Hans Hopfen
Die Geschichten des Majors
Hans Hopfen

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Flinserls Glück und Ende.

Das war ein Hund! sagte der Major und zuckte mit dem Schnauzbart, wie wenn ein wehmüthig Bild sein Erinnern bewegte.

Ich werde nimmer seines Gleichen sehn! Aber wie merkwürdig, daß Sie sich des guten kleinen Viehs noch erinnern!

Ein Rattler? Nicht doch, ein kleiner stachelhaariger Pintscher war es. So recht das Urbild dessen, was man einen Stallpintscher zu nennen pflegt. »Schmalz-Pintscher!« nannten ihn die Gassenjungen, die ihn von früher her kannten. Sein erster Herr war nämlich ein Schmalzhändler gewesen. Erinnern Sie sich noch eines winzigen Lädchens, gegenüber dem »weißen Hofbräuhause«, wo Butter und Käse feil geboten wurde? Da pflegte er im Schaufenster zwischen allerhand gelben Laiben zu liegen. Und daher hatte er seinen Unnamen bei den Leuten, die ihn aus der ersten Periode seiner Existenz kannten, aus der bürgerlichen. Wir hatten damals noch unsere geselligen Abende 240 – Sie erinnern sich – im ersten Stock des »weißen Bräuhauses«. Auf dem Wege dahin oft genug über's »Platzl« (jetzt heißt es an der Straßenecke unbegreiflicherweise »Plätzchen«) kommend, sah ich den Hund und fand, daß er in seiner Art sehr hübsch war und daß so ein Hund nicht zwischen Butter und Käse in ein Schaufenster gehörte. Mit dem Eigenthümer, der dem lustigen Thierchen selbst eine bessere Zukunft gönnte, ward ich bald einig und so kam Flinserl zum Militär.

»Flinserl« war sein wirklicher Name. Sie wissen, Flinserl das will so viel sagen, wie so ein klein rund Stückchen Flittergold, wie es sich Gaukler und Kunstreiter gern an die Kleider nähen.

Rund und heiter war auch er; aber von der Falschheit hatte er seinen Namen nicht. Flinserl war ächt, treu und ächt, wie ein braver Hund sein soll, treu bis in den Tod.

Sie meinten, er lebte noch?! Ach nein. Seinen Jahren nach möcht' er wohl noch leben. Er ging dahin, so wie man sagt, im schönsten Hundealter. Er starb wie ein Held in Feindesland, beinahe hätt' ich gesagt, auf dem Felde der Ehre, wenn auch in einer Privatangelegenheit seines Herrn.

Wer weiß, was sonst geschehen wäre! –

Sie meinen, ich soll Flinserls Geschichte erzählen? . . . Und warum nicht! Es ist die Geschichte einer ehrbaren Creatur. La voilà!

Ja, ja! Ganz ohne französisch geht's dabei nicht ab. Doch das kommt später! –

Vorerst will ich sagen, daß sich Schmalz-Pintscherl ohne 241 Müh' und Umstände in einen ganz ordonnanzmäßigen Compagniehund verwandeln ließ, der sich proper und fürnehm hielt und uns allen viel Spaß machte. In der Caserne war er, ohne mehr Aufhebens von sich hören zu lassen, als sich für ihn schickte, stets hinter meinen Stiefelhacken drein; er schlief des Nachts zu meinen Füßen im Bett, ohne zu schnarchen; bezog ich die Wache, so kam er alsbald mit dem Caspar, meinem Burschen, nach, sprang sofort auf's Fensterbrett und ließ sich dort, so lange der Tag währte, wie einst in des Kleinkrämers Bude zwischen allerhand Fettwaaren, so nun im Erdgeschoß des Residenzschlosses, auf rothem Kissen, zwischen Topfgewächsen und Raupenhelmen, von jedem Vorüberwandelnden bewundern. Wohin ich ging, Flinserl kam mit. Ging ich in's Theater, in Visiten oder sonst wohin, wo der Vierfüßler schlechterdings nicht am Platz gewesen wäre, so ließ ich ihn vor der Thüre und dort wartete er unerschütterlich und standhaft, bis er mich wiedersah, gleich einer Schildwache bis zur Ablösung. Ich erinnere mich, daß ich einmal in einer kalten Winternacht, eine Dame nach Hause begleitend, bei einer andern Thüre das Opernhaus verließ, als ich es betreten hatte. Ich weiß nicht mehr, war die Oper oder die Dame daran schuld, aber ich dachte den ganzen Abend mit keinem Gedanken mehr an den Hund, bis ich spät nach Mitternacht aus dem »weißen Bräuhaus« heimkehrend über den Opernplatz kam und unversehens mein Flinserl pflichtschuldig und unentwegt, wenn schon vor Frost auf allen vier Beinen zitternd, auf seinem vergessenen Posten sitzend fand.

Eine einzige Unart bereitete mir manchmal 242 Verlegenheit. Flinserl hatte die Gewohnheit, wo irgend etwas an der Erde sich klirrend oder raschelnd hinbewegte, mit allerhand Wauwau und putzigen Sprüngen dahinter her zu sein und sein Mißfallen an solch überflüssigem Geräusch geräuschvoll kund zu thun. Das gab ihm auf die Nerven, wie der Franzose sagt. Ich konnte seinen Geschmack nicht mißbilligen, aber ich durfte die Aeußerungen desselben nicht dulden.

Wahrscheinlich hatten in seiner frühen Jugend die Rangen des Schmalzhändlers ihn auf ähnliche Weise über Gebühr geneckt . . . mit Tüchern, die sie wedelnd auf dem Estrich, um den Hund zu reizen, hin- und herbewegten, mit dem Schlüsselbund, an einen Bindfaden gehängt, mit dem Schwanz eines Papierdrachen, wer kann's wissen. Kurzum, Flinserl war ordentlich drauf eingeschossen, wie etwas an der Erde raschelte, wuptig! dahinter her zu sein und, so artig und bescheiden er sich sonst zu benehmen pflegte, nicht nur zu bellen, sondern, wenn thunlich, auch zu beißen.

Nun denke man sich den langen Kasernengang und den grobschnäuzigen Oberstinhaber, der den Pallasch lang hängen läßt und klipp klapp mit der Metallscheide auf jeder Quaderfuge des Pflasters aufschlägt und über jede Fließe wie mit einem Stift über eine Schiefertafel fegt, und Flinserl dahinter her wie ein Wahnsinniger, sich überkeifend, überpurzelnd und die einfältigen Versuche, die klappernde Metallscheide mit seinen Zähnen anzufassen, mit unangenehmen Empfindungen bezahlend, denen er gleichfalls lauten Ausdruck giebt. 243

Der Oberst fluchend und nach zwölf Schritten ungeduldig stehen bleibend: »Wem gehört die Malefizbestie?«

Schweigen ringsum. Ein Spornstoß, der glücklicherweise noch halbwegs fehl geht, aber das Köterchen fliegt doch heulend an die Wand. Da hascht ihn, der sich so was nicht gefallen lassen will, gerade noch ein Mann von der Wand weg, nicht viel anders, wie man eine Fliege fängt, nur mit zwei Händen.

Derweilen ist man nachgesprungen aus irgend einem Kasernenfleck und meldet sich in schönster Positur, um Entschuldigung zu bitten.

Na, die Nase könnt Ihr Euch denken!

Einen jüngeren Cameraden, den jüngsten Lieutenant etwa, dem schon der Pallasch das allerhöchste Rasselvergnügen gewährt, der aber den Pintscher des Hauptmanns nicht so kurzweg mit dem Stiefelabsatz an die Wand werfen kann, um Entschuldigung bitten zu müssen, ist womöglich noch fataler.

Man kann doch den Herren nicht sagen: »Laßt doch das renommistische Geklapper Studenten und solchen Leuten, die sich alle Quatember einmal einen Säbel umschnallen dürfen, und tretet Euer Pflaster ohne diese Blechmusik. Das Vieh hat ganz recht!« Man käme dumm an. »Wer's lang hat, läßt's lang hängen,« sagt das Sprüchwort.

Und so blieb mir denn schlechterdings nichts anderes übrig, als ganz gegen Geschmack und Gewohnheit selber den Säbel lang hängen zu lassen und also nach und nach dem gelehrigen Flinserl die Ueberzeugung beizubringen, daß dies Klappern zum Handwerk gehöre und in unserem Stande mit zügelloser Nervosität nichts auszurichten sei. 244

Er begriff's. Nicht ohne Schmerzen freilich. Vor die Tugend haben die Götter den Schweiß gesetzt . . . und oft auch Hiebe.

Hinter klappernden Säbelscheiden war er nun nicht mehr her. Aber einer Dame Schleppe zerriß er einmal. Glücklicherweise war sie zu bezahlen . . . die Schleppe. Einen Triangel, so lang, riß er daraus und auf offenem Pflaster; natürlich ging's wieder nicht ohne harte Lehren ab. Ich begann eine eigene Dressur mit rasselnden und schleifenden Gegenständen und übte mit Flinserl im Zimmer und auf dem Kasernenhof nach besten Kräften. Der Erfolg blieb unvollkommen. Ich konnte mich ihm nicht ganz verständlich machen. Aber er gerieth mit Damenschleppen wenig in Berührung und so hatte seine Begriffsstützigkeit weiter keine schlimmen Folgen für den armen Hund.

Und kurz und gut: ich hatte aus wailand Schmalz-Pintscher einen ganz artigen und civilisirten Hund gemacht, als der Krieg ausbrach, und nun allgemach nicht nur für das biedere Flinserl, sondern auch für seinen eleganten Meister eine Periode der Verwilderung anhub, von der sich weder Hund noch Herr im vorigen Zustande viel hatten träumen lassen.

Der Befehl zum Ausmarsch kam uns so rasch und gewaltig über den Hals, daß ich gar nicht Zeit fand, mir's zu überlegen, wem in der Heimath ich das Flinserl zum Andenken schenken oder zum Aufbewahren übergeben möchte.

»Ach, Herr Hauptmann, nehmen m'r's Viecherl nur mit. Was schadt's, wenn es auch ein'n Franzosen siecht!« sagte mein Bursch bittend, da wir einander über die zu 245 spät beachtete Frage unterhielten. »Die Zuaven haben ja ihre Katzen auch auf'm Tornister sitzen; warum soll Unsereins nicht seinen deutschen Hund mitnehmen?«

»Meinetwegen!« sagt' ich, ohne mir viel zu denken, und wie wir auf dem Bahnhof einwaggonnirt werden, sitzt das Flinserl schon vor mir im Offizierscoupé. Benahm sich ganz anständig auf der Fahrt. Ich habe mich in den Wochen begreiflicherweise um den Hund nicht gekümmert, aber Casper, der Bursch, der einen Narren dran gefressen hatte, selber ein Narr war und in einem fort an Heimweh und Langweile litt, wahrscheinlich um so mehr.

Ich erinnere mich aus jenen Tagen der Begeisterung und Erwartung nicht, was mit dem Thierchen etwa geschehen oder nicht geschehen sein mag. Aber das kann ich nicht vergessen, wie wir am Tag von Weißenburg vor dem Gaisberg liegen, und ich in jener Frühmorgenstimmung, die Ihr Alle kennt, vor der Compagniefront stehe, mit dem und jenem noch ein Wort wechsle, auch in die Mannschaft noch freundlich aufmunternden Zuruf werfe und zum so und sovielten Mal die Tambours betrachte, da ist das Flinserl auch neben mir, sitzt auf den Hinterbacken, sieht mich liebevoll an und wedelt.

Was weiß so ein Vieh, wie einem zu Muth ist; ich konnte mich aber nicht ärgern, daß es jetzt da war und mich aus seiner zottigen Frisur heraus mit funkelnden Aeugelein so treuherzig und heimatlich anglotzte.

Ich hatte wohl gesehen, wie ein Adjutant kurz vorher angesaust war. Allein es war heute der erste nicht, der gekommen und gegangen, und wir standen noch immer am selben Fleck. 246

Ich nickte noch dem Hunde zu und schnalzte dabei mit der Zunge, daß er auf den Hinterfüßen zu tanzen begann, da ich erst merkte, daß der Major in eigener Person an mich herangeritten war.

Ich sah rasch in die Höhe und begegnete seinen ernsten guten Augen.

»Greifen Sie an, Herr Hauptmann!« sprach er sanft und sachgemäß ruhig. Lieben Freunde, wir sind keine furchtsamen Leute, kennen einander gut und wissen, was wir werth sind. Aber wir unter uns dürfen gestehen: wenn man's zum ersten Male hört, dieses freundlich sachgemäße kurze Wort: »Herr Hauptmann, greifen Sie an!« und wenn man sein Lebtag diesen glorreichen Moment ersehnt und erbeten hat, sehr angenehm klingt's gerade nicht. Unangenehm, will ich auch nicht sagen. Aber es ist so, wie wenn einem im Innern ein Fiberchen risse, daran etwas zögernd gebaumelt, eine letzte Hoffnung, ein falscher Entschluß, ein dummer Gedanke. Was weiß ich. Aber es ist ein merkwürdiger Augenblick: Herr Hauptmann, greifen Sie an! So wie man sagt: bitte, Sie haben die Vorhand, spielen Sie gefälligst aus!

Man braucht sich nicht erst auf Pflicht und Ehre zu besinnen – das versteht sich; aber man ist ein Mensch und macht sich seine Gedanken. Gedanken in einem Hui; dann sind sie weg und man »greift schon an«, d. h. man setzt sich vorwärts in Bewegung.

Ich sehe den schönen Sommertag noch vor mir, den Weg auf dem Plan unter den Bäumen, von einem zum andern, und dann den freigelegten Berg, eine lange haarsträubende Linie, die richtige rasante Flugbahn, daß man 247 sich selber wie ein wandelnder Kugelfang vorkam. Eine schöne Gegend, in die wir an jenem ersten Tag geführt wurden.

Na, es war weder meine Schuld noch mein Verdienst und, Gott sei gepriesen, der Weg führte zum Siege.

Ich hielt die Leute flott bei guter Stimmung. Und unsere Burschen gingen drauf, daß es eine Freude war. Ihr wißt's ja.

Im Anfang war's ein Scherz und Gelächter. Nicht immer ohne Ueberwindung vielleicht, aber kein Mißton dazwischen. Und immer vorwärts. Aus dem schnelleren Schritt wird ein mäßiges Laufen. Es wird stiller, aber nicht still unter den ausschwärmenden Leuten. Von der andern Seite dröhnt's weither. Und nun auch von dort. Rechts knackt ein Ast und links drüben fällt ein Zweig. Die Pappeln rascheln und ächzen. Die Feinde schießen zu hoch bis jetzt. Hier ein Witz und dort ein Hohnruf. Und nun furchen sich hier und dort kleine Linien im Sande. Der Staub dampft ein wenig. Die Leute lachen. Jetzt schießen sie zu tief. Und wieder knackt's in den Aesten. Da sagt einer neben mir was, ein anderer lacht darüber, ein dritter und ein vierter jodeln. Alles guten Muths. Hurrah!

Da auf einmal schreit einer: »Jesus, Maria 'nd Joseph!« wirft's Gewehr weg, haut mit ausgebreiteten Armen lang hin, greift mit den zehn Fingern in Gras und Sand. Stöhnt, schreit auf, krümmt sich – und da liegt er: der erste Todte!

Armer Kerl, was hilft's. Vorwärts, vorwärts! Nicht still halten! 248

Aber Flinserl versteht das nicht. Seinem ordonnanzmäßigen Sinn will nicht ein, daß sich einer mitten auf dem Weg hinlegt und nicht mehr dergleichen thut, als ob es ihn weiter anginge. Weder auf dem Kasernenhof noch auf dem Marsfeld ist ihm je solch eine Insubordination vorgekommen. Er bleibt entrüstet vor dem Gefallenen stehn, hüpft ungeduldig auf seinen Beinchen und ruft »bau-bau!« als wollt er sagen: »schämst Dich nicht und wirst gleich aufstehen? Die andern sind schon weit voraus!« Da aber sein bau-bau! nichts fruchtet, läßt er den Stummen liegen und läuft, was er laufen kann, und wieder hör' ich ihn hinter mir.

Und öfter und öfter schreit's nun neben mir »Jesus, Maria!« und nicht jeder von den braven Kerlen hat noch Zeit, den heiligen Joseph dazu zu rufen, und die Zeit dazu finden, sind nicht die Beneidenswerthen. Wäre das verwünschte Gebell nicht gewesen, ich hätte nicht gewußt, wie viele hinter mir fielen. Man sieht sich nicht um; wer bückt, wer legt sich nicht im Feuergefecht – ob er wieder aufsteht? wer hat Zeit zu fragen! Es wird heiß, heiß und wild.

Und wo rechts und links einer von den Landsleuten liegen bleibt, springt des Hauptmanns Hund hinzu und keift sein bau-bau und hebt, ob der Fruchtlosigkeit seiner Vorwürfe verwundert, die Vorderpfote hoch.

Bald meint er wohl, das sei ein Spiel, er bellt und hüpft bald rechts bald links und dann sträuben sich ihm die Haare.

Er kann nicht mehr zu jedem Fallenden hinspringen. Es fallen zu Viele. 249

Und was weiß ich nunmehr viel vom Hunde, was viel von Menschen! Jetzt sind wir dick drin! Nun Himmelsakerment vorwärts! Nun ist's schon alles eins, wer und wie viele draufgehn. Nun ist die Bestie los, die im Menschen steckt. Nun zum Teufel Schonung, Menschlichkeit und Milde! Hau um Dich und triff, so gut Du kannst, so viel Du kannst. Es wird einem roth vor den Augen. Schweiß und Galle! Noch kein Ende! Und so handwerkt man in Gräßlichkeit weiter, man weiß nicht mehr wie lang, bis endlich die Kraft oder Gelegenheit ausgeht und die Raserei wie ein Rausch, wie ein Fieber, wie ein Sud ausdampft.

Dort drüben blasen sie! Und dort! Und jetzt wird's still, todesstill und eine bange Minute später wälzt sich ein erderschütternd Hurrahgeschrei die Linien und den Berg entlang, daß die Lungen zu bersten scheinen und die Bäume zittern.

Das ist der Sieg! Man hört's am Ton, man sieht's an den Gesichtern, man ahnt's. Aber man weiß nicht recht, was los ist, nicht, wo man steht, nicht, was man gethan hat.

Schaudervolles Tagwerk! Es ist der Sieg. Aber wo sind die armen Bursche, die mit dir den Berg erstiegen haben? Ist das meine Compagnie?! Die ganze?! Herr Gott, wie haben sie mir die zugerichtet! Und am ersten Tag! Arme Mütter daheim!

Freilich der Sieg! Der große Gedanke wiegt alles auf.

Höher hebt sich die Brust. Man athmet breit aus. Also das ist weltgeschichtliche Luft. Genieße den Augenblick mit Bewußtsein! 250

Da fühl' ich was am Beine. Flinserl ist wieder da und leckt und leckt wie ein Verrückter, leckt und winselt. Und da merk' ich denn zum ersten Mal, daß mir das eigene Blut die Beinkleider hinunterrieselt.

Es war keine schwere Verwundung. Ein Streifschuß, der erst nachher etliche Schmerzen verursachte und mich im Dienst nicht lang hinderte.

Flinserl selber war ärger weggekommen. Der stand nur auf drei Beinen mehr und vom vierten rann ihm das Blut gar heftig, die Haare klebten ihm überall. Das ganze Kerlchen sah aus, wie wenn es in einen Teig aus Staub und Blut und Koth geknetet wäre; das rothe Zünglein hing ihm weit aus dem Maul; er litt offenbar großen Durst bei seinen Schmerzen und nur aus den Augen ging ein freudiger Strahl, wie der Zuversicht, daß er wieder bei mir war.

»Gelt, Flinserl, jetzt begreifst du wohl, warum die wackeren Burschen aus'm Wald mitten auf dem Wege liegen geblieben und nicht wieder aufgestanden sind? . . . Siehst du, das ist der Krieg!«

Ich wollte mich bücken, da entfuhr mir, von Schmerz überrascht, ein Ausruf – es mag wohl ein Fluch gewesen sein. Ein Feldarzt, der bereits in meiner Nähe arbeitete, sah mich lächelnd an und sagte: »Kommen Sie, Herr Hauptmann, und lassen sich verbinden.«

Das ging denn so schlecht und recht ab. Für's Flinserl hatte der Mann an einem Tag, wie der heutige, wo Jammer und Noth aus allen Furchen des Feldes und hinter allen Bäumen des Waldes stöhnte, keine Zeit. Während er mein eigen Fell zurecht zu richten suchte, fragt' 251 ich ihn wohl um Rath. Aber er gab nur schlechten Scherz zurück.

Derweilen kam der Bursch heran und half mir wieder in's Koller. Das sah, wie ich nun merkte, auch nicht viel besser aus als Flinserls Fell. Mein Caspar, ein Waldler von der richtigen Sorte, wußte für alles Bescheid. Auch für den Hund. Er wusch und verklebte die Wunden und band dem Flinserl die Pfote an ein Stück Holz. Während er sich also nützlich machte, ließ ich auf das Haupt des vierschrötigen Siegers alle Himmeldonnerwetter los, und daß ich ihm ein Schock Strafen dictiren würde, wenn das Malefizvieh mir noch einmal in der Bataille zwischen den Beinen herumliefe. »Es soll bei der Bagage bleiben, und wenn es dort nicht still hält, auf dem Wagen angebunden werden. Kommt es mir noch einmal zur Unzeit. schieß' ich's eigenhändig über den Haufen!«

Na, na! dachte sich der Mann aus'm Wald, wirst es wohl bleiben lassen! aber hütete sich wohl, laut zu denken. Er »machte seinen Kopf«, wie wir zu sagen pflegten, und als er abkommen durfte, trug er das Flinserl hinter die Linie. So kam's in den Wagen zur Bagage. Und dort blieb's.

Und darum hat es den Kampf um Wörth nicht mitgemacht und unsere Schlachtbank bei Bazeilles auch nicht gesehen.

Wie viel Gräßliches erlebt der Mensch und verdaut es im Gemüthe und denkt nachher nicht weiter dran, wenn nicht ein Hauch der Erinnerung alte Tage heraufbeschwört. Der erste Act des glorreichen Krieges war vorüber. Die Heere des Kaiserthums zertrümmert. Napoleon 252 gefangen, die erste, freilich trügerische Ahnung eines nahen Friedens ging in des Wunsches lockender Gestalt über unsere wider Willen rauher gewordenen Seelen.

Wir kriegten in Lothringen Quartier. Mir ist es noch wie heute, da wir Nachts in Nancy ankamen. Ich hatte bald ein Vierteljahr keine richtige Stadt mehr gesehen. Und nun gar dies liebliche Nest in seiner paradiesischen Gegend, mit seinen kleinen, behaglichen Häusern, die für lauter zufriedene Rentner gebaut scheinen, für fromme Philister, die sich nicht um Welthändel kümmern, sondern fein essen und trinken, schön schlafen und spazieren gehn und Gott einen guten Mann sein lassen wollen; ich kann mir keinen empfindlicheren Gegensatz zur Mühsal und Plackerei des Krieges vorstellen als das liebliche Bild dieser Stadt.

In der Nacht unserer Ankunft präsentirte sie sich freilich nicht auf solch' anmuthige Weise. Es war stockfinster und nebelig. Ein endloser Zug gefangener Franzosen stand in der Halle zur Abfahrt bereit. Dann escortirte man uns entgegen aus der ersten Straße ein Häuflein vermeintlicher Franctireurs. Etwas Auflauf, viel Klagegeschrei und übertriebene Geberden waren hier und dort zu sehen. Mit etlichen Kameraden von der Mairie gehend, fanden wir in einer breiten Straße neben dem Stanislausplatz ein paar Dutzend Frauenzimmer im Begriff, eine Quadrille ohne Herrenbegleitung auszuführen. Es waren die ersten Toiletten, die ich in Frankreich zu sehen kriegte. Die lichten Fähnchen, im Tanze derb geschwungen, schimmerten in zweifelhaften Farben nur halb aus dem Dunkel. Das Ganze sah wie ein Hexensabbath aus und 253 war auch nicht viel anders. Wir gingen rasch vorüber und wie ich sah, daß Flinserl Miene machte, in alte schlechte Gewohnheiten zurückzufallen und kläffend nach diesen schmutzigen Schleppen zu fahren, da schnauzt' ich ihn so grob ab, daß er sich schämte und mit gesenkten Ohren hinter mir drein hinkte. Mit dem vierten Bein hatt' er noch seine Noth.

In einer Brasserie fanden wir in langen Reihen Kopf an Kopf die Landsleute sitzen. Auch Civilisten genug darunter, welche die neue Völkerwanderung, zu dieser oder jener Pflicht oder Absicht, mit der Armee nach Frankreich herübergeschwemmt hatte. Das Nanziger Bier war vortrefflich; Gesang und Gespräch, Schnaderhüpfel und Jodler gab's an allen Tischen die Menge; die ältesten Witze wurden gerissen. Und wie heimelten einen diese just an! Man hätte hier, wenn nicht der allgegenwärtige Carbolgeruch aus den Kleidern der Bahnbeamten seinen Duft verbreitet hätte, glauben können, der Krieg wäre ein Traum und man säße noch daheim im »Hofbräuhaus«, aber nicht im »weißen«. Auch die typischen Gestalten fehlten nicht, die man dabei gewohnt war.

Hier war's gut sein. Leider unseres Bleibens nicht in der Stadt. Man legte uns schon am andern Morgen weiter hinaus auf eine Bahnstation – auch nicht für längeres Verweilen. Das Nest hatte sich Trotz und Verrätherei zu Schulden kommen lassen, stand in üblem Ruf und so kamen wir nicht mit der Absicht, die Leute zu liebkosen.

Wir wurden auch nicht eben liebevoll empfangen. Zwischen der ersten und zweiten Station fielen ein paar 254 Schüsse auf den fahrenden Zug; vor der letzten hatten böse Buben etliche Feldsteine und einen alten Stuhl auf die Schienen gelegt – lauter damals nicht ungewöhnliche, diesmal nicht eben gefährliche Aufmerksamkeiten wohlwollender Eingeborener.

Es gab Strafcontributionen für jede Gemeinde und wir rückten in den Ort unserer Bestimmung bärbeißig genug.

Ausgemustert und einquartiert war bald. Das Spitzbubennest sah wieder gar einladend und behaglich aus. Wie ein klein Stück Nancy. In annoch grünen Gärten voller Herbstblumen und Früchten standen die sauberen Häuschen, drei Fenster an jeder Seite und ein lang, spitz, viereckig Dach darüber. Die grünen Läden zu.

Je nun, wir hatten kurze Mittel, die Läden und auch die Thüren zu öffnen, wo dieselben etwa nicht gutwillig aufgingen.

Ich stand vor einem Hofthor und besann mich: willst Du hier Dein Quartier nehmen? Das Häuschen sah bescheiden aus. Um einen abgeräumten Leiterwagen pickten Perlhühner und Truthähne Körner aus dem Staub. Sonst alles still.

Flinserl auf drei Pfoten voraus, bleibt im Hof rückwärtssehend stehn, als wollt' er sagen: hier scheint's gut sein.

Ich folge mit etlichen von der Mannschaft. Im nächsten Augenblick mein Flinserl wie toll geworden um die Ecke. In einem ordentlichen Wölkchen, das seine drei Beine aufwirbeln, ist er verschwunden. Wir hören ihn kläffen wie einen Besessenen und finden ihn bald darauf 255 vor der Thüre eines Nebengebäudes – es mochte eine Milchkammer oder ein ähnliches fensterloses Gelaß sein. Die grün angestrichene Thür ist verschlossen. Vor der Thür lärmt Flinserl mit Geberden voller Entrüstung, die staubigen Haare gesträubt, die Pfoten, auch die vierte, fest gestemmt und in den zornigen Zähnen ein Stück einfach bespitzter und gestärkter Leinewand – das schleppende Ende eines Damenunterrocks, das er ingrimmig mit seinem zottigen Haupte hin und her beutelt, obwohl es die geschlossene Thür so fest einklemmt, daß es weder der Hund davor, noch die uns unsichtbare Eignerin hinter der Thür losreißen kann.

Vor Flinserl, die Thür mit Rücken und Händen deckend, stand ein breitschultriger Mann. Auch er schien im ersten Schrecken eben aus dem Hause gerannt zu sein und alles eher denn unsere Einquartierung erwartet zu haben. Er war barhaupt und in offenen Schuhen. Sein kurzgeschoren Haar war stark angegraut. Schnurr- und Knebelbart aber, die er gut kaiserlich nach dem Vorbild seines Herrn und Gebieters zugestutzt und martialisch ausgezwirbelt trug, waren noch kohlschwarz. Sein Antlitz war tief gefurcht, seine Züge mehr als scharf; er machte den Eindruck eines hohen Funfzigers – vielleicht nur in diesem Augenblick, wo Haß und Furcht sein Gesicht bitterlich verzerrten.

Der Mann benahm sich verdächtig. Die unbegreifliche Angst, mit der er sich vor seiner Milchkammer aufpflanzte, wie wenn er sagen wollte: »nur über meine Leiche!« sein ganzes Gehaben veranlaßte mich, ihm die Schlüssel abzuverlangen. Er gab sie nicht, antwortete nicht, zuckte die Achseln, ballte die Fäuste und riß sich an den Haaren. 256 Das war alles ebenso langweilig wie zweckwidrig. Ich gab meinen Leuten einen Wink. Dem Kolbenstoß widerstand die Thüre. Es lief einer nach dem Hause, Werkzeug holen.

Derweilen fing der Alte zu reden an. Zerbrochene Worte, die ich nicht verstand.

Ein langer Bursche, hager, großknochig und schwarzhaarig, mit tiefliegenden braunen Augen und gelblichem blatternarbigem Gesicht schritt, eine Schaufel über der Schulter, unfern an uns vorüber.

Er schien wortlos den Alten zu fragen, ob er ihm beispringen sollte, dieser jedoch schrie ihm barsch und befehlend zu: »Geh in's Haus, François . . . Geh!« –

Der Kerl mißfiel mir, doch da er von friedlicher Gartenarbeit still gehorsam nach dem Hause ging, ließ ich ihn unbeachtet, dagegen freut' ich mich zu hören, daß das andere lothringische Mannsbild auch verständlich reden konnte.

Ich sprach ihm Vernunft ein. Er faltete die Hände und ward weich. »Sie sind ein Edelmann, ein Ehrenmann . . . .?« war Alles, was er herausbrachte.

»Ja doch,« rief ich, »und wir sind überhaupt keine Menschenfresser. Und wenn Sie nichts Schlimmeres als Kuhmilch und Weiberröcke darin verborgen haben, so können Sie getrost öffnen; meine Leute werden Ihnen eins und anderes verschonen und sich lieber an den Landwein halten. Oeffnen Sie!«

»Ich kann nicht!« sagte er kleinlaut. Flinserls Gebell ließ bei alledem nicht nach. Der Gefreite kam mit einem Stemmeisen und einer Stange aus dem Hause zurück. Eh' er Hand anlegte, klopft' ich mit dem Gefäß meines Säbels 257 an die grüne Thür und rief: »Oeffnen Sie, wenn's gefällig!«

Da knarrte das Holz und Flinserl retirirte einen Augenblick.

»Und warum nicht! Ich langweile mich da drinnen,« sagte eine Frauenstimme und zwischen Thür und Angel erschien ein schlankes Geschöpf, das nicht ohne Vorsicht aus der dunklen Kammer in den hellen Garten heraustrat. Ich sah zuerst ihre um den Hinterkopf aufgesteckten schwarzen Haare, dann ein blasses Gesicht mit zornigen Augen drin, verächtlich verzerrte Lippen und gezwungene Geberden, die stolz und entschlossen aussehen wollten, mir aber nur den Eindruck einer mißlungenen Comödie machten.

Ich bedeutete den Soldaten, die Kammer zu durchsuchen und wandte mich dann an den Alten mit der Frage: »Ist das Alles?«

Er antwortete nicht und schloß sein Kind ziemlich theatralisch an seine Brust, als sollten nun seine Arme ihr die schützende Milchkammer ersetzen.

Ich mußte lachen und kehrte mich ab. Da hört' ich das Mädchen mit dem Fuße stampfen und sagen »verfluchter Hund!«

Ich konnt' ihr das nicht verübeln, denn Flinserl, der in der Campagne aller Freuden darbte, hatte den weißen Zipfel dieses schönen Unterrocks noch immer nicht losgelassen und beutelte daran herum und überpurzelte sich in seinen weißen Falten, daß es eine Art hatte.

Da Flinserl, von so unerwartetem Vergnügen ganz berauscht, nicht auf's erste Commando hörte, so bekam er 258 Warnung durch einen sanften Tritt und beantwortete diesen mit schmerzlichem Ausruf. Aber nun stand er bei Seite.

»Pfui, wie roh!« sagte das Fräulein und sah bedauernd nach dem Pintscher, über dessen Unarten es sich kurz vorher beklagt hatte. Und nur wenig leiser sagte sie, schon gegen das Haus schreitend: »Sind die abscheulich! die Leute wie die Hunde!« Damit gingen sie beide, und ich stieg in die Milchkammer.

Sie hatte Recht. Ich wiederholte mir's etliche mal im Geiste: sont ils affreux ces gens et ces chiens! Scheußlich sahen wir aus! Flinserl hatte noch immer sein Schlachtcostüm an, kein Gott hätte sagen können, von was für einer Farbe das schmutzklebrige Fell eigentlich sei, er guckte kaum aus den Augen, so verkommen war seine Frisur, sein Schweif ging in einen langen schwarzen Faden aus und schlimmer als je der geleckte Schmalz-Pintscher sah der Hund des Gardisten aus; Rinaldinis Köter in den Abruzzen konnte nicht verdächtiger ausgesehen haben.

Und wie der Diener, so der Herr! Keine Truppe erschien so gräulich wie die unsrige. Das lichte Blau an Wämsern und Hosen hatte sich unter dem Einfluß des Wetters, der Kämpfe, Strapazen und Reinigungsversuche in verschiedenartige Tinten verschossen; und nicht nur Schenkel und Arme, auch Brust, Rücken und Schultern hatten ihre anderen Farben und keine schöner als die andere. Man wußte nicht, war's blau, grün, gelb oder grau. Von jedem ein bischen – Eine Schmiere, proper gehalten, aber incurabel, freilich immerhin in ihrer Art etwas Besonderes.

Wir waren stolz auf unser Aussehen und durften's sein, aber wenn man ein Fräulein, das unser zum ersten 259 Mal gewahr ward, sagen hörte: sehen die Kerle scheußlich aus! so konnte man ihm nicht unrecht geben und darum nicht gerade gram werden.

Daß sie den Hund gleicherweise gescholten hatte, brachte Flinserl meinem Empfinden sozusagen wieder cameradschaftlich näher. Ich schaute mich nach ihm um, da fand ich ihn halbwegs zwischen Haus und Milchkammer hocken und verstimmt und unentschlossen bald nach der verschwindenden Französin, bald nach seinem Herrn vor der grünen Thüre guckend.

Ich pfiff ihm, er sprang auf die drei Beine. Im selben Augenblick wandte das Mädchen auch das Haupt und es fiel ihm ein, den Pintscher zu locken. Rathlos hüpfte dieser bald einen halben Sprung rechts, bald einen halben Sprung links, zwischen rauher Pflicht und langentbehrtem Behagen schwankend. Da griff die Französin in die Schleppe und raschelte auf den Stufen mit den Spitzen ihres Unterrocks wie mit einem Fächer hin und her gegen den Hund, daß dieser, Disciplin und Nationalität vergessend, bei so verlockendem Anblick Reißaus nahm und kläffend bald hinter, bald auf der Schleppe zappelte und sich an den Zähnen in's Haus ziehen ließ und andern Unfug trieb, daß das Fräulein lachte.

Großmüthig, wie es dem Ueberwinder ziemt, gönnt' ich der Feindin diesen kleinen Sieg und ließ Flinserl laufen.

In der Milchkammer ward nichts Verdächtiges gefunden. Auch keine Milch fand ich mehr, etliche Tropfen ausgenommen, die an den Schnauzbärten meiner Mannschaft hingen.

Ich trat in's Haus und verlangte Quartier. Der kurze 260 Anflug von guter Laune war bereits wieder verraucht. Wahrscheinlich hatte der hochsinnige Vater diese leichtfertige Anwandlung streng verwiesen. Ich fand die zwei in der Wohnstube im Erdgeschoß beieinandersitzen, als gält's ein Modell für Jeremias und die Muse des Klageliedes.

Grollend, finster, mit verkniffenen Lippen und ausgespannten Augen saßen sie bei einander, als brauchten sie sich um nichts mehr als ihren Schmerz zu kümmern, als gäb' es nur Ein Glück mehr in der Welt: die Rache.

Dickfellig und geduldig von Natur, sah ich mir ein Weilchen die Gruppe genauer an. Sie schauten einander merkwürdig ähnlich, die Tochter und der Alte, dieselben Stirnen und dieselben Habichtsnasen, dieselben verbissenen Lippen. Der schwarze Henri IV. zierte freilich nur des Vaters Kinn und Mund; aber ein leiser Schatten auf des Mädchens Oberlippe nahm sich auch nicht übel aus und gab dem trotzigen Schnäbelchen gar entschlossene Art.

Mir ward wunderlich zu Muth. Wie ein Paar wilde Thiere! sagt' ich zu mir. Der erste Eindruck war nicht anders. Kein Hauch der Lieblichkeit ging von dem schlanken Wesen zu mir hin. Und bedauernd dacht' ich daran, daß ich mir mein kriegerisch Recht auf's Nothwendige hier würde derb ertrotzen müssen.

So stört' ich denn auch dies hinbrütende Schweigen. Bei meinem ersten Wort flog das Mädchen aus der Thüre. Den Alten fand ich einsilbig und seufzend, aber gefügiger als ich nach dem Bisherigen erwarten durfte.

Man wies mir eine Stube im Erdgeschoß an. Ein behaglich Zimmer, wie mich seit der Heimath keins beherbergt. Ich streckte mich hin, und während im Kamin ein 261 sanftes Feuerchen mehr zur Augenweide als zum Wärmen flackerte, schaut' ich durch's offene Fenster nach dem Garten, wo wieder der langarmige, hagere Geselle François, mit dem Spaten über dem Rücken, von Beet zu Beet ging und sich bückte und endlich zwischen grünem, rothem, gelbem Laubwerk verschwand.

Ich freute mich wie ein Kind an den Farben des Herbstes und dachte dabei an allerlei, woran zu denken mir lang entweder Zeit oder Behagen gefehlt hatte. An die Heimath, an die Kameraden, die sie nicht wiedersehen werden, an Krieg und Sieg und rasch verrollende Tage, die zu erleben der Mühe und des Blutes werth war. Und also meine Gedanken spazieren führend, kam dem Müden der Schlaf. Ich hörte noch halb wachend Flinserl bellen oder meinte halbträumend doch, ihn zu hören. Dann war mir's, als säh' ich den Pintscher in der Luft zappeln oder vielmehr schweben; Wolken, wahrscheinlich Staubwolken, um ihn her, in seiner Schnauze eine weiße Schleppe, die sich in Nebel, in Träume verlor. Und ich schlief ein –

Ich ward heftig aufgeweckt und rumpelte nur so vom Lotterbett, wie wenn's gleich an die Gewehre ginge.

Es war stockdunkel im Zimmer, das Feuer zusammengesunken, draußen im Garten schimmerte der Himmel noch roth hinter den schattenhaft sich entfärbenden Gebüschen. Mein Bursche stand neben mir; in der einen Hand den Säbel, den Helm in der andern.

»Was 's denn los?«

»Auf den Bahnhof, Herr Hauptmann . . . Ist ein General dort . . .« 262

Caspar hatte offenbar auch geschlafen und lallte herum im Ungewissen.

»Was bedeutet denn der Lärm draußen?« rief ich jetzt, da es auf dem Gange polterte und allerhand Stimmen durcheinander dröhnten. Die Flinserls war auch dazwischen. Und mein Diener sagte, die Augenlider bedeutsam aufreißend:

»Sie holen den Alten!«

»Was für einen Alten? Unsern Hausherrn doch nicht?«

»Wohl, Herr Hauptmann.«

»Doch nicht wegen der Milch, die Ihr gefressen habt?« sagt' ich lachend und schnallte mir den Säbelgurt fester.

»Ei beileib! Der hat wohl schlimmere Dinge ausgefressen!« raunte mir mein Caspar zu, da er mir den Helm gab.

Ich konnte ihn nicht fragen, was denn er um die Sache viel wisse, denn wie ich auf den Flur hinaustrat, stürzten der Alte und die Tochter händeringend auf mich zu und der blatternarbige Hallunke, der François, war auch dabei und focht mit seinen Armen, wie ein Telegraph, bei jedem seiner Worte hin und her, was sehr überzeugend aussehen sollte.

»Ich schwöre Ihnen, Herr Hauptmann, ich bin unschuldig!« rief der Alte.

»Ich glaub's Ihnen. Aber wessen klagt man Sie denn an?«

»Ich weiß nicht! Bei meiner Ehre, ich weiß nicht. Aber ich bin unschuldig!«

»Dann seien Sie getrost, wenn Sie unschuldig sind, wird Ihnen auch nichts geschehen!« 263

Jetzt hielt der lange François eine Rede, die der Alte in einem fort unterbrach, und diesen unterbrach die Tochter, und wenn die Tochter sprach, bellte Flinserl – das schien bereits so ausgemacht – und wie die vielen Stimmen solch' unerwarteten Lärm machten, sagten die Infanteristen, der Alte möchte sich auf die Strümpfe machen oder sie würden ihn beim Kragen nehmen.

Das verstanden die lothringischen Leute zwar nicht recht, das Mädchen aber schrie doch laut auf, wie sie den Gewehrkolben auf die Diele stampfen hörte: »Man wird meinen Vater umbringen! Papa geh' nicht weg! Bleibe hier! Man soll Dich mit Gewalt holen. Wir werden uns vertheidigen.«

»Reden Sie keine Dummheiten, mein Fräulein,« erlaubt' ich im Gedränge mir zu sagen und gab dem Alten einen Wink, daß er es nicht auf solchen Transport sollte ankommen lassen. »Wenn Ihr Vater unschuldig ist, wenn er nichts gegen unsere Truppen unternommen, nicht mit dem Feinde conspirirt hat, so verbürge ich mich, daß Sie ihn ganz und gesund wiederkriegen und leichteren Herzens, als er geht.«

»Ich was unternehmen! . . . ich conspiriren!« rief er.

»Ich schwöre Ihnen, daß Papa ganz unschuldig!« rief sie.

»Nun also!« rief ich und »Marsch!« die Wache.

Der feiste Lothringer war aber noch lange nicht zum Hause draußen. Er schlug die Augen gen Himmel wie ein Tell neben seinem Geßler und wollte, sich wiederholt in und aus den Armen seiner Tochter windend, einen heroischen Abgang haben. Da fiel ihm zwischen Thür und 264 Angel noch was ein und, wie wenn ich seit Jahren mit ihm bekannt wäre, rief er: »Aber Sie begleiten mich doch, Herr Hauptmann . . . Sie wissen, daß ich unschuldig bin!«

Den Teufel weiß ich! wollt' ich schon sagen, da faßten zwei kleine Hände meinen Arm, und ich sah in feuchte Augen und auf thränenüberströmte Wangen. Das arme Mädel, das in Todesangst schier zu vergehen schien, hing sich mit der ganzen Beredtsamkeit der Verzweiflung an mich und bat und beschwor, ich sollte den Vater nicht allein lassen. Ich machte mich los, ich versprach, ihr den Willen zu thun, hieß sie Muth fassen, und gab meinem Caspar einen Wink mit dem Zaunpfahl, auf Haus und Insassen zu achten, bis ich wiederkäme.

Dann folgt' ich dem Haufen, der sich in der Dämmerung gegen den Bahnhof bewegte. Es war zwar kein General, wie Caspar versichert hatte, aber nicht viel weniger, was meinen Wirth in's Gebet nahm. Etliche Verdächtige und ein und anderes corpus delicti wurden von verschiedenen Seiten des Dorfes gebracht. Wie mir Offiziere sagten, die von der Sache wußten, handelte es sich um ein geheimes Postbureau, das hinter unserem Rücken mit Paris correspondirte, eine ziemlich regelrecht organisirte Einrichtung, mehr oder weniger gefährlich, der man auf die Spur gekommen war.

Ich näherte mich der großen Gruppe. Einer der ersten Köpfe, deren ich ansichtig wurde, war der des langen François, der eifrig und laut mit dem »General« redete. Sein Onkel stand mit verschränkten Armen stumm daneben. Ich meldete mich, sagte, in wessen Haus ich 265 wohnte, daß die Durchsuchung nichts Verdächtiges ergeben hätte und mir der alte Knabe ziemlich harmlos erschiene.

Man sah mich einen Augenblick groß an. »Sind Sie der Landessprache mächtig?«

Ich durfte das bejahen.

»Vielleicht hat Ihr Wirth noch Wünsche, die er Ihnen bestellen mag. Ich nehme ihn und die anderen mit nach Nanzig zur Untersuchung und zwar sofort.«

Ob er Wünsche hatte! Er war wieder barhaupt und in Pantoffeln vom Hause gelaufen. Mantel hatte er auch keinen und in der kalten Herbstnacht ohne solchen auf der Eisenbahn zu fahren, das verlangte weder sein noch mein Vaterland von ihm.

Ich gab dem ersten besten Mann einen Zettel an das Fräulein mit, daß er dem Alten Stiefel, Hut und Mantel eiligst herbeibrächte. Dann näherte ich mich dem Befehlenden noch einmal. Ich wagte noch eine geziemende Bemerkung; ich ward noch einmal groß angesehen. Ich hätte gern gesagt: laß doch den alten Hanswursten laufen; siehst Du denn nicht, daß der lange Blatternarbige, der so keck und vorlaut auf Dich einspricht, der Hallunke ist, zu dem man sich der schlimmsten Dinge versehen kann! Allein, da Angeberei nicht meine Sache und meine Beweise gegen François noch mehr aus dem Gemüth geschöpft waren und ich endlich kein Bedürfniß nach einer Nase hatte, wie sie mir zu ertheilen der hohe Herr nur allzubereit war, so schwieg ich, dachte mir mein Theil und ging, sowie der Zug abgedampft war, nach Hause.

Die Kleine stand an der Gartenthür und wartete auf mich. Sie hatte ein leichtes, weißes Tuch um den Kopf 266 geschlagen, daraus ihre Haare im Nachtwind hervorflatterten. Und wie die Haare im Nachtwinde, so zitterte die ganze Gestalt vor Angst und Sorge. Man sah's, die Augen hatten die Zeit über in einem fort geweint. All das gab dem scharfen Gesicht einen Schein der Milde, welcher mich, der sie zuvor so anders gesehen, herzlich rührte.

Ich wiederholte, was ich zuversichtlich glaubte, daß ein Mann, wie mir ihr Vater schien, keine Gefahr liefe, daß wir Deutschen mit Unrecht verschrieen und in Wahrheit gerechte Leute seien, die keinem Unschuldigen mit Absicht was zu leide thäten.

All das schien sie wider Willen ein wenig zu beruhigen. Sie nahm den Arm, den ich ihr bot, um nach dem Hause zu gehen. Sich selbst im Schmerz vergessend, schmiegte sich die fröstelnde Gestalt nah an mich an. Das Tuch glitt ihr vom Haupt, ich zog es ihr zurecht und strich das schöne Haar darunter. Innerhalb des Hauses ließ sie den Arm wieder los und wollte gesenkter Stirn an mir vorüber.

Ich fand nichts natürlicher und achtete der Kleinen weiter nicht. Meine Aufmerksamkeit ward durch einen fallenden Gegenstand beschäftigt, der im Hausflur aufknallte. Offenbar hatte Flinserl etwas umgeworfen und nicht mit Absicht. Er kam jetzt demüthig wedelnd hervorgekrochen, über die Folgen unbefugten Kratzens und Schnüffelns selbst erschreckt.

Ich nahm die Laterne von der Wand, da sie hing, und fand weiter nichts als die Gartenschaufel auf dem Boden liegend. Es war also diese gewesen, daran Flinserl in der Hast, mich zu begrüßen, gestoßen hatte. 267

Nachdenklich mußt' ich das einfache Geräth betrachten. Nahm den Stiel in die Hand und beleuchtete mit der andern die Scharr, an welcher noch Reste frischer Erde klebten. »Da such!« sagte ich spaßend zum Hunde, der, wie ich's ihm vorhielt, gleich zusprang und mit den Vorderpfötchen etliche Knollen vom Eisen kratzte.

Wunderlicher Einfall, der mir plötzlich auftauchte! Ich nahm die Schaufel auf die Schulter, wie vorhin François sie getragen hatte, behielt die Lampe, pfiff dem Hund und ging in den finsteren Garten.

»Such', such'!« sagt' ich mehrmals zu Flinserl und der gleich wie ein Fuchsjäger über die Beete weg. Ich leuchtete nach rechts, nach links, voraus, zurück und suchte nach frisch überschütteten Stellen. Ich wüßte heute nicht mehr recht zu sagen, war's der Pintscher oder war ich's selber, der nach etlichen mißgelungenen Versuchen endlich ein Fleckchen fand, darüber das Erdreich erst vor kurzem festgestampft sein konnte. Flinserl kratzle winselnd wie besessen daran herum, ich stach mit dem Spaten bald tiefer und traf nach kurzer Mühe auf einen Topf. In dem Topf lag eine Cassette. Die nahm ich unter den Arm und ging zurück. Der Garten schien mir leer und Niemand mir gefolgt zu sein.

Aber kaum, daß ich die Hausthür schließen wollte, klopfte es leise von draußen und das Mädchen schlüpfte herein, noch blasser als vordem, und fragte, ob ich Thee zu trinken wünschte.

Ich verneinte dankend und zog den Schlüssel ab. Sie fragte, ob mir denn ein Glas Wein genehmer wäre, und 268 alles, was sie sagte, klang bescheiden, gedrückt und anders, als sie bislang geredet hatte.

Da ich bejahte, ging sie aber nicht, sondern wies auf ein blank gedecktes Tischchen in meinem Zimmer, das mit kaltem Imbiß und einer vollen Literflasche schon ein Weilchen meiner Rückkehr gewartet haben mußte. Im Kamin brannte das Feuer breit und goldig. Man hörte nichts als das Singen der Flamme, etliche Minuten lang. Ich goß mir ein Glas voll, gab dem Flinserl, das offenbar vor Hunger zappelte und Belohnung redlich verdient hatte, einen außerordentlichen Bissen und rückte mir ein Tischchen vor's Feuer. Setzte mich und sah empor. Auf den Mantel des Kamins gestützt. lehnte schweigend die Tochter meines Wirthes. Sie sprach nicht, sie weinte nicht, sie athmete kaum; ungesucht anmuthig lehnte sie da, die schönen Hände gefaltet in Ergebung. Ueber Hände, Kinn und Stirne warf die Flamme rosige Schimmer von unten herauf; in die Falten des weißen Gewandes legte sie purpurne Schatten und schien selbst die Spitzen des losgegangenen Haares zu vergolden.

Ich wußte wohl, warum die Kleine blieb und was für Angst sie, anderer Angst zum Trotz, bei mir zurückhielt. Ich konnt' ihr keine bessere Antwort geben, als mit den Achseln zu zucken, wie wenn ich sagen wollte: es ist nicht meine Schuld. Dann nahm ich mein Knickmesser und stieß den Bleideckel der Cassette ein. Ein Paar Dutzend Briefe lagen vor mir.

»Ich schwöre Ihnen, mein Herr, Papa ist unschuldig!« rief das Mädel aus und machte Miene, mir zu Füßen zu fallen. »Er weiß nichts darum.« 269

»Um so besser für ihn!« sagt' ich und setzte nach einer Weile, schon den ersten Brief gelesen, hinzu: »Also François?«

Sie schwieg und ich las. Las einen Haufen Dummheiten, breitmäulige Declamationen, erlogene Großthaten, erlogene Schandthaten, Schwüre der Rache und dazwischen etliche Dorfgeheimnisse intimerer Natur, die für mich weder Werth noch Interesse hatten. Wirklich Gefährliches, es wären denn etliche blödsinnige Vorschläge und Vorsätze, fand ich nicht darunter.

Ich schichtete die Briefe in zwei Häuflein vor mir auf dem Tisch. Die harmlosen zur Linken, die boshaften zur Rechten. Die ersteren verschloß ich wieder mit meinem eigenen Siegelring; die anderen warf ich in den Kamin und rührte mit dem Schürhaken darin herum, bis von dieser Gluth des Hasses nichts mehr übrig war.

Dann sah ich wieder nach der Französin mir gegenüber. Ich fand ihre Augen auf mich gerichtet und die Augen waren feucht. Sie begriff wohl zur Hälfte, was ich gethan.

Halb von Dankbarkeit überrascht, halb noch unter dem Bann der Angst, streckte sie die Hand nach dem Päckchen zu meiner Linken aus.

»Und der Rest?« fragte sie.

Ich rief statt der Antwort nach meinem Caspar.

»Wirf das Zeug auf die Post!« sagt' ich ihm, da er vor mir in Positur stand.

Das Mädchen wollte sich auf seine Hand stürzen. Ich hielt sie zurück. Sie verstand zwar kein Deutsch. Aber das gemeinverständliche Wort Post klärte sie über meine Absicht genugsam aus. 270

»Sie senden diese Briefe zur Post? Sie?!« rief sie entsetzt.

»Warum nicht? Ein Haufen gleichgiltiger Albernheiten, die uns nicht kümmern. Mögen sich die Adressaten daran erfreuen, wenn sie können!«

Caspar empfahl sich ordonnanzmäßig. Ich ging vom Feuer weg zu dem Tische, mir eine Krume zu brechen. Sie folgte mir und goß das geleerte Glas voll.

Ich hatte noch einen Schritt seitwärts gethan, nach einem Schragen, wo mein Revolver auf dem halb ausgekramten Koffer lag. »Wie heißen Sie, Fräulein?« sagt' ich, noch mit dem Rücken meine Hände deckend.

Sie mußte sich nochmals die Thränen stillen, ehe sie sprach. Dann sagte sie leise: »Nicolette!«

Ich hatte derweilen die Trommel des Revolvers vollgesteckt und alles in ordentlichem Zustande befunden und sagte, die Waffe bei Seite legend: »Nun denn, Fräulein Nicolette, geben Sie Herrn François deutlich zu verstehen, daß er sich schleunigst aus dem Staube mache. Ich hoffe, daß Ihr Herr Papa – wenn nicht anderswo schlimmere Scherze ausgegraben worden sind – mit heiler Haut heimkehrt. Aber für den Spitzbuben François steh' ich Ihnen nicht. Läßt er sich noch einmal blicken, muß ich ihn, wollend oder nicht, verhaften lassen oder gleich . . .«

Ich mochte das arge Wort nicht aussprechen; zur Unterstützung meiner Beweisführung deutete ich nur nach dem Kaminfeuer, das eben des sauberen Kunden Anschläge verzehrt hatte.

Nicolette sagte nicht Nein nicht Ja, sie stand wie von 271 Angst gebunden, als könnte sie weder vorwärts noch zurück.

»Es wird Ihnen wohl sehr schwer, den schönen Herrn zu verbannen?« sprach ich scherzhaft.

Sie aber erwiderte fast zornig: »Nicht im Mindesten!«

»Sie lieben ihn nicht?«

»Wo denken Sie hin! Er ist mein leiblicher Vetter.«

»Man hat Beispiele,« versetzt' ich lachend, »daß der Vetter die Base nahm.«

»Diesmal nicht!« antwortete Nicolette. »Verlassen Sie sich darauf, daß mein Vetter Ihnen im Haus und im Dorfe nicht wieder begegnen soll. Ich meinestheils bin überzeugt, daß er aus eigener Ansicht schon das Weite gewonnen hat.«

»Um so besser!«

Es ward eine kleine Pause fühlbar. Das Mädchen wollte offenbar noch etwas sagen und konnte sich nicht dazu entschließen. Ich war müde. Darum verbeugt' ich mich in aller Höflichkeit und sprach: »Sie haben gesehen, daß wir keine Barbaren sind; ich hoffe, mein Fräulein, daß wir Beide, unter einem Dache hausend, sanft und geruhig schlafen werden.«

Sie machte einen Schritt vorwärts und flüsterte, die Augen zu Boden gesenkt: »Sie waren heute sehr gut zu uns, mein Herr . . .« dann stockte sie.

Ich mußte lächeln. Sie wollte offenbar Dank sagen, aber das anerkennende Wort zum Feinde entrang sich ihren Lippen noch nicht. Sie konnt' es nicht aussprechen und ich – wollt' es nicht hören.

»Gute Nacht denn, Fräulein Nicolette!« sagt' ich 272 heiter und reichte meiner kleinen Wirthin treuherzig die Hand hin.

Aber es war auch noch nicht an dem, daß sie eine Hand ergriff, die sozusagen »vom Blute der Ihrigen geraucht hatte«. Sie verbeugte sich wie in der Tanzstunde vor mir, sagte ein leises »gute Nacht, mein Herr!« und ging.

Hart vor der Thüre nur schlug dem Kinde der Schalk noch ein wenig in den Nacken. Sie wandte sich, wie um noch einen letzten Gruß zu nicken. Da sahen mich die Augen groß an, anders als bisher, fast gutmüthig und recht neugierig, gerade als sähe sie jetzt erst den Menschen vor sich, wie er war, nachdem sie bislang nur ein Ungeheuer gesehen, das der Haß ihr entstellt hatte. Erschrak sie selbst über diese Wahrnehmung? ärgerte sie ihr eigener Blick? Rasch wandte sie das Haupt zur Seite, wie in Verlegenheit Rath suchend. Da fand sie den Hund neben sich stehn, der erwartend zur Beherrscherin der Speisekammer wie zu seiner Vorsehung emporgaffte.

»Komm!« sagte sie ganz leise und verschwand und Flinserl mit ihr.

Ich aß, was auf dem Tische stand, ich trank, was in der Flasche war, ich lobte den Gott der Schlachten, der zwischen dem Dorngestrüpp der Müh- und Drangsale doch ab und zu die Rose eines schönen Augenblicks wachsen ließ, und schlief den Schlaf des Gerechten bis an den lichten Tag. –

Ich besann mich, wie spät es sein möchte, da hört' ich an der Zimmerthüre kratzen; dann ward diese handbreit geöffnet und herein kam Ehren-Flinserl, übermüthig 273 auf drei Beinen tanzend und nach dem zweiten mißlungenen Versuch mein Bett dennoch im Sprung nehmend.

Ich staunte. War das mein Flinserl? Er, der noch gestern, ganz in Staub und Schmutz getaucht, wie ein wandelndes panirtes Cotelett ausgesehn, und an »Hamlets rauhen Pyrrhus« erinnert hatte, »beschmiert mit grausamer Heraldik«; er zappelte vor mir auf der Decke, gewaschen und gekämmt, frisirt und zugerichtet, ein Bild der Reinlichkeit und Sorgfalt, wie ein von Watteau gemaltes Schäferhündchen, wie das Schooßhündchen einer Marquise.

Er war sich seiner vortheilhaften Wandlung ordentlich bewußt und deutete mir sein Behagen mit allerhand Mätzchen und Männchen an, die er über mir aufführte.

Ich verhehlte ihm meine Ueberraschung nicht und da ich selbst, nach langen Wochen zum ersten Mal wieder zwischen zwei weißen Laken aufwachend, in rosiger Laune war, fragt' ich ihn nach bekannter Melodie:

»Wer hat Dich, Du schöner Hund,
Aufgeputzt so hoch da droben?!«

Der Aufputz »hoch da droben« war keine leere Redensart. Flinserl trug auf dem perlgrau und braun melirten Schopf eingeflochten eine blaue Seidenschleife, deren spitzgeschnittene Zipfel ihm coquett über den Ohren emporstanden. Es war Nachdenken und Geschmack in dieser Frisur. Man mußte sich Müh' und Zeit gegeben haben, bis das ungeberdige Kerlchen in dieser Verfassung sich darstellen konnte.

Und da ich gerade Zeit hatte, ward ich nun selber über den Fall nachdenklich. Wer es gewesen, der des 274 Hauptmanns Hund mit solcher Sorgfalt behandelt, darüber braucht' ich mir den Kopf nicht zu zerbrechen. Ich fand es ungemein liebenswürdig, den Dank, welchen man in Worten nicht über die Lippen brachte, so zierlich und wohlthuend durch seiner Hände Mühsal auszudrücken. Und als mein Zweifel dagegen aufbrachte, daß es nur überhaupt der allgemeine Sinn für reinliche Hausgenossenschaft, kein persönlich Meinen sei, das Flinserl zu Gute gekommen, da fiel mir ein Spruch Altenhöfers ein, der nach irgend einem Morgenländer zu sagen pflegte: Du liebkosest meinen Hund, also willst Du Dich bei mir einschmeicheln.

Solch Nachdenken im Müßiggang ist dem Herzen gefährlich.

Es war auch keineswegs meine Absicht, lange dabei zu verweilen.

Als ich beim Frühstück meinen Pintscher nach Gewohnheit betheiligen wollte, wies der mit fürnehmer Schnauze jeden Bissen, selbst den sonst so beliebten Zucker zurück. »Also nicht nur gebadet und gesalbt, Du bist auch satt, ›bummsatt‹, wie man zu sagen pflegt! Wahrlich Du hast ein ordentlich Ränzchen um. Pfui Sybarite!«

Nachdem ich mir nun selber fast alle die Sorgfalt angedeihen lassen, die schönere Hände meinem Hund erwiesen, was war natürlicher, da ich Nicolette im Garten sah, als mich bei ihr zu bedanken.

Ich brauchte nur Flinserl zu folgen, der hurtig auf der Spur seiner Wohlthäterin war.

Also diese blassen Wangen konnten auch erröthen! Es ließ ihr gut. Und wie sie so vor mir stand, in lichtem, 275 eng anschließendem Kleide, das Haupt vor meinen Reden zur Seite gebeugt und in der Hand die Ranken einer Winde zum Spiel ihrer Verlegenheit, da gefiel sie mir über die Maßen.

Ich war annoch nüchternen Herzens genug, um mir zu sagen, daß diese scharfen Züge nicht schön waren. Aber der Zauber der Anmuth, der über dem ganzen Wesen ausgegossen war, that mir so wohl, daß ich mit Behagen bei ihr verweilte und allmälig auch alles das meinem Wunsch entsprechend fand, was mich anfangs an der Tochter des Feindes befremdet hatte.

Ich sagte mir wohl, daß mein Gemüth ausgehungert war, daß ich über hundert Tage nur gräuliche bäuerische Weibsbilder in Holzschuhen oder barfuß gesehen, daß das Wohlleben, welches mich nach zahllosen Entbehrungen und Strapazen hier anheimelnd umfing, meine Seele weich und die sichere Aussicht, in wenigen Tagen von dieser Oase weggeführt zu werden, meine Sinne begehrlich stimmten. Ich sagte mir noch viel mehr dergleichen. Es ist ein müßig Spiel, seines Gefühls Motive zu zergliedern. Wenn einer ordentlich Zahnweh hat, was hilft's, daß er sich ausrechnet, aus welchen Ursachen er es sich geholt hat; es thut eben weh. Und mit dem Herzen ist's auch so.

Und um es kurz zu sagen. Gemach, gemach verfiel ich zu meines Wirthes Töchterlein in eine still brennende Liebe, die mich ganz und gar gefangen nahm.

Ich glaubte mir's im Anfang selber nicht, war brummig, zurückhaltend und unzufrieden mit Allem. Der Alte kam noch am dritten Tage nicht zurück. Er schrieb aber einen Brief, darin er sein Kind aller Angst um ihn sich zu 276 entschlagen bat. Er wäre frei und verweilte nur noch in Nanzig. um für seine Gemeinde, die in schlechtem Ruf bei den Deutschen stände, eine nachsichtigere Behandlung zu erwirken. Er leide in der Entfernung, aber es sei zum Wohle seiner Mitbürger. Seine Freiheit danke er nächst eigener Entschlossenheit der Fürsprache seiner Einquartierung. Nicolette solle mir Dank sagen. Er wisse sie in den Händen eines braven Mannes, wenn auch Feindes, gesichert.

Nun dankte sie mir auch in ausgesprochenen Worten. Ich wies dieselben freimüthig zurück. Der alte Narr verdankte meiner Fürsprache so wenig wie seinem persönlichen Auftreten; aber er mußte seine Rolle haben, als deren endgiltige Belohnung er das Kreuz am rothen Bändchen in der Ferne winken sah.

Als er endlich heim kam, lief er breitspuriger als je im Dorf und Haus herum und erzählte aller Welt, was für Großthaten er gesprochen, was für Strafen er mit genauer Noth entronnen, was für Vortheile er seinen Mitbürgern heimgebracht habe.

Ich weiß nicht, wieviel daran Wahrheit war. Ich weiß nur, daß er infolge seiner Verdienste wenig daheim blieb und daß ich nach seiner Rückkehr mehr als vordem mit Nicoletten allein war. Die Zurückhaltung, die uns beiden vordem Pflicht erschienen, war nun gebannt. Wir waren als Hausgenossen aneinander gewöhnt und fehlte zur momentanen Annäherung jeder Grund, so sorgte Flinserl ungebeten für allerlei willkommene Veranlassung.

Ich ging mit Nicoletten stundenlang im Garten, ich half ihr im Haus, ich verschwatzte den Abend mit ihr. Die Zeit verfloß, ich weiß nicht wie. 277

An Vorwürfen über meine Narrheit ließ ich es nicht fehlen. Dann schritt ich durch's Dorf und fand dort überall dieselben Scenen. Der Haß der Feinde und Sieger war nicht ausgelöscht, aber da man nebeneinander leben mußte, nahm er sozusagen verträgliche Formen an, wenigstens unter den gemeinen Leuten, denen des täglichen Lebens harte Bedürfnisse nicht Zeit und Laune gönnen, ihren Gefühlen jene Opfer zu bringen, die der Gebildete mit möglichst viel Licht der Oeffentlichkeit beleuchtet.

Wo ich durch die Straßen wandelte, fand ich unsere Füsiliere, die sich schon aus angeborner Gutmüthigkeit und weil sie Langeweile hatten, bei ihren Quartiergebern nützlich machten. Dort schlug einer Holz, hier trug einer ein lothringisch Kind auf dem Arm, und drüben stopfte ein französisch Weib deutsche Strümpfe, während zwei Feinde einen Karren in die Scheune zogen.

Man will davon in Frankreich wahrscheinlich nichts wissen, und später, tiefer im Lande ward's auch schlimmer, aber damals war es so, wie ich sage. Der Haß brannte daneben auf beiden Seiten lichterloh, aber man meinte nach Sedan, der Krieg werde ein Ende haben, und man fühlte sich bei alle dem auch Mensch unter Menschen.

Mir kam's in jenen Tagen freilich besonders also vor. Und wenn Ihr mich auf's Gewissen fragt, wie es mit Nicolettens Herz gestanden, so darf ich sagen, ungefähr so, wie mit dem meinigen.

Sie war ein gut rechtschaffen Ding. Wenige Tage nach der Schlacht bei Sedan erst hatte man sie aus einem der Pensionate vom »heiligen Herzen« genommen. Von 278 ihren Verwandten abgesehen, war ich der erste Mann. mit dem sie seitdem gesprochen.

Sie haßte mich als den Feind und Unterdrücker, aber die Liebe fängt leichter beim Haß an als bei der Gleichgiltigkeit. Und da sie den Deutschen nach übertriebenen Schilderungen als Scheusal und Wilden gehaßt hatte, bat sie mir nach und nach im Stillen ein Unrecht um das andere ab, wie sie mich menschenfreundlich und verträglich fand und die vermeintliche Rothhaut vor ihren Kinderaugen immer mehr und mehr zum artigen Hausgenossen wurde.

Die Waffen freilich lagen nahe bei und das Getümmel und die Unruhe des Krieges waren auch in diesem stilleren Winkel noch vernehmlich genug, daß wir keinen Tag vergaßen, wie streng die Pflicht, wie traurig das Leben, wie hoffnungslos unsere Liebe war.

Ja wohl, sie liebte mich. Sie gestand es nicht, aber ich sah's, ich hört', ich fühlt' es. Sie litt in ihrer Liebe, aber trotz dieser Leiden liebte sie mich doch.

Freilich, wem Haß und Vorurtheil in solcher Zeit geweckt und genährt worden, für den behalten sie Hydraköpfe. Die Liebe mochte am Tag so viel dieser Drachenhäupter abschlagen, als sie wollte, in der Nacht wuchsen ihrer immer wieder neue nach.

Mein Gefühl für Nicolette war einfach und wohlthuend. Man verroht so schnell im Kriege. Ein Mensch von guter Art und Bildung ist sich dessen mit Bedauern bewußt, und wenn ihn zwischendurch ein freundlicheres Gefühl anwandelt, er weiß es seinem Schicksal Dank. So braucht' auch ich mich nicht gegen die gute Stunde zu sträuben. 279

Die arme Nicolette jedoch liebte nicht nur, sie haßte mich auch. Und ich glaube, sie wußte nicht recht, welches Gefühl das mächtigere in ihr war, bis zu dem Augenblick, der Alles entschied.

Wer dabei das beste Leben hatte, das war Flinserl. Ihm kam zugute, was die Liebe nur an heiteren Gedanken einem sinnigen Mädchen eingab, und kein Nationalhaß beeinträchtigte diese schönen Gedanken dem Hunde gegenüber, der keine Sprache sprach und sich in jeder Erfreuliches sagen ließ.

Er ward rund und lecker, er mästete sich wählerisch wie nur je ein verwöhnter Provinzler, kein Stäubchen ward auf seinem Fell geduldet, sein Haar glänzte wie das eines Modegecken und das Schleifchen auf seinem Schopf war jeden Wochentag von anderer Farbe.

Er wußte wohl, woher ihm all' die Wohlthat kam, und man sah Flinserl nicht mehr ohne Nicoletten und das Mädchen nicht mehr ohne den Hund.

Wir anderen Beide hingen und bangten in schwebender Pein; dem Pintscher war über die Maßen wohl dabei.

Da find' ich eines Abends meinen Burschen Caspar mit blutrothem Kopf, mit vorgequollenen Augen und geballten Fäusten umgehen.

»Was hat's denn gegeben?« fragt' ich.

»Unverschämt wird das G'lump!« schrie er fast lauter, als es die Subordination gestattet, und als ich ihm auf den Zahn fühlen wollte, schwieg er, wie wenn er mich nicht für unparteiisch genug erachtete, ihn anzuhören. Er drückte sich, sobald er durfte, hinaus; aber er machte 280 den Eindruck eines, der heute Händeln nicht aus dem Wege gehen wird.

Ich betrachtete meinen Wirth. Der stolzierte mit hohem Kinn und trällernden Lippen, die Hände tief in den weiten Sammet-Beinkleidern vergrabend, herum. Auch andere Dörfler reckten die Nasen höher als gewöhnlich. Es war nicht schwer herauszukriegen, daß ihnen erlogene Nachrichten die Köpfe verdreht hatten. Bazaine, der siegreiche Held, war schon wieder einmal von Metz ausgebrochen und hatte alle deutschen Heere bis nahezu Paris in einem Schlachten aufgerollt. Es war nur merkwürdig, daß unsere Handvoll hier nicht auch gefressen worden. Uns ließ das Märlein kalt. Aber die Franzosen bissen immer wieder an.

Auch Nicolette glaubte der erlogenen Botschaft. Hochgehobenen Hauptes, wenn schon in einer Anwandlung von Mitleid, kam sie in meine Stube. Ich glaube, sie wollte mir allen Ernstes den Rath geben, mein Heil in der Flucht zu suchen. Sie merkte bald, daß mich der Schwindel nicht anfocht, und ward nachdenklich und stille, noch unentschieden, wem sie glauben sollte. Sie seufzte. Das war für alle Fälle richtig.

»Mein liebes Kind,« sprach ich, »wie die Würfel fallen mögen, ich werde bald Abschied nehmen. Aber sicher noch nicht, um heimwärts zu ziehen.«

»Und wenn Sie die Heimat nie wiedersehen werden?« fragte sie traurig.

Ich lächelte und sagte getrost: »Vielleicht wird dann eine hübsche Französin, die ich liebgewonnen habe, einen Immortellenkranz auf des Fremdlings Grab legen.« 281

Ihr Auge ward feucht und sie sah mich unverwandt an, auch noch, da die Thränen ihr über die Wange liefen. Dann sagte sie: »Ich würde sehr traurig sein bei der Nachricht von Ihrem Tode.«

Ich schüttelte ihr die Hand, und da sie dies nicht weigerte, sagt' ich, daß ich einstweilen mich freute, zu leben. Und zum Beweise küßt' ich ihr die Hand und gleich ein Paar Mal, bis sie mir dieselbe plötzlich entzog.

»Haben Sie keine Braut in der Heimat?« fragte sie. Und da ich dies, der Wahrheit entsprechend, verneinte, ward sie purpurroth, zuckte mit den Lippen und – lief mit glühenden Wangen aus der Stube.

Am anderen Abend gaben's die Dörfler billiger. Mein Hauswirth lag auf seinem Sopha und versuchte wieder einmal fruchtlos, sich an den kurzgeschorenen Haaren zu raufen. Was im Orte französisch sprach, war wie auf den Kopf geschlagen. Ich habe wirklich eine größere Entmuthigung noch nie gesehen. Wir Deutschen athmeten hoch auf: Metz war gefallen. Die napoleonische Legende beschlossen. Das Märlein von Bazaine zu Schanden geworden.

Flinserl erschien des anderen Morgens beim Lever mit einer schwarzen Schleife. Ich mußte lachen. «Bist Du zum Feinde übergegangen?« sagt' ich und schnitt dem Hunde das Band mitsammt dem Zopf ab. Er schien es nicht übel zu vermerken und war seines Daseins vergnügter denn je.

Ich kam an diesem Tage wenig in's Haus. Die neuesten Nachrichten, deren jetzt eine nach der anderen 282 eintraf, hielten uns beisammen auf dem Bahnhof. Welch ein Jubel! Auch meine arme Seele jubelte hoch auf. Ich war Soldat genug, mich von der Gewißheit nicht verdrießen zu lassen, daß heut' oder morgen landeinwärts marschirt werden müsse. Nun ging's vorwärts in die Cernirungslinie vor Paris. Paris: Hurrah!

Viel weiter dacht' ich nicht, meinte nichts anderes zu denken. Nur wenn ich dann in Haus und Garten die schlanke kleine Gestalt wandeln sah, die das Haupt gesenkt trug, als wär' ihr die Last ihrer schwarzen Haare oder ihrer stillen Gedanken zu schwer, dann fiel mir's mit wunderlicher Klarheit zu Sinn, daß ich mir, halb unbewußt, noch allerhand im Geiste zurechtgelegt hatte, ja daß ich mit diesem Grübeln und Zurechtlegen bei Tag und Nacht nicht aufhörte.

Ich packte mein Kofferchen. Wir hatten noch keinen Befehl zum Aufbruch. Aber wie lange konnt' es währen. Ich wollte bereit sein. Wer weiß, was die letzten Stunden bringen.

Mitten dabei, sah ich Nicolette im Garten. Ich durfte das Mädchen nicht rufen, aber ich lockte den Hund. Und da dieser zögerte, wie einer, der wohl gehorchen, aber sich auch nicht von seiner Begleitung trennen mag, auch wohl da sie selber sah, womit ich beschäftigt war, so gab sie nach. Sie kam, aber nur so gleichsam, um Flinserl Strafe zu sparen.

»Kann ich Ihnen helfen, Herr Hauptmann?« fragte sie.

»Verweilen Sie bei mir, das ist die beste Hülfe.« 283

»Warum packen Sie Ihren Koffer? Haben Sie Marschbefehl?«

»Noch nicht. Aber jede Stunde kann ihn bringen.«

Sie setzte sich und sann lange vor sich hin. Ich hielt inne mit den Händen und betrachtete das Mädchen. Ich sagte mir wieder, was ich mir diese Wochen schon öfter gesagt hatte. Sie war nicht eben häßlich, sie war nicht eben schön; sie war eigen und anders als alle anderen. die ich je gesehn; sie hatte Anmuth in allen Bewegungen, Geschmack in Allem, was sie that und ließ, und den Chic der Französin. Und über alledem ein braves Herz, das mich lieb hatte.

Aus ihrem Nachdenken aufblickend, sagte sie jetzt auf einmal: »Es ist recht hart. dies ewige Abschiednehmen.«

»Es ist Pflicht!« gab ich zur Antwort. »Und in unserem Stande lernt man, freudig seine Pflicht zu thun.«

»Ich bin dafür noch nicht Soldat genug!« versetzte sie mit lächelndem Mund und traurigem Blick. Stand auf und half mir mein bischen Wäsche ordnen.

»Wohin werden Sie nun gehen?«

..Das weiß ich nicht . . . wohin man mich commandirt.«

»Nach Paris!« sagte sie leise und verbarg eine Thräne, deren sie nicht Herr werden konnte.

»Werden Sie an mich denken, wenn ich fort sein werde?« fragt' ich.

Sie antwortete nicht. Erst nach einer Weile hob sie das Haupt hoch, und mich fest in's Auge fassend, versetzte sie: »Et vous?« 284

»Ich, Nicolette, ich denk' an Sie, wo immer ich bin, und ich hoffe, daß die Zeit nicht allzu ferne, da werden Sie auch wieder neben mir sein, wo ich an Sie denke, und nicht zum Abschiednehmen.«

»Mein Herr, was meinen Sie?« sprach die Französin und wich zurück, aber ich hatte ihre Hand über dem Kofferchen gefaßt und zog die Schlanke jetzt sanft an mich. Sie widerstrebte kaum mehr.«

»Süße Feindin,« sprach ich, »ich meine, daß ich Sie recht liebe. Und Sie?«

Nicolette gab kein Wort zurück. Nur nach einigem Besinnen schüttelte sie verneinend das Haupt. Aber derweilen sie so that, legt' ich den Arm um ihre Taille und so kam's, daß das verneinende Haupt an meiner Brust lag. Ich hob mit dem Finger das Kinn empor und sah der Liegenden in die Augen. Die Augen vermochten es nicht zu lügen. Wie sie mich lang und innig anblickten, fing auch der Mund zu lächeln an, und wie ich sie inniger an mich zog, schlangen sich ihre Arme lieb und fest um meinen Hals und wir küßten uns zum ersten Mal, und küßten uns oft und innig, wie sich Brautleute küssen.

Da zuckte Nicolette plötzlich in meinen Armen zusammen. Ich horchte auf. Es war Gesang im Garten. Sie rang sich los. Ich horchte näher zu. Eine Männerstimme trällerte die Marseillaise.

»Le jour de gloire est arrivé...«

klang es deutlich; dann verlor sich's gegen den Garten.

Mir schoß das Blut zu Kopf. »Das ist François' Stimme!« rief ich, griff neben den Koffer, wo mein 285 Revolver lag, stieß das Fenster auf und spannte den Hahn vor der Trommel.

Dort drüben hinter den Bohnenstangen sang's noch.

Nicolette hing sich an meinen Arm, daß ich ihr ganzes Körpergewicht fühlte, und rief bittend: »Aber nein! Es ist nicht François . . . Das ist ja des Vaters Stimme! . . . Tödte nicht, damit Du selber nicht getödtet werdest!«

Ich legte die Waffe auf den Tisch. Was lag mir viel an François! Aber der Zorn war wach. Und kaum halb besänftigt, sprach ich zu dem zitternden Mädchen: »Nicolette, reden wir ernsthaft. Die Kugel, die mir bestimmt ist, kann mich bald, kann mich heute noch treffen. Sei's! der Krieg hat Bessere schon dahingerafft. Ich bin Soldat! Aber ›eine jede Kugel trifft ja nicht!‹ heißt ein deutsches Lied. Ewig kann dies Schlachten und Grausen zwischen den beiden civilisirtesten Nationen des Festlandes nicht dauern. Es wird Friede werden über kurz oder lang. Darf ich dann wiederkommen, Nicolette. wenn ich am Leben bin?«

Sie blickte finster, ballte die Fäuste wie vor einem Krampf und lispelte »à quoi cela menerait-il?« wie ein deutsches Mädchen auch gesagt haben würde: Wozu soll's führen?

»Närrchen!« rief ich, »zu dem Ende, daß ich Sie mitnehme, als meine liebe kleine Frau, in die Heimat!«

Sie schrie auf. »Ich! . . . . Zu Euch?! . . . . Niemals!«

»Voyons, voyons!« sagt' ich, die Sträubende nochmals an mich ziehend und im Stillen das Lied verwünschend, das wieder aus dem Garten hörbar klang. Aber ich 286 übertönt' es mit sprudelnden Worten, die das Lob der Heimat und das Glück an ihrer Seite feierten.

Sie wand und quälte sich und, da ich sie nicht lassen mochte, schlug sie in leidenschaftlicher Wildheit die Hände vor die Augen und rief: »Pfui, ich bin eine Nichtswürdige! eine Schande meines Volkes! . . . lassen Sie mich! Oder wollen Sie's durchaus hören, daß ich Sie liebe?! Ja denn, so hören Sie's! Ich liebe Sie wie eine Närrin, wie eine Verhexte. Aber noch bin ich eine Französin. Und wenn ich Sie tausendmal mehr liebte, lieber wollt' ich hier todt hinfallen und Vater und Vaterland nie wiedersehen, als mit Ihnen in Ihr grausiges Land gehen und an Ihrem Herde sitzen, ein Spott der Fremden und den Meinigen ein Abscheu!«

Hei! was klang die Stimme des Mädchens schrill. Ich hörte gern ihr zu. Sie hatte mir nie besser gefallen, als in diesem Momente, wo alle Fibern ihres Angesichts zuckten und die blitzenden Augen an mir hingen, als wollten sie mich versengen und verzehren.

Aber Flinserl, den dies heftige Reden aus seinem besten Verdauungsschlafe gestört, Flinserl fuhr erschreckt in die Höhe und nahte bellend, auf vier Füßen hüpfend, alle Borsten vom Leibe sträubend, der Zornigen.

Wer von uns Beiden achtete jetzt wohl auf den Hund! Nicolette am allerwenigsten. Die lang verhaltene Heftigkeit ihres Temperamentes war nun losgebunden, sie berauschte sich am Ton der eigenen Stimme und lauter als vorher, um des Hündchens Bellen zu übertönen, fuhr sie fort. »Ich Dein Weib? Aber, Gott verzeih mir, lieber noch das Weib eines Preußen! Weißt Du denn nicht, 287 wer Du bist, wer Du mir ewig sein mußt? Du Ungeheuer, Du Schlächter, Du Mordbrenner von Bazeilles!«

Das große Wort war ausgesprochen. – »Am Tage des Gerichts hoff' ich vor Gott zu bestehen, weil ich am Tage der größten Noth treu meine Pflicht gethan habe,« sagt' ich; »Du sollst nicht richten!«

Und ich ließ sie nicht los. Ich wollte die Liebe zwingen, über den Haß zu entscheiden. Ich wollte Nicolette noch einmal küssen und küssend besänftigen. Die Rasende jedoch stieß und schlug und wand sich. Ich wollt' ihr nicht wehe thun, aber ich ließ sie nicht frei. So fast ringend, kam sie dem Tische näher. Und Flinserl, der sich nun einbildete, wir spielten. wollt' auch sein Theil und faßte hurtig im Sprung Nicolettens Gewand an der Schleppe und zog und zog, als gält' es, sich die Zähne auszubrechen.

»Ah, du bist's!« rief das glühende Mädchen nun dem Hunde zu. »Gut denn! Da!«

Dicht vor meinen Händen knallte ein Schuß. Ich sah meinen Revolver in Nicolettens Hand. Entriß ihn ihr in der nächsten Secunde und beide starrten wir auf das arme Flinserl, das sich krümmend und überstrauchelnd auf blutberonnener Diele wand.

Der arme Hund war schlecht getroffen. Vorwurfsvoll hob er das Haupt gegen uns mit schmerzlicher Geberde, als wollt' er reden und sagen: Menschen, Menschen, was für Ungeheuer seid ihr! Wir armen Geschöpfe betrachten euch als die Götter der Gerechtigkeit und Güte und lieben euch mit aller Seelenkraft und hängen an euch mit einer Treue, von der ihr keine Ahnung habt. Und ihr lohnt 288 uns tückisch, nichtswürdig, grausam, so! . . . so! Und du siehst und duldest solches. auch du!

Mich jammerte der armen Creatur. Es knallte noch einmal. Flinserl hatte aufgehört zu leiden. Es ist ja ein Vorrecht der Hunde, daß man ihnen den Gnadenstoß geben darf.

Blut, Knochensplitter und Gehirnsubstanz . . . es klebte hier und dort an Nicolettens Schleppe. Mir graute. Ich warf die Waffe hin. Das Mädchen lag im Lehnstuhl, ein Weinkrampf schüttelte sie. Ich kehrte mich nicht daran und schellte dem Burschen.

Caspar kam, wie wenn er vor der Thüre gestanden wäre. Ich sah ihn an und er mich, als wüßt' er, als hätt' er längst voraus geahnt, was geschehen war. Er riß ein Tuch aus dem Koffer, breitete es aus und sammelte darein, was von dem armen Flinserl noch übrig war.

Lautlos that der finsterblickende Waldler das Nöthige. und wie er die Zipfel des Tuches endlich zusammennahm, sagte er trotzig vor sich hin.

»Lieb Vaterland, kannst ruhig sein!«

und ging.

Ich wußte nicht recht, wie er's meinte, und sah ihm nach, wie er die Schaufel François' auf die Schulter nahm und, das Tuch in der Linken, am Hause vorüber nach dem Garten schritt.

Eine Secunde war mir's wie eine Vision. Es ward roth vor meinen Augen, roth und schwarz. Ich sah Caspar vor mir, aber nicht, wie ich ihn eben gesehen, sondern geschwärzten Angesichts, mit hochgekrämpelten Aermeln und 289 haarigen Armen, das Faschinenmesser zwischen den Zähnen, in Dampf, Qualm und Blut, den werkenden Holzknecht aus dem Walde, den Rächer seiner Brüder, den Heros von Bazeilles.

Es war eine Minute. Dann griff ich nach Säbel und Mütze und rannte hinaus, ohne mich umzusehen.

Wo ich hingegangen, weiß ich heute nicht mehr. Als ich zurückkam, ging ich nicht zuerst in meine Stube, sondern in den Garten.

Ich bin mein Lebtag nicht sonderlich zur Sentimentalität veranlagt gewesen und war es in jenen Tagen wohl noch weniger, denn je. Wer so Furchtbares erlebt, wie wir es erlebt hatten, wer Schicksalen entgegenging, wie sie uns schwanten, der setzte einen kleinen Pintscher, auch wenn's ein gut und eigen Hündlein war, gar nicht in die Verlustrechnung.

Indessen . . . jenun . . . ich glaube schon gesagt zu haben, als ich heimkam, ging ich zuerst in den Garten und sah mich um, was Caspar gemacht hatte. Da der Bursche mich von Ferne merkte, nahm er die Schaufel wieder auf die Achsel und machte einen Umweg im Halbkreis durch die Beete, um mich nicht ansehen, nicht grüßen zu müssen. Der Mann aus'm Wald, der immer an Heimweh und Langweile litt, hatte an dem putzigen Thierchen seinen stillen Zeitvertreib verloren.

Ich brauchte nicht lang zu suchen. Es trieb mich zu derselben Stelle, wo ich in voriger Woche den Topf mit der Postcassette ausgegraben hatte. In dasselbige Loch, das er noch offen gefunden, hatte Caspar das todte Flinserl gelegt und die Erde darüber in ein spitz Hügelchen 290 aufgeworfen und auf den Gipfel ein breit geschnitztes Holz gepflanzt.

Ich sah, es war auch etwas darauf geschrieben. Ich bückte mich, da es dämmerte, nieder und las aus ungefügen Buchstaben das Sprüchwort ab:

Hier liegt der Hund begraben.

Es ward Nacht und ward kühl. Ich ging nachdenklich aus dem Garten.

Was liegt an eines Hundes Leben!

Man kann auch sagen: Was liegt an eines Menschen Glück! –

Noch in derselbigen Nacht kam der Befehl zum Aufbruch.

Da ich die Compagnie nach dem Bahnhof führte, mußt' ich am Haus meiner Wirthe vorüber. Vor einem Fenster im Erdgeschoß war ein Laden aufgestoßen. Ich sah im Fensterrahmen Nicolette stehen, blaß und regungslos, als wär' es ein steinern Frauenbild, die Arme unter dem Busen verschränkt, als hielte sie ihr Herz fest. Sie winkte nicht, sie nickte nicht, und mir fiel es nicht ein, das Haupt zu wenden.

Wir rückten ein in den eisernen Ring, der das große Paris umschloß. Ich entschlug mich lästiger Gedanken. Das Neue wirkt ja immer mächtig auf ein begehrliches Herz. Arbeit gab's genug. Eine Woche später schon trugen sie mich verwundet aus dem Feuergefecht. Ich brauche Euch nicht zu versichern, daß ich nicht etwa, wie man sagt, »den Tod gesucht habe«. Ich kriegte meine Kugel schlecht 291 und recht, wie jeder andere, der in solchem Augenblick seine Gedanken auf weiter nichts als seine Pflicht und Schuldigkeit richtet. An Nicolette hatte ich, seit wir Lothringen verlassen, kaum mehr gedacht; ich hatte mir's verboten, an sie zu denken, und fiel mir das Mädel trotzdem in Sinn, so wandelte mich, Gott verzeih' mir's, ein Gelüsten an, als sollt' ich nach ihr schlagen.

Mein Bursche Caspar war schweigend um meine Lagerstatt beschäftigt. Er hatte mir seit Flinserls Begräbniß »einen Kopf gemacht«, will sagen, kein heiteres Gesicht gezeigt.

Wenn zufällig auf dem Marsch oder im Gefechte mein Auge dem seinigen begegnete, so fand ich hinter seinen buschigen blonden Brauen einen strengen, fast gehässigen Blick auf mich gerichtet. Mehr als einmal mußt' ich merken, daß jede meiner Bewegungen von ihm beobachtet wurde. Mir kam es vor, als wäre sein Hauptmann vor des gemeinen Manns Gedanken »entgöttert« worden. Der Kerl hielt stillschweigend über mir sein wunderlich Vehmgericht und er war der Mann darnach, nicht nur also Gericht zu halten, sondern den Spruch, wenn er mich verurtheilt, eigenhändig zu vollziehen.

Ich mußte lachen im Stillen und beredete ihn nicht. Nun, ich habe gut bestanden. Wie ich so dalag und litt und die schlichte Stube sich mit mir im Kreise zu drehen schien, da merkt' ich wohl, daß mir der Caspar viel in heimlichen Gedanken abbat – viel, nicht alles.

Er pflegte mich gut und treu.

Und wie mir die fünf Sinne wieder besser gehorchten, und wie ich so still dalag und von der Straße das Tosen 292 der Regimenter heraufscholl und aus der Ferne die Musik der schweren Geschütze ihren gewaltigen Grundbaß zu meinen Gedanken gab, da fiel mir allerhand aus vergangenen Tagen ein. Da dacht' ich auch wieder an Nicolette.

Und ich dachte milde von ihr und freundlich. Und ich sann darüber nach, warum sie gerade so gehandelt und nicht anders, in der Bedrängniß des Schicksals und ihrer eigenen Sinne. Und ich mußte finden, daß sie recht und brav sich vertheidigt hatte und daß sie recht gethan nach ihrem Sinn, zwischen dem Fremdling, zu dem sie den alten Haß denn doch nicht ganz konnte tilgen, und ihrem sehnenden Herzen jenen blutigen Strich zu ziehen, über den keins von Beiden mehr zum andern konnte, ob er auch nur mit eines Hundes Blut gezogen war.

Armes Flinserl, für Dich freilich war es hart. Aber was wäre weiter aus Dir geworden im Winterfeldzug und in den gräulichen Tagen um Orleans!

Kläglich blieb's immerhin, daß gute Menschen, die sich hätten glücklich machen sollen, so grimmig von einander scheiden mußten. Und es gab annoch Stunden genug, da ich mich fragte, ob es sein mußte und ob mich Nicolette denn wirklich auch geliebt hatte. Ich sah sie immer wieder des Nachts im Fenster. Dies letzte Bild stand häßlich und hart in meiner Erinnerung.

Eines Tages legte Caspar ein Blättchen auf mein Bett. Es war ein glänzend Papier mit viereckigem Spitzenrand, darauf ein Gebet gedruckt, wie man's Kindern in Schulen und Kirchen schenkt.

»Was soll's?« fragt' ich den Burschen.

»Weiß ich's!« antwortete dieser. »Ich versteh das 293 wälsche Zeug nicht. Ich hab's in der Wäsch' gefunden. Also gehört's wohl dem Herrn Hauptmann.«

Ich nahm und las. Es war ein französisch Vaterunser. Zwei Zeilen waren zierlich, aber deutlich angestrichen:

»Und vergieb uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.«

Ich las und las immer wieder, bis mir die Augen übergingen. Ich war damals noch schwach und krank und nahm mir das Thränlein nicht übel, das mir über die wettergehärtete Wange in den offenen Hals lief.

Ich behielt das Blättchen unter meinem Kopfkissen, so lang ich krank war, ich behielt es in der Brusttasche, sobald ich wieder Dienst thun konnte. Ich hab' es bei mir getragen wie ein Amulett, nicht doch, wie einen segnenden Gedanken eines guten, kindlich schönen Herzens, in den Schlachten vor Paris, im wiederholten Würgen um Orleans, im großen Kampfe bei Le Mans. Ich trug es bei mir, da wir als Sieger einzogen in die jubelnde Vaterstadt.

Mehr als einmal in jenen schweren Tagen hab' ich still für mich mein Vaterunser gesagt und jene eine, die angestrichene Bitte immer auf Französisch.

Siegvater soll zwar, wie ich neulich in einem witzigen Gedicht gelesen habe, »selber ein Germane« sein, aber wenn auch, ich bin überzeugt, daß mein Herrgott mich auch so verstanden und daß er einem braven Soldaten diese kleine Felonie nicht übel angerechnet hat.

Nicolette hab' ich nicht wiedergesehn; aber ich hab' oft an sie gedacht. 294

Lang ist's Friede. Gott sei Dank! Manchmal schwärmen meine Gedanken über den Rhein. Wälsch-Lothringen ist ein schönes Land. Und wenn mich einmal wieder Reiselust packt, je nun, wer weiß, dann führt mich der Weg vielleicht über Nanzig. Dann will ich nachseh'n, ob jene noch auf dem alten Hause sitzen, und – das versteht sich – auch nicht übersehen: wo der Hund begraben liegt.

 


 


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