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Am Fenster.

Seit fünfundzwanzig Jahren sitzt Tante Amalie da oben an dem Fenster hinter dem grünen Straßenspiegel, dem »Spion«, schiebt die weißen Mullvorhänge ein wenig zurück und beobachtet das Leben auf der Straße.

Vor dreißig Jahren ist sie in die Wohnung gezogen, drei Stuben, eine Küche und eine Kammer, eine Abteilung des Kellers, und ein Stück Garten hat sie damals mit Tante Marie gemietet. Anfangs hatte Tante Marie den Sitz am Fenster inne – da war der eine Vorhang immer ein wenig zurückgeschoben, denn Tante Marie konnte mit ihren gichtigen Händen nicht jedesmal den Vorhang heben, wenn jemand unten auf der Straße vorbeiging, der ihr fremd oder wichtig war, oder sonst ein Vorgang sich abspielte, der ihr nicht entgehen durfte. Damals war auch der Straßenspiegel gekauft worden, und so gab er nun schon dreißig Jahre das Leben der Straße auf- und abwärts in seinen hellen Scheiben wieder – aber seine Helligkeit hatte nicht gerade zugenommen dabei. Tante Amalie störte das nicht, daß er nun allmählich erblinden wollte. Denn damals schon wie heute noch sah sie nur wenig in den Spiegel, sondern sah lieber Menschen und Vorgänge selbst. Als nämlich Tante Marie gestorben war, fünf Jahre nachdem sie in die Wohnung gezogen waren, da nahm sie, Tante Amalie, den Platz am Fenster ein, strickte Strümpfe und Pulswärmer, Seelenwärmer und Bettdecken – nun schon fünfundzwanzig Jahre lang – versorgte die ganze Familie mit warmem Wollenzeug, ließ die alte, taube Magd die Küchenarbeit tun und ließ das Leben da unter sich gehen, wie es eben wollte, und sah ihm still gelassen zu. Sie wußte – so laut und bewegt es eben auch sein mochte, es wurde wieder still – und so totenstill es eben war, es wurde wieder lebendig, gerade wie es dunkel wurde nach dem Tage und hell nach der Nacht, und wie die Bäume grün wurden, wenn der Frühling kam, blüten, wenn Sommer war, Früchte trugen im Herbst und kahl und grau wurden im Winter. So sehr es wechselte, es blieb doch immer dasselbe – und wie auch alles dasselbe blieb, es war doch Wechsel darin. Junge kamen und wurden alt, Alte gingen und Junge kamen. Das blieb immer im gleichen Gang – das wechselte ein wenig die Farbe, ein wenig das Gesicht – die Augen ein wenig, die Nase ein wenig, den Namen – aber es war immer dasselbe.

Sie war nun alt und grau und gelassen mit ihren fünfundsechzig Jahren und hatte viele Runzeln im Gesicht und Falten in den Lippen, und ihre Hände waren dürr und welk und ihre Augen trübe. Es ging auch nicht mehr so wie früher mit dem Gehen, mit dem Bücken und Stehen, mit dem Hantieren und Arbeiten – es ging alles mit Geächz und Gestöhn und Beschwerde – und manches ging auch gar nicht mehr. Nur das Stricken, das Klappern mit den Nadeln, das war noch so leicht und flink und geschickt wie vor Jahren – und das ging so von selbst geradezu, daß sie noch in ihr Nachmittagsnickerchen hinein stricken konnte und schon vorm rechten Wiedererwachen die Nadeln wieder klappern ließ. Nur die alte Schwarzwälderin im Kasten war sich darin mit ihr gleich geblieben – und wenn sie während ihres Nachmittagsschläfchens täglich einen kleinen Ausstand machte, so entschädigte sich die Schwarzwälderin von ein Paar Jahren zu ein paar Jahren mit einem gründlichen Stillestehen, bis sie wieder frisch ausgestäubt und geölt war. Tante Amalie regelte das mit einem Viertelstündchen Tag für Tag.

Nicht immer war Tante Amalie so still und gelassen und gleichmäßig gewesen, nicht immer war sie »Tante« gewesen. Fünfzehn, sechzehn, siebzehn war sie auch einmal – und da war sie frisch und keck und schnippisch – und sang, wenn sie morgens aufstand, und sang, wenn sie abends schlafen ging – und saß über Tag nirgends still, und auch ihr Mundwerk brauchte nie der Nachhilfe. Dann ward sie achtzehn und neunzehn und zwanzig – und da tanzte sie, wo einer eine Geige strich oder eine Harmonika zog oder eine Zither schlug, wenn nur noch ein lustiger Bursch dabei war, der sie in seine Arme nahm und herumwirbelte. Und sie sah auch aus und um in jenen Jahren, wer der Schönste sei und Stärkste, und welcher am lustigsten sei und am leichtesten tanze, und es war nicht einer nur, der ihr gefiel. Sie selbst aber war damals wie ein Apfel, in den man beißen möchte, wie ein Pfirsich, der vor der Reife steht, wie eine Rose, die der Morgentau öffnet und aus der Knospenhülle lockt. Ein Paar Jahre später – da war sie fünfundzwanzig und war wie ein Apfel, der sich vom Zweige lösen möchte, war wie ein Pfirsich, der des Pflückens harrt, wie eine volle Rose, die blüht und duftet und die Königin des Gartens ist.

Und eine Königin war sie damals – ganz heimlich und verschwiegen, ganz selig in goldenen Träumen, ganz Liebe auf blühenden Wegen, auf mondlichthellen Pfaden, und Brust an Brust und Hand in Hand hinter schweigenden Hecken, in Winkel und Schatten. Sie sang manchmal, und es war ein Seufzer gemeint – sie seufzte manchmal, und es war ein Singen gemeint. Und es war ein Glück und ein Leid, ein Leid im Glück, ein Glück im Leid – so köstlich – wie Blüten im Mai, wie Vogellied im Sommer. Und es war ein Erwarten, Gedulden, Sehnen und Erschleichen – so köstlich in seiner Gefahr und so gefährlich in seiner Köstlichkeit. Und der Frühling hatte die Liebe geweckt, und geblüht hatte sie im Sommer, und eingeschlafen war sie im Herbst und gestorben im Winter. Und tot und begraben lag sie in einem jungen Herzen.

So wurde sie achtundzwanzig und neunundzwanzig und dreißig und fünfunddreißig – und da war sie »Tante« Amalie – ganz auf einmal in aller Munde – und sie mietete mit der Schwester die kleine Wohnung, drei Stuben und Küche und Kammer, ein Abteil Keller und ein Stückchen Garten – und fünf Jahre hatte die Schwester Marie am Fenster gesessen, fünfundzwanzig saß sie nun schon da – und da unten ging das Leben seinen gleichen Gang, auf und nieder – und sie war alt und gebrechlich, grau und runzelig, gelassen und ergeben und strickte Strümpfe, warme Puls- und Seelenwärmer und weiße Bettdecken mit allerlei Mustern.

Sie weiß das Leben auswendig, das sich auf der Straße und im Städtchen abspielt – aber sie sieht und hört doch immer wieder danach. Und am Nachmittag um fünf, da sieht sie besonders scharf auf die Straße – und wird's einmal ein paar Minuten später, bis sie den ersehnten Tritt hört, da öffnet sie den Fensterflügel und sieht die Straße hinauf – und endlich kommt »er«, da errötet sie fast ein wenig und schließt den Flügel und sieht hinter dem Vorhang, wie er unten vorbeigeht, mit seinem weißen Bart, mit seinem grauen Haar, mit seinem großen Hut, der nun beinahe grün geworden, während er doch einmal schwarz gewesen war, mit seinem großen Bratenrock, der glänzend ist, fast wie ihr Spiegel vorm Fenster draußen. Da geht er müde und schwer, alt und gebrechlich, und nur sein Stock stößt noch auf die Steine auf, wie in jüngeren Jahren, ja noch schwerer fast und härter. Und sie sieht ihm nach – und lacht nicht und weint nicht und seufzt nicht einmal – es ist alles still in ihr.

Und eines Tages war's fünf – und er kam nicht, war's sechs, und sie blickte noch vergebens die Straße hinauf – und noch ein halb Stündchen mehr, da läuteten die Glocken tief und traurig. Und war's andern Tages fünf und sechs, und er kam nicht, und dritten Tages noch einmal, so daß ihr doch war, die Welt sei verändert und verkehrt, und es komme nicht mehr, was gekommen sei und gehe nicht mehr, was gegangen sei, und es fehle etwas im Leben, im Getriebe da unten.

Sie hatte einen Kranz gemacht aus Tulpen und Hyazinthen, Stiefmütterchen und Syringen, Veil und Rittersporn, aus allen Blumen ihres Gartenstücks – und sie wußte es wohl, warum sie die Welt so anders fand.

Und dann kam er – anders wie sonst – in dem dunklen Wagen, um dessen Kreuz ihr Kranz hing – und Fahnen folgten ihm und viele Menschen, Männer, die einst seine Schüler gewesen waren, Männer mit grauen Bärten und grauem Haar, Jünglinge und Knaben, und sie schritten alle stille und ernst, und da und dort hing eine Träne in einem Männerauge – und er vor ihnen voraus, in seinem schwarzen Sarge, in dem schwarzen Wagen, an dessen Kreuz ihr Kranz hing.

Sie begruben den Kantor Meister – Georg Christoph Meister – mit allen Ehren, die er verdient hatte.

Und Tante Amalie stand am Fenster und sah seiner Leiche nach. Sie trauerte – und ihr Trauern wurde ein Träumen. Einen Weg sah sie, weit ins Land – und blühende Bäume – und Blumen am Wege – und er pflückte eine, eine blaue Kornblume war's, und steckte sie ihr in die Brustkrause – und er nahm ihren Kopf zwischen seine Hände und zerdrückte ihr die Papilloten über den Ohren und küßte sie und küßte sie. Und sie ihn wieder ...

Und mußten doch auseinandergehen, die zwei ...

Da läutete die Totenglocke auf dem Friedhofe – der Pfarrer hielt nun seinen Nachruf – nun, wenn sie den Sarg hinabgelassen haben.

Und morgen geht das Leben seinen Gang wie alle Tage. Nur er fehlt Tante Amalie. – Aber so lang's ihr noch beschieden, sie muß sich auch daran gewöhnen. Und sie wird's.


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