ich glaube besonders an solche Gespenster! Man hat schon genügend erlebt, und die Herren Polizisten schrecken vor nichts zurück. Sie verkleiden sich selbst als dein eigener Schutzengel!

Nicolo Geschehen ist geschehen, und keine dichterischen Bilder, bitte! Zu Silberling. Du bleibst da! Zu Albert. Du kommst mit! Den Schlüssel!

Albert Ich habe den Schlüssel. Er sperrt das Haustor lautlos auf und verschwindet im Haus mit Nicolo.

Silberling allein: Wieso dichterische Bilder?

6. Szene

Silberling steht nun Schmiere. Und wieder erscheint die Unbekannte, sie hält und wartet.

Stille.

Silberling Es ist eine linde Nacht.

Unbekannte schweigt.

Sie wünschen?

Unbekannte Wie bitte?

Silberling Was Sie hier wünschen und ob?

Unbekannte Ich warte auf einen Herrn.

Silberling Interessant.

Unbekannte  wehrt ab: Oh –

Stille.

Silberling  immer nervöser: Ich begreife es nicht, wie Sie hier mitten in der Nacht als junges unbescholtenes Mädchen aus bester Familie auf irgendeinen Herrn warten können.

Unbekannte Ich warte auf einen bestimmten Herrn.

Silberling Er wird lange nicht kommen. Er schläft nämlich hier.

Unbekannte Dann warte ich, bis er wieder aufwacht.

Stille.

Silberling  fährt sie plötzlich unterdrückt an: Sie, spielen Sie sich nicht mit mir! Sie, ich bin schon mit anderen Subjekten fertig geworden, Sie gemeines Stück Spitzel, aber dir werden wir das Maul stopfen, Polizeimensch –

Unbekannte Nicht anfassen!

Silberling Schrei nicht, sonst passiert etwas! Er will nach ihr fassen, erstarrt aber entsetzt, denn nun brüllt der Uhrmacher hinten in seinem Laden, wimmert und verstummt.

7. Szene

Albert und Nicolo verlassen rasch das Haustor.

Nicolo Weg! – Wer steht denn da?

Silberling  deutet auf Albert: Dem sein blödes Luder da! Was denn los?

Nicolo Später! Ich nicht!

Albert Ich. Er ist aufgewacht –

Nicolo Kusch! Siehst du denn nicht deinen Schutzengel?! Er deutet auf die Unbekannte. Ich geh! Rasch ab.

Silberling Ich komm! Folgt ihm.

Albert  stiert die Unbekannte an: Bist noch da?

Unbekannte Ich hatte so Angst –

Albert unterdrückt: Weg!

Unbekannte  schreit ihn plötzlich entsetzt an: Was hast du getan?

Albert Nichts! Ab.

8. Szene

Das Haustor ist offen, und die Unbekannte sieht Albert nach.

Hausmeisterin brüllt im Hausgang: Hilfe! Hilfe! Sie erscheint im Haustor. Polizei! Polizei! Oh du heiliger Antonius von Padua!

Stimme des Studenten vom zweiten Stock rechts  nun vom dritten Stock links: Was soll das Gebrüll?!

Hausmeisterin verzweifelt: Es ist was passiert –

Stimme Emils  vom dritten Stock rechts: Wie bitte?!

Stimme des Studenten Was ist denn passiert?!

Hausmeisterin Mord –

Stimme Emils Mord?!

Stimme der Gattin des Ingenieurs aus dem dritten Stock links Jesus Christus!!

Hausmeisterin  kreischt wieder: Polizei! Polizei!

9. Szene

Das Haus wird lebendig, und in der Blumenhandlung wird es licht. Klara, die Hausmeisterstochter, kommt.

Klara So schrei doch nicht wie auf dem Spieß, Mama – vielleicht ist es ja gar kein Mord, er hat zwar eine klaffende Schädelwunde.

Hausmeisterin Hast du dir das so genau ansehen können?

Klara Warum denn nicht –

Hausmeisterin Ich könnt das nicht –

Klara Werd mir nur nicht wieder hysterisch, du – vielleicht lebt er noch, ich glaube zwar nicht. Das viele Blut.

Hausmeisterin Du hast kein Herz.

Klara Ich bin deine Tochter, Mama.

Hausmeisterin Jetzt versteh ich erst den Herrn Studenten, daß er dich hat sitzen lassen –

Klara Fangst schon wieder an – Sie kneift sie in den Arm.

Hausmeisterin Au! Du Ungeheuer – zwickst deine eigene Mutter? Wirst sie auch noch erschlagen, was? Wie den da drinnen?!

10. Szene

Ein Polizist kommt rasch herbei.

Polizist Was ist denn das hier für ein Geschrei mitten in der Nacht? Ist denn was los, was ist denn los?

Hausmeisterin Oh wie gut, daß Sie da sind, lieber Herr Kommissar – da wird man noch gezwickt – Sie weint.

Polizist Gezwickt?

Klara Meine Mutter ist zu aufgeregt. Sie hat es nämlich mit dem Herzen. Es ist ein Verbrechen bei uns im Haus passiert.

Hausmeisterin weinerlich: Den guten Herrn Uhrmacher haben sie erschlagen, Herr Kommissar, er hat gebrüllt und jetzt liegt er da drinnen in seinem Blute –

Klara Mit einer klaffenden Schädelwunde.

Polizist Klaffend? Sofort! Wo ist das Telephon? Rasch ab ins Haus.

Emil  ist im Nachthemd und Mantel im Haustor erschienen; ruft dem Polizisten nach: In der Blumenhandlung!

11. Szene

Ernst  erscheint in Unterhosen und kurzem Überzieher in der Türe der Blumenhandlung; zur Unbekannten, die ihm am nächsten steht: Was ist denn passiert?

Unbekannte Ich weiß es nicht genau. Anscheinend hat man einen Menschen umgebracht.

Ernst Umgebracht? Er faßt sich ans Herz.

Unbekannte Anscheinend den Herrn Inhaber jener Uhren dort – aber vielleicht lebt er noch, oder es war vielleicht auch nur ein Selbstmord oder dergleichen.

12. Szene

Inzwischen haben sich bereits Passanten angesammelt, und alarmierte Hausbewohner in Unterwäsche und Mänteln, unter ihnen auch der Student vom zweiten Stock rechts und die Gattin des Ingenieurs vom dritten Stock links.

Emil  zu Klara: Also ein Verbrechen wider die Person? Was bedeutet denn das, wenn einem am Polterabend ein Mord zustößt?

Klara  beobachtet gehässig die Gattin des Ingenieurs: Tote bringen Glück.

Emil Unberufen!

13. Szene

Der Student  zur Gattin des Ingenieurs: So ist das Leben. Neben dem Glück das Unglück, und zwar unter einem Dach. Während ich selig war bei dir, wird ein Mensch ausgelöscht.

Die Gattin Sprich bitte nicht mit mir. Das Frauenzimmer läßt uns nicht aus den Augen.

Student Wer? Klara?

Die Gattin Ja. Und dann gibt es wieder anonyme Briefe.

Student Oh wie wird doch alles in den Dreck gezogen, das Höchste und das Reinste –

Die Gattin Ich bitte dich, nimm Rücksicht auf mich.

14. Szene

Emil  erblickt Ernst und betrachtet erstaunt seine Unterhosen: Wo kommst denn du her? Ich dachte, du wohnst noch draußen –

Ernst So frag doch nicht so indiskret.

Emil Oh pardon! Es ist ja auch das einzig Wahre – durch und durch muß man sich, bevor man an den Altar tritt, kennen. Ich und Lucille haben es ja ebenso gemacht und vielleicht sind diese halbheimlichen Stunden die schönsten Stunden unseres Daseins.

15. Szene

Polizist  erscheint wieder im Haustor: Hausmeisterin!

Hausmeisterin  schrickt zusammen: Hier bin ich!

Polizist Niemand darf da hinein, verstanden? Zweifellos Raubmord. Mir scheint, der Täter muß sich mit der Örtlichkeit genau ausgekannt haben. Es ist das eine ganz ähnliche Situation wie seinerzeit der Fall Haluschka, der wo seine Ehehälfte zerstückelt hat –

Hausmeisterin Maria Josef! Ist er denn zerstückelt?!

Polizist Wer denn?

Hausmeisterin Der Herr Uhrmacher, Maria Josef!

Polizist Aber keine Spur! Wie kommens denn auf so eine perverse Idee? Wo ist das Telephon?

Emil In der Blumenhandlung.

16. Szene

Der Polizist eilt in die Blumenhandlung, an Irene vorbei, die soeben, nur flüchtig bekleidet, in der Türe erscheint.

Irene Ernst!

Ernst  auf sie zu: Erschrick nicht, Maus – etwas Entsetzliches. Eine Gewalttat.

Irene Um Gottes willen!

Ernst Der arme alte Uhrmacher, dieser Sonderling, liegt hinten drinnen in seinem Blute. Zweifellos Raubmord. Und der Mörder muß sich hier ausgekannt haben. Genau.

Stille.

Irene Ernst!

Ernst Bitte?

Irene Nein, was denkst du jetzt – du?

Ernst Deine Gedanken.

Stille.

Irene Weck mich auf!

Ernst Der ist kein Traum. Als ich vorhin zu dir kam, lungerte der hier herum. Ich hab ihn gesehen.

Irene Ist nicht wahr!

Ernst Ich hab ihn erkannt. Mit diesen meinen Augen.

Irene Könntest du das beschwören? Bei deinem Augenlicht?

Stille.

Ernst faßt sich ans Herz: Ich bin kein Mensch ohne Verantwortungsgefühl. Aber es sah genau so aus –

Irene Möchtest es, daß es so aussieht?

Ernst Was soll das? Du, mach mich nicht unsicher, denn dann kenne ich mich nicht mehr aus. Und morgen in aller Frühe kommt die Brosch zurück, diese Brosch aus Venedig!

Irene Meine Brosch?

Ernst Seine!

Irene Nein! Nie!

Ernst Doch.

Irene Ich will es nicht, hörst du? Ich will es nicht.

17. Szene

Polizist  erscheint wieder in der Türe der Blumenhandlung: Also ein so miserables Telephon hab ich in meinem Leben noch nicht gesehen! Gleich kommt die Mordkommission, in nullkommanull. Hausmeisterin! Keiner betritt das Haus, und Sie tragen mir dafür die Verantwortung!

Hausmeisterin Verantwortung? Das halt ich nicht aus.

Klara So mach uns doch nicht lächerlich! Zum Polizisten. Wird besorgt, mein Herr!

Die Gattin des Ingenieurs Also dann warten wir auf die Kommission.

Ernst  zu Irene mit Nachdruck: Auf die Mordkommission.

Irene nickt: Ich warte.

Alle warten. Tiefe Stille.

18. Szene

Nun nähert sich Theodor, der Leidtragende. Er ist ziemlich alkoholisiert und man hört ihn schon aus der Ferne singen: »Es war einmal ein Musikus, der spielte im Café, und alle die kleinen Mädchen setzten sich in seine Näh.«

Die Gattin des Ingenieurs summt unwillkürlich etwas mit.

Theodor  erscheint und erblickt die vielen Leute: Na, was gibts denn da? Eine verbotene Versammlung oder wartet ihr hier alle auf die Untergrundbahn, he? Aber ihr habt die letzte schon versäumt – und außerdem ist hier keine Haltestelle, hier könnt ihr weder auf- noch absteigen, höchstens aufspringen, aber das kostet manchmal den Kopf, manchmal das Leben –

Polizist Machen Sie keine albernen Witze, ja?

Theodor Wieso Witze! Grad heute hat man meinen Vetter verbrannt, das ist doch kein Witz! Meinen besten Vetter, der ist auf die fahrende Untergrundbahn aufgesprungen und wurde zerquetscht – armer Kerl, war doch so ein talentierter Cellist! Zum Himmel empor. Prost Gustav! Sollst leben!

Polizist Jetzt schaun Sie aber, daß Sie ins Bett kommen!

Theodor Ich hab kein Bett. Ich hab ein Schlafsofa. Wieviel seid ihr denn da überhaupt? Er zählt die Leute unsicher.

Polizist  zu den Umstehenden: Der Bursche gehört natürlich längst auf die Wache – lautes Singen, nächtliche Ruhestörung, grober Unfug. Aber ich habe hier Wichtigeres zu tun.

Theodor Wichtigeres? Gibts nicht.

Sirene. Ein Scheinwerfer leuchtet die Hausfront ab. – Sirene und Scheinwerfer, beides sind Requisiten des Autos der Mordkommission, das in nullkommanull eingetroffen ist und gegenüber dem Haus Nr. 9, unsichtbar für die Zuschauer, parkt.

19. Szene

Die Mordkommission betritt nun den Plan – es sind mehrere Herren mit Koffern und allerhand Zeug, darunter auch ein Gerichtsphotograph. Einer ist in Zylinder und Frack, er ist auffallend weiß gepudert und trägt ein Monokel, denn er wurde gerade aus der Mitte eines Banketts, auf dem man das Jubiläum der Daktyloskopie feierte, zu diesem Mordfall abberufen. – Rasch betreten die Herren das Haus, nur der im Frack wechselt vorher noch einige Worte mit dem Polizisten, dann verschwindet natürlich auch er.

Polizist salutiert: Sofort! Er wendet sich an die Leute. Also weitergehen, bitte, weitergehen! Nur keinen Auflauf! Zu Theodor. Und Sie gehen erst recht weiter, bitt ich mir aus!

Theodor Jetzt bleib ich erst recht da! Gesetzlich kann ich überall stehen, so lang ich will, auch in der Nacht! Sogar im Herbst!

Einzelne kichern.

Polizist Also werdens mir nur nicht frech, ja?!

Theodor Ich bin ein Staatsbürger und darf stehen!

Polizist Wenn aber ein jeder Staatsbürger grad auf demselben Fleck steht, dann gibt es einen Auflauf und ein Auflauf ist verboten! Gehns seiens nicht renitent und schlafens Ihren Rausch aus, was habens denn hier schon verloren, so interessant ist doch das wirklich nicht, was hier passiert ist!

Theodor Das überlassens nur mir, Herr General! Oder meinen Sie gar, ich kenn das Vehikel von der Mordkommission nicht?

Polizist Gut, es ist jemand ermordet worden, das lesen Sie täglich in der Zeitung.

Theodor Aber ich les keine Zeitung, sondern nur Zeitschriften!

Viele lachen.

Polizist Ich verstehe nicht, was daran komisch sein soll. Der Herr liest nur Zeitschriften und derweil ist ein Verbrechen verbrochen worden.

Emil Ein Verbrechen wider die Person.

Theodor Wider welche Person?

Polizist Aber das ist doch nur eine kriminalistische Bezeichnung!

Theodor Aber wider welche Person bitte? Namen nennen!

Polizist Es ist zum Verzweifeln – Er brüllt. Weitergehen!

Klara  zu Theodor: Sie haben den Uhrmacher erschlagen. Den da drinnen.

Theodor So, den Uhrmacher da? Na, um den ist nicht schad. Gute Nacht, meine Herrschaften! Ab.

Hausmeisterin Nein so eine Roheit – so wegwerfend über einen Toten zu reden, wo doch der gute Herr Uhrmacher ein so ein seelenguter Mann war –

Polizist Weitergehen! Weitergehen!

20. Szene

Während nun alle, außer dem Polizisten, Ernst, Irene und der Unbekannten, langsam den Platz räumen, betet die Hausmeisterin um Schutz vor bösen Geistern.

Hausmeisterin Du lieber Gott, ich bete jetzt für eine arme Seele – vierunddreißig Jahre hat er hier gewohnt, und heut ists mir, als wär das erst gestern gewesen – aber dann hat er mich dreckig behandelt, er war halt sehr einsam, und ich hab oft gewünscht, daß ihn der Teufel holt. Geh lieber Teufel, sei mir nicht bös und verzeih mir meine Sünden – und du, du bleib im Himmel, du Uhrmacher, und steh nicht wieder auf der Kellerstiegen, wenn ich Holz hol oder Kohlen. Sie bekreuzigt sich und verschwindet im Hause.

21. Szene

Polizist  zu Ernst und Irene: Weitergehen bitte!

Ernst Aber wir wohnen ja hier im Hause.

Polizist Das ist allerdings zweierlei. Wenn Sie im Mordhaus selbst zu Haus sind – Er betrachtet interessiert Irenens mangelhafte Kleidung. Pardon! Er wendet sich der Unbekannten zu. Wohnen Sie etwa auch hier?

Unbekannte Nein. Ich bin hier nur so vorbei. Durch Zufall.

Polizist Dann gehens nur weiter mit Ihrem Zufall!

Unbekannte Aber ich bin doch allein und kein Auflauf – Sie lächelt etwas gewollt.

Polizist  grinst mild: Ganz allein? Er deutet auf ihre Rose. So ein rosiges Kind in der Nacht?

Unbekannte Ich hab schon gedacht, daß ich diese Blume verloren habe – aber dann hat sie sich wieder gefunden. Überraschend.

22. Szene

Ernst  zu Irene: So komm doch, Maus – es gibt Menschen, deren Pfade überraschend vorherbestimmt sind und die Welt ist immer wieder schlecht.

Irene Aber die Brosche gib ich ihm nicht zurück. Nein.

Ernst Werden sehen.

Irene Nie. Hörst du?

Ernst So komm doch – heut werden wir da so kein Resultat mehr erfahren, höchstens, daß wir uns noch erkälten. In meinen Armen wirst du die düsteren Bilder vergessen.

Irene Du bist so kalt.

Ernst Nur Mut, Maus! Er geleitet sie in die Blumenhandlung und dann erlischt drinnen das Licht.

23. Szene

Der Polizist ist nun allein mit der Unbekannten. Er hatte sich mit ihr freundschaftlich-väterlich unterhalten.

Polizist So, Sie waren also eine der ersten Passantinnen hier am Tatort? Und Sie können nichts aussagen – ich meine, ob Sie nicht etwas daherschleichen haben sehen, vielleicht mehrere Personen oder auch nur einen, klein, groß oder mittel?

Unbekannte Nein. Ich habe nichts Verdächtiges gesehen.

Polizist Und Sie werden erst zwanzig Jahre?

Unbekannte  nickt ja: Im Juni.

Polizist Am wievielten?

Unbekannte Am zweiten.

Polizist Und ich am dritten. Komisch! Aber ich werd gerade doppelt so alt und noch etwas darüber – ja, das Arbeitfinden ist nicht so einfach, besonders wenn man so ganz fremd kommt. Gehens mir nur nicht zuviel so in der Nacht allein herum, das endet immer trist.

Unbekannte Heut hat das einen bestimmten Grund – es ist mir, als müßt ich heut auf etwas warten.

Polizist So beginnts!

Unbekannte Oh Sie denken falsch von mir.

Polizist Ist er wenigstens fesch?

Unbekannte Wer?

Polizist Na der, auf den Sie hier warten.

Unbekannte lächelnd: Mir gefällt er. Zu mir war er freundlich und dann hatte er so ein Licht im Gesicht.

Polizist Licht?

Unbekannte Ja. Aber es war weder die Sonne noch der Mond.

Polizist deutet auf seiner Stirn an, daß er sie für närrisch hält.

Ja, und dann hat er etwas getan, aber das spielt für mich keine Rolle – nein, es ist ja gar nichts geschehen, denn ich hab ihn getroffen, auf den ich gewartet habe, und es ist nichts geschehen, nie und nirgends.

Polizist Sagens mal: schreiben Sie manchmal Gedichte?

Unbekannte Wenn Sie wüßten – Sie lacht ihn glücklich an.

Polizist Na, was soll ich denn schon wissen? Er will sie tätscheln.

Unbekannte  weicht ihm aus: Wer er ist. Wenn Sie das wüßten! Aber ich sag es nicht.

Polizist  etwas verstimmt, weil sie sich nicht hat tätscheln lassen: Ein Maharadscha vielleicht?

Unbekannte Oh nein. Na, raten Sie nur weiter!

Polizist Es fällt mir sonst nichts ein.

Unbekannte Soll ich es Ihnen verraten?

Polizist Es interessiert mich nicht.

Unbekannte Vielleicht doch.

Polizist Irrtum. Großer Irrtum!

Unbekannte Oh ich treff ihn wieder!

Polizist Ist er denn verschwunden? Soll vorkommen.

Unbekannte Er kommt wieder. Ich weiß es. Ich hab da nämlich etwas zu erledigen. Sicher.

Polizist Das klingt alles hübsch mystisch.

Unbekannte Und ist doch ganz einfach.

24. Szene

Nun verläßt die Mordkommission wieder das Haus – die Herrschaften unterhalten sich angeregt.

Der Herr im Frack sieht auf seine Uhr: Was? Schon so früh? Rasch rasch zurück zum Bankett, das Jubiläum der Daktyloskopie –

Der Arzt  unterbricht ihn: Moment! Wie gesagt, auf mein medizinisches Ehrenwort, das glaub ich niemals! Es ist doch eine unvorstellbare Vorstellung, meine Herren, was Sie in diesem Falle da für unverantwortliche Ansichten vertreten! Wie kann man denn nur allen Ernstes behaupten, daß das Pilsner beim Schwarz besser ist als das beim Blau! Absurd!

Der Kommissar Und doch ist es so, Herr Doktor! Das Bier ist dort liebevoller gepflegt, nicht zu vergessen die Würstchen –

Der Herr im Frack Also los los, meine Herren!

Der Gerichtsphotograph Die besten Würschtel hab ich mal in Lemberg gegessen – Ab mit der ganzen Mordkommission und auch der Polizist schließt sich ihr an.

25. Szene

Die Unbekannte bleibt allein zurück und nun schlagen wieder alle Uhren in der Auslage des Uhrmacherladens.

Die Unbekannte Nein, es ist nichts geschehen – so komm doch wieder, du, komm –

Dunkel.


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