Homer
Odyssee
Homer

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Also sprach sie; da schwoll mein Herz vor inniger Sehnsucht,
205  Sie zu umarmen, die Seele von meiner gestorbenen Mutter.
Dreimal sprang ich hinzu, an mein Herz die Geliebte zu drücken;
Dreimal entschwebte sie leicht, wie ein Schatten oder ein Traumbild,
Meinen umschlingenden Armen; und stärker ergriff mich die Wehmut.
Und ich redte sie an, und sprach die geflügelten Worte:

210 

Meine Mutter, warum entfliehst du meiner Umarmung?
Wollen wir nicht in der Tiefe, mit liebenden Händen umschlungen,
Unser trauriges Herz durch Tränen einander erleichtern?
Oder welches Gebild' hat die furchtbare Persephoneia
Mir gesandt, damit ich noch mehr mein Elend beseufze?

215 

Also sprach ich; mir gab die treffliche Mutter zur Antwort:
Mein geliebtester Sohn, Unglücklichster aller, die leben!
Ach! sie täuschet dich nicht, Zeus' Tochter Persephoneia!
Sondern dies ist das Los der Menschen, wann sie gestorben.
Denn nicht Fleisch und Gebein wird mehr durch Nerven verbunden;

220  Sondern die große Gewalt der brennenden Flamme verzehret
Alles, sobald der Geist die weißen Gebeine verlassen.
Und die Seele entfliegt, wie ein Traum, zu den Schatten der Tiefe.
Aber nun eile geschwinde zum Lichte zurück, und behalte
Alles, damit du es einst der lieben Gattin erzählest.

225 

Also besprachen wir uns miteinander. Siehe da kamen
Viele Seelen, gesandt von der furchtbaren Persephoneia,
Alle Gemahlinnen einst und Töchter der edelsten Helden.
Diese versammelten sich um das schwarze Blut in der Grube.
Jetzo sann ich umher, wie ich jedwede befragte.

230  Aber von allen Entwürfen gefiel mir dieser am besten:
Eilend zog ich das lange Schwert von der nervichten Hüfte,
Und verwehrte den Seelen, zugleich des Blutes zu trinken.
Also nahten sie sich nacheinander; jede besonders
Meldete mir ihr Geschlecht; und so befragt' ich sie alle.

235 

Jetzo erblickt' ich zuerst die edelentsprossene Tyro,
Welche sich Tochter nannte des tadellosen Salmoneus,
Und die Ehegenossin von Kretheus, Äolos' Sohne.
Diese liebte vordem den göttlichen Strom Enipeus,
Der durch seine Gefilde, der Ströme schönster, einherwallt.

240  Einst lustwandelte sie an Enipeus' schönen Gewässern;
Siehe da nahm der Erderschüttrer seine Gestalt an,
Und beschlief sie im Sand', an der Mündung des wirbelnden Stromes.
Rings um die Liebenden stand, wie ein Berg, die purpurne Woge,
Hochgewölbt, und verbarg den Gott und die sterbliche Jungfrau.
245  Schmeichelnd löst' er den Gürtel der Keuschheit, und ließ sie entschlummern.
Und da jetzo der Gott das Werk der Liebe vollendet;
Drückt' er des Mädchens Hand, und sagte mit freundlicher Stimme:

Freue dich, Mädchen, der Liebe! Du wirst im Laufe des Jahres
Herrliche Söhne gebären. Denn nicht unfruchtbaren Samen

250  Streut ein unsterblicher Gott. Du pfleg' und nähre sie sorgsam.
Jetzo gehe zu Haus', und schweig, und sage dies niemand:
Ich, dein Geliebter, bin der Erderschüttrer Poseidon.

Also sprach er, und sprang in des Meers hochwallende Woge.
Tyro ward schwanger, und kam mit Pelias nieder und Neleus,

255  Welche beide des großen Zeus' gewaltige Diener
Wurden: Pelias einst, der iaolkischen Fluren
Herdenreicher Beherrscher, und Neleus, der sandigen Pylos.
Andere Söhne gebar dem Kretheus die Fürstin der Weiber,
Äson und Pheres, und drauf Amythaon, den Tummler der Rosse.

260 

Auch Antiope kam, die schöne Tochter Asopos',
Rühmend, sie habe geruht in Zeus' des Kroniden Umarmung.
Und sie gebar dem Gott zween Söhne, Amphion und Zethos.
Diese bauten zuerst die siebentorichte Thebä,
Und befestigten sie; denn unbefestigt konnten

265  Beide, wie stark sie auch waren, die große Thebä nicht schützen.

Hierauf kam Alkmene, Amphitryons Ehegenossin,
Welche den Allbesieger, den löwenbeherzten Herakles
Hatte geboren, aus Zeus', des großen Kroniden, Umarmung.
Auch Megare, die Tochter des übermütigen Kreions,

270  Und des nimmerbezwungnen Amphitryoniden Gemahlin.

Hierauf kam Epikaste, die schöne, Ödipus' Mutter,
Welche die schrecklichste Tat mit geblendeter Seele verübet.
Ihren leiblichen Sohn, der seinen Vater ermordet,
Nahm sie zum Mann! Allein bald rügten die Götter die Schandtat.

275  Ödipus herrschte, mit Kummer behäuft, in der lieblichen Thebä,
Über Kadmos' Geschlecht, durch der Götter verderblichen Ratschluß.
Aber sie fuhr hinab zu den festen Toren des Todes,
Denn sie knüpft' an das hohe Gebälk, in der Wut der Verzweiflung,
Selbst das erdrosselnde Seil, und ließ unnennbares Elend
280  Jenem zurück, den Fluch der blutgeschändeten Mutter.

Jetzo nahte sich Chloris, die schöne Gemahlin von Neleus.
Mit unzähligen Gaben gewann er die schönste der Jungfraun,
Sie, die jüngste Tochter des Jasiden Amphions,
Welcher der Minyer Stadt Orchomenos mächtig beherrschte.

285  Pylos Fürstin gebar dem Neleus herrliche Söhne,
Nestor gebar sie ihm, und Chromios, und den berühmten
Periklymenos; drauf die weitbewunderte Pero.
Diese liebeten alle benachbarten Fürsten; doch Neleus
Gab sie keinem, der nicht des mächtigen Königs Iphikles'
290  Breitgestirnete Rinder aus Phylakes Auen entführte.
Schwer war die Tat, und nur der treffliche Seher Melampus
Unternahm sie: allein ihn hinderte Gottes Verhängnis,
Seine grausamen Band', und die Hirten der weidenden Rinder.
Aber nachdem die Monden und Tage waren vollendet,
295  Und ein neues Jahr mit den kreisenden Horen herankam;
Siehe da löste den Seher der mächtige König Iphikles,
Weil er ihm prophezeit. So geschah der Wille Kronions.

Jetzo erblickt' ich Leda, Tyndareos' Ehegenossin,
Welche ihrem Gemahl zween mutige Söhne geboren:

300  Kastor durch Rosse berühmt, und Polydeikes im Faustkampf.
Diese leben noch beid' in der allernährenden Erde.
Denn auch unter der Erde beehrte sie Zeus mit dem Vorrecht,
Daß sie beid' abwechselnd den einen Tag um den andern
Leben und wieder sterben, und göttlicher Ehre genießen.

305 

Drauf kam Iphimedeia, die Ehegenossin Aloeus,
Rühmend, sie habe geruht in Poseidaons Umarmung.
Und sie gebar zween Söhne, wiewohl ihr Leben nur kurz war:
Otos voll göttlicher Kraft, und den ruchtbaren Ephialtes.
Diese waren die längsten von allen Erdebewohnern,

310  Und bei weitem die schönsten, nach jenem berühmten Orion.
Denn im neunten Jahre, da maß neun Ellen die Breite
Ihres Rumpfes, da maß neun Klaftern die Höhe des Hauptes.
Und sie drohten sogar den Unsterblichen, ihren Olympos
Mit verheerendem Sturm und Schlachtengetümmel zu füllen.
315  Ossa mühten sie sich auf Olympos zu setzen, auf Ossa
Pelions Waldgebirg', um hinauf in den Himmel zu steigen.
Und sie hätten's vollbracht, wär' ihre Jugend gereifet.
Aber sie traf Zeus' Sohn, den die reizende Leto geboren,
Beide mit Todesgeschoß, eh' unter den Schläfen des Bartes
320  Blume wuchs, und dem Kinn die zarten Sprößlinge bräunten.

Drauf kam Phädra und Prokris, und Ariadne die schöne,
Jene Tochter Minos des Allerfahrnen, die Theseus
Einst aus Kreta entführte zur heiligen Flur von Athenä.
Aber er brachte sie nicht; denn in der umflossenen Dia

325  Hielt sie Artemis an, auf Dionysos Verkündung.

Mära und Klymene kam, und das schändliche Weib Eriphyle,
Welche den teuren Gemahl um ein goldenes Kleinod verkaufte.

Aber ich kann unmöglich sie alle beschreiben und nennen,
Welche Weiber und Töchter berühmter Helden ich schaute.

330  Sonst vergeht die ambrosische Nacht; und die Stunde gebeut mir,
Schlafen zu gehn, bei den Freunden in unserm gerüsteten Schiffe,
Oder auch hier, Die Reise befehl' ich euch und den Göttern.

Also sprach er; und alle verstummten umher, und schwiegen,
Horchten noch, wie entzückt, im großen schattigen Saale.

335  Endlich begann Arete, die lilienarmige Fürstin:

Sagt mir doch, ihr Phäaken, was haltet ihr von dem Manne,
Seiner Gestalt und Größe, mit solchem Geiste vereinigt?
Seht, das ist mein Gast! Doch jeder hat teil an der Ehre.
Darum sendet ihn nicht so eilend, und spart die Geschenke

340  Bei dem darbenden Manne nicht allzukärglich; ihr habt ja
Reiche Schätze daheim, durch die Gnade der Götter, verwahret!

Hierauf sprach zur Versammlung der graue Held Echeneos,
Welcher der älteste war von allen phäakischen Männern:

Freunde, nicht unserem Wunsch, noch unsrer Erwartung entgegen,

345  Redete jetzt voll Weisheit die Königin; darum gehorchet!
Aber Alkinoos selber gebührt es zu reden und handeln.

Ihm antwortete drauf Alkinoos wieder, und sagte:
Ja dies Wort soll wahrlich erfüllet werden, wofern ich
Leben bleib', ein König der rudergeübten Phäaken!

350  Aber der Fremdling wolle, wie sehr er zur Heimat verlanget,
Noch bis morgen bei uns verweilen, bis ich das ganze
Ehrengeschenk ihm bereitet. Die Fahrt liegt allen am Herzen,
Aber vor allen mir; denn mein ist die Herrschaft des Volkes.

Ihm antwortete drauf der erfindungsreiche Odysseus:

355  Weitgepriesener Held, Alkinoos, mächtigster König!
Zwänget ihr mich allhier auch ein ganzes Jahr zu verweilen,
Und betriebt nur die Fahrt, und schenktet mir Ehrengeschenke;
Gerne willigt' ich ein; auch wäre mir besser geraten,
Wenn ich mit vollerer Hand in mein liebes Vaterland kehrte.
360  Weit willkommener würd' ich und weit ehrwürdiger allen
Männern in Ithaka sein, die mich Heimkehrenden sähen.

Ihm antwortete drauf Alkinoos wieder, und sagte:
Deine ganze Gestalt, Odysseus, kündet mit nichten
Einen Betrüger uns an, noch losen Schwätzer; wie viele

365  Sonst die verbreiteten Völker der schwarzen Erde durchstreifen,
Welche Lügen erdichten, woher sie keiner vermutet.
Aber in deinen Worten ist Anmut und edle Gesinnung;
Gleich dem weisesten Sänger, erzähltest du die Geschichte
Von des argeiischen Heers und deinen traurigen Leiden.
370  Aber verkündige mir, und sage die lautere Wahrheit,
Ob du einige sahst der göttlichen Freunde, die mit dir
Hin gen Ilion zogen, und dort ihr Schicksal erreichten.
Diese Nächte sind lang, sehr lang! und noch ist die Stunde
Schlafen zu gehn nicht da. Erzähle mir Wundergeschichten.
375  Selbst bis zur heiligen Frühe vermöcht' ich zu hören, so lange
Du in diesem Gemache mir deine Leiden erzähltest!

Ihm antwortete drauf der erfindungsreiche Odysseus:
Weitgepriesener Held, Alkinoos, mächtigster König!
Reden hat seine Stund', und seine Stunde der Schlummer.

380  Aber wenn du verlangst, mich weiter zu hören, so will ich
Ohne Weigern dir jetzt noch tränenwerteres Unglück
Meiner Freunde verkünden, die nachmals ihr Leben verloren;
Die den blutigen Schlachten des troischen Krieges entrannen,
Und auf der Heimkehr starben, durch List des heillosen Weibes.

385 

Als sich auf den Befehl der schrecklichen Persephoneia
Alle Seelen der Weiber umher in die Tiefe zerstreuet;
Siehe da kam die Seele von Atreus' Sohn Agamemnon
Traurend daher, umringt von anderen Seelen, die mit ihm,
In Ägisthos' Palaste, das Ziel des Todes erreichten.

390  Dieser erkannte mich gleich, sobald er des Blutes gekostet.
Und nun weint' er laut, und vergoß die bittersten Tränen,
Streckte die Hände nach mir, und strebte mich zu umarmen.
Aber ihm mangelte jetzo die spannende Kraft und die Schnelle,
Welche die biegsamen Glieder des Helden vormals belebte.
395  Weinend erblickt' ich ihn, und fühlete herzliches Mitleid;
Und ich redet' ihn an, und sprach die geflügelten Worte:

Atreus' rühmlicher Sohn, weitherrschender Held Agamemnon,
Welches Schicksal bezwang dich des schlummergebenden Todes?
Tötete dich auf der Fahrt der Erderschüttrer Poseidon,

400  Da er den wilden Orkan lautbrausender Winde dir sandte?
Oder ermordeten dich auf dem Lande feindliche Männer,
Als du die schönen Herden der Rinder und Schafe hinwegtriebst,
Oder indem sie die Stadt und ihre Weiber verfochten?

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