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Fünftes Buch.

» Nil admirari!« hatten unserem Helden seine magyarischen Freunde, denen solche Citate zu jener Zeit ihrer parlamentarischen, wenn auch nicht immer klassischen Latinität geläufig waren, einigemal zugerufen, sobald er irgend eine Mitteilung über die »Gesellschaft« (wir meinen keine Theatertruppe, sondern die vornehme Welt) keinen rechten Glauben schenken wollte, weil sie ihm gar zu absonderlich vorkam. Er, der reisende Komödiantensohn, der sich nur noch einiger römischen Vokabeln aus den unteren Klassen transitorisch besuchter Schulen erinnerte, wußte das durch nichts anderes zu übersetzen, als durch: »Nichts bewundern!« und dagegen suchte Wulf sich zu wehren, so gut er konnte. Denn, äußerte er, ohne Bewunderung könne es auch keine Begeisterung für das Große und Schöne geben. Es hatte sich endlich ein älterer Herr ins Mittel geschlagen, der seinen Horaz noch nicht verschwitzt, und hatte ihm erklärt, wie dieser zierliche und dabei prosaisch praktische Weltpoet besagten Ausspruch eigentlich gemeint. Die an einen sicheren Numicius gerichtete Epistel selbst nachzulesen, vermochte der Halbbelehrte aber doch nicht, und war ihm das tiefere Verständnis derselben nicht ganz aufgegangen. Er hatte sich begnügt, obenerwähnte zwei lateinische Worte auf seine Weise zu übertragen, und bildete sich daraus nachstehendes Axiom: »Man soll nicht aufhören, das Gute und Schöne zu bewundern; man soll sich über nichts Schlechtes und Gemeines mehr verwundern; man soll auf alles gefaßt sein! Zwischen Liebe und Geringschätzung, zwischen Begeisterung und Gleichgültigkeit richtig Maß zu halten, darin besteht die Aufgabe des Lebens.«

Ludmillas Verrat war sozusagen als schwarzes Siegel darunter gedrückt worden, und im Laufe seines vereinsamenden, umhergetriebenen Daseins gingen dem jungen Manne Jugendlust wie Lebensmut verloren. Der Liebe wich er aus; ja, wo sie ihm zuwinkte, schloß er die Augen, und nicht selten verließ er einen sonst erträglichen Aufenthalt, weil er zärtliches Entgegenkommen fürchtete. Sogar die Begeisterung fürs Theater fing an zu erkalten, denn es fehlte ihrem Feuer bei schlechten Umgebungen an Nahrungsstoff. Blieben folglich: Geringschätzung und Gleichgültigkeit, worein er sich hüllte. Und kein Gewand kleidet die Jugend übler als dieses.

In welche Gegend, nach welchen Orten der Wind ihn wehe, dünkte ihm unbedeutend. Wie die Auszeichnung, die ihm überall zu teil ward, überall auch Neid und Ärger seiner Kollegen erregte, beachtete er nicht. Von jeglichem Umgang mit ihnen zurückgezogen, hörte er lächelnd sich Sonderling schelten und entschädigte sich durch den Verkehr mit lehrreichen Büchern für den Verkehr mit nichtssagenden Menschen. Gelehrte, Freunde der Wissenschaft, Besitzer ausgebreiteter Büchersammlungen fand er auch in den kleinsten Nestern gleich heraus. Ohne Ausnahme gönnten diese ihm warmen Anteil. Männer, denen Wanderbühnen sonst ein Greuel gewesen, besuchten gern die Vorstellungen besserer Stücke, in denen Herr Wulf eine Hauptrolle gab. Das hielt ihn immer noch aufrecht in seinem Fleiße, in seinem ernsten Bemühen um die Kunst. Was früher brennende Begeisterung gewesen, wurde jetzt gewissenhafter, ausdauernder, fast pedantischer Berufseifer. Eine halbe Stunde bevor die leichtsinnige Schar der anderen Komödianten daran dachte, ihre Spelunken zu verlassen, um ins »Joch zu kriechen,« saß er zuverlässig schon angekleidet und geschminkt in einem stillen Winkelchen und durch dachte die Aufgabe des Abends. Über lesen konnte er sie nicht, einfach aus dem Grunde, weil es für ihn ein Hauptgesetz blieb, die Rolle niemals mit ins Schauspielhaus zu bringen. Vater Bäcker hatte ihm schon den Grundsatz eingeschärft, das sei im besten Falle eine schlechte Gewohnheit. Die Rolle müsse ein rechtschaffener Akteur im Kopfe tragen, nicht in der Hand. Es gab, als es überhaupt noch Komödianten gab in des Wortes gutem Sinne, viele solche geniale Philister unter ihnen. Einige haben wir noch gekannt. Ich erinnere an Werdy. Sie stammten aus schöneren Tagen, und der kindliche Theaterfreund betrachtete sie, auch wenn sie stumpf zu werden begannen, mit der Ehrfurcht, womit man wohlerhaltene Ruinen anstaunt.

Wir treffen mit unserm Helden wieder zusammen bei der Bosannschen Truppe, welche unter anderen eine kleine angenehme Residenzstadt recht im Mittelpunkte Deutschlands zu besuchen pflegt. Die verflossenen Jahre haben nun wohl den Farbenduft der ersten Blüte von seinen Wangen gestreift. Auch jene uns aus Kauzburg her noch erinnerliche Neigung, artistische Experimente im Gebiete des sogenannten Charakterfaches anzustellen und sich, zum Erstaunen des Publikums wie zum Ärgernisse einiger davon betroffenen Mitspieler, plötzlich aus dem edlen Heros und Liebhaber in irgend einen nichtswürdigen tückischen Schurken umzuwandeln, hat beigetragen, ihn älter zu machen, als er wirklich dem Taufscheine entsprechend ist: – wofern er ein ähnliches, für gewisse Stadien bürgerlicher Existenz unentbehrliches Dokument besäße! aber ach, er weiß ja nicht, wo er es auftreiben sollte. Wer ihn des Vormittags zur Probe gehen sieht, hält ihn für einen frühverlebten Hypochonder. Wenn des Abends die schlanke kräftige Gestalt plastisch gebildet auftritt, die Augen reden, die schönen Lippen sich anmutig bewegen, die Zähne perlen, die umfangreiche volle Stimme vibriert ... da schwören Frauen, Mädchen und Matronen bei ihm und heben Klagelieder an, daß er bisweilen der Künstlerlaune huldigt, Partien zu übernehmen, in denen er sich »verstellen« muß. Freilich erkennt gerade in solchen die gebildete Männerwelt seinen höchsten Wert an, und denkende Theaterfreunde, welche viel gesehen haben, welche von weiten Reisen her berechtigt sind, Vergleiche mit den renommiertesten Schauspielern Europas anzustellen, versichern, daß eine ähnliche Vielseitigkeit ihnen nirgends bekannt worden sei. Eins von beiden, sagen sie, tritt bei allen andern, die nach diesem und jenem Kranze zugleich die Hände ausstrecken, immer in den Hintergrund. Auch bei unsern größten Meistern. Fleck, als er Wallenstein vergaß, um den »Flickwort« zu übernehmen, brachte ein quälendes Zerrbild in das Gottersche Lustspiel »Der schwarze Mann.« Und Iffland, der sich aus seinem Kriegsrat Dallner in den schwärmerischen Pygmalion zu entpuppen versuchte, that einen lächerlichen Fehltritt. Dieser junge Wulf aber wird jeder Zeit, jedem Alter, jedem Charakter, jedem Stile gerecht. Und ein solches Genie verkommt bei Truppen dritten Ranges! Unbegreiflich! –

Da war denn auch ein Anfänger bei der Gesellschaft, ein Herr Herzberg aus Berlin. Er hatte als Bote der Isabella in Schillers Braut von Messina die Bühne betreten und ging nun so mit. Wenn er und Wulf einander anblickten, da war es zweifelhaft, wessen Augen mehr sagten. Im übrigen durfte er sich mit unserem Freunde nicht messen. Gestalt, Haltung, Gebärde waren eckig; die Sprache hatte einen dumpfen, gebrochenen Klang. Deshalb gelang's mit Liebhaberrollen gar nicht. Sich selbst zu repräsentieren fiel ihm schwer; ein verlegenes Ungeschick behielt er bei, trotz des Adels seiner Züge, trotz des hervorragenden Verstandes, den er überall zeigte. Zwei solche Persönlichkeiten mußten sich anziehen oder abstoßen; gleichgültig konnten sie sich nicht bleiben. Wulfs schroffe Zurückhaltung schreckte jenen ab. Sie wichen sich aus, um so entschiedener, als Herzberg frühzeitig dem Hange verfiel, Weinstuben zu besuchen, gegen welche Wulf einen förmlichen Abscheu aus Ungarn mitgebracht, wo er fast zum Säufer geworden wäre. Mehr denn irgendwo folgte er gerade jetzt seinem fast krankhaften Gelüste, in Charakterrollen aufzutreten. Er ließ sich sogar zu Verkleidungsscherzen herab und trieb übermütige Possen mit mimischen Künsteleien, die seiner unwürdig, ihm dennoch manchmal Bedürfnis waren, als ob es ihn dränge, sich selbst zu verleugnen, sich, wenigstens stundenlang, untreu zu werden und spielend über die Zerrüttung seines Innern zu täuschen. Mochte nun Herzberg dem Menschen Wulf noch so fern stehen, die theatralische Proteusnatur desselben fesselte ihn sehr, und im ganzen Zuschauerräume befand sich schwerlich einer, der den abwechselnden Erscheinungen größere Aufmerksamkeit gewidmet hätte. Kaum hatte Wulf, wie er in düsteren Anwandlungen trübsinniger Laune schon anderswo gethan, seinen Kontrakt mehr zerrissen als gelöst, kaum war er fort, da beeilte sich Herzberg zu zeigen, daß er nicht vergeblich beobachtet habe. Er entsagte der bisher versuchten Richtung, trat als Bösewicht ersten Ranges, als Paolo Manfrone in Kotzebues »Bayard« auf, bemächtigte sich bald verschiedener Hinterlassenschaften des Abgegangenen, griff auch nach Lustspielrollen, übte sich in Verkleidungsschwänken und Karikaturen; übernahm gewissermaßen die leibliche Verlassenschaft unseres Helden, um sie geistig seiner Individualität anzueignen, und that so die ersten kühnen Schritte zu einer glänzenden Laufbahn, die ihn nach verhältnismäßig kurzer Frist zum höchsten Ziele führen, ihm den höchsten Rang sichern sollte.

Was die Natur unserm Wulf an Fülle und Umfang der Sprache, an heroischer Gewalt, verbunden mit einschmeichelnder Anmut verliehen, womit sie (den unerreichten Fleck ausgenommen) sonst keinen Sterblichen in gleicher Freigebigkeit ausgestattet – das freilich hatte sie dem Herzberg versagt, und weder physische noch psychologische Anstrengungen und Studien vermochten Ersatz dafür zu leisten. Was jedoch in den Bereich charakteristischer Wahrheit, mimischer Virtuosität, unerschöpflicher Reproduktionsmacht, origineller Auffassung, vollendeter Durchführung, konsequenter Nachahmungskunst gehört, das bildete Ludwig Herzberg, der diesen angenommenen Namen nachher gegen seinen eigenen, weltberühmten eintauschte, unter begünstigenden Verhältnissen in und an sich weiter aus, führte es wirksamer durch, brachte es zur allgemeinen Geltung. Wulf hat's zu nichts gebracht, Herzberg hat sich hoch erhoben. Beide große Talente, jener vielleicht ein größeres.

Großes Talent und Genie – wodurch unterscheiden sie sich? Durch eine kleine Beigabe; sie heißt Glück!

Und müssen wir bedauern, jenen im Laufe vorliegender Erzählung ungenannt und spurlos untergehen zu sehen, so dürfen wir uns freuen, daß dieser sein Erbteil ehrenvoll verwaltete. Viele alte Theaterfreunde, denen Wulf auf seinen Kreuz- und Querzügen begegnet war, erinnerten sich späterhin seiner mit wehmütiger Freude, wenn sie Meister Ludwig sahen.

Unsere ernste Pflicht ist es, von diesem uns wiederum jenem zuzuwenden. Wir dürfen nicht dem emporsteigenden, wir müssen dem sinkenden Sterne folgen.

Wir finden ihn wieder bei einer kleineren reisenden Truppe – aber hier sehe ich den strengprüfenden, vielleicht auch den teilnahmlosen Leser, dem die Langeweile einer müßigen Stunde mein Buch in die Hände gespielt, verächtlich die Nase rümpfen. Sind dem hochwohlweisen Herrn Romane doch an und für sich schon »lose, leichte Ware« ohne positiven Nutzen! Über diese seine Ansicht hier mit ihm zu streiten, mangelt der Raum, und verweise ich auf die Vorrede.

Er unterscheidet ja, huldreich genug, zwischen Roman und Roman. Sogenannte historische oder ethnographische, oder wie sie heißen, will er zur Not gelten lassen, »weil man aus diesen vielleicht etwas lernen kann!« Aber solches Zeug! »Welche crapule zeigt uns der Autor! reisende Komödianten ... fi donc

Wir könnten uns genügen lassen mit unseres Buches Titel und bescheiden erwidern: weshalb greifst du nach dergleichen? Hast du die Warnungstafel nicht bemerkt?

Doch da du, gestrenger Mann, auf Belehrung so versessen bist, soll's zu diesem Zwecke auf eine Druckseite nicht ankommen. Ja, du sollst belehrt werden. Und aus Bescheidenheit will ich einen Dritten mitreden heißen, der deinem Stolze die Lehre erteilt. Wir entlehnen sie aus einem würdig gehaltenen Werke. L'angleterre et la vie anglaise, par Alphonse Esquiros.

»Auch die reisenden Schauspielerbanden wirken Gutes. Sie vergolden das düstere Dasein armer Leute mit einem Sonnenstrahle der Freude; ›sie fegen (James Smith) die Spinnweben von den Stirnen der Not und Entbehrung.‹ Sie beleben die Heiterkeit, sie erwecken fröhliches Gelächter, wodurch der Mensch vom Tiere sich unterscheidet. Und erwägt man, durch welche schwere Aufopferungen diese umherziehenden Komödianten das Vergnügen bezahlen, welches sie mitbringen, so verzeiht man ihnen gern manche Vernachlässigung geselliger Formen, manche Übertretung der Sitte. Sie ergötzen das Volk während sie leiden. Auch den Meisterwerken dramatischer Poesie dienen sie zeitweise – gut oder schlecht – als Dolmetscher; wobei wir nicht vergessen dürfen, daß alles hienieden relativ ist. Für die Bewohner des flachen Landes und kleiner Ortschaften stellen goldpapierene Kronen die Größe und Pracht dieser Erde gerade so glänzend und bedeutsam dar, als wenn sie aus gediegenem Metall bestünden; ach, und für die Stirnen, auf denen sie prangen, sind sie nicht minder drückend. Der Stimme des Schauspielers, der, sei's auch noch so unkünstlerisch, Shakespeares Worte recitiert, wird dennoch die Gewalt einwohnen, menschlichen Leidenschaften eine reinigende Bedeutung, einen heilsamen Einfluß zu verleihen. Die feierlichen und erhebenden Wendepunkte des Schauspiels entrücken durch eine oft unbewußte Ahnung des Großen und Herrlichen eine unwissende ungebildete Hörerschar den niedrigen, materiellen Umgebungen des Tages und eröffnen in der Nacht die heiligen Pforten einer höheren Welt.«

Ob diese Verteidigung eines gering geschätzten Standes auch heutzutage noch allseitige Anwendung finden dürfte, steht auf einem anderen Blatte. Wir erzählen, was sich vor einem halben Jahrhundert zutrug, haben folglich um die Gegenwart uns nicht zu bekümmern und fahren neugerüstet fort.

Wir finden ihn wieder bei einer noch kleineren reisenden Truppe; dürftiger ausgestattet, schwächer bezahlt, seltener durch gute Stücke aufgefrischt als bei der vorigen, aber, vielleicht gerade weil's recht schlecht ist, zufriedener, weniger bitter und sarkastisch, bisweilen lustig und stets bereit, die lächerliche Seite herauszusuchen, anstatt sich zu ärgern. Sehr begreiflich. Denn als er, voraussichtlich auf kurze Frist, dies Engagement einging, wußte er schon vorher, was ihn erwarte, und legte alle höheren Ansprüche ab. Nur die Ansprüche sind es, die Unzufriedene machen. Was wir nicht begehrten, können wir leichter entbehren. Die ganze Lebensweisheit liegt darin. Leider Gottes, daß wir gewöhnlich erst dahinter kommen, wenn's mit dem Leben auf die Neige geht. Unser Freund war auf dem besten Wege, sich den seltenen Ausnahmen anzureihen und beizeiten so viel Einsicht zu gewinnen. Er verdankte dies Glück dem großen Unglück, welches ihn betroffen. Auch ein Beispiel, daß sich bisweilen, was wir Glück und Unglück heißen, ausgleicht und ergänzt.

Auf der Fahrt aus dem Sächsischen nach dem Böhmischen waren ihm in einem recht sauberen Städtlein Anschlagezettel des »Direktor Karpe« aufgefallen. Während sein Fuhrmann den einäugigen Gaul speiste und tränkte, hatte Wulf sich an des Gasthauses Ecke gestellt und das »lustige Komödjenblatt« durchlesen. Dasselbe zeichnete sich vor seinesgleichen durch kecken Humor aus, welcher, üblicher Marktschreiern schnurstracks entgegen, kriechende Demut und prahlerische Verheißung durchaus verschmähte, vielmehr vorzog, sich – vielleicht auch ein verehrungswürdiges Publikum – zu verspotten. Karpe machte kein Geheimnis aus seiner »etwas genierten« Lage. Er war, hieß es, schon mit einigen Schulden in R. angelangt; die ersten Einnahmen waren nicht genügend gewesen, den grausamsten Gläubiger zu befriedigen, und selbiger hatte sich durch seinen Vertreter ans »Inventarium« gehalten, aus welchem er mehreres gerichtlich pfänden lassen. »Ich bin« – so äußerte sich Karpe in der diesem Gegenstande eigens gewidmeten Nachschrift der Affiche – »ich bin vorzeiten aus Achtung fürs Publikum dumm genug gewesen, mir einen schönen Theatervorhang in Dresden teuer malen zu lassen, ein veritables Kunstwerk, auf welchem der K.S. Hoftheaterdekorateur den Gott Apollo in naturalibus mit etwelchen dazu gehörigen Musen et Busen ausgeführt. Nach diesem Gemälde haben die Männer der Themis natürlich zuerst gegriffen und meiner Entreprise damit gleichsam das Hemd vom Leibe gerissen. Der Gott und seine Musen sind Faustpfänder geworden. Landesüblichem Herkommen, daß zwischen den Akten ein Vorhang falle und sich wiederum hebe, muß ich folglich untreu werden und weiß denjenigen, die ein Theater ohne Vordergardine nicht besuchen wollen, nur den Rat zu erteilen: Sie mögen sich mit reinlich gehaltenen Taschentüchern versehen und diese jedesmal als Privatvorhänge über ihre Antlitze legen, bis der Zwischenakt vorüber.«

Kaum hatte Wulf diese Aufforderung durchflogen, als er auch schon seine Reisegelegenheit verabschiedete und sich ein Zimmer geben ließ. Den närrischen Kerl, hatte er ausgerufen, muß ich aufsuchen!

Der Gastwirt, den er nach Karpes Wohnung befragt, gab zu verstehen, er brauche seine Füße nicht anzustrengen; ehe noch fünf Minuten vergangen, dürften der Herr Direktor selbst hier sein. Es war auffällig, den dicken wohlhäbigen Bürgersmann mit offenbarer Achtung vom gepfändeten Komödiantenprinzipal reden zu hören. Doch ließ die Erklärung nicht warten, denn der »silberne Hecht« (so hieß des Wirtshauses Schild) setzte hinzu: Karpe sei ein solider Mann und nicht etwa wie die meisten seines Standes, die in Schulden steckten bis über die Ohren!

»Aber die Pfändung? der Vorhang? die wunderliche Anzeige?« fragte Wulf.

»Flausen, Herr, pure Flausen! Werden seine Bekanntschaft machen und sich selbst überzeugen. Ihr Kutscher hat mir anvertraut, Sie wären gleichfalls ein Spieler, und Ihr Gepäck beweist, daß Sie kein hergelaufener Lump sind. Wenn Ihr sonst mitsammen einig werdet, lassen Sie sich in Gottes Namen anwerben! Die Gage fällt richtig jeden Sonnabend, so sicher, wie auf den Sonnabend der Sonntag fällt. Ein solider Fisch, der Karpe, sag' ich. Hat Knöpfe; können sich auf mich verlassen. Nur ein Bissel ein G'spaßmacher; aber er weiß schon, wozu es gut ist; er kennt seine ... da ist er! Diener, Herr ...«

» Carpe diem!« rief der hastig eintretende, gutgenährte Patron; »ein Gläschen Danziger, oder lieber gleich deren zwei; denn auf einem Beine ist nicht gut stehen, wie Lessing sagt. Was, ein Fremder?«

»Ein Komödiant!« flüsterte der silberne Hecht, indem er das Danziger Goldwasser präsentierte.

»Ein Komödiant? was wär' mir das? Ein Schauspieler, der im Einspänner angerollt kommt? Denn der Vierbein seines Kutschers wühlt draußen im duftigen Futter. Redeunt jam gramina campis! Suchen Sie mich? Suchen Sie Karpe, Herr? Unglaublich!«

»Weshalb unglaublich, Herr Karpe? Ich bin auf der Reise, der Fuhrmann füttert, ich lese Ihren Anschlagzettel, ich wittere einen Humoristen, der mir, dem Hypochonder, süßer duftet als meines Kutschers einäugichtem Pferde das Grüne; ich höre durch den Hecht von Ihnen; ich erwarte Sie hier; – weshalb unglaublich, Herr Karpe?«

» Vocis accedet bona pars. Er ist's! Hechtwirt, er ist's. Gastwirt zum Hechte, das ist der rechte! Lupus in fabula. Das ist Wulf, quem tu, Melpomene, nascentem lumine, begrüßt hast. Am Wohlklang der Stimme erkenn' ich ihn: Sie sind der berühmte Wulf!«

»Der Wulf, ja! der berühmte? .. Kann berühmt werden, wer sich bei kleinen Truppen herumtreibt?«

»Und ist er's nicht in großen Städten, so ist er's doch in kleinen! Ist's nicht mit Scheffeln, so ist's doch mit Löffeln! Ruhm bleibt Ruhm. Wulf gilt in unseren Provinzen, was Iffland und Konsorten in Residenzen gelten. Ihn lockt auri sacra fames, zu deutsch der sackermentische Golddurst nicht nach stabilen großen Nationaltheatern; er zieht poetischen Wechsel vor, als Komödiant vom alten Schlage. Auch ein Ruhm!«

»Ein teuer bezahlter, Herr Karpe. Und wissen Sie denn, ob mir's nicht ergeht wie dem Fuchse? ...«

»Der die Trauben sauer schilt, weil sie ihm zu hoch hängen? Möglich. Dennoch klug vom Fuchse. Herr Wulf, wollen Sie bei mir bleiben?«

»Wahrheit ist gut Ding: ich bliebe gern ein Weilchen, schon deshalb, weil ich höre, daß Sie ein guter Lateiner sind und mir vielleicht durch Unterweisung nützlich werden könnten, wie ich Ihnen durch mein Spiel. Aber ein Theater, welches keinen andern Vorhang besitzt, als den, in welchen jeder Zuschauer sich schneuzt, ein solches Theater betrete ich nicht; so sehr Ihr Auskunftsmittelchen mir gefällt.«

»Schlagen Sie ein! Morgen des Tages sind Apoll und seine Musen ausgelöst, und übermorgen trägt mein Anschlagzettel Ihren Namen, der mir mindestens doppelt so viel gilt, wie der heutige Schwank.«

»Täuschen Sie sich auch nicht? Wer kennt mich hier?«

»Manche doch. Und die Sie nicht kennen, sollen Sie durch mich kennen lernen. Zwei Posaunenstöße – tuba spargens! Jetzt ad rem. Begeben Sie sich mit mir in meine Wohnung. Kontrakt, Repertoire, Rollenverteilung – ad rem! Dum loquimur fugerint inuida aetas: carpe diem

»Besten Appetit zum Speisen, Herr Karpe!«

» Vale faveque, Hecht!« So war Wulf Mitglied der Karpeschen Truppe geworden ... bis auf weiteres.

Die Posaunenstöße hatten, weil sie gar so gewaltig erdröhnten, wenn auch nicht die Stadtmauern danieder-, doch schier den Kontrakt auseinander geblasen. Wulf entsetzte sich vor ihrer Pomphaftigkeit. Doch Madame Karpe beschwichtigte ihn durch die damals schon uralte Geschichte von den in kaltem Wasser lebendig ans Feuer geschobenen Marterkrebsen, mit welchen sie R.s theaterliebende Einwohner verglich. »Das sind die Tierchens schonst jewohne,« tröstete sie ihn als aufrichtige Märkerin.

»Die Tierchens vielleicht,« erwiderte der hyperbolisch Gepriesene, aber ich nicht. Man schämt sich fast durch die Gassen zu gehen, an deren Ecken solche Übertreibungen kleben. Wahrhaftig, Ihr guter Karpe kann lügen wie gedruckt. Und die Menschen müssen ja glauben, ich hätte die unsinnigsten Forderungen gestellt, wenn sie von den »kaum erschwingbaren Opfern« lesen, welche gebracht werden mußten, um dieser Stadt und ihren Umgebungen »den höchsten aller Kunstgenüsse zu verschaffen.«

»Das bezieht sich man auf die vorderste Jardine, jutestes Wülschen, die Ihretwegen ausgelöst werden sollte. Der Rechtsverdreher rückte sie nicht einzeln raus; er bestand darauf, daß sämtlicher Exekutionsraub frei jemacht und die janze Schuldforderung bezahlt werden müsse; sonst nicht rühr' an, hat er jesagt.«

»Da hat Karpe meinetwegen neue Schulden kontrahiert?«

»Denkt nicht dran, Mannicken! Wir sind immer bei Jelde, wenn wir bei sein wollen.«

»Und lassen sich pfänden?«

»Manchmal. Sehen Sie, das macht interessant, erweckt Teilnahme und buddelt die Theaterlust auf, die schon im Eindruseln war. Hätten wir ahnen können, daß der Wind Sie hierher wehen würde, war' der Witz nicht nötig gewesen.«

Wulf gab sich zufrieden, überwand den Verdruß, den verletzte Bescheidenheit ihm bereitet und hatte mindestens die Genugthuung, Karpes Kasse täglich voll zu sehen. Auch die Latinität kam nicht zu kurz. Der Direktor ließ ihn Ciceros Reden lesen und rühmte sein echt römisches os rotundum. Karpe war Theologe gewesen; man munkelte sogar, er sei aus einem Kloster entsprungen. Über diese seine Antecedentien blieb er stumm. Doch besaß er wirklich philologische Kenntnisse, worauf er sich etwas einbildete. Anmaßenden Schauspielern, die ihm widersprachen und sich seinen scenischen Anordnungen nicht fügen wollten, pflegte er zu sagen: »daß Sie ein Esel sind, kann ich Ihnen in drei lebendigen und drei toten Sprachen beweisen!«

An solchen Eseln fehlte es leider nicht bei der Truppe. Das vergällte unserm Wulf etwas die Freude bei diesem Engagement. Ohne Karpes Humor und ohne Ciceros Reden hätte er nicht vier Wochen lang ausgedauert. Karpe hielt vorzüglich auf ordentliche Leute. Schuldenmacher, Säufer, Mädchenjäger und dergleichen waren ihm ein Greuel. Er gab selbst ein gutes Beispiel, und seine Frau durfte sich nicht über ihn beklagen. Die zwei Gläschen Danziger, die er zu Lessings Ehren und in Justs Namen täglich beim Hecht einschenken ließ (der Hecht verschrieb das Goldwasser einzig dieses Kunden wegen), dienten eben nur als anregendes Stomachale fürs Mittagessen. Das Schuldenmachen anlangend, gestand er das Recht darauf keinem andern zu als sich selbst. »Denn warum,« meinte er, »meine Schulden sind immer nur Blendwerk, damit die Bande mir nicht um Vorschuß die Thüren einrennt, Quid licet Jovi, non licet bovi!« Wenn Wulf, damit er nicht so allein stehe, einige bessere Mitglieder herbei wünschte, möchten diese auch gerade keine Tugendspiegel sein, da empörte sich des ehemaligen Gottesgelehrten Moralität.

Wir gedenken bei dieser Gelegenheit einer bezeichnenden Stelle im Briefwechsel Lessings, dem sein Bruder Karl schreibt: »Mit der Kochischen Gesellschaft geht es hier (Berlin) nur so so. Man schätzt sie mehr um ihres stillen und ordentlichen Lebens als um ihrer Vorstellungen willen. Wollte Gott, sie lebte schlechter und spielte besser!«

Dieselbe Empfindung, die der gewiß ganz vorwurfsfreie häuslich lebende Münzwardein in obigen Zeilen ausspricht, scheint Wulfen beseelt zu haben inmitten seiner tugendhaften, talentlosen Kollegen. Es läßt sich nicht verheimlichen – und vielleicht dürfen wir daraus zunächst die vom Schauspielerberufe so lange fast unzertrennliche bürgerliche Geringschätzung herleiten! – für genialen Aufschwung in dieser Kunst scheint » leichtsinnige Begeisterung« geeigneter und förderlicher als tadellose Sittsamkeit. Wer Leidenschaften wirksam darstellen will, der muß sie in sich beherbergen. Jene Riesennaturen, welche es über sich vermögen, sie toben zu lassen, wo es fingierten Charakteren, sie zu zügeln, wo es dem eigenen Charakter, der eigenen Person gilt, sind gewiß nicht häufig. Solche Willenskraft und Seelenstärke zeigt sich selten. Wulf war nicht damit begabt. Was ihn seit der Trennung von Ludmilla zum Entsagenden gemacht, darf nicht aus moralischen Grundsätzen, es muß aus Misanthropie hergeleitet werden. Der Versuch, sie schnell zu vergessen, sie mit trotziger Gewalt aus seinem Herzen zu reißen, war mißlungen. Denn wie er beim zweiten Aufenthalte in Pest die zürnende Gräfin endlich versöhnt und ihre Gunst wiedergewonnen hatte, da empfand er in ihren Armen erst recht schmerzlich, daß Ludmilla für ihn verloren sei. Seitdem trauerte er um die Verlorene wie um eine Begrabene. Trauerte um sie länger, wie man sonst um Tote zu trauern Pflegt, eben weil sie nicht begraben, weil sie wahrscheinlich sehr lebendig und in ihrer Art sehr glücklich war; weil er nicht allein um ihren Verlust zu weinen, weil er auch über ihren Verrat zu zürnen hatte. Grollende Trauer, zürnende Liebe, verratener Glaube bilden einen förmlichen Harnisch wider Lebenslust und Verführung. Doch auch diesen nützt die Zeit äußerlich ab. Und wo der Antrieb sensueller Neigungen von der inwendigen Seite gleichfalls daran bohrt, wo er also von Außen und von Innen angegriffen wird, da giebt er zuletzt immer nach und geht auseinander, sei er aus festem Erze geschmiedet. Bei Wulf gesellte sich noch eine dritte Macht dazu. Er befand sich jetzt in Böhmen! Daß in diesem Lande der geborene Böhme, sein Vater, sich aufhalte, die Profession eines Spielers und Bankhalters betreibe, hatte Bäcker ihm anvertraut. Der Name zwar ist mit Stillschweigen übergangen worden. Doch den auszukundschaften, bot keine Schwierigkeit. Es bedurfte nur einer hingeworfenen Frage nach dem einst berühmten Akteur, der die Bühne mit dem grünen Tische vertauscht habe. Unzähligemal war er schon im Begriffe gewesen, sie zu stellen. So nahe dem Geburtsorte des Landsmannes würde jedweder befriedigende Auskunft zu geben gewußt haben. Doch bevor der Sohn andere befragte, befragte er sich selbst: Zu welchem Zwecke? In welcher Absicht? Kann es in meinen Wünschen liegen, demjenigen näher zu treten, der meine Mutter betrog, sie und mich verstieß? An dessen Ruf sich die fürchterlichsten Sagen heften. Wenn es auch zum Teil Verleumdungen wären ... schon daß sie auf ihn gerichtet werden konnten, zeugt gegen ihn. Was vermag er mir zu bieten? Väterliches Wohlwollen, freudiges, gütiges Entgegenkommen? Er weiß nicht, daß ich bin! Weiß von meiner armen Mutter nichts mehr, die ihm nur ein längst verblichenes, vergessenes Schattenbild ist in der langen Reihe seiner Opfer. Was kann ich ihm darbringen? Kindliche Liebe? Vertrauen? Achtung? Ich müßte sie heucheln. Vielleicht erregte ich ihm gar den Argwohn, mich leite Eigennutz auf seine Spur? Vielleicht hielte er sich verpflichtet, mich abzufinden mit schnödem Gewinste, mit Gelde, woran der Angst- und Todesschweiß unerfahrener, unglücklicher Spieler klebt? Schande über solche Gaben! Schmach über solches Erbteil! Mein väterlich Erbteil trag' ich bei mir, es wuchs mit mir auf: Theatersucht, unsteter Wandertrieb, Talent! und nicht minder das heiße wild in mir tobende Blut, nur beschwichtigt durch einige mildernde Tropfen frommer Muttermilch, sanfter Thränen, entquollen der Brust, den Augen der Dulderin, die mich gebar. – Nein, ich will meinen Vater nicht sehen; ich will nicht erkundigen, wie er heißt, ob er noch lebt. Mir sei er ein Toter, wie Ludmilla mir eine Tote ist. –

Dergleichen Erwägungen, die dann jedesmal in betrachtendes Zergliedern innerster Zustände übergingen, trugen nicht wenig bei, jene aus galliger selbstquälerischer Verdrossenheit um sein Herz gezogene Kruste zu lösen, Gedanken und Sinn und – Sinne aufzuregen, daß sie dem Leben sich neuerdings zuwendeten. Mit siebenundzwanzig Jahren kann der Mensch über Nacht wieder ein Jüngling werden, mochte er sich auch gestern noch einbilden, ein alter Mann zu sein und mit dem Verliebtsein abgeschlossen zu haben. Das Leben ist überhaupt ein wunderlich Ding; das Wunderbarste darin bleibt immer, was man »Liebe« zu benamsen pflegt (wir meinen in erotischer Beziehung) von einem Ende jener im Erdenschmutz stehenden nach höheren Regionen führenden Leiter bis zum anderen Ende hinauf, über alle Staffeln hinweg: vom entarteten Jünger des Epikur bis zum sublimsten Schüler des Plato. Unzählbar sind die Abstufungen zwischen beiden; unübersehbar und unerforschlich in ihren individuellen Verschiedenheiten. Doch wie verschieden immer Empfindungen, Regungen, Wünsche und Begierden sich äußern mögen, in einem gleichen sich alle, darin, daß keiner zu erklären weiß: »wie es über ihn kam!« Vielleicht vermag er sich zu erinnern auf den Moment, wo es zu seinem Bewußtsein gelangte? Doch bevor dies geschah, mußte es ja schon in ihm gewesen sein! Und wie erfaßte es ihn? – Wahrlich, man ist versucht, dabei an kontagiöse oder miasmatische Hautkrankheiten zu denken. Der Patient bemerkt ihren Ausbruch an sich, aber wann und wie er den in der Luft schwebenden Krankheitsstoff einsaugte, davon kann er nicht Rechenschaft geben.

Die Richtigkeit dieses Gleichnisses tritt am schärfsten hervor, wenn erst nach langem, harmlosem Verkehr Gleichgültigkeit sich in Leidenschaft umwandelt wie durch einen Zauberschlag. Vor einer Minute sahen wir in einem weiblichen Wesen nichts weiter, als wir in allen übrigen erblicken, und kaum hatte der Sekundenzeiger unserer Taschenuhr die nächste Minute überschritten, betrachteten wir das nämliche Wesen mit ganz neuen Wünschen, Erwartungen und Absichten!

So erging's dem Heros der Karpeschen Komödiantentruppe. Er hatte mit seinem Direktor und Lehrer eben im Horaz gelesen. » Dum meam canto Lalagen« murmelte er noch, da er zur Probe vom Johann Banksschen »Essex« kam. Demoiselle Herz gab die Königin Elisabeth, welche Rolle sie, obwohl außer ihrem eigentlichen Fache, übernehmen müssen, weil die »Anstandsdame« fehlte und das Stück, um Wulfs Essex zu sehen, verlangt worden war. Er selbst hatte sie vorgeschlagen ihrer stattlichen Figur wegen, welche gar wohl für eine Königin paßte. Und als eifriger Leser Lessingscher Abhandlungen über diesen Gegenstand hatte er in ihrer Jugend kein Hindernis erblickt. Wie es nun an die Ausführung ging, zeigten sich entsetzliche Lücken und Mängel im Vortrage, die er freundlich rügte; und durch ihre Dankbarkeit für die Zurechtweisung ermuntert, erbot er sich, die bedenklichsten Stellen in ihrer Wohnung des Nachmittags noch einmal durchzugehen. Nachdem dies vollbracht war, begaben sie sich miteinander ins Theater. Auch nicht der leiseste Nebengedanke störte seine der Vorstellung zugewendete Aufmerksamkeit. Dennoch wiederholte er während des Ankleidens unausgesetzt einzelne Verse aus der lateinischen Ode; das » dum meam canto Lalagen« machte ihn endlich lachen, indem er vor sich hin sprach: Als ob ich eine Lalage hätte zum besingen oder eine haben mochte? –

Die Aufführung schritt rüstig vorwärts. Demoiselle Herz machte ihrem Namen Ehre und agierte herzhaft, wenngleich nicht recht majestätisch, die britische Majestät. Allgemein wurde bemerkt, daß Wulf besonders feurig spiele. Seltsamerweise gelangen ihm aber die Auftritte mit seiner geliebten Rutland am wenigsten. Bekanntlich hat Königin Elisabeth in einer Anwandlung eifersüchtigen Zornes dem Grafen eine – Maulschelle zu erteilen. Diese – man kann auch Ohrfeige sagen – galt zu ihrer Zeit als Probestück für beide Schauspieler. Sie im geben, er im empfangen durfte den Anstand nicht verletzen, wo doch der Hofetikette recht gewaltig ins Gesicht geschlagen wurde. Nun hatte die couragierte Herz sich so aufrichtig in die Seele der liebenden und verratenen Königin hineingeredet, daß ihr ernstlich die Hand ausrutschte, und daß, was mehr ein symbolischer Schimpf, nur angedeutet werden sollte, zu einem gediegenen Backenstreich wurde, der furchtbar klatschte. Die Zuschauer lachten. Das Unangenehmste, was dem Schauspieler in solcher Situation widerfahren kann. Karpe, in der ersten Coulisse stehend, zitterte, daß Wulf unwillig werden und sich vergessen möchte. Nichts davon. Essex steckte das Gelächter ein wie etwas Alltägliches und riß durch den nächsten Verlauf der Scene die Hörer dermaßen mit sich fort, daß niemand mehr der Störung gedachte. Wie dann nach dem Aktschluß die zerknirschte Herz ihn weinend um Verzeihung bat, machte er gar nichts daraus und scherzte nur, sie solle ihm zur Linderung des Schmerzes einen Kuß auf die geschlagene Wange drücken. Das that sie willig; und hatte die Ohrfeige geknallt, so schmatzte der Kuß nicht minder. Da bat sie noch einmal um Verzeihung, daß sie »so grob geküßt habe,« und lächelte bedeutsam.

Wulf aber, nach Beendigung der Tragödie heimgehend, rentierte den Schluß jener Ode: » Dulce ridentem Lalagen amabo, dulce loquentem.« Unsern holden Leserinnen verhehlen wir nicht, daß dieses Citat in deutscher Übertragung heißt: Ich werde (oder will) Lalagen lieben, die süß lächelnde, die süß redende.

Mit dem futurum. » amabo« legte er sich zu Bette, und mit dem praesens » amo« stand er auf. Ja, er liebte. Zwiefach war es besiegelt, durch Backenstreich und Kuß. Es that ihm wohl, sich nach so langem Schmollen und Maulen wieder in sanften Empfindungen zu baden. So ist uns an schwülen Tagen, wo uns im waldumgrünten Landsee kühlende Flut erfrischt. Und mit sich und seinen bisher festgehaltenen Vorsätzen kam er geschwind ins reine. Nur vor unausbleiblichen Neckereien fürchtete er sich. Daß ein anzuknüpfendes Verhältnis geheim bleiben könne, darauf ist beim Theater niemals zu rechnen; in einer kleineren Stadt am allerwenigsten. Und wie würde Freund Karpe ihn verspotten, dem er noch gestern zugeschworen, seine Brust gleiche, was die Frauenzimmer beträfe, einem ausgebrannten Vulkane!

Diese Bedenklichkeiten und Rücksichten steigerten eine Neigung, welche sonst wahrscheinlich im Entstehen schon vergangen oder nach wenigen Tagen erloschen wäre. Im Versuche, ein Geheimnis zu bewahren, liegt nicht selten der gefährlichste Anreiz. Von Verpflichtungen irgend einer Art wußte er sich an Karpe nicht gebunden. Was er durch Sprachunterricht empfangen, hatte er bereits zehnfach erstattet durch Einnahmen, welche den Umständen nach außerordentlich und bloß seinem Auftreten zu verdanken waren. Daß die Herz herzlich gern mit ihm davonlaufen werde, ins Weite hinein ... sei's noch so weit! davon hielt er sich überzeugt. Folglich ...

*   *   *

Die Schwalben begannen schon sich zu scharen und weihten ihren Nachwuchs mit Probeflügen zur großen Weltreise ein. Die Felder standen leer; der alte Weibersommer zog, von voreiligen Herbstlüftchen getrieben, über die Stoppeln. Die Tage blieben heiß und klar; die Abende wurden kühl. Die Bäume prangten im bunten, reichen Segen. Das ist die göttlichste Jahreszeit! Das ist der Himmel auf Erden ... für jene Glücklichen, welche Fähigkeiten besitzen, ihn zu genießen; welche in der Lage sind, diese Fähigkeiten vorwalten zu lassen. Nach Gottes unerforschlichem Ratschlüsse scheint jedoch nur die geringste Anzahl seiner Menschen dazu berufen. Vielleicht neun Zehnteile haben keine Augen, keinen Sinn dafür. Entweder weil es ihnen an beiden mangelt, oder, was noch trauriger ist, weil sie von Sorgen, Mühen, Nöten und Plagen des Daseins viel zu sehr in Anspruch genommen sind.

Wir erzählen in meiner schleichen Heimat von einem Ackersmanne, der zwischen waldbewachsenen Feldkuppen sein steilgelegenes, mageres Feld mit mageren Kühen bestellte und einem entzückten Reisenden auf die Frage: »Landsmann, weshalb so niedergeschlagen hinter Eurem Pfluge in dieser himmlischen Gegend? Begeistert Euch nicht die herrliche Aussicht, das mächtige Felsgestein?« kurzweg erwiderte: »Die Steenla sol der Schinder hullen, und uf de Aussicht do ... sit ma lieber gar ni hin!«

Eine ähnliche Antwort würden wahrscheinlich jene armen Teufel erteilt haben, die, vom Staube des Weges fingerdick bestreut, vor und hinter einem von matten Pferden gezogenen Leiterwagen einher schritten. Ihre Blicke richteten sich nicht auf Wiese, Feld, Bach, Hügel und herbstlich rötelnden Blätterschmuck. Sie starrten nach dem Städtlein im Thale und maßen Tritt für Tritt die Strecke ab, die sie noch von den beiden Türmen trennte. Es waren ihrer über ein halbes Dutzend. Auf dem Wagen saßen fast ebenso viele Weibspersonen und einige Kinder. Ihre schwankenden Sitze bestanden aus hochemporgeschichtetem Gepäck. Die Wände des Wagens waren von Coulissen und von langen zusammengerollten Gardinen eingenommen, ohne deren Schutz Groß und Klein gewiß schon mehrmals hinabgefallen wären, wo die Räder auf unebener Landstraße über dicke Steine knarrten. Der die Pferde antreibende Fußgänger schwang keine Peitsche. In der Linken hielt er die schlaffhängenden Leinen, deren er nicht bedurfte, seiner Tiere Feuer zu zügeln; in der Rechten funkelte ein vergoldetes Stück Holz; sah man näher zu, so war's ein Scepter, mit dessen Spitze er bisweilen, nur in Momenten zähester Widersetzlichkeit, des Gespanns erlöschende Lebens- und Zugkräfte zu stacheln versuchte, mehr spanischer Theorie denn deutscher Praxis gemäß, doch stets mit trauriger Miene, worin deutlich zu lesen stand, daß es kein Tyrann sei, der dieses Scepter führte; daß die vierbeinigen Diener wenigstens ihn erbarmten. Sie waren keine Mietlinge; sie gehörten der Familie Jungzwirn eigentümlich, und er hatte sie vom Vater mit sämtlichem beweglichen Vermögen ererbt, da ihm vor zwei Jahren das Geschäft zufiel; ihm und seiner Schwester.

Die Jungzwirnschen Erben, Kasper wie Gretel, sind Kinder eines in seiner Art merkwürdigen Mannes, von dem ich bedauere, daß E.Th.A. Hoffmann ihm nicht mehr begegnen können. Die Phantasiestücke würden durch ihn schauerlichen Zuwachs gewonnen haben. Vater Jungzwirns Konzession lautete ursprünglich auf ein »Figurentheater.« Als er dieselbe nach langwierigen Bemühungen erhalten, trug sie ihm nicht ein, was er davon gehofft. Sein Plan war auf die Geschicklichkeit eines jüngeren Bruders gerichtet gewesen, eines verdorbenen Mechanikers, der sich vermessen hatte, künstliche Marionetten nach Muster der Schützischen, Geisselbrechtischen und anderer berühmten Puppenspieler zu konstruieren. Die Arbeit war nur halb und halb gelungen. Jungzwirns Figuren bewegten sich ungeschickt, blieben hölzern, ernteten wenig Beifall, agierten meist vor leeren Bänken. Der Konzessionsinhaber schalt seinen brüderlichen Maschinisten kurz und lang, erklärte ihn für einen anmaßenden Prahler, ein eitles Großmaul, einen unbrauchbaren Compagnon ... aber das machte die Sache nur schlimmer. Der gute Wille des ungeübten Menschenverfertigers ging in üblen Willen über, er legte sich auf die Lumperei, und endlich lief er davon und ließ die ganze Sippschaft, Menschen wie Puppen, im Stiche. Da geriet Jungzwirn, der ältere, auf eine erhabene Idee. Er richtete seine zwei Kinder zu Marionetten ab. Beide, für ihr Alter auffallend klein, wurden in die Kleider der komischen Figuren »Kasper und Gretel« gesteckt; an Kopf, Arme, Beine band man ihnen dicke Drahtschnüre; sie wurden von oben geleitet gleich leblosen Puppen und übertrafen demnach an folgsamer Agilität alles, was man jemals von den besten französischen und italienischen Marionettenführern gesehen zu haben sich erinnerte. Die unglücklichen Geschöpfe hatten dabei ein erbärmliches Leben; sie kamen nur bei nachtschlafender Zeit an die frische Luft, wurden vor neugierigen Beobachtern möglichst abgesperrt und behandelt, als ob sie in Wahrheit nachgemachte Figuren wären – Essen und Trinken abgerechnet; beides konsequenterweise nur in mäßigen Rationen. Daß Vater Jungzwirn seinen Sprößlingen, wie wenn sie niedliche Schoßhündchen wären, im stillen Branntwein beigebracht, um künstlich ihr Wachstum zu verhindern, mag wohl nur verleumderische Nachrede sein. Wenigstens wuchsen sie, für ihn und seine Kasse allzu zeitig, aus ihren anspruchslosen, unselbständigen Leistungen heraus, und zuletzt blieb ihnen aus ihrer Epoche vor der Wiedermenschwerdung nichts übrig als die beibehaltenen Namen, die ja zum Glück auch christliche Taufnamen sind. Nun konnten sie nicht länger täuschen. Jungzwirn ersetzte sie durch andere kleine Kinder, woran in der Theaterwelt nie Mangel ist, und übertrug ihnen dafür männliche und weibliche Heldenpartien, die er aber nicht mehr für sie sprach, sondern ihrem eigenen Mundwerke anvertraute. Das ging jahrelang fort. Endlich bestand das ganze Puppentheater aus lauter lebendigen Menschen, die sämtlich redeten, wie ihnen die Schnäbel gewachsen waren. Doch die Drähte wurden sie darum nicht los. Der Direktor lenkte sein gottgeschaffenes Personal mit denselben festen Fäusten, mit welchen er beim Beginn der Entreprise seines verschollenen Bruders mißgeschaffenen Zerr- und Spottgebilde gelenkt. Und sein Theater hieß überall, wo er die Bude aufschlug: »Jungzwirns Puppenspiel,« obgleich jedermänniglich wußte, wie es damit stand, und daß sie sämtlich gern zu Biere gingen. Erst nach des Vaters Tode machten sich die Erben von den eisernen Nabelschnüren los und entpuppten sich aus gebundenen Larven zu frei beschwingten Kunstfaltern. Kaspar Jungzwirn erbat von der Behörde die Bewilligung zu einer veritablen Theaterführung, und in Anbetracht vorwurfsfreien Lebenswandels im Stadium seiner Marionettenschaft wurde sie ihm zugeteilt. Leider nur zeigte sich bald, daß er unglücklich spekuliert habe. Marionetten, die lebendige Menschen wären, hatten alle Narren sehen wollen. Lebendige Komödianten, die steife Marionetten schienen, gefielen sogar den Narren nur mäßig. Die Einnahmen verschlechterten sich sehr.

Da finden wir Jungzwirns ihren groben Garnknäuel dem vor ihnen liegenden Städtchen entgegen spinnend, mit höchst unsichern Aussichten auf günstigen Erfolg. Sollte auch wirklich einige Theaterlust dort sich regen, wie aus bereitwilliger Aufnahme ihrer an den Magistrat gerichteten Anmeldung hervorging, so muß Kasper sich's doch bekennen, hat es auch mit Schwester Gretel vertraulich besprochen, daß ihre Truppe fast nur aus armen Schachern besteht, daß sie noch nie dürftiger zusammengeflickt war. »Und wir zwei,« sagt Grethel, »könnens Kraut doch nicht fett machen!« Sie hält sich und Kasper, trotz ihrer Kleinheit für verkannte Größen. »Nur um einen guten Kopf,« pflegt sie zu äußern, »müßte mein Bruder höher sein, und ich um einen halben; hernach thäten wir über alle Hofschauspieler wegragen. Es macht halt einzig, daß wir so lange am Drahte gingen und immer eingepackt wurden, derowegen sind wir verbuttet.«

Wie viele miserable Akteurs, die sich als verkannte Künstler ersten Ranges ansehen und nach Gründen für ihre ungerechte Unterdrückung haschen, sind minder glücklich bei der Auswahl derselben! Gretchen durfte nur bei der Wahrheit bleiben; die war niederdrückend genug und entschuldigte viel! –

Während sie nun langsam weiter ziehen, eine dichte lange Wolke aufgewühlten Staubes hinter sich, neben sich, sogar vor sich – denn der Wind weht, und die erbärmliche Landstraße windet sich hin und her zwischen Ackern – während sie ihrem Ziele nur unmerklich näher kommen, werden sie vom Städtchen aus mit einer Ungeduld erwartet, welche der ihrigen nichts nachgiebt. Von wem?

Von den Bewohnern des Ortes vielleicht? Sind es der Bürgermeister, der Syndikus, der Stadtrichter, der Rektor und ähnliche Vertreter litterarisch-poetischer Bildung, die ihnen samt fröhlicher Schul- und respektive Gassenjugend entgegen rücken, sie im Namen des guten und schlechten Geschmacks zu begrüßen? Hat der kommandierende Rittmeister seine Schwadron satteln lassen, sie einzuholen und sie mit schmetternden Drommeten-Fanfaren zu begrüßen? Marschiert etwa gar eine löbliche Schützengilde auf, damit deren König (der Strumpfwirker) zu feierlichem Empfange sein Scepter vor jenem Scepter neige, das Jungzwirn todmüden Musengäulen in die mageren Rippen bohrt? – Von all' dem nichts! Man sieht und hört nicht die geringsten Anstalten.

Man erblickt nur einen allereinzigen Menschen am ersten Häuschen der Vorstadt. Er lehnt sich mit dem Rücken an den Wegweiser; seine Augen verfolgen die Richtung des über ihm ausgestreckten hölzernen Armes. Die Staubwolke ist's, der seine Erwartungen sich zuwenden.

»Wie die Schnecken! Und wenn sie's nur wirklich sind! Wenn's nur gewiß der Jungzwirn ist! Aber können nicht auch Marktleute, die sich zusammen gethan, solchen Aufzug machen? Könnte ich mich nicht heute täuschen, wie gestern, wie vorgestern? Das wäre ja schrecklich!«

Wer ist's, der solche Klagen ausstößt? Erkennen wir in diesem schier verkümmerten, ärmlich gekleideten jungen Manne noch den zierlichen Liebling Gottliebens, den Abgott der Damenwelt, den Gefährten Ludmillas? Haben wir ihn nicht vor wenig Wochen zu neuem Leben, zu neuer Liebe erwacht, keck entschlossen gesehen, an eines hübschen leichtfertigen Mädchens Seite in die Welt zu stiegen, getragen von den Schwingen frischer Wanderlust?

Wir erkennen ihn kaum, dennoch ist er's. Ein lebendiger Beweis für die alte Lehre, daß es hienieden keinen Stillstand giebt. Wer nicht vorwärts kommt, der kommt notwendig zurück; wer sich nicht hebt, der sinkt. Unser Freund ist gesunken, und vermag er nicht die Last, die er sich angeheftet, die ihn herabzieht, los zu werden, so wird er versinken. Es ist leichter gethan, sich zu binden, als zu lösen was uns verbindet, sobald die Banden enger wurden. Vielleicht schmerzen sie schon, haben tiefe Einschnitte gemacht, doch deshalb gerade verwuchsen sie bereits mit den oberflächlich verharrschten Wunden. Die Herz war ihm ins Herz gewachsen, wie dem einsam durch die Welt Wandelnden auch Unwürdiges hineinwachsen kann. Es giebt Menschen, denen das Bedürfnis, an ein weibliches Geschöpf sich fest anzuschließen, eingeboren ward. Hat es lange keine Nahrung gefunden, so wird es zum wahren Heißhunger, und es tritt unersättlich, unüberwindlich hervor, ohne Auswahl, ohne Prüfung ... sogar ohne Geschmack. Daß dies Mädchen seiner unwürdig sei, hatte er nach Ablauf der ersten Woche erkannt. Doch diese Woche schon hatte hingereicht, ihn ins Joch der Gewohnheit zu spannen. Welche ein Fluch liegt doch in manchem Segen. Ist's nicht ein Segen, geschaffen zu sein für Treue, ausdauernd-anhängliche, liebevolle Hingebung? Ist's nicht ein Fluch, mit solchen edlen Eigenschaften ausgestattet, in Verbindungen zu geraten, die unglücklich machen, die nicht rasch genug zerrissen werden könnten?

Wulf sah ein, daß er sich übereilt, daß er für Talent gehalten habe, was höchstens aneignendes Geschick heißen durfte; daß die Person nicht nur auf der Bühne, mehr noch im Leben unbedeutend, dabei albern, vorlaut, eitel, nachlässig, unordentlich, genäschig, verschwenderisch war. Dennoch nannte sie ihn ihren Bräutigam – ... und er fand nicht den Entschluß, sie Lügen zu strafen, obgleich ihre Vereinigung eine gänzlich unbedingte gewesen, weder ihrerseits auf irgend einen Anspruch, noch seinerseits auf Versprechen sich stützend. Seiner nachgiebigen Schwäche neben ihrer schlechten Wirtschaft konnte der kleine Geldvorrat, den er besessen, da er Karpe verließ, nur kurzen Widerstand leisten. Den größten Teil davon hatte sie in unnützem Flitterkram und in Leckereien vergeudet. Ein annehmbarer Platz hatte sich nirgend gezeigt, und jetzt saßen sie fest im kleinsten Wirtshause des Städtleins, dessen Einwohnerschaft Jungzwirns Truppe mit ungewissen Mutmaßungen über deren Wert entgegensah. Die jüngere Hälfte männlicher Bevölkerung hielt an der Überzeugung fest, jene im roten Hirsch wohnende Demoiselle Herz sei eine Vorläuferin der Schauspielerschar, und von ihr auf die Erwarteten zu schließen, müßten es allerdings »hübsche Leutchen« sein. Auf Herrn Wulf achtete niemand. Er sah »nach gar nichts aus!« ... Ach, er fand's ja gar nicht mehr der Mühe wert, die Augen aufzuschlagen; er wollte den Jammer um sich her lieber nicht sehen. Er verfiel zusehends. Und er hatte sich fast aufgegeben. Seine Sehnsucht nach baldiger Ankunft der Komödianten galt kaum eigener Existenz. Sie entsprang aus Henriettens fortwährenden kleinlichen Anforderungen, denen seine bis auf die letzten Neste erschöpfte Kasse ferner nicht zu genügen vermochte.

Jungzwirn machte Prr! die Pferde ließen sich's nicht zweimal sagen; sie standen still. Ein jedes hob einen Fuß in die Höhe als Ausrufungszeichen: »ich kann nicht mehr!«

Wulf hatte die Hand den Ankömmlingen entgegen gehoben, dabei den Arm ausgestreckt, wie der Pfahl, unter dem er stand.

»Welcher von den beiden ist hier als Wegweiser angestellt?« fragte Gretel den Bruder. – Sie litt zeitweise an Witzen.

»Seid Ihr vielleicht der hiesige Zettelträger?« rief Kasper unwirsch genug; »dann leckt Ihr Eure Finger umsonst nach uns; wir führen unsern mit.«

»Das kann ich mir leicht denken,« sagte Wulf, den plötzlich eine Regung vormaligen Selbstgefühles durchzuckte; »Künstler Eures Ranges tragen ihre geschriebenen Zettel selbst herum.«

Er bedachte nicht, daß er durch so trotzige Entgegnung sich um seine letzte Aussicht auf Hilfe bringen könne. Und er warf der zu Fleisch und Blut gewordenen Marionette einen verächtlichen Blick zu. Indem er sich aufrichtete, gewann er gleich ein ganz anderes Ansehen. Fast eingeschüchtert fragte Jungzwirn weiter: »na, was will denn der Herr von uns und winkt, wir sollen anhalten?«

Doch bevor er noch Antwort empfing, fühlte er sich von einem seiner Leute, einem hochaufgeschossenen Jungen, am Spenzer gezupft: »Ale Herr Drektor, das ist ja, scheint mir, hör' ich, der famose Wulf?« und kaum hatte der lange Bengel diese Weisung geflüstert, als er auch, seiner Sache nun gewiß, auf Wulf zustürzte: »Küss die Hand, Herr von Wulf; belieben scheint mir nicht zu kennen? Ich bin der Wenzel!«

»Nein,« erwiderte Wulf, »ich kenne den Wenzel wirtlich nicht.«

»Ich hab' gesehn Herrn von Wulf spielen, o Iegerl! noch den letzten Abend, eh' sind durchgebrannt mit Königin Elisabeth. Ich bin immer gestanden beim Vorhang; war ich Hausstatist bei Herrn von Karpe.«

»Ah, jetzt besinn' ich mich. Freilich, freilich; du hast mich mehrmals festgenommen und in tiefe Burgverließe geschleudert. Aber wie gerätst du hierher, so weit von deiner Heimat? Bist du etwa Schauspieler geworden? Mir ist ja, als hätt' ich dich bei Tage in Livree laufen sehn.«

»War ich Diener bei gnädige Frau Steigerl, Edle von Antenbacherl. Meine Gnädige, wann ist nüchtern, ist bestes Frau von ganzes Welt. Ale wann ist besoffen, nachher ist zahnluckete, rotkuppete Racker. Hab' ich bei ihr nicht können aushalten; bin ich Schauspieler.«

»Nun, das freut mich recht,« sagte Wulf mit wehmütigem Lächeln; »da warm wir ja nun Kollegen! Sind Sie zufrieden mit ihm. Herr Jungzwirn?«

»Ei ja, er macht sich.«

»Bekleidet wohl auch schon ein erstes Fach?«

»Ei Herr Jesses, ja; wir haben bloß erste Fächer bei unserer Compagnie, meine Schwester und ich. Denn wir bilden nämlich ein Compagnie-Geschäft, und die Gretel ist mein Compagnon.«

»Dann hab' ich ja auch meinen Antrag mit an Demoiselle zu richten! Ich suche Engagement für mich und für ... für meine Braut.«

Hätte Wulf die Braut unerwähnt gelassen, so dürfte ein entscheidendes »Mit Vergnügen!« vom Leiterwagen erfolgt sein; denn seitdem er zu sprechen begonnen, beäugelten ihn die Damen sehr aufmerksam, Gretel vorzüglich. Die Braut verdarb alles.

»Einen Anhang haben Sie? Ja, da kann ich nichts bestimmen; da müssen wir erst sehen ... Frauenzimmer mangeln uns nicht. Und überhaupt, auf der Landstraße schickt sich's nicht. Kasper fahr' zu! Der Herr kann später bei uns anfragen kommen!«

Wenzel bearbeitete mittlerweile unausgesetzt seines Prinzipals Spenzer, und jedweden Zupfer begleitete er mit gelispelten Versicherungen: Demoiselle Herz sei ein sauberes Weibsbild, ein Mordkerl von einem Menscherl, und gegen den Herrn von Wulf käm' schon gar nix auf; »wann der agiert, da ist's schon gar aus, da heißt's mit allen andern nix mehr!«

Gegen seinen weiblichen Compagnon durfte Kasper keinen Widerspruch direkt wagen. Er trieb gehorsam die, Pferde an und begnügte sich, Gretels Aufforderung zu wiederholen. Nur daß er den wenig verheißenden Worten: »der Herr kann später bei uns anfragen kommen,« pantomimische Ermunterung verlieh und zusichernd mit dem Kopfe nickte.

Die Pferde gehorchten endlich dem Scepter ihres Beherrschers, die Fußgänger schlossen sich dem Kondukte an, feindselige Gesichter gegen den unwillkommenen Rival richtend. Nur Wenzel blieb bei diesem zurück, ihn tröstend anzuplaudern. Mit einem für den geringen Grad seiner Bildung erstaunlichen Zartgefühl ging er auf des Künstlers gegenwärtige Lage ein und gab zu verstehen, daß er ganz gut begreife, wer die Schuld davon trage. »Denn,« äußerte in allerdings nicht grammatikalisch gebauten Sätzen der gutmütige Bursche, »ein Herr wie Wulf, ein ›Erster‹ könne unmöglich so tief herabkommen, sich bei solcher Schmiere anzubieten, wenn die Mamsell ihm nicht seine Sache verwichst und verlumpt hätte; und er war' halt zu gut und gab' das Hemd vom Leibe her; dafür sei er schon bekannt! und bei Karpe hätten sie vorhergesagt, wie das ausgehen müsse; und er solle beizeiten schauen, daß er die Jetti anbrächte und wieder auf eigene Füß' zu stehen käm'! Fürs erste solle er sich Gewalt anthun, der Gretel ein Bissel hofieren, die wär' leicht gewonnen. Und der Kasper würde schon bei der Herz anbeißen. Nachher wär's schon recht. Ein paar Wochen,« fuhr er fort, »halten Sie's aus. Unterdessen muß Ihnen der Jungzwirn eine Einnahme geben. Und nachher packen Sie zusammen, die Mamsell lassen Sie hier, und mich nehmen Sie mit. Ich will Sie bedienen, Stiefeln putzen, Kleider Herrichten; ein gelernter Schneider bin ich eh, und Sie zahlen mir keinen Kreuzer; – nur daß Sie meine Rollen mit mir durchnehmen und mich ordentlich Deutsch lernen lassen. Denn,« rief er lebhaft aus, »Sie, Herr von Wulf, in mir steckt was. Und ich will ein guter Spieler werden; und wann ich will, nachher kann ich auch. Bin ich dickkuppete böhmische, hab' ich festen Schädel, setz' ich durch!«

Sie machten absichtlich kleine Schritte, blieben auch bisweilen stehen, um die Karawane nicht einzuholen. Wenzel erzählte allerlei, teils ihn selbst, teils die Wirtschaft bei dieser Wanderbühne betreffend, das Wulfen in anderer Stimmung und unter günstigeren Verhältnissen höchlich belustigt haben würde. Jetzt, für niederschlagende Eindrücke empfänglicher, verzog unser überwundener Held kaum den Mund zu bitterem Lächeln. Ihn betrübte es tief, und wahrlich mehr um der Sache als um seinetwillen, daß, wie der Augenschein zeigte, großer Wuchs und gerade Glieder hinreichen sollten, den weggelaufenen Diener einer Edlen von Antenbacherl zu einem im Engagement stehenden Kunstgenossen zu erheben; daß die Bewohner vaterländischer Gegenden sich diesen Vermittler zwischen sich und Deutschlands dramatischen Dichtern gefallen ließen; daß die Behörde Konzessionen erteile an Unternehmer, welche sich kein Gewissen daraus machten, erste Fächer mit derlei Radebrechern der Sprache zu besetzen; daß endlich er, der begeisterte, fleißige Wulf, so tief gesunken sei, den Schneiderjungen, Schuhputzer und Statisten als Protektor zu betrachten und sich Rat bei ihm einzuholen – nur um nicht zu verhungern! Dabei erkannte er doch, nicht ohne Rührung, des ehrlichen Kerls Gutmütigkeit dankbar an und fühlte sich trotz aller Entrüstung geschmeichelt durch dessen huldigende Demut. Er beherrschte seine Aufwallungen und erwiderte Wenzels Vorschläge mit – Schweigen, welches wohl für Bejahen gelten konnte. Was wäre ihm sonst auch übrig geblieben? Ohnedies hatte der derbe Gesell in richtiger Auffassung den wunden Fleck getroffen, als er auf die Möglichkeit einer friedlichen Scheidung von der sogenannten Braut hinwies. Diese zu erzwecken, war kein Opfer zu groß.

Wulf betrat das Städtlein fest entschlossen, bei Jungzwirns ein sechswöchentliches Engagement anzutreten, auch unter den elendesten Bedingungen, wenn er's erhalten könne. Seine teure Hälfte, so nannte er die Herz, weniger in Berücksichtigung inniger Gefühle als leerer Geldbörse – hatte sich vor ihm bei dem Geschwisterpaare introduziert und sich bereits »anwerben« lassen, ohne erst auf ihres Bräutigams Zustimmung zu warten. Diese Willkürlichkeit erfreute ihn. Das war ein vielversprechender scharfer Schnitt in ihr Zusammenleben. Bruder Kasper hatte dies Geschäft abgemacht. Den Vertrag mit ihm schloß Schwester Gretel ab. Er fiel etwas knapper aus. Der Herz waren drei Thaler »Wochenlohn« zugesichert. Wulf sollte sich mit zweien begnügen. Er that es – er sagte zu – er zeichnete seinen Namen in das schmutzige Buch, welchem bindende Kraft beigelegt war (denn einzelne Kontrakte wurden aus Sparsamkeit nicht ausgestellt). O, er hätte sich dem Satan verschrieben, wofern dieser ihm versprochen, daß er ihn aus Henriettens Bräutigam wieder zum freien Manne machen wolle. Und dazu zeigte sich hier die beste Aussicht. Der kleine Kasper schien geneigt, Satans Rolle zu übernehmen; die große Herz gefiel ihm sehr. Kleinen Männern sind große Weiber immer gefährlich, und umgekehrt. Gretel würde tyrannisch dazwischen gefahren sein, hätten Wulfs Augen ihren eisig-starren Neid nicht geschmolzen. Wenzel rieb sich am nächsten Morgen vergnügt die Hände und versicherte: »Unsrige Direktion ist weich wie Quargelkas!«

Zum ersten Debüt für Herrn Wulf und Demoiselle Herz bestimmten Jungzwirns das Trauerspiel »Agnes Bernauerin« vom Grafen Törring. Kasper hatte in seiner nicht umfangreichen Bibliothek nur die erste ursprüngliche Edition dieses Werkes, welches neben dem unverkennbaren Verdienste, ein echt-deutsches Originalstück voll Charakteristik und Handlung zu sein, doch an dem seiner Entstehungsepoche eigentümlichen Fehler einer schwülstigen und übertriebenen Sprache leidet. Die Perioden klingen oft, als wären sie Bruchstücke zerrissener, auseinander gefallener Verse: eine sozusagen metrische Prosa, die kaum natürlich und ungeziert vorgetragen werden kann. Schon dreißig Jahre früher hatte Professor Engel in Berlin diesem Übel abzuhelfen und den Törringschen Dialog zu vereinfachen gesucht. Seine Überarbeitung war bis zu den weiland Marionetten nicht gedrungen. Sie tragerierten die Bernauerin aus dem alten, furchtbar zerfetzten Büchlein. Wulf erhielt abends acht Uhr eine nicht minder zerfetzte Rolle des »Albrecht« mit dem Bemerken: »Für morgen! Früh um neun Uhr Generalprobe.« Ihm war die Tragödie neu trotz ihres Alters. Er kannte sie nur dem Titel nach. Daß er die beträchtliche Rolle über Nacht »fressen solle,« hätte er schon verwunden. Aber die Herz sollte »Agnes« sein, mit ihr, für sie sollte er zärtlich, glühend, schwärmerisch fühlen! – Das machte ihn unwillig, und er ging voll Abneigung an die schwere Robott. Während er die Nacht hindurch memorierte, hörte er in der Kammer neben der seinigen die Bernauerin sich mit Sätzen herumbalgen, als da waren: »Was sollte er denn wollen mit mir? mit einem harmlosen Weibe? das nicht schuf ihr Herz? sich nicht gab ihre Liebe? Gegenliebe freilich nicht verdiente, freilich doch wünschte, aber nicht suchte,« und so weiter. Da schlug er wütend an die dünne Bretterwand und brüllte dazwischen: »Das rumpelt wie die Karre über einen Knüppeldamm; erbarme dich und rede wie ein Mensch!« – Die Herz faßte den Ausdruck »Mensch« als Personalinjurie auf, donnerte ihrerseits auch an die Wand und erklärte: »Ich bin kein Mensch!« – »Das weiß Gott,« seufzte er, nahm seinen Albrecht wieder vor und strengte sich an, sie zu überschreien. Die unglücklichen Mitbewohner des Häuschens thaten kein Auge zu bei dem Heidenlärm. Sogar der Nachtwächter konnte nicht ruhig schlafen und fragte mit amtlicher Würde von der Gasse herauf: »Wer treibt hier den Mordspektakul?« Er empfing aber die Antwort hinab: »Prinz Albrecht von Bayern!« worauf er eingeschüchtert weiter zog und sich eine stillere Gegend suchte.

Es ist eine begründete Erfahrung fleißiger Schauspieler, daß jene Rollen, welche mit Widerstreben und nur durch eisernen Selbstzwang Silbe für Silbe mühsam eingelernt wurden, fester und sicherer haften als angenehme Aufgaben, die gleich beim ersten Überlesen sich einschmeichelnd dem Gedächtnisse anzuschmiegen schienen. So wußte denn auch Wulf, da die Sonne aufging, die seinige wie artige Kinder ihr Einmaleins, und in dem übernächtig dröhnenden Kopfe hämmerten des wackeren Grafen Törring wohlgemeinte Kernsprüche gar gewaltig. Heutzutage klingt es unglaublich, daß die armen, gering geschätzten Komödianten, welche vor unseren Eltern und Großeltern auftraten, ihr Handwerk so ernstlich betrieben. Uns fehlt's nicht an »Künstlern,« die zehn Nächte im Gasthause zu verschwelgen bereit wären, ehe denn sie sich entschlössen, nur eine halbe ihrem Berufe zu widmen. Wozu auch? Sie wissen ja, daß der Mann im Kasten ihnen das Pensum vorschreit; wissen, daß niemand mehr darüber klagt, wenn sie ihm nachplärren; sei's auch immer Unsinn, den sie vorbringen. Unsere Vorfahren sind nicht so nachsichtig, nicht so geduldig gewesen. Die meinten, wer nicht vollständig Herr sei dessen, was er zu sprechen habe, der gehöre gar nicht auf die Bühne. Das war eben eine beschränkte Ansicht aus der Zopfzeit und gilt jetzt für längst überwundenen Standpunkt wie jeglich Zunftwesen. Dafür kennen wir auch keine Lehrlinge, keine Gesellen mehr; wir haben nur Meister. Und so will's der Fortschritt.

Wird nun also, wie wir behaupten, die korrekte Darstellung dramatischer Dichtung sogar dem reichbegabten und geistvollen Schauspieler unmöglich, wenn er nicht fest memoriert hat, so bringen andererseits emsigster Fleiß und geübtes Gedächtnis kein rechtes Gedeihen, wo der wahre innere Antrieb fehlt. Routine kann diesen zur Not ersetzen bei Wiederholung schon mehrmals gespielter Sachen. Eine erste Reproduktion des poetischen Gebildes, eine Schöpfung der Charaktere muß von schöpferischem Feuer beseelt sein, sonst gewinnt sie keine Gestalt. Und wie soll dieses Feuer Luft finden, wenn eigene Mißverhältnisse und widerliche Umgebung es peinlich ersticken? Es nützte dem Wulf wenig und kam seinem Prinzen Albrecht nicht zu statten, daß er letzterem die ganze Nacht geopfert. Er blieb kalt. Kein Mitspielender vermochte ihn anzuspornen, sie zeigten sich gar zu gemein und nichtig. Demoiselle Herz jedoch mit ihren unverstandenen, übertriebenen Deklamationsausbrüchen brachte ihn schier in Wut. Er sollte in Liebe für sie aufgehen und hätt' ihr so gern zugerufen: Halt's Maul! – Es gelang ihm um so weniger, je saurer sein Pflichtgefühl sich's werden ließ. Das Publikum nahm ihn kalt auf und überschüttete die heulende Agnes mit Beifall. Wenzel knirschte vor Zorn über die Dummheit der Kleinstädter. Nach jeder Scene flüsterte er, sogar draußen auf der Bühne, dem verkannten Helden ins Ohr: »Scheint mir, hör' ich, Herr von Wulf sollen nix mehr auftreten in verfluchter Pawlacze hiesiger!« Wulf drückte ihm verstohlen die Hand: »Unter Larven die einzige fühlende Brust!«

So war er denn glücklich durchgefallen, wie man's zu nennen beliebt. Er, der berufenste und anerkannteste von allen Schauspielern reisender Truppen! Und Demoiselle Herz hatte ihn vollständig tot gemacht. Prinzipal Kasper rückte jetzt, unbekümmert um der Schwester Einreden, mit seinen Anträgen bei Agnes Bernauerin vor. Er hatte sie zwar, wie sein Amt als intriguanter Bicedom erheischte, übers Wasser stürzen lassen, doch hatte er schon Sorge getragen, daß sie weich falle, und daß ihr das Flußbett zum angenehmen Lager werde. Sie ergriff bereitwilligst seine ihm dargebotenen Hände und verlangte nichts Besseres, als den darbenden mürrischen Wulf mit einem Herrn Direktor zu vertauschen. Dieser fühlte sich sehr glücklich im Besitze einer so großen Geliebten, die er noch obenein dem »aufgeblasenen Wulf« abspenstig gemacht! Die anderen Frauenzimmer spieen Gift und Galle. Gretel mäßigte sich, so lange sie die Hoffnung im vollen Busen barg, der von seiner Braut Verlassene werde sich gern der zarteren Hälfte Jungzwirnscher Compagnie auf Gnade und Ungnade ergeben. Da der »Sonderling« zögerte, sie zu verstehen, so wollte sie Wenzel zum Zwischenträger machen und beehrte diesen mit ihrem Vertrauen. Bei dem war's übel angebracht, denn der benutzte es, »baldige Entfernung von Jungzwirnscher Bagage« anzuempfehlen und sich dabei als Begleiter wiederholt anzutragen. Auf den Antrag ging Wulf nicht ein. »Hefte dich nicht an mich Unglücklichen,« sprach er; »mir mißlingt alles, ich zöge dich mit in mein Verderben. Hier hast du wenigstens notdürftigen Lebensunterhalt. Ich könnte dir nichts bieten als Hunger und Elend. Vielleicht werd' ich mich selbst um eine Stelle als Diener bewerben müssen. Jedenfalls wär' ich ein schlechter Kerl, wollt' ich dein Erbieten annehmen. Ich trage den Fluch; wer sich an mich hängt, ist mit verflucht!« – Wenzel hörte aus diesen unklaren Äußerungen das Bekenntnis einer schwarzen That. Eingeschüchtert zog er sich zurück von dem angebeteten Schauspieler, den er jetzt für einen Mörder hielt. Wulf stand nun wieder ganz verlassen. Das war's, was er gewollt. Alle sahen einen Gegner in ihm. Kasper betrachtete ihn noch immer als gefährlichen Nebenbuhler: Gretel haßte ihn, weil er sie verschmäht; die übrigen Schauspieler ahnten wohl, daß der Leu nur schlummere, daß er sie mit einem Schlage zu Boden schmettern würde, wollte er sich aufrichten. Früherer Lösung des kurzen Vertrages stand nichts entgegen. Sein Name ward im Jungzwirnschen Sklavenprotokoll gestrichen, er ward ein Freigelassener. Ein Libertiner, sagte er, und gedachte der »Böhmischen Wälder.« Er nahm nicht Abschied, da er ging, nicht einmal von Wenzel, obgleich es ihm wünschenswert erschien, diesen aufzuklären über die Bedeutung des Fluches. Doch das blieb ein in erster Regung schon wieder erstickter Wunsch, den er selbst als einen Rest kindischer Eitelkeit auslegte. Mir muß, mir darf es gleichgültig sein, was sie von mir denken, sagte er, da er vor Sonnenaufgang den Schauplatz seiner Schmach verließ. Er trug ein kleines Bündel am Stock. Die irgend noch entbehrlichen Kleidungsstücke hatte er hingegeben zur Deckung letzter Herz schulden. Sein Vermögen belief sich auf eine Handvoll geringer Münzen – und er hatte kleine Hände.

»Mangel und Hunger,« so rief er in den kalten Morgen hinaus, »ziehen vor und hinter mir, zwei Schergen gleich, und ich wandere zwischen beiden vielleicht dem Gefängnisse, zuverlässig dem Grabe entgegen. Meine Rolle hab' ich durchgespielt; ich steh' am letzten Blatte. Es ist zerrissen, beschmutzt, die Schrift kaum lesbar. Aber das Wort Ende prangt in schönen schwarzen Lettern. Und wenigstens bin ich allein, schmählicher Bande los und ledig: Das kann schon für ein Glück im Unglück gelten!« –

Nichts erfrischt Leib und Seele besser als ein scharfer schneidender Morgenwind. Ein solcher bestrich unseren Wanderer, verlieh ihm Kräfte, fast Heiterkeit, allerdings nicht die ausdauernde, ruhig waltende eines in sich zufriedenen Gemütes; mehr jene halbwilde, trotzig entsagende, die es nicht der Mühe wert achtet, Klagelieder anzustimmen, die es vorzieht, das eigene Leid zu belachen. Wulf machte sich lustig über seinen Aufzug. Er brach in lauten Jubel aus über den Gedanken, bei solch' gottserbärmlicher Bande durchgefallen zu sein! Er rief sich den Unsinn zurück, den Agnes, in gräflich Törringsche Wortgewinde verfitzt, zusammengeschrieen und gewinselt; er hörte den Beifall, der ihr dafür zu teil geworden. Er machte Freudensprünge, die er mit dem Ausrufe begleitete: O ihr Ochsen, Esel und anderes Vieh! Er stimmte endlich sein Nil admirari an und ging, dadurch ins Gleichgewicht gebracht, fürbaß wie ein gesetzter Mensch, der sein ernstes Ziel verfolgt. Dazwischen entschlüpften ihm freilich kurze Ansätze zu den bekannten, schon früher ausgeführten Monologen, wie zum Beispiel: Wenn mich Gottliebe so sähe! ... oder Vater Bäcker! ... oder Ludmilla! ... die hat das klügere Teil erwählt; die sitzt warm auf Schloß Tauern! Jedweder dieser Anfänge wurde abgeschnitten durch Nil admirari! Aber mitten in die Eiseskälte dieser zwei Worte ging ein warmer Hauch der Wehmut, gedachte er jener Nachricht, die Herr Schmidt ihm zugerufen, die Ludmilla zwar nicht bestätigt, die dennoch vielleicht Grund gehabt hatte. Er konnte Vater sein! Und was war denn aus seinem, seinem Kinde geworden? Lebte es? Welche Stellung nahm es ein? Oder waren beide tot, Mutter und Kind? ... Nacht, finstere Nacht um ihn her, am hellsten Morgen!

Manchmal überkam es ihn, als müsse er in das nächstbeste Dorfschulhaus eindringen, nach einer Landkarte fragen, den geraden Weg auf Schloß Tauern zu austüpfeln und sich ohne weiteres dahin betteln ... bis ihm dann zu rechter Zeit einfiel, daß nicht bloß Berge, Flüsse, Provinzen, daß auch Jahre, ach lange Jahre lagen zwischen ihm und jener, die sich dereinst die Seinige genannt und ihn den Ihrigen. Und er gab die Landkarten auf – wenngleich die Schulhäuser und Pastorwohnungen nicht; denn dort hinein trieb ihn bald die Not. Sein Reisegeld ging gänzlich auf die Neige.

In zweien dieser ihm gastfrei geöffneten Herbergen erlebte er zwei höchst verschiedene Abenteuer. Die Bewohner der ersten hatten ihn für einen auf Fußreisen begriffenen Studenten gehalten – ein Beweis, daß er bei allem Elend noch wohlerhalten erschien! – und als solchen aufgenommen. Der Pastor, kaum zehn Jahre älter, benützte allerlei Reminiscenzen aus eigener Burschenzeit, um seinen Gast und dessen Fakultät auszukundschaften. Wulf, nach langem Ausweichen, mußte endlich, wollte er nicht geradezu lügen, mit der Wahrheit herausrücken und gab sich für einen Komödianten zu erkennen. Alsbald brach ein furchtbarer Strafsermon über ihn herein. Sein Wirt war ein Hyperorthodoxer. Er deduzierte aus dem Worte der Schrift, »ein geschminktes Angesicht solle des Himmels nicht teilhaftig werden,« die unabweisliche Folgerung, daß jedweder Theatermensch Höllenbraten sei. Wulf, der das Hausrecht nicht verletzen und seinem Wirte nicht unhöflich begegnen wollte, versuchte anfänglich dem drohenden Gespräche eine mehr scherzhafte Wendung zu geben und versicherte: er denke gar nicht daran, geschminkten Antlitzes diese Erde zu verlassen, wische sich vielmehr die überhaupt sehr schwach aufgetragenen Farben allabendlich sorgsam von den Wangen! Doch dadurch steigerte er nur des Pastors Heftigkeit, welcher ihn einen ruchlosen Spötter schalt. Endlich sing der Geschmähte auch Feuer, warf sich zum Verteidiger seiner Kunst auf, die er nicht aufhören wolle zu verehren und zu lieben, wenn er gleich dabei verhungern müsse; schob den Teller, den die Pastorin für ihn gefüllt, von sich, sprang auf, nahm Stock und Bündel und rannte davon. Aus dem Hause riefen sie ihm nach: so wär's ja nicht gemeint, er möge umkehren! Doch er rief ihnen zurück: »ob ich in die Hölle gehöre, weil ich mich mit Zinnober angestrichen habe, das weiß ich eben so wenig, als Sie wissen, Herr Pastor, wie's in Ihrer Hölle aussieht. Daß aber keine Hölle schlimmer sein kann wie die Behausung eines Nachfolgers Christi, der Unduldsamkeit predigt und mit ewiger Verdammnis die Speise salzt, die dem Gaste vorgesetzt ward, davon hab' ich mich heute überzeugt. Lieber will ich die kalte Nacht unter freiem Himmel zubringen, nur nicht unter Ihrem Dache!«

Dieser Auftritt hatte ihn scheu gemacht, daß er sich vornahm, von jetzt an die Pfarrhäuser zu meiden. Desto wohlthätiger berührte ihn wenige Tage nachher die Einladung, die ein sehr alter Landgeistlicher, von seinen Feldern kommend, nach kurzem Gespräche auf der Landstraße an ihn ergehen ließ. Diesem hatte er, um spätere Verdrießlichkeiten zu vermeiden, sich gleich als »vacierender Schauspieler« genannt, und der alte Herr hatte das ganz freundlich hingenommen. »Ei,« hatte er gesagt, »da sind wir ja gewissermaßen Kollegen.« Diese befremdende Äußerung machte Wulfen argwöhnisch; er fürchtete, dahinter verstecke sich eine feindselige Absicht. Der würdige Greis bemerkte sein Erstaunen und beruhigte ihn: »Nicht doch, mein lieber junger Mann, ich rede ganz ernsthaft!«

»Aber Hochehrwürden,« sagte unser armer Freund, »die Schaubühne und die Kanzel sind doch himmelweit voneinander getrennt.«

»Daß ich nicht wüßte,« fuhr jener fort, indem er den Gast nach dem Pfarrhofe geleitete; »wenn auf beiden immer die rechten Leute stünden, könnten sie sich gern die Hände reichen. Die Schaubühne soll belehren, erheben, veredeln, bessern ... man sagt freilich, daß sie ihren schönen Zweck nicht erfüllt; daß diejenigen, die dafür schreiben, wie auch diejenigen, welche auf ihr agieren, ihren Pflichten häufig untreu werden. Das ist traurig, es ist aber menschlich; sowie es leider allzu menschlich und noch trauriger ist, daß sich auf unsern Kanzeln oft genug dieselbe Verfehlung des hohen reinen Zweckes, dieselbe Vernachlässigung einer noch heiligeren Pflicht breit macht. Schlimm für diejenigen Personen, welche der Vorwurf trifft, dort wie hier; der Sache, der Idee kann dadurch kein Abbruch geschehen; die bleibt, was sie ist. Ich bin grau geworden in Berufstreue und heiterem Amtseifer! Euer gutes Gesicht, Eure großen reinen Augen, mein lieber Gast, künden und verbürgen mir, daß Ihr's auch ehrlich meint mit Eurem Thun. Darum tretet ein und laßt's Euch bei uns gefallen!«

Wulfs Herz that sich auf. Die hochbetagte Hausfrau, ebenso grauhaarig, ebenso wohlwollend wie ihr Gatte, brachte Speise und Trank, setzte sich dann zu ihnen und hörte voll Aufmerksamkeit des Fremden Mitteilungen an. Ihr war das Theater eine unbekannte Welt; ein dazu gehöriger Mensch dünkte ihr erstaunlicher wie ein Neuseeländer; ja, sie wunderte sich eigentlich gar sehr, daß »der Herr« mit einem solchen Verkehren wolle. Doch was ihr Ehegatte unternahm, galt ihr recht und gut; deshalb, ohne weiter zu fragen wie und warum? betrachtete sie seinen Gast als den ihrigen und nahm mütterlich teil an dessen Schicksalen, obwohl sie sich vor einzelnen Schilderungen entsetzte. Denn Wulf verschwieg, verhüllte absichtlich nichts. Er fühlte das Bedürfnis, dem Greise, der des Lebens Tand längst abgethan, über jegliche irdische Armseligkeit erhaben ihm wie ein Heiliger vorkam, Beichte abzulegen, sich von der Brust zu reden, was ihn bedrückte. Das waren ernste und doch beglückende Weihestunden, die im niedern matterleuchteten Stübchen um sein Haupt zogen. Die Milde des Geistlichen erquickte ihn. Er staunte ehrfurchtsvoll den Gläubigen an, der ein langes Menschenalter hindurch in ländlicher Abgeschiedenheit nur Gott gedient und dabei von Vorurteilen frei die seltene Fähigkeit bewahrt hatte, andere nicht mit seinem, sondern mit ihrem Maße zu messen.

Vom Zustande dramatischer Poesie im ersten Decennio des neunzehnten Jahrhunderts hatte der vortreffliche Mann keinen Begriff. Seine verblaßten theatralischen Erinnerungen reichten über ein halbes Säkulum zurück. Deshalb war's ihm willkommen, daß Wulf sich erbot, einen Teil der Schuld für empfangene Gastfreundschaft in Probestellen aus Dichtungen abzutragen, deren Verfasser der Mann der Kirche kaum den Namen nach kannte. Die Pastorsfrau wurde nur von einem beschwichtigenden Wink ihres Alten festgehalten, denn sie wollte entfliehen vor dem »sündigen Komödienspiele!« Desto freudiger fand sie sich überrascht durch Wulfs Auswahl, die, mit Vorsicht getroffen und auf seine Zuhörer berechnet, beiden etwas Passendes brachte. Er rentiert unter anderem Chöre aus der Braut von Messina, die den Pastor begeisterten. Dann führte er, um den hausbürgerlichen Ansichten der alten Frau näher zu rücken, eine ganze rührende Scene aus Ifflands Jägern ans und erheiterte gleich darauf durch einige Scherze aus dem Lustspiele: Der Schneider und sein Sohn, denen er unterschiedliche Gesänge aus Hillers Operetten folgen ließ. Es fehlte nur, daß er ihnen ein Solo vortanzte, dann wäre das deutsche Repertoire vollständig gewesen.

Die wackere Großmama gestand ehrlich ein: ihres Gastes Künste wären ihr fast »erbaulich« vorgekommen, und außer in den Predigten ihres Mannes hätte sie noch keine glücklicheren Stunden verlebt! Ein höheres Lob wußte sie nicht zu erschwingen. Und er, da er dem müden Wanderer, gesättigt und gelabt, ins warme Schlafstübchen leuchtete, sprach treuherzig: »Mir ist, wie wenn ich aus langem Zauberschlummer auferweckt wäre und die Sandhügel um mich her in voller Blütenpracht stehen sähe! Das ist ein reicher Garten, den ihr da zu Pflegen habt, ihr Gärtner. Seid fleißig und bleibt eurer Pflicht getreu! Bedenket, wem viel gegeben ward, von dem wird man viel fordern!« –

Welch' scheinbar geringer Anstöße bedarf es doch nur bisweilen, gesunkenen Mut zu erheben, erschlaffte Sehnen und Nerven zu kräftigen, zu stärken! Lebensmatt, hoffnungslos hatte Wulf das Pastorhaus betreten; zu neuem Vertrauen gehoben, verließ er's. Die Freude der alten Leute an seinem Talent galt ihm jetzt mehr denn aller Beifall wandelbarer Menge. Daß er sie in ihrer gottseligen Abgeschiedenheit, in ihrer gänzlichen Unkenntnis weltlicher Dinge zu Thränen gerührt und abwechselnd zu belustigen vermocht, galt ihm für einen unwiderleglichen Beweis seiner Fähigkeiten. Und als beim Abschiede der fromme Theologe ihm segnend die Hand aufs Haupt legte; als die von ihrer Jahre Last gebeugte Hausmutter ihm nachrief, sie wolle ihn ins tägliche Gebet für ihre Enkel mit einschließen, da regte sich im gramerfüllten Herzen ein freudiger Trieb. Ob wohl solch' ein Segen den auf Erden mitgebrachten Fluch zu besiegen vermag? fragte er sich. Und in der Frage schon lag eine befriedigende Antwort. Denn der Fluch wirkt nur, solange wir vor ihm zittern, und der Segen zieht ein, sobald wir an ihn glauben. Beide liegen in uns, weil wir sterbliche Menschen sind, weil unsere Eltern nichts anderes waren, weil uns beides, Fluch wie Segen, mitgegeben worden ist. Eins kann sich zum andern gestalten, je nachdem wir's treiben ... oder freilich auch je nachdem wir getrieben werden. Wer weiß, wo jenes aufhört, wo dies beginnt? Niemand vermag es zu sagen. Und auch unser Wanderer konnte keinen Grund angeben, weshalb er von zwei Landstraßen, die unweit des friedlichen Dorfes nach verschiedenen Richtungen ausliefen, jene mied, diese einschlug. Der Wegweiser nannte die Namen der beiden nächsten Städte. Wulf gab sich nicht die Mühe, zu lesen und zu wählen. Er schloß die Lider, drehte sich etliche Male im Kreise umher und ging blindlings, mit vorgehaltenem Stocke sich weiter tappend, eine ganze Strecke fort. Erst nachdem er ein Stückchen Weges gemacht, that er die Augen wieder auf: »Wollen doch sehen, wohin mich meines lieben alten Pastors Vatersegen schickt!«

Drei Meilen sind bald zurückgelegt, wenn Erwartung antreibt, wenn Hoffnung belebt ... Da zieht sich eine Stadt am Bache hin, eine hübsche stattliche Stadt. Nichts Wunderbarlicheres als die Gefühle in des Menschen Seele, der aus der Ferne eine große Häusermasse überblickt, in welcher sein nächstes Geschick sich entscheiden, in welcher gleichsam Tod oder Leben über ihn verhängt werden soll, und welche ihm gänzlich fremd ist, worin er keine Katze kennt. Dort, zwischen jenen Gassen wird sich's erfüllen! Auf dem nächsten Ecksteine sitzt vielleicht seine Zukunft in unscheinbarster Gestalt. In jenem Hause, dessen Giebel hervorragt, wird vielleicht gerade jetzt ein Wort gesprochen, dessen Folgen den wichtigsten Einfluß auf ihn üben.

Mit ähnlichen Gedanken eilte Wulf vorwärts ... und siehe da: vom schmalen Bürgersteige schon, der über den Bach führt, erblickt er an dem Hausthore eben jenes Gebäudes mit hervorragendem Dachgiebel einen großen Anschlagzettel, auf welchem »Die Hussiten vor Naumburg« mit unzähligen Kindern locken, und auf welchem »Herr Madox,« zu fleißigem Monats-Abonnement einladend, die nahe bevorstehende Ankunft eines berühmten Künstlers verspricht, den er fürs erste nicht nennen will, damit er die Überraschung nicht verderbe. Daß an jeglichem der beiden Thorflügel ein solcher vielversprechender Zettel klebte, deutete auf theatralisches Hauptquartier; in diesen Mauern mußte der Stab des Regimentes Thalia sein Lager genommen haben; hier mußte Madox hausen! Und diesen Namen hatte Wulf erwähnen hören als eines geachteten Direktors, einer soliden Firma. Erstes Resultat der Wanderung ins Ungewisse: Freude über die Direktion, Furcht vor dem Verheißenen, Erwarteten. – »Hier könnte ich mich vielleicht aufraffen,« sprach er, »wenn nicht der Kerl, den er verschrieb ... nur keine lange Folter! ich will Entscheidung!«

Er klopfte an die Thür eines Gemaches, welchem ein gut geschriebener Anschlag die Eigenschaftender »Theaterkanzlei und Theaterkasse« beilegte. Madox stand hinter einer aus soliden Tischen erbauten Festung und zählte Geldstücke, die gar nicht übel klangen. »Sie wünschen?« fragte er dem Eintretenden entgegen, unsicher, ob dieser Billets abholen, ob er eine »Kollekte« in Anspruch nehmen wolle. Der Ton der Frage schwankte zwischen Zuvorkommenheit des Geschäftsmannes und Zurückhaltung des vorsichtigen Prinzipals.

»Können Sie noch ein Kind für heute Abend gebrauchen?« begann Wulf.

»Ein Dutzend noch,« rief Madox; »haben Sie Kinder vorrätig?«

»Das wohl so eigentlich nicht, Herr Direktor; ich komme mich selbst anzubieten.«

»Was soll das heißen? Sind Sie ein Narr oder ein Spaßvogel?«

»Ich bin ein Schauspieler.« Und er warf sich ins Zeug (ins abgetragene, beschabte) und sah den Geldzähler an.

Madox musterte des Wanderers Kleidung, prüfte den Umfang des auf einen Stuhl bei der Thür niedergelegten Bündels, begegnete seinen Blicken, schloß die schmutzigen Geldstücke weg, schüttelte zweifelnd den Kopf, betrachtete abermals den Ankömmling und murmelte dabei: »Möglich wär's immer! Aber daß er so tief herunter gekommen sein sollte ...? Zwar das kann jedem geschehen. Die Weiber, der Wein, die Karten ... Herr, treiben wir keinen Unsinn miteinander, die Sache ist ernsthaft. Sind Sie's?«

»Gewiß bin ich's,« lachte Wulf. »Jemand muß ich sein!«

»Keinen Spaß, ich bitte. Haben Sie meine Briefe erhalten? Folgen Sie meiner Aufforderung? Weshalb verlangten Sie keinen Vorschuß? Weshalb rücken Sie ein wie ein fechtender Leinweber?«

»Ich habe keine Briefe erhalten! Ich treibe mich ohne Engagement herum. Diese drei Groschen sind mein Hab und Gut. Hierher führte mich der Zufall – nein, nein, der Segen des alten Pastors. Ich heiße Wulf.«

»Hab' ich dich, Junge!« jauchzte Madox und sprang über die Barriere mit dem kühnen Schwünge eines Harlekins, der er von Geburt war: »hab' ich dich, Teufelskerl mit den Himmelsaugen und der Götterstimme, die alle Herzen gewinnt! Seit einem Jahre fahnde ich nach ihm, und nun halt' ich ihn endlich! Du wirst denken, der ist ein Schafskopf, weil er eingesteht, daß er mich haben will; ein schlauer Direktor muß die Ware zu verachten scheinen, die er braucht! Ja, das ist sonst auch mein Grundsatz, er gehört zum Metier. Du machst eine Ausnahme; dich kenn' ich schon lange! Auf dich hab' ich mich gespitzt, seitdem ich die Direktion führe. Nun hab' ich dich, und nun lass' ich dich nicht mehr, und morgen geben wir die Räuber! Heh? Aber ohne Maler Huyasch und Konsorten. Ohne Säbelhieb! Auch ohne Ludmilla! He? Doch nicht ohne Gottliebe! ... Ha ha ha! Da steht er wie aus dem Wolkenwagen gepurzelt. Mit einem Worte: Gottliebe ist des ehemaligen Harlekins Colombine geworden; Madame Madox heißt Gottliebe! Dort durch jene Thür geht's in unsere Wohnung. Marsch, Meister Wulf, melde dich bei ihr, bei deiner Frau Direktrice! In zehn Minuten schlägt's Mittag, dann schließe ich die Kasse und bin bei euch!«

Wulf ließ sich ins Nebenzimmer schieben; es war ihm, als ob er träumte ... und keinen leichten Traum! einen recht schweren, bangen, dessen Druck sich wie Bleiklumpen an seine Füße gehängt, da Madox Gottlieben nannte. Ein beängstigender Gedanke ihr entgegenzutreten! Sich ihr zu zeigen – und so! Und wie wird sie ihn empfangen? Ja, um alles in der Welt, wie kommt des Reichsbarons designierte Gemahlin unter die Komödianten? Und wie wenig oder wie viel weiß Harlekin von Colombinens Vergangenheit? von der ihrigen ...? und von derjenigen eines sichern Monsieur Bäcker? Was weiß sie von Ludmilla? Wie soll er sich benehmen?

Gewiß, hätte er die vor acht Jahren so verführerische Lehrerin allein gefunden, hätte dies unerwartete Wiedersehen keinen Zeugen gehabt außer ihrem Gatten, Wulf wäre vor Verlegenheit umgesunken. Doch Kotzebue enthob ihn jeder Angst. Kotzebue, der große Kinderfreund, dem die kleinen Wesen für Zwiebeln galten, durch deren Zuthat er manchem dramatischen Schaugerichte jene auf sämtliche Theaterdrüsen berechnete, unwiderstehliche Rührungswürze zu geben verstand, der seine »Hussiten« so überreichlich damit versorgte, Kotzebue ward unserm bebenden Helden ein Retter. Was an Sprößlingen irgend aufzutreiben gewesen, gesamte kleinste unmündige Nachkommenschaft aus Stadt und Vorstädten hatte der Requisiteur zusammen getrommelt. Gottliebe paßte ihnen eben die schwarzbebänderten, florberänderten, weißgewaschenen Sterbekittel an. Es wimmelte von zweibeinigen Rührungsmittelchen beiderlei Geschlechtes um sie her. Sie befand sich in vollster Thätigkeit, jenen eine Schleife zu binden, diesem sein Näschen zu wischen. Es gab ein possierliches Bild, und darin suchte der Eintretende sein Heil. »Verehrte Gönnerin,« rief er, »das alles sind Ihre Kinder? o Sie reichbeglückte Mutter!«

»Für heute Abend gehört mir wenigstens ein Dutzend, denn ich spiele die Viertelsmeisterin!« Und dabei hielt sie ihm die Hand entgegen und begrüßte ihn so ruhig und unbefangen, daß seine Sorgen wichen.

»Ist das eine Überraschung,« jubelte Madox zugleich durch die Thür. »Denke dir, aus eigenem Antriebe zieht er hier ein; meine Briefe hat er nicht bekommen. Trifft sich das glücklich!«

Nun betrachteten sie sich und verglichen sich mit den Kauzburger Erinnerungen. Wulf las in Gottliebes Antlitz, daß sie das seinige doch sehr verändert finde. Er dagegen mußte sich eingestehen, daß sie, wenn auch an Umfang viel zu-, doch an Schönheit wenig abgenommen. – »Seitdem der alberne Ehrgeiz mich ruhig schlafen läßt, gedeiht mir sichtlich jeder Bissen,« sagte sie in wahrhaft erschreckender Prosa.

Er begriff bald, daß er hier in keiner Beziehung etwas zu fürchten habe. Mitten im Gewimmel der Kinderschar schloß er den Vertrag, der ihn zum gutbezahlten ersten Schauspieler der Madoxschen Truppe machte. Ein tiefer eingehendes Gespräch mit seiner kauzburger Gönnerin versparte er ungestörteren Stunden und eilte mit einem ihm dargebotenen Gagenvorschuß ausgerüstet, sich ein Stübchen zu mieten. An Wohnungen gab's keinen Mangel, er fand ohne Mühe, was er brauchte, und da der Vermieter glücklicherweise ein Schneider, so war auch bei willig eröffnetem Kredit die beste Aussicht zu baldiger Herstellung und Vermehrung notwendigen Kleidervorrates da. Eine solche Aussicht vermag einstweilen schon zu beruhigen. Es ist lächerlich, dennoch ist es wahr, und wer in ähnlichen Lagen sich befand, kann's bestätigen: wir ziehen den verbrauchten, abgeschabten Rock, dessen wir uns gestern wer weiß wie sehr schämten, heute mutig an, weil die Gewißheit uns tröstet, daß ein neuer besserer, der uns übermorgen schmücken soll, sich schon in Arbeit befindet. Mitunter dürfte es unserer lieben Seele gar gut bekommen, wenn sie sich auf gleiche Weise mit ihrem Erdenkleide, dem rasch verbrauchten und abgeschabten Menschenleibe zufrieden stellen und dessen Leiden und Gebresten gering schätzen lernte, in Aussicht auf neues, dauerhafteres Gewand, welches ja schon längst in Arbeit ist und noch dazu beim zuverlässigsten maître tailleur.

Doch das mag leichter anzuraten als zu befolgen sein, sintemalen das leibliche Kleid der Seele, nicht wie Rock und Hose mit Zwirn, sondern mit Nervenfäden zusammengenäht, ein gar empfindlich Ding bleibt und merklichen Protest einlegt wider jegliche Unbill, so Wind und Wetter ihm zufügen.

Die Aufführung der »Hussiten« belustigte unseren Freund, welcher hinter der Scene ihr beiwohnte, ganz ausnehmend. Je lauter das Schluchzen tiefgerührter Zuschauer auf die Bühne drang, desto komischer fand er die Dichtung; hauptsächlich deshalb, weil ihm Mahlmanns nie genug gewürdigte Parodie derselben vorschwebte. »Herodes vor Bethlehem« S. Univ.-Bibl. Nr. 304. verbindet wahrlich mit allen Vorzügen einer höchst vergnüglichen wirksamen Posse den gediegenen Wert kritisch-belehrender Abhandlung, und es dürfte etwas Ähnliches in gesamter deutscher Litteratur nicht gefunden werden. Leider ist das Werk gerade durch seine vielfachen Beziehungen zu jener Zeit der unsrigen fast unverständlich geworden und deshalb verschollen und vergessen. Was jedoch nicht hindert, daß einzelne Citate, Aussprüche, Scherz- und Witzworte aus demselben volkstümlich blieben und noch heute häufig angewendet werden von Menschen, die dabei weder an Herodes vor Bethlehem noch an Mahlmann denken, weil sie von beiden nichts wissen.

Während der Darstellung verabredeten Madox und Wulf die nächsten Proben, und Gottliebe bestimmte letzterem die Stunde, wo sie ungestört plaudern könnten. Sie gab dabei zu verstehen, daß sie über das Geschick derjenigen Personen, welchen sie und er sonst nahe gestanden, genau unterrichtet sei. Jetzt erst entdeckte er an sich selbst, wie unwahr jene Täuschung gewesen, die ihm jahrelang vorgespiegelt, er habe mit der Vergangenheit abgeschlossen. Die Erwartung dessen, was er hören sollte, bemächtigte sich seiner mit voller Gewalt; sie machte ihn fast unfähig, die Ansprüche zu erfüllen, die Direktion und Publikum an ihn richteten. Er bedurfte all' seiner auf Routine gestützten Sicherheit, um nicht zerstreut zu werden; und als gar der Räuberchor anhob, war es ihm doch, als müsse er von der Bühne stürzen und zu Ludmillas Schutze nach Schloß Kauzburg fliegen. Einen minder geübten Schauspieler wäre dieser Zustand verderblich geworden. Ihm schlug es zum Gedeihen aus. Gottliebe rief ihm nach der Turmscene zu: »Bäckers Junge versprach viel, doch der Mann erfüllt noch mehr, als der Junge versprochen. Ich bin stolz auf Sie; Sie sind meine beste That; denn ich habe Ihnen Bahn gemacht!«

Der Zuruf klang matronenhaft, fast mütterlich; er enthielt gewissermaßen die Versicherung, daß Madame Madox ihm nichts anderes mehr sein wollte, als eine teilnehmende ältere Freundin. Er durfte ohne Besorgnis der festgesetzten Zusammenkunft entgegen gehen, ohne Besorgnis nämlich wegen seiner Stellung zur Gattin des Direktors. Damit war keineswegs gesagt, daß er nicht zitterte vor den Nachrichten, die ihm zu teil werden sollten. Er brannte darauf und er fürchtete sich davor, beides zugleich.

Gottliebe zeigte sich nicht allzu freigebig damit. Sie verlangte zu hören, bevor sie sprach. Wulf mußte ihr seinen Lebenslauf schildern von der Nacht, da er aus Kauzburg entfloh, bis zur Stunde, da er bei Madox eingetreten. Sie erließ ihm nicht den geringsten Umstand; wo er über etwas hinweg schlüpfen wollte, gebot sie Halt und ging der Sache auf den Grund. Sie erreichte dadurch zweierlei: erstens Befriedigung ihrer Neugier, zweitens den Sieg über seine Ungeduld. Durch so vieles Reden bereitete er sich vor, ruhiger zu hören. Und da vernahm er denn endlich, was wir in gedrungenster Kürze mitteilen. Wir suchen nicht zu erforschen, wie es zu Gottliebes Kenntnis gelangte, und wollen nur darauf hinweisen, daß sie, ehe sie Madox die Hand am Altare reichte, Mitglied einer Truppe gewesen, welche die Gegenden um Tauern herum heimzusuchen pflegte.

Unser Kauzburger Schloßherr war durch dreierlei über ihn hereinbrechende Kalamitäten mürbe gemacht worden. Der Zusammensturz des heiligen römischen Reichs, aus dessen Trümmern die einst Unmittelbaren, wo sie Rechte, Privilegien und Reichtümer zu retten gedachten, nicht selten verwickelte Prozesse und Streitigkeiten mit Agnaten sich auf den Hals zogen, hatte ihm den härtesten Schlag gegeben, der lange nachwirkte. Der Bruch zwischen Gottliebe und ihm war dem selbstsüchtigen Manne tiefer zu Herzen gegangen, als er sich anfänglich eingestehen mögen; erst wie er ihren Umgang entbehrte, wurde ihm klar, welchen Riß diese Trennung in sein Dasein gemacht. Drittens hatte Ludmillas Flucht nicht allein seinen Stolz verletzt, sondern es war ihm in ihr auch die Vermittlerin entzogen, durch die er eines jüngeren Vetters habgierige Ansprüche auf die Herrschaften Tauern-Kauzburg befriedigen und ihre gegenseitigen Interessen vereinigen konnte. Was fragte er danach, ob seine verstorbene Gemahlin, wie man munkelte, ihn betrogen; ob sie ihm in Ludmilla die Tochter eines Geliebten untergeschoben, dem sie seinetwegen entsagen müssen, den sie dann heimlich wiedergesehen? Pater est quem nuptiae demonstrant, hieß sein Motto, nicht für die Empfindungen eines Vaters, wohl aber für die Berechnungen eines mediatisierten Reichsfreiherrn, dem Juristen den Ausgang höchst komplizierter Prozesse nicht verbürgen wollten. Sie war nicht das Pfand seiner Liebe, sie war ihm das Unterpfand seines Reichtums gewesen; ... sie war mit dem Komödianten davongelaufen! Sie fehlte ihm, da er, durch seine Räte und Ratgeber nach Tauern zurückgerufen, ihrer Person, ihrer Schönheit, ihrer anmutigen Gewandtheit am bedürftigsten gewesen wäre! Fehlte ihm – und er wußte nicht, wo er sie suchen sollte. Die Friedensvorschläge des kabalisierenden Vetters, von Zwischenträgern befördert, deuteten auf diese Verbindung als auf ein für beide Parteien annehmbares Auskunftsmittel hin. Es lag so nahe. Wenn des Reichsbarons einziges Kind dessen Gemahlin wurde, der ihr weibliches Erbrecht anfocht, so hörten die Anfechtungen von selbst auf; der Schwiegervater hatte vom Eidam nichts zu besorgen, und der Schwiegersohn brauchte nicht auf den sich wer weiß wie weit verschleppenden Urteilsspruch der Instanzen zu harren, der bei vielfach auszulegenden Urkunden immer ungewiß blieb. Mit schwerem Golde erkaufte Baron Ägidius das Schweigen seiner Umgebung. Mit höchstem Aufgebote seiner nicht allzu reichen Phantasie erfand er Märchen auf Märchen, um Ludmillas Wegbleiben zu entschuldigen und durch Besuche bei hochadeligen Familien in kaiserlichen Staaten zu rechtfertigen. Auf die Länge reichten die Entschuldigungen nicht aus: eine unheilvolle Entdeckung drohte stündlich. In diese peinliche Verlegenheit fielen die ersten Zuschriften der Eisenstädter Vermittlerin. Man begreift, daß sie freudig aufgenommen, daß sie zuvorkommend erwidert wurden. Wohin sie geführt, wissen wir schon. Ehe noch Wulf zur Besinnung gekommen, ehe es ihm noch recht klar geworden, daß Ludmilla ihn verraten, böslich verlassen ... ist sie Baronin Tauern-Kauzburg-Tauern. Ihr Gemahl, der früher nur Tauern hieß, hat jetzt mit seinen angeheirateten, zwiefach befestigten Rechten auch den Namen erworben und schreibt sich ebenfalls Kauzburg. Er ist nicht der Mann, lange zu forschen, ob die Hand, die ihm sichern Besitz und Titel darreicht, jungfräulich rein, auch gewiß noch nie in eines andern Mannes Hand gelegen; ob Ludmillas lange, rätselhafte Abwesenheit nicht vielleicht einen Makel auf sie geworfen habe. Nein. Was er erreichen wollte, ist erreicht; der Hauptzweck ist erfüllt; alles übrige gilt für Nebensache. Nur die »Dehors« müssen beobachtet werden. Letztere nun haben freilich ein bißchen gewackelt, als die junge Frau im sechsten Monat nach der Trauung eines Sohnes genas. Doch es war eben ein Sohn, ein legitimer Erbe ... und ihr Gemahl der erste, schalkhaft einzugestehen: Er habe sich in fernen Landen des zwiefach teuern Schatzes schon vorher heimlich zu versichern gewußt! Gutmütige Leute glaubten ihm das; die es nicht glaubten, nahmen's doch scheinbar gläubig hin. Mann und Frau schienen ganz, einig und glücklich ... nach Ablauf eines Jahres dachte niemand mehr an die vorzeitige Entbindung ... und damit gut!

Dies der Inhalt von Gottliebes Erzählung. Inwiefern sie persönliche Zeugin, wenn auch unbemerkte, jener Vorfälle in reichsfreiherrlicher Sippschaft gewesen; inwiefern sie durch alte Tauernsche und Kauzburgsche Bekanntschaften unterrichtet worden; darüber sprach sie sich nicht umständlich aus. Doch so viel ließ sie durchblicken, daß zwischen ihr, der wandernden Schauspielerin, und dem Reichsbaron später noch vertrauliche Briefe gewechselt worden. Man hatte ihre Nähe, ihre scharfe Zunge, ihre Kenntnis der Zustände, ihre Rache gefürchtet; man hatte ihr zu verstehen gegeben, daß die Welt groß, und daß anderswo auch Raum für sie sei; man hatte ihr zuletzt eine nicht unbedeutende Summe angeboten, wenn sie ihr Glück in einer anderen Gegend Deutschlands versuchen wolle. Und sie, die sich seit ihrer Abreise von Kauzburg schon hundertmal eine Thörin gescholten von wegen allzu großer Uneigennützigkeit, war auf das Anerbieten eingegangen. Mit jenem Gelde, welches sie dem Gatten als Morgengabe zugebracht, hatte Madox die Direktion an sich gekauft. »Und auf diese Art bin ich« – also lautete der Schluß ihres Berichtes – »aus der Sphäre romantischer Poesie und hochherziger Geringschätzung, kauzburgischer Abfindungssummen mit einem soliden Stücke tauernschen Brotes in die Realität hernieder gestiegen, in der ich mich bei täglich zunehmendem Embonpoint recht zufrieden bewege. Freund Ägidius altert schnell. Sein Herr Schwiegersohn ist kränklich. Ludmilla lebt in ihrem einzigen Sohne, den sie, wie mir gesagt worden, um desto zärtlicher liebt, je weniger er seinem Vater gleicht.«

Wulf brachte geringe Befriedigung in sein Stübchen mit. Zwar fühlte er sich beruhigt durch Ludmillas Wiederherstellung in die Rechte ihrer Herkunft. Und wie er sie zu kennen glaubte, entbehrte sie nichts in einer Ehe, welche nur Berechnung geschlossen, welcher das Herz fremd geblieben war. Ihr Herz machte, wie er anzunehmen sich berechtigt hielt, geringe Ansprüche. Was von tieferen Gefühlen darin lebte, fand jetzt genügsame Nahrung in der Liebe für ihr Kind. Daß diese Liebe aber seinem Sohne galt, seinem Sohne, dem er nie und nimmer nahe treten durfte; daß des Sohnes wie der Mutter Ehre und Erdenglück von seinem unverbrüchlichen Schweigen, von seiner bis zum Tode bewahrten Zurückhaltung abhänge ... darin lag der tiefe Schmerz einer unheilbaren Wunde. Doch die Natur bleibt sich in ihrer Fürsorge immer treu; wo sie verletzt, hält sie auch lindernde Mittel bereit; ja, wo sie mit einer Hand vergiftet, bietet sie mit der andern das Gegengift dar. Nicht allein wider leibliche Schlangenbisse wächst ein rettendes Kraut dicht neben des Gewürmes Schlupfwinkeln. Aus jeder Seelenqual erzeugen sich Ideen, welche tröstend beschwichtigen. Mögen sie an und für sich selbst auch quälende sein! desto sicherer wirken sie als Gegengifte. Ein Schmerz besiegt den andern. Was des Komödianten Vaterschmerz besiegte, war der Gedanke des Sohnes an seinen Vater, der Gedanke an den Fluch eigener Geburt. Ich kenne ihn nicht, sprach er, will ihn nicht kennen, der mir das Leben gab. Mein Sohn darf mich nicht kennen. So hat es die ewige Vorsicht gefügt; so hab' ich's überkommen; so erbt sich's fort in richtiger Folgerung. Deshalb muß es gut sein, und ich unterwerfe mich.

*   *   *

Dadurch hatte sich ein Abschnitt für Wulfs Dasein gebildet. Er fing, wie man's zu nennen pflegt, ein neues Leben an, nur seiner Kunst gewidmet. Wünschenswerter dafür wären allerdings Verhältnisse gewesen, die mit seinen Anlagen und seiner bedeutend vorgeschrittenen Bildung mehr in Einklang gestanden hätten. Außer Gottliebe, die aber eben so sichtbar an künstlerischem Werte ab-, wie sie an körperlichem Umfange zugenommen; und außer Madox, der aus einem guten Harlekin kein schlechter Schauspieler geworden war, fand sich nichts Besonderes vor. An Absonderlichkeiten dagegen fehlte es nicht, und einige Mitglieder der Truppe konnten für seltsame Exemplare gelten. Eins der auffälligsten zeigte sich dem Beschauer in Person des zärtlichen Vaters, dessen Peripherie jede menschliche Grenze überschritt. Gottliebe liebte zu äußern, daß sie neben solchem Maststücke für ein schlankes Mädchen gelten könne, und daß Herr Kristern, wenn er neben ihr auf den Brettern stehe, seine Gage zwiefach abverdiene, weil er die Direktrice um zehn Sommer verjünge. Wie nun besagter Kristern die äußerste konservative Rechte bildete, so vertrat ein für zweite Fächer angestellter und vielbeschäftigter Herr Schlürr die äußerste, ewig verneinende Linke, indem er durch Magerkeit und Dürre ebenso excellierte wie jener durch Fettigkeit und Dicke. Ein Skelett mit vergilbtem Pergament überzogen. Die Kollegen fanden beide Gegensätze sehr begreiflich. Kristern, meinten sie, ein Hagestolz, der weder Kind noch Kegel hat, frißt seine anständige Besoldung allein und legt jeden Thaler in Fleisch an; Schlürr dagegen, schlecht bezahlt, hat für sieben lebendige Kinder zu sorgen und hungert mit ihnen! Dem war jedoch keineswegs also. Denn Schlürr verstand sehr wohl, sich jene Galgenzahl, welche auch dem Galgen fröhlich entgegenwuchs, möglichst vom Halse zu halten; er erzog sie systematisch zum Betteln. Sie mußten sich selbst ernähren von den Brosamen, welche sie mitleidigen Stadtbewohnern, durch fest eingelernte Klagelieder, aus Küche und Speisekammer ablockten. Bisweilen fiel die Ernte an Naturalabgaben so reichlich aus, daß Madame Schlürr den eigenen Kochtopf gar nicht ans Feuer zu stellen brauchte, und daß Herr Schlürr dennoch vollauf hatte. Ja, er war, nach Kristerns Behauptung, ein viel stärkerer Fresser wie dieser, welcher, auf sein Ungetüm von Wanst blickend, stöhnte: »Kann ich dafür, daß mir mein bescheiden Teil besser anschlägt, denn ihm? Das ist ein Eigensinn des Körpers, und ich wollte ja gern mit ihm tauschen. Er hat immer Appetit und braucht doch nicht so schwer zu tragen!«

Der Dicke war nicht ohne Witz. Er setzte kleine Intermezzos ganz artig zusammen. Unter anderen hatte er eine dialogisierte Scene geschrieben, die er mit Schlürr darstellte, und worin sie sich zum Vergnügen der Zuhörer gegenseitig neckten. Niemand, weder auf der Bühne noch im Auditorium, ahnte, daß die wirksamsten Späße dieses Zwischenspieles einem gewissen Falstaff und dessen Heinz gestohlen waren; denn von Shakespeare wußten damals nur wenige, und außer Hamlet, höchstens Lear (in Schröderscher Einrichtung) war wohl keines seiner Werke bei Wanderbühnen im Gange. Wulf brachte aus einer Leihbibliothek denjenigen Band der Eschenburgischen Übersetzung mit in die Garderobe, der die Heinriche enthält, und legte das Buch, nachdem er die schlagendsten Stellen angezeichnet, offen auf Kristerns Platz, was dieser ihm sehr übelnahm und sein versteckter Gegner wurde. Schlürr dagegen, der sich immer nur mit Widerwillen zum Stichblatt gegen ihn gerichteter Witze hergegeben und sehr ungern sein Gerippe hatte verspotten lassen, betrachtete Kristerns Beschämung als eine ihm erzeigte Gefälligkeit und schloß sich, zudringlich genug, dem »rettenden Gönner« (so nannte er Wulf) bei jeder Gelegenheit an. Ihn abzuschütteln war nicht so leicht. Kristern nannte ihn gewöhnlich den »aus Anklam Gebürtigen,« weil er sich anzuklammern suche an jedes Mitglied von einiger Bedeutung. Aber so widerwärtig er unserm Wulf erscheinen mochte, bot er doch auch höchst komische Seiten und ergötzte bisweilen durch klägliche Schilderung von Erlebnissen, die eben nur reisende Komödianten seiner Gattung haben können, obgleich er selbst in seinem Betragen mehr einem konzessionierten Leichenbitter glich. Was er immer vorbringen mochte, klang jämmerlich. Nach Kristerns treffendem Vergleiche sprach er nie, ohne vorher jedes Wort in eine kleine Thränenpfütze zu tunken und darin herumzuwenden, wie man es mit einem Bissen Brot in Bratenbrühe thut. Auch waren ihm stets etwelche seiner Kinder zur Seite, die ihm helfen mußten, Rührung hervorzubringen, und es blieb unbegreiflich, woher sie immer zur passenden Minute kamen. Es war nicht anders, als ob er sie in den Rocktaschen bei sich trüge und nach Bedürfnis hervorhole. Wulf befragte ihn einst, wie viel Kinder ihm eigentlich lebten, da es fast unmöglich sei, die kleinen sich ähnelnden Geschöpfe zu sondern und zählen. Salbungsvoll sagte Schlürr: »Edelster Künstler und Kollege! Es sind gegenwärtig sieben kleine Schlürre und Schlürrinnen, für deren leibliche Existenz ich geprüfter Vater zu sorgen habe. Ursprünglich hatten Gottes Wille und meiner Ehehälfte Fruchtbarkeit mir deren acht Stück aufgebürdet; das jüngste derselben ist jedoch diesem Jammerthale, Erde genannt, unter so tragischen Umständen wieder entrückt und in jenes himmlische Reich versetzt worden, wo der Sage nach Kinder zu Engeln avancieren, daß ich für geziemend erachte, Ihnen, dem erhabenen Meister, die entsetzliche, erschütternde ›Katastrophe‹ zu erzählen. Wir reisten im vorvorigen kalten Winter in unser jetziges Engagement. Da es meinen Würmern an schützender Bekleidung (von Pelzwerk gar zu schweigen!) leider mangelte, so hatte ich sie, der Theorie von animalischer Wärme gemäß, übereinander geschichtet in einem den Hintergrund des kleinen Flechtenwagens füllenden, mit Stroh ausgefütterten Neste und darüber gebreitet, was der Fuhrmann irgend an Pferdedecken besaß. Sie heizten sich selbst ein, und für ihrer Sieben wäre also verhältnismäßig gut gesorgt gewesen, hätte mich die Furcht vor etwaigem Ersticken der unten liegenden nicht gepeinigt. Doch weil die Korbflechten bereits an einigen Stellen von den Rotationen der Wagenräder durchgerieben, so ließ sich auf Einströmung erfrischender Lebensluft nach physikalischen Grundsätzen schließen. Minder günstig gestaltete sich die Situation der jüngsten Schlürrin, Theodosia getauft, welche sich noch im zarten Alter von etlichen Monaten befand und mir eben so unersehnt als unerwartet ins Haus gefallen war; meine gute Frau besitzt, nebenbei erwähnt, die fürs Theater nützliche Eigenschaft, ihre gesegneten Umstände durchaus nicht zur Schau zu tragen. Sie verheimlicht auch mir, so lange wie möglich, wenn sie guter Hoffnung ist – alberne Bezeichnung! – und es heißt dann gewöhnlich bei mir, wie in der Parodie der erst kürzlich hier aufgeführten Hussiten, in dem ›Herodes vor Bethlehem‹, den ich künftig einmal zu meinem Benefiz darzustellen denke: ›Das Kind ist da, man wird Papa, man weiß nicht wie!‹ Die Kälte war, wie bereits erwähnt, grimmig. Um die kleine, auffallend kleine Theodosia möglichst zu schützen, hatte ich mich entschlossen, meine Perückenschachtel dem Kinde einzuräumen und hatte, was ich von Haartouren besitze, teils mir, teils meiner Gattin aufs Haupt gestülpt, einerseits um Platz in der Schachtel zu gewinnen, andererseits um uns zu wärmen, da sie gleich mir (ich meine die Gattin, nicht die Schachtel) am Kopfe sehr empfindlich ist. So lag das unschuldige Geschöpf in Baumwolle gewickelt – in jene Wattierung, deren meine nicht allzu vollen Beine auf der Bühne bedürftig – und lag nach meiner Ansicht vollkommen sicher. Vor einem Dorfwirtshause hielt der Kutscher an, um Mittag zu machen. Groß und Klein stürzte sich in die warme, mit einem riesenhaften Ofen gesegnete Gaststube, welche zugleich Küche und Stallung für Feder- und anderes Vieh abgab. Ich öffnete die Schachtel und entdeckte zu meinem Befremden, daß durch Holz und Baumwolle die scharfe Kälte gedrungen sein müsse, denn Theodosia war mehr Eiszapfen als Menschenkind. Der Ofen, neben welchem ich stand, strömte die behaglichste Temperatur aus; er hatte mehrere Öffnungen, durch eiserne Platten bedeckt, offenbar angebracht, um kaltgewordene Speisen und Getränke rasch zu erwärmen. In eine derselben schob ich die Schachtel, voll der günstigen Absicht, unser quasi gefrorenes Töchterlein aufthauen zu machen. In diesem Augenblicke entspann sich heftiger Hader zwischen den größeren Kindern, welche sich um die ersten Schalen heißdampfender Milch rauften. Ich warf mich unter sie, Ordnung zu machen, ein Geschäft, wofür Madame Schlürrs körperliche Kräfte nicht ausreichen. Bei solchen Auftritten, wo sämtliche Bälge in einen Knäuel verwickelt miteinander zankten, und jedes zwischen seinen Fingern eine Handvoll geschwisterlicher Löcklein hält, ist es schwierig zu entscheiden, auf wessen Seite das Recht weilt. Um unparteiisch zu verfahren, wichse ich dann alle der Anciennität nach durch ... und bei sieben erfordert das Zeit, wofern man gründlich und gewissenhaft verfahren will. Meine Frau, als zärtliche Mutter, half mir bei, und sie faßte eben den letzten der Sträflinge, dessen Hinterteil ich noch flüchtig bearbeiten sollte, da drang mir ein eigentümlicher Geruch wie von einem zu stark gebratenen Spanferkel in die Nase. Stutzig werden, den jüngsten Schlürr loslassen, dem Ofen zueilen war eins. – Schauderhaft! Die Köchin hatte im Feuer geschürt, glühende Kohlen waren unter die Platte geschoben worden, worauf die Schachtel stand; – die Schachtel glimmte – die Wattierung schwelte – Theodosia, nicht allein aufgethaut, sie war geröstet, sie war tot! Schauderhaft! Schmerzlich, furchtbar schmerzlich fürs Vatergefühl! Für die pekuniären Verhältnisse allerdings ersprießlich, darum nicht minder betrübend.«

Wulf wußte nicht, ob er dem Abscheu, den diese grauenhafte Geschichte in ihm erregte, nachgeben und Herrn Schlürr aus dem Zimmer werfen, oder ob er in lautes Lachen ausplatzen sollte. Ein Blick auf des vermagerten Menschen Jammergesicht genügte, jeden Verdacht zu entfernen; aufrichtige Thränen rannen über die hohlen Wangen. Doch weil das Weinen sogar die Hübschen häßlich macht, entstellt es die Häßlichen vollends bis zur Verzerrung. Und wo, wie bei Herrn Schlürr, die Häßlichkeit zugleich den Stempel der Dummheit trägt, muß die Wirkung auch in trübseligsten Dingen eine possierliche sein. Wulf war viel zu sehr Theatermensch, daß er nicht jederzeit an die Bühne gedacht hätte, und er schrie jetzt den heulenden Vater jubelnd an: »Herr, mögen Sie nun Ihr Töchterlein geröstet oder gesotten haben, nichtsdestoweniger sind Sie zum Komiker geboren. Auf eine Fratze, wie Sie gegenwärtig zustande bringen, können Sie dreist Gastrollen geben, Sie werden überall Ihre Rechnung finden. Und Ihr ganzer Vortrag, Ihre Figur ... Sie wissen gar nicht, wie reich Sie sind!«

»Nein, Herr Wulf, daß weiß ich nicht; und Herr Madox scheint es auch nicht wissen zu wollen. Wären Sie gütig genug, mir etwas Näheres über Verwendung und Verwertung des mir gehörigen Kapitals zu eröffnen ... gern würde ich meine jetzo fließenden Vaterthränen trocknen und mich mit fünf Prozent Zinsen zufrieden stellen.«

»Vor allen Dingen hätten Sie einen weiteren Schauplatz aufzusuchen. Wer sich für ein bestimmtes, durch Persönlichkeit und auf diese beschränktes Fach ausbilden will, muß bei einer großen Bühne anzukommen trachten, wo die Menge der Mitglieder dem Einzelnen Rollenauswahl gestattet. Wenn Sie, nach gehöriger Vorbereitung, mit drei bis vier Ihrer Individualität zusagenden Partien in Wien zum Beispiel erscheinen ... ehe ein Jahr vorüber, hat man eben so viele neue Stücke für Sie geschrieben, die Ihnen auf den Leib gepaßt sind.«

»Sie haben gut reden, Herr Wulf. Sie, als einzelner Mann, frei, ungebunden wie der Vogel in der Luft! Wo laß ich, vermöchte ich mich durchzuwinden, mein Weib und unsere böse Sieben? Soll ich vielleicht die Kinder in Öfen schieben ... o Gott, meinen Augen entfleußt schon wiederum ein Thränenstrom! Befinden Sie sich in der Lage, großer Meister, mir ein Taschentuch darzuleihen? Das meinige ist bereits vollgesättigt von scharfer Seelenlauge.«

»Ich sehe mit Bewunderung,« sagte Wulf, indem er ein reines Tuch hervorzog, »daß Sie weinen können nach Bedürfnis und gleichsam auf Kommando. Schon das scheint beachtenswert. Lachen, gut, natürlich, ungezwungen lachen auf der Scene, gilt für schwierig. Weinen, realiter weinen, daß die Thränen sichtbar herabrinnen, ward nur wenigen Auserwählten verliehen. Darauf schreibt Ihnen ein geschickter Gelegenheitsdichter die prachtvollste Posse, und ein gewandter Musiker liefert die Komposition. Was für eine Ariette müßte das werden, in deren liebliches Thema hinein nach dem Takte geweint würde. Sie stünden einzig da.«

»Ich habe mich bereits,« erwiderte Schlürr stolz-bescheiden, »in ›Evakatel und Schnudi‹ als mit dem Schlucken vulgo Schluckauf (die Wiener nennen es Schnackerl) Behafteter glücklich versucht und namentlich die schöne Stelle: ›Wann i nur (eh!) kei Schnackerl hätt (eh!), so wüßt i schon (eh!), was i thät (eh!)‹ beifällig vorgetragen.«

»Sehen Sie wohl! Folgen Sie meinem Rate, versuchen Sie selbst Ihr Glück an einem kleinen Stücke. Für einen, der in unzähligen Komödien mitwirkte, kann es ja keine Hexerei sein, ein halbes Dutzend Scenen ineinander zu verweben. Sollte Ihnen dabei auch etwas Menschliches zustoßen, und vielleicht etliche Reminiscenzen aus anderen Dichtern mitunterlaufen, wie ...«

»Wie beim dicken Kristern?«

»Richtig, wie bei diesem. – Nun, was schadet's? Hat sein Intermezzo darum weniger Beifall gehabt, weil er den alten englischen Dichter bestahl?«

»Im Gegenteil.«

»Freilich, im Gegenteil. Also frisch dran, Herr Schlürr!«

»'s ist nur um den Titel, Herr Wulf. Der Titel solches Stückleins dünkt mich das schwierigste. Er soll bezeichnend sein, er soll versprechen, anlocken, reizen ...«

»Das soll er; ich stimme Ihnen bei. Wie wäre zum Exempel – ohne Ihnen im geringsten vorgreifen zu wollen, nur ein unmaßgeblicher Vorschlag – wie wäre: ›Der weichmütige Tyrann oder der Thränenzapfen, Rührposse in einem Äktchen‹?«

»Fürtrefflich, hochedler und jugendlicher Meister! Ich will nur eingestehen, daß ich schon früher auf Anraten meiner schöneren Hälfte verschiedene Pläne bebrütet, die jedoch als Embryonen sonder Auskruch im Eie verblieben sind. Einer derselbigen sollte einen Titel führen, den ich irgendwo gehört und ausgezeichnet gefunden hatte. Er lautete: ›Klotilde, oder Was beißt mich denn da?‹ Er verschwindet jetzt ins Nichts, er kann nicht aufkommen gegen den ›Thränenzapfen‹, gegen den ›weichmütigen Tyrannen‹. Und Rührposse ist ganz neu; ist ungeheuer!« –

Wir haben dieses unbedeutende Gespräch so raumverschwenderisch mitgeteilt, um zu zeigen, welche Stellung unser Held nach mehrmonatlichem Aufenthalte bei Madoxens Truppe einnahm; wie er, um Neid und Gemeinheit unbekümmert, sich bald wieder auf eine ihm gebührende Höhe gehoben und von dieser herab mit seinen sogenannten Kollegen verkehrte, als mit Leuten, die er nicht entgelten läßt, daß sie tief unter ihm stehen in jeder Beziehung, die er aber doch in Respekt und vertraulicherem Umgange fern zu halten versteht. Dies Fernhalten erstreckt sich sogar auf die Direktion, mit der lediglich in Geschäftssachen und dann immer kurz, bestimmt, zugleich aber auch bereitwillig, dem Vorteile der Kasse gemäß, verhandelt wurde.

Gottliebe hielt sich musterhaft. Kein Wort, kein Blick erinnerte an frühere Vertraulichkeiten. Sie schien entschlossen, jenem ersten Zusammensein unter vier Augen gleich nach seiner Ankunft kein Zweites folgen zu lassen, und vermied, anders als vor Zeugen mit ihm zu reden. Er billigte diese Zurückhaltung um so mehr, weil sie ihm die Möglichkeit gewährte, zu bleiben; was ihm fürs erste höchst erwünscht war. Dennoch begehrte er, gelegentlich nachzuholen, was er neulich versäumt; er wollte Auskunft haben über Vater Bäcker, von dessen fernerem Geschicke Madame Madox Kenntnis haben mußte. Zehnmal hatte er's versucht, jedesmal war ein Dritter dazwischen getreten, und Gottliebe, als ob sie seine Absicht erriete und dieser Nachfrage ausweichen wollte, benützte jedesmal die Störung und brach die Einleitung ab. Da faßte er endlich ein Herz, sich in ihr Stübchen zu stehlen. Sie empfing ihn mit den Worten: »Ich weiß, was Sie wollen, Wulf. Erlassen Sie mir nähere Bekenntnisse. Ich hab' ein schlecht Gewissen gegen den alten Mann, hab' nicht gut an ihm gehandelt. Deshalb vermied ich neulich seinen Namen einzumischen. Er lebt. Es geht ihm kümmerlich. Verlangen Sie nicht, daß ich Ihnen heute sage wo? Das wäre ebensoviel, als wollt' ich Sie auffordern, uns zu verlassen; denn ich bin überzeugt, Sie zögerten keinen Tag ihn aufzusuchen. Wir aber können Sie jetzt nicht entbehren. Gedulden Sie sich nur wenigstens so lange, bis wir nach einer andern Stadt ziehen, wo man Sie nicht kennt. Hier geht's nicht mehr ohne Sie. Wenn Sie uns dann nicht bleiben wollen, nun, dann sollen Sie erfahren, wo Sie ihn finden. Dringen Sie nicht in mich. Geben Sie nach. Ein bißchen Erkenntlichkeit sind Sie mir, sollt' ich meinen, doch schuldig.«

Er sah sich entwaffnet. – »Madox,« sprach er zu sich selbst, »hat mich mit offenen Armen empfangen, da ich wie ein Strauchdieb, abgerissen von außen, zerrissen im Innern, mich bei ihm meldete. Er hat mir Gelegenheit gegeben, mich wieder aufzuraffen. Nicht mehr als billig, daß ich's ihm vergelte und Gottlieben auch. Glücklich genug, wenn mein bißchen Talent ihm Nutzen bringt, wenn er's zu nützen versteht, was Jungzwirn nicht der Mühe wert hielt. Während ich es noch übe zum besten seiner Kasse und zur Förderung in meiner Kunst, will ich nicht aufhören, an Vater Bäcker zu denken, nach ihm zu forschen in allen Richtungen, mich nach ihm zu erkundigen bei allen Reisenden ... finden muß ich ihn endlich doch! Der liebe Gott wird mir den Trost nicht versagen, dem Wohlthäter meiner unglücklichen Mutter, dem meinigen, die letzten Tage zu erleichtern. Und vielleicht auch hält Gottliebe Wort und zeigt mir die richtige Spur!«

Dabei beruhigte sich der brave Mensch und fuhr fort, Kleinstädter zu entzücken mit Eifer und Fleiß, als ob er in Berlin und Wien um den Preis ränge.

Wie es nun hergeht – im Leben und auf der Bühne! – dem redlichen Willen bürden Selbstsucht, Eigennutz und .. Unverstand die schwersten Lasten auf. Herr Madox schonte seinen ersten, seinen einzigen Künstler nicht. Er wollte den anziehenden Namen Wulf auf keinem Zettel missen. Die stupide blinde Verkennung selbsteigenster Interessen teilte der übrigens praktische Prinzipal mit den meisten Bühnenverwesern älterer wie neuester Zeit. Sie lernen nicht begreifen, diese auf gute Einnahmen versessenen Spekulanten, daß die schaulustige Menge, allzu leicht übersättigt, vorsichtigerweise im Glauben an ihre Lieblinge erhalten werden soll; daß sie nicht täglich bewundern will; daß Freude am Außerordentlichen erstirbt, wenn dieses wie etwas Gewöhnliches dargeboten wird. Mag der Ruf eines wirklich guten, ja großen Schauspielers zunächst aus seinen großen Gaben und Fähigkeiten hervorgehen; auf die Länge dauern kann er doch nur bei passender Verwendung derselben. Und wie ein schlauer Direktor mittelmäßigen Subjekten zu glänzender Stellung verhelfen, wie er sie mit sorgfältig ausgewählten, dankbaren Rollen dem Publikum nach und nach als bedeutende Darsteller aufzudrängen vermag, so ist es leider auch in seine Willkür gestellt, wofern er kurzsichtig genug wäre, die Besten herabzusetzen, wenn er sie zu nichtssagenden Partien in geringen Komödien mißbraucht. Die Herren wüten wider ihren eigenen Vorteil und bestehlen sich selbst. Um heute und morgen einige Dutzend Eintrittskarten mehr anzubringen, vernichten sie blödsinnig den Nimbus, der ihre Helden umgab – der den berühmten Schauspieler umgeben muß, soll er nicht zum Alltagshandwerker werden.

Die Führer reisender Truppen sind darüber nicht gar so streng anzuklagen. Wird ja doch bei gepriesenen Kunstanstalten ersten, Ranges nicht viel anders verfahren.

Da gab's denn zu jener Zeit eine in ihrer Art ganz hübsche Ritter- und Geisterposse, eine schauerlich lustige Spukgeschichte, reich an lebendigen Melodien: »Die Teufelsmühle am Wienerberge.« Wen hätten damals nicht Eltern und Erzieher beseligt, wenn sie ihn als artiges Kind zur Belohnung hinführten, tanzende Mehlsäcke, gespenstische Müllersleute, schwebende Genien anzuschauen?

»In jener Mühle, wie bekannt,
Da hauste Kilian,
Der Teufelsmüller nur genannt,
Er war ein böser Mann
Und mordete zum Zeitvertreib
Zuletzt sogar sein eignes Weib!«

Guter Hensler, fruchtbarer Vater und Erzeuger einer unzählbaren amüsanten Nachkommenschaft von Nixen, Elfen, Feen, Hexen, Gespenstern, Köhlern und Knappen, lasse dir ein herzliches: »Habe Dank!« ins Grab hinunter rufen vom Verfasser dieses Buches, der unbekümmert um Nasenrümpfen und Achselzucken der Kritik aufrichtig eingesteht, daß er deine vielgeschmähten Sing- und Zauberspiele in treuem Gedächtnisse bewahrt und dich samt all' deinen Mängeln für einen frischeren Dichter und Erfinder hält, als manchen auf dem Kothurn einherstolzierenden Poeten der Gegenwart. Wie ehrlich, wie naiv giebst du dich, wie harmlos sind deine Spaße, wie kindlich unbeholfen (nur auf kleine und – große Kinder berechnet) sind deine Schauderscenen und Spukgestalten; wie bunt und reich der Vorrat wechselnder Personen und Auftritte! Sprachlehre und Rechtschreibung dürften hier und da vielleicht Einwendungen zu machen haben, wie bei weiland Schikaneder – doch das ist mein geringster Kummer. In meinen Augen bleibst du doch ein schöpferisches Talent, und als solches triffst du's eben, manchmal mit einem einzigen Worte so viel zu sagen, wie sonst nur in bogenlangen Abhandlungen gesagt werden könnte. Halten wir uns beispielsweise an die oben citierte Strophe. Der Müller – das heißt, ich weiß nicht recht, wie ich mit ihm daran bin, denn im Personenverzeichnis prangt er als » Ritter Kilian von Drachenfels, ehemaliger Bewohner der Teufelsmühle.« Gleichwohl heißt er kurzweg der Teufelsmüller. Also, in Teufels Namen: – der Müller hat sein Weib gemordet. Gut! Weshalb? Weil er der armen Frau überdrüssig war? weil sie ihm Anlaß zur Eifersucht gegeben? weil er sie beerben wollte? weil er gesonnen, eine andere Verbindung einzugehen? Nein, nein, abermals nein! Was wären das für gewöhnliche Motive! Dergleichen geschieht, Gott sei's geklagt, überall und zu jeder Zeit. Davon wäre kein solches Aufheben zu machen, daß die Hölle sich aufrisse und ihre Legionen in friedlich-morsche bemooste Mühlräder und altersgraue Sacke schickte. Nicht doch; zum Zeitvertreib hat Kilian seine Frau Liebste umgebracht. Vergebens wollt ihr mir einreden, böswillige Recensenten, dieser »Zeitvertreib« sei lediglich erfunden, weil ein Reim auf »Weib« erforderlich gewesen; er sei ein schlechter Notbehelf und so weiter. Ihr sollt mir's nicht abdisputieren, die furchtbarste Bedeutung, der tiefste moralisch-psychologische Sinn liegt in den drei Silben. Wer seine schuldlose Gemahlin ohne jegliche andere Veranlassung, bloß zum Zeitvertreib abkrageln kann, na, der wird denn, doch ein gehöriger Höllenbrand von Mörder, und ihm zu Ehren darf schon der Teufel los sein auf dem Schauplatze einstiger Greuelthaten. Dies eine Wort »Zeitvertreib,« anspruchslos verwebt in die Romanze, verleiht der ganzen tragischen Conception ihre Berechtigung. Wie klein ist die Zahl von Tragödien, welche sich solch' solider Basis rühmen dürfen!

Die unverwüstliche, seit Cervantes unzähligemal benützte Doppelgestalt des ritterlichen Helden samt seinem furchtsamen Knappen geht denn auch so erhaben als lächerlich durch Henslers Teufelsmühle. Bei allen Theatern, wo man das Stück spielte, hat der offizielle Spaßmacher sich die zehn Finger geleckt nach der Rolle des feigen Dieners, und der Heldenspieler seufzte oder fluchte über das entsetzliche Schicksal, einen ganzen Abend hindurch seinem Schildknappen zur Folie übermütiger Streiche herhalten zu müssen.

Mir ist aus der später fallenden Periode eigener Flegeljahre wohl erinnerlich, wie verzweifelt Jubilar Anschütz, dazumal ein stattlicher junger Herr, sich immer gebürdete, wenn er den edelmütigen Ritter Günther von Schwarzenau in Breslau darzustellen hatte. Mit seinem Knappen zwar wäre Anschütz leicht fertig geworden, denn diesen spielte ein Plumper Possenreißer, über den sogar ich, das dankbarste Stückchen Publikum, nicht zu lachen vermochte. Aber den Wirtsjungen Hans machte Schmelka zu einer Hauptfigur und riß durch unwiderstehliche Lustigkeit alles mit sich fort. Ja, er trieb es so toll, daß der sonst gegen sich und seine Aufgaben so strenge Anschütz aus dem Geleise schritt, den phrasenbreiten Ritter parodierte, die hochtrabendsten Floskeln schelmisch-neckisch vortrug und dadurch die ganz verblüfften Komiker entwaffnete. Schmelkas Wut läßt sich denken. Er sagte und nicht mit unrecht: so wie wir die Verpflichtung haben, in großen personenreichen Tragödien undankbare Aushilfsrollen zu übernehmen, so sind die tragischen Schauspieler verpflichtet, unsere Possen zu unterstützen und die darin vorkommenden ernsten Charaktere auch ernsthaft zu halten. Diese Abende gehören uns; was würden sie für ein Geschrei erheben, wollten wir die ihnen gehörigen durch Lazzi stören? Was einem recht, ist dem andern billig!

So sagte Schmelka, der unbändigste und zugleich liebenswürdigste aller Hanswürste, dem nichts fehlte, um einer der ersten Komiker aller Zeiten und Länder zu sein, sondern der nur zuviel hatte an Lebendigkeit, unkorrektem Übermut, geschmackloser Gefallsucht, um sich drei Stunden lang künstlerisch zu beherrschen. Scenenweise gelang ihm letzteres doch bisweilen.

Dieser selbige Schmelka war seiner Mutter und ihrem zweiten, ihn stiefväterlich behandelnden Gatten als wilder Bengel davon und auf eigene Faust unter die Komödianten gelaufen. Und bei Madox hatte er begonnen. Jetzt, während Wulfs Anwesenheit, befand er sich schon in Prag, als wohin Liebich, der » gentleman par excellence« unter Deutschlands Direktoren und Schauspielern, der Gesellschafter und Hansfreund böhmischer Aristokratie, ihn berufen. Kellnerbub Hans, von einem nichtskönnenden Bürschlein gespielt, machte folglich unserem Günther-Wulf nichts zu schaffen. Auf eine desto schwerere Geduldsprobe setzte ihn sein Schildträger, im gewöhnlichen Leben Felber geheißen, dem es willkommen schien, endlich einmal Rache zu nehmen für so viele Abende, wo Jokus der unterthänige Diener Melpomenes gewesen, was vor Wulfs Eintritt seltener geschah. Die extemporierten, mitunter ganz guten Einfälle, womit Herr Felber den Ritter quälte, wären ihn selbst nie in den Sinn gekommen, hätte Kristern, der entlarvte Plagiarius, sie ihm nicht zugesteckt, wohl wissend, daß derlei hüpfendes Ungeziefer einen ins Gebiet der Zauberposse verbannten Tragiker vollends außer sich bringt. Kristern hoffte auf seines Feindes Wulf leicht erregte Ungeduld und durch diese auf einen öffentlichen Skandal. Ein solcher fand sich, aber in ganz anderer Weise, als des Dicken Bosheit beabsichtigt. Dieser war mit der Rolle des Übelthäters betraut; ... welch' korpulenter Mörder! Bekanntlich geht der Höllenschlund, durch welchen er hinab in den Pfuhl zu wandern verdammt ist, in einen Brunnen aus. Madox, der sein Hauptaugenmerk der inneren Mühleneinrichtung und deren Hexensabbath zugewendet, überließ die anderweitige Ausstattung seinem Theatermeister, und dieser hinwiederum nahm es mit Versetzstücken möglichst leicht, weil er die Bohrer, so viel sich thun ließ, sparte. So war denn auch der als Steingemäuer bemalte Umbau des Brunnens, nur ein leicht aus Latten und Leinwand zusammengefügtes Viereck, über die Versenkung, durch welche Kilian in den Abgrund zu steigen hat, geschoben worden, ohne sonderliche Befestigung. Der Theatermeister hatte nicht bedacht, daß seit der letzten Aufführung dieses Stückes des Mannes Bauch bedeutend angeschwollen sei. Früher hatte Kilian ganz erträglich durchschlüpfen können; heute wurde es ihm unmöglich. Seine Rolle ging zu Ende: er sollte von der Erde verschwinden. Er zwängte sich gewaltsam ins Brunnengemäuer; er blieb darin stecken; er wollte sich zurückziehen; er hob es mit in die Höhe; es saß fest an seinen Hüften, eine viereckige steinerne Krinoline, und der eingepreßte Leib quoll über den Rand hinaus wie eine Riesenblutwurst. Da stand er mitten auf der Bühne, ratlos, thatlos, und sperrte den Mund auf. Aus den Coulissen traten Mitspielende halb hervor, ihm annehmbare Vorschläge einzublasen. Er hörte keinen. Die Besinnung hatte ihn verlassen. Auch Wulf stellte sich ein samt seinem Knappen. Hier wäre für diesen der beste Moment gewesen, sich als glücklicher Improvisator zu zeigen, und ein schlagender Einfall konnte noch alles retten. Für diese Abweichung vom Gange der Fabel war aber nicht vorgesorgt. Und da Felber nur zu extemporieren wußte, was Kristern ihm beigebracht – es soll Improvisatoren höheren Stieles nicht anders gehen! – verhielt er sich stumm wie ein Fisch. Der Dicke war unterdessen zu der Einsicht gelangt, die Hölle werde sich seiner Not nicht erbarmen und ihn, für diesmal wenigstens, nicht verschlingen. Wollte er unsichtbar werden, so mußte er sich entschließen, regelrecht abzugehen. Er entschloß sich. Da stellte sich Ritter Günther-Wulf ihm in den Weg, erhob den kreuzgestalteten Schwertgriff und rief mit feierlicher Beschwörung: »Unsauberer Verbrecher, laß unsere Setzstücke stehen; umgürte dich nicht mit Brunnenmauern! Oder willst du dich auch im Höllenpfuhle noch mit fremden Federn schmücken und mit gestohlenem Gut?« Der Sinn dieser Anspielung ging den gebildeteren Zuhörern nicht verloren und wurde von ihnen laut beklatscht.

Das versetzte Kristern in solchen Zorn, daß er voll gewaltiger Anstrengung seinen hölzernen Reifrock auseinander brach und eine Latte davon zum Schlage wider Wulf erhob. Der hatte sein Schwert rasch aus der Scheide, parierte den Schlag, daß die zerbrochene Latte weithin flog und sagte: »Die Reparaturkosten hat Satanas seinem Getreuen von der Wochengage abzuziehen!« Auf diese allgemeiner verständliche Äußerung erfolgte wieherndes Gelächter.

Kristern zog sich vor Wut schäumend zurück. Die Vorstellung war aus, denn durch diesen Auftritt waren die Mysterien der Geisterwelt schonungslos enthüllt, und der kleinste Junge auf der Galerie glaubte nicht mehr an Spuk – wenigstens für diesen Abend nicht.

Die Aufregung der Truppe zeigte sich heftig. Wie immer bei ähnlichen Anlassen zerfiel sie in zwei Parteien. Daß Wulfs Partei die bei weitem kleinere, versteht sich von selbst; erstens weil die Menge stets auf seiten der Gemeinheit steht; zweitens weil der Direktor, der sich beleidigt wähnte durch den »von der Wochengage abziehenden Satan,« Front gegen seinen besten Schauspieler machte. Ein kurzer Wortwechsel führte zum Bruche. Wulf suchte gar nicht sich zu verteidigen. Er gestand lachend zu, daß er die Theatergesetze böswillig verletzt habe, und daß er es auch nicht bereue. Wenigstens sei er jetzt vor der Zumutung sicher, den vermaledeiten Ritter von Schwarzenau nächsten Sonntag noch einmal leisten zu müssen!

Madox entgegnete darauf: »Herr Wulf brauche sich überhaupt nicht mehr zu bemühen.« Kaum ausgesprochen, hätte er's gern wieder zurückgenommen.

Doch Wulf griff zu: »Ich füge mich gehorsam,« sprach er, »der augenblicklichen Entlassung. Diese außerordentliche Strafe ist im dreizehnten Paragraphen des Kontraktes auf außerordentliche Missethaten gesetzt. Meine Rollen kann der Theaterdiener morgen abholen.«

Die Bande triumphierte. Sie war den »vornehmen Akteur, den berühmten Herrn« los mit allen lästigen Vor- und Nachproben schwieriger Dramen. Madox triumphierte auch; vor seinen Leuten als gestrenger Prinzipal. Daheim streute er Asche auf sein Haupt und winselte: »Ich bin ein geschlagener Mann; dem ganzen Körper entweicht die Seele. Was sind wir ohne ihn?«

Gottliebe mengte sich nicht in den Streit. Sie nahm es hin wie etwas Erwartetes, Unausbleibliches. »Früher oder später, es mußte geschehen!« Einen Tag und noch eine Nacht ließ sie vorüber, dann begab sie sich in seine Behausung, wo sie ihn beim Zusammenpacken der geringen Habseligkeiten fand. Er fürchtete schon, sie erscheine mit Aufträgen des Gatten, wolle Vergleichsanträge machen und vermitteln? Doch sie ließ ihn keine Minute in Zweifel, was sie bringe: »Ich komme mit einer Bitte, deshalb doch nicht mit leeren Händen. Empfangen Sie erst meine Gabe, ehe Sie die Ihrige mir zusichern. Wir tauschen dann ehrlich aus. Vater Bäcker befindet sich bei der Kanterschen Gesellschaft, etwa vierzig Meilen von hier, über Leipzig hinauf, und führt seit einem Jahre aushilfsweise die Regie. Nachbarin Klimene ist tot. Er steht allein. Es wird ihn sehr beglücken, Sie wiederzusehen. Daß Kanter Sie augenblicklich engagiert, ist gewiß, weil sein erster Held ihn verläßt. Wahrscheinlich wird dieser bestimmt sein, Sie bei uns zu ersetzen – was nach meiner Ansicht niemand vermag.«

»Sie geben mit vollen Händen,« fiel ihr Wulf in die Rede. »Tausend Dank für Ihre Großmut! Aber ...« hier hielt er ein. Gottliebe war heute wieder so schön, sah so jugendlich aus, daß ihr Anblick kauzburgische Erinnerungen erweckte; ja, daß die Möglichkeit nicht fern lag, sie wünsche zu erfahren, inwiefern er seinen Mortimer noch inne habe. Sollte der Besuch in so verfänglicher Absicht unternommen und nur um größerer Sicherheit willen bis kurz vor seiner Abreise verschoben worden sein?

Sie erriet seine Bedenklichsten. »Kränken Sie mich nicht,« sagte sie ernst, doch freundlich, »durch ungerechten Argwohn. Ich bin nicht, die ich einst gewesen. Schwere Prüfungen hab' ich überstanden, Madox hat mir vertraut, meine Pflichten sind mir heilig. Ich komme mit einer unschuldigen Bitte. Sie sollen nicht von uns scheiden wie im Zorne. Noch einmal sollen Sie hier auftreten – mit mir! Wir werden uns auf Erden nicht wieder begegnen. Ihnen winken die Auszeichnungen einer großen Bühne – wir ziehen mit unserem »Gerümpel und Gerampel,« wie's in der Schweiz heißt, durch die Länder. Auch werd' ich's nicht lange machen; ich bin still davon! Thun Sie's, erfüllen Sie meinen Wunsch! Mein Mann bietet Ihnen die Hälfte der Einnahme; Sie brauchen Reisegeld ...«

»Und um das mir zuzuwenden, mir ein Geschenk zu machen, kleiden Sie den Antrag in das Gewand einer Bitte? Gottliebe, wie beschämen Sie mich!«

»Willigen Sie ein? Nun dann, übermorgen ›Elfriede, Trauerspiel in drei Akten, und Ariadne auf Naxos, Melodrama in einem Akte. Herr Wulf den Atelwold und den Theseus als Abschiedsrollen.‹ So geht es in die Druckerei. Und dieser Abend soll mein Valet als Schauspielerin sein. Madox wünscht schon längst, daß ich's aufgebe und an der Kasse bleibe! Keinen Abschied. Wulf! Das letzte Lebewohl sagt Ihnen Ariadne auf Naxos!« –

Schon die Probe dieser Gotterschen »Ariadne« gewann eine gewisse Feierlichkeit durch den würdevollen Ernst, welchen Wulf daran setzte. Er hatte sich für die Griechen, die den zögernden Theseus von der schlafenden Geliebten wegzuholen kommen, sechs Stück der wohlgewachsensten und anstelligsten Statisten, so am Orte aufzutreiben gewesen, ausgesucht und sie tüchtig eingeübt, daß sie agierten und in die Handlung eingriffen wie am Schnürchen; daß ihre teils mahnenden, teils drohenden Winke sich der Bendaschen Komposition sinnig anschlössen. Er dachte in sein eigenes stummes Spiel nicht allein den Schmerz der Losreißung von Ariadne, sondern auch jenen der Trennung von dieser Stadt zu legen und so den Gönnern, die ihn würdigten, allegorisch zu zeigen, wie schwer es ihm werde, von ihnen zu scheiden. Das war ganz hübsch ausgesonnen, ganz verständig und plastisch angeordnet und gruppiert. Als Atelwold versetzte er das überfüllte Haus in äußersten Enthusiasmus. Wie er dann im griechischen Gewande als Theseus auftrat, ging ein bewunderndes Murmeln durch die Reihen, welches der klassischen Schönheit dieser wahrhaft antiken Erscheinung galt. Seine. Phantasie schweifte aus den Schranken der Dichtung nach jenen ersten Tagen der Vertraulichkeit zu Gottliebe, die ebenfalls innerlich ergriffen ward. Ludmillas Andenken lebte ans. Die beiden Weiber wurden ihm eins. Sein Vortrag erhob sich zu leidenschaftlichster Glut, deren nur seine tonreiche Brust Ausdruck zu geben fähig war ... Doch ach, der schadenfrohe, neckerhafte Kobold, der so gern durch schroffe Gegensätze die aufrichtigste Begeisterung stört, hielt schon einen Kübel eiskalten Wassers bereit, um ihn höhnisch über diese Glut auszuschütten.

Ariadne liegt im Schlummer, den ahnungsschwere Träume beunruhigen. – Theseus soll diese Gelegenheit benützen, sich von ihr, von Naxos fortzustehlen. – Wulf erwartet seine Statisten, damit sie ihn abrufen, den inneren Kämpfen ein Ende machen! – Vergeblich! – Die melodramatische Musik rückt vor – er füllt Takt für Takt mit Spielpausen – er lauscht – keine Nasenspitze von einem griechisch-präparierten Kleinstädter läßt sich erblicken. – Er wird ungeduldig – er stampft mit dem Fuße den Inselboden – er wendet sich um – da klappen die Felsen im Hintergrunde auseinander, und aus der Spalte guckt das Vollmondgesicht des kleinen Theaterdieners Kordelmann, der ihm (und dem Auditorium vernehmbar) zuflüstert: »Herr Wulf, warten Sie nicht auf die Griechen; die Griechen kommen nicht; die liegen im Rinnsteine und sind besoffen, denn Herr Kristern hat sie zu Schnapse geführt!«

Kordelmännchen meinte es gut. Er gehörte zu Wulfs unbedingten Verehrern und meinte, durch seine Erklärung nicht nur diesen aus der Verlegenheit zu ziehen, sondern auch dessen Gegner, dem tückischen Kristern, die gebührende Züchtigung zu bereiten. Ehrlicher Alter! Du kanntest die Theaterwelt so lange ... wußtest du denn von der Welt im allgemeinen gar nichts? War dir nicht aus vielen Erlebnissen und Vorkommmheiten im Gedächtnis, daß die Masse, stets und allerorten von oberflächlichen Eindrücken abhängig, einem guten Spaß ... einem schlechten vielleicht noch lieber! ... jede tiefere und edlere Empfindung zu opfern bereit ist? Wer kümmert sich darum, ob dem Schauspieler, der seine besten Kräfte an diesen Abend setzte, eine gemeine Kränkung zugefügt wird? Wenn wir nur lachen und ausrufen können: »das war ein süperber Witz von Kristern; jetzt hat er ihm die Brunnengeschichte mit Zinsen zurückgezahlt!« –

Unter schallendem Gelächter verließ Thesens die Bühne, das Haus ... in derselben Nacht auch die Stadt.

Ob es Gottlieben gelang, die in roher Lust jauchzenden Zuhörer noch einmal für der Verlassenen Klagen zu gewinnen, oder ob ihre Klage vor leerem Saale verhallte: darüber wissen wir nichts Bestimmtes. Wir mutmaßen das Letztere. Madame Madox anlangend ist ihr, wie wir mit Bedauern erfuhren, der zweite Rücktritt von der Bühne nicht gut bekommen, denn sie soll einige Jahre nachher an einem Schlaganfall gestorben sein, welchen sie sich durch allzu häufigen Genuß geistiger Getränke zugezogen. Seltsam genug, daß ihre letzte Rolle jene von Theseus verlassene Ariadne sein mußte, deren späterer Gemahl, mythischer Überlieferung zufolge, Bacchus war!

Arme Gottliebe! Wer hätte in Kauzburg geahnt, daß du enden solltest wie Huyasch. – Sie selbst scheint eine Ahnung davon gehabt zu haben, als sie bei der Zusammenkunft mit Wulf etwas auf frühen Tod bezügliches andeutete.

*   *   *

Die Stadt – Piastau wollen wir sie nennen – gehörte zu jenen Festungen, welche der Feind besetzt hielt vermöge des unseligen Tilsiter Friedensschlusses. Er trieb sein Wesen gewaltig darin, der bekannte, gewandte, galante, charmante Feind, der (Gott erbarm's!) gar vielen Frauen für einen trauten Freund galt. Was Wunder, wenn er, dem sonst wohlberufene achtungswerte Familien sich geöffnet, den Weg hinter die Coulissen um so leichter fand. Zwischen Schauspielerinnen und französischen Offizieren gab es lebhaften Verkehr, und Theaterdirektor Kanter, eine angesehene Firma, litt dabei keinen Schaden. Herr Kanter hatte sich vor wenigen Jahren eine üppig-schöne Frau zugelegt, die dem älteren Manne bald seine Schwächen ablernte und sehr wohl verstand, persönliche Ungebundenheit zu erkaufen durch jene Vorteile, welche ihr Talent auf der Bühne und ihre Liebenswürdigkeit im Umgange den monatlichen Überschüssen und Ersparungen gewährten. Eifersucht mag noch so rege sein; sobald Eigennutz ihr die Augen mit goldenen Binden umhüllt, ergiebt sie sich und lernt ihren Groll verschlucken.

Es schlug eben zwölf Uhr, als Wulf, von einem netten sous-lieutenant geleitet und mit diesem lustig schwatzend, sich nach dem Schauspielhause begab. Der Franzose weihte ihn schleunigst in alle theatralischen Intriguen ein, mit denen er innigst vertraut schien, und stieg an seinem Arme die etwas steile Treppe hinan, welche zum Schauplatz führte. Oben angelangt wendete er sich zwei hübschen Mädchen zu, die ihn wie einen dort Einheimischen begrüßten, und überließ unsern Freund sich selbst. Auf der Scene wurde Probe abgehalten. Wulf schlich bis ans Proscenium. Er vernahm die Liebeserklärung, welche ein junger Anfänger möglichst wohlredend in rhetorischem Schwünge eben abhaspelte. Mitten im Erguß seiner Gefühle wurde der Kunstjünger unterbrochen, und eine Stimme – Wulf meinte, sie klänge aus dem Grabe herauf, so schwach, so wehmütig! – rief dazwischen: »Mein Freund, das darf nicht langsam und umständlich auseinandergesetzt werden; das muß er mir heraussprudeln lassen ohne Punkt, ohne Semikolon, ohne Komma, in einem Gusse, denn er liebt sie ja

Am heiseren, verschleierten Sprachorgan hätte Wulf den Pflegevater, der vor zehn Jahren so klar und fest redete, kaum wieder erkannt. Wohl aber verriet die pedantisch-entwickelnde Belehrung, daß sie nur aus Papa Bäckers Munde kommen könne. Mit einem Sprunge stand der verlorene Sohn auf der Scene, lag er an der Brust des Regisseurs, dem eine Störung der Probe allerdings für schlimmer galt denn Kirchenschändung, der hier doch keinen Widerstand leistete; der schluchzend sprach: »Mein Junge! o mein Junge! soll ich dich noch sehen, eh' ich abgehe!«

Sie wußten alle gleich, wer das sei, den der Alte so begrüßte! Hatte er ihnen doch häufig genug erzählt von dem »verlaufenen Genie.« Sie weinten mit ihm über seine Rührung, auch diejenigen, denen des Ankömmlings Übergewicht Gefahr drohte. Die Frauenzimmer wischten sich ihre Thränen geschwind aus den Augen, weil sie den oft besprochenen Liebling der Weiber recht genau betrachten wollten. Der Souffleur meinte: »zu was soll ich denn im Loche bleiben?« und kroch heraus, die Direktion zu holen. Kanter kam unverzüglich; Madame Kanter blieb nicht aus; sie erschien am Arme eines französischen Intendanten, was der deutsche Soldat »Mehlwurm« nennt. Anfänglich wollte sie nicht glauben, daß wirklich der wahre, längst gesuchte, unauffindbare Wulf vor ihnen stehe! – Glückliche, idyllische Theaterzeiten, wo noch Überraschungen solcher Art denkbar, wo noch keine Schnellposten, keine Eisenbahnen, keine Telegraphen, keine Theateragenturen vorhanden waren! Wo die Mitglieder kleiner Truppen noch nicht ihren Ruhm und Aufenthalt mit eigener Feder in unzähligen feilen Blättern verkündeten! Wo man wirkliche Künstler oft nicht über die Grenzen ihres Weichbildes hinaus nannte und kannte! Wo schmachvolle Anfeindung der Kollegen durch boshaft geschriebene Schandberichte noch zu den seltenen, empörenden Ausnahmen gehörte! –

Bäckers Freude, die keine verstellte sein konnte, wurde zuletzt für ein unbestreitbares Zeugnis angenommen. Sie bestätigte den echten Wulf!

Mit diesem nun wollte Kanter sogleich längeren Kontrakt abschließen. »Wozu Gast- und Probespiel? Ein Wulf ist darüber hoch erhaben.« Durch solche Schmeichelei von seiner und durch des alten Bäckers Wünsche und Bitten von der andern Seite dachte der kluge Rechner den Ersehnten Zuwachs um einiges billiger zu gewinnen. Doch er verrechnete sich in Wulfs Eitelkeit, die dieser längst hinter sich hatte, wie in Bäckers Egoismus, denn der Pflegevater brachte dem Sohne heimliche Zwicker und Rippenstöße bei, wodurch er verständlich ermahnte, nichts zu übereilen und auf Gastrollen zu bestehen. Diese ließen sich mündlich festsetzen, wurden leicht geordnet, die Probe war ohnedies aufgehoben, der abzurichtende schmachtende Liebhaber längst entwischt – und Bäcker ging freudestrahlend an Wulfs Arme von dannen.

Was hatten sie sich zu erzählen! Der Sohn sein ganzes Leben und Treiben, der Vater die Reihe von Unglücksfällen, die ihn um seine »Direktion« gebracht: Krankheit, Tod, Betrug, Krieg, Undankbarkeit ... er klagte alle Menschen an, mit denen er zu thun gehabt! Auch Gottliebe! Auch sich. Sich vor allen. Er gestand traurig ein, daß er ein verbissener, des Daseins überdrüssiger, unerträglicher Brummkater geworden sei; daß er die Theaterwirtschaft verwünsche; daß er den Tod voll Ungeduld ersehnt, ja schon mit sich gekämpft habe, ob es große Sünde wäre, ihn herbeizurufen. Daß er aber jetzt noch ein bißchen warten wolle, um sich noch ein paar Stunden im Strahle dieser Abendsonne zu erquicken, die so unerwartet aus finstern Wolken schaue, die ihm noch ein Restchen Lebenslust aus dem verschrumpften Herzen locke. »Ich werde dich spielen sehen, mein Junge; du wirst ihnen zeigen, was du gelernt hast, wie man redet, wie man agiert; wirst die alte Schule zu Ehren bringen vor diesem verwilderten Volke. Sie werden nicht mehr hinter meinem Rücken zischeln und lachen; sie werden beschämt eingestehen, daß sie von mir lernen könnten, wenn sie zu lernen verstünden, weil du nicht leugnen wirst, daß du von mir gelernt hast! Oder wirst du mich verleugnen?«

»Vater Bäcker!« antwortete Wulf und weinte an des alten Mannes Halse. –

Es ging unserem Helden in Piastau, wie es ihm, die elendeste Bande ehemaliger Marionetten ausgenommen, bei allen Truppen und aller Orten ergangen war. Er galt gleich nach seinem ersten Auftritt für den Ersten, für den Besten, wohlverstanden doch nur in der Meinung gebildeter, unbefangener Leute. Denn von jenen »Gründlingen« des Parterres, die mit dem an jeglicher Bühne vorhandenen Gesindel Gemeinschaft pflegen, oder von jenen Parteigängern, welche durch Schauspielerinnen bestimmt werden, läßt sich nirgends aufrichtige Würdigung des Guten und Schönen erwarten, ebensowenig wie es dem edelsten Genius gelingen wird, ein hochpreisliches Philistertum aus der Prosa seines Karten-, Billard- und Kegelspieles zu poetischer Begeisterung zu erheben. Dagegen erregte der Gast die Aufmerksamkeit ernster Männer, welche sich sonst wohl dem Schauspielbesuche fernhielten, wozu denn auch die Wahl seiner Auftrittsrollen beitrug. Er brachte einige neuere Dichterwerke zur Anschauung, von denen sich Kanter und dessen Publikum bisher nichts träumen lassen, die sich auch über Bäckers Standpunkt erhoben und diesem, wie er behauptete, Schwindel verursachten. Ein vorzüglich wirksames Element, wenn gleich im deutschen Sinne betrachtet feindseliges, dürfen wir nicht vergessen: das französische. Es ist während jener fürchterlichen Epoche häufig beobachtet worden und hat denkende Kunstfreunde in Erstaunen versetzt, daß die Söhne blutiger Bürger- und Weltkriege, großenteils ungebildete, auf Schlachtfeldern reif gewordene Sieger, ein so rasches Verständnis gewannen für die Vorzüge deutscher Schauspieler. Sie gingen mit bewundernswertem Instinkt in jede Feinheit, jede künstlerische Nuance ein und zeichneten durch anerkennende Zustimmung aus, was oft den Einheimischen entschlüpfte, obgleich diese doch die Kenntnis der Sprache für sich hatten, die den Ausländern mangelte. Gegen unser deutsches Lustspiel wußten die Herren Franzosen vielerlei einzuwenden; es ging ihnen zu schwerfällig; sie vermißten den ihnen eigenen leichten Konversationston. Die Tragödie hinwiederum befremdete sie anfänglich. Damals hatte in Frankreich das sogenannte »Melodrama« (wir meinen die realistischen Schaustücke der Porte St. Martin) die Brücke noch nicht geschlagen, auf welcher sich ihr Trauerspiel einen Weg aus dem Haarbeutelpathos unmetrischer und unrhythmischer Alexandriner in eine naturgemäßere Richtung zu bahnen versuchen wollte. Denen unter ihnen, die etwa eine Georges, Duchenois, einen Talma gehört hatten, konnte die Recitation Schillerscher Jamben, sogar aus dem Munde unserer heftigsten Deklamatoren, nicht genug weihevoll klingen. Dennoch gewöhnten sie sich bald daran, faßten richtig auf und ließen sich, wie gesagt, keinen geistreichen Zug, keine scharfsinnige Wendung entgehen, Zeugen haben uns geschildert, welch' enthusiastisches Jauchzen sie erhoben, als die berühmte Bethmann (noch obenein die erklärteste preußische Patriotin) auf dem Berliner Theater (1807) einen siegreichen Beweis solches theatralischen Scharfsinnes gegeben. Es sei uns gestattet, diesen Vorfall hier einzuschalten, und zwar aus dem Berichte des nämlichen Mannes, Erinnerungen eines weimarischen Veteranen aus dem geselligen, litterarischen und Theaterleben, von Heinrich Schmidt. (Leipzig, 1856.) der unserem Wulf in Eisenstadt ein Gönner sein wollte.

»Man gab Don Carlos. Die Bethmann war Eboli, Mattausch, ein feuriger Naturalist, Carlos. In der bekannten Scene, gegen deren Schluß hin die Eboli entdeckt, daß der Prinz eine andere liebt, eine andere bei diesem Stelldichein zu finden gehofft habe, verlangt sie, daß er ihr den Brief zurückgebe, den sie ihm anvertraute. Carlos: Welchen Brief? Prinzessin: Den vom König! Carlos: Von wem? Prinzessin: Den Sie vorhin von mir bekommen. Carlos: Vom König? Und an wen? an Sie? Prinzessin: O Himmel, wie schrecklich hab' ich mich verstrickt! Den Brief! Heraus damit! Ich muß ihn haben! Carlos: Vom König Briefe? Und an Sie? Prinzessin: Den Brief, im Namen aller Heiligen! Carlos: Der einen Gewissen mir entlarven sollte? Diesen? Prinzessin: Ich bin des Todes! Geben Sie! Carlos: Den Brief – Prinzessin: Was hab' ich Unbesonnene gewagt! Carlos: Den Brief? Der kam vom König? Ja, Prinzessin, das ändert freilich alles schnell! Das ist ein unschätzbarer, schwerer, teurer Brief, den alle Kronen Philipps einzulösen zu leicht, zu nichtsbedeutend sind! Den Brief behalt' ich! –

»Mit diesen Worten und mit dem hoch emporgehaltenen Briefe soll Carlos abgehen. Mattausch ging wohl, aber im Effekt des Spieles bemerkte er nicht, daß er den Brief fallen lassen. Dieser inhaltschwere Brief befand sich folglich in Ebolis. Gewalt. Um das Kritische dieser Situation zu durchschauen, muß man erstens erwägen, daß die Tragödie unmöglich wird, wenn die Prinzessin dies Blatt besitzt; zweitens aber, daß die Darstellung vor Franzosen stattfand, die kürzlich als Sieger eingezogen, vor Franzosen, bei denen eine theatralische Aufführung, will sie gut heißen, der glatten Tischplatte gleichen soll, worauf kein Stäubchen haftet; daß diese Franzosen den Gang der Handlung mit größter Aufmerksamkeit verfolgten und jetzt eine lärmende Unruhe zeigten. Die Bethmann hatte den Brief noch nicht wahrgenommen. Sie sah im ganzen Hause umher, den Grund der Störung suchend. Endlich überblickt sie die Bühne ... erblickt den unglücklichen Brief ...

»So weit (erzählt H. Schmidt, den wir jetzt redend einführen) hatte ich, als ich bald darauf einmal nach Weimar kam und bei Goethe speiste, über Tische den Vorfall geschildert und bat ihn zu raten, was die Bethmann wohl in diesem Augenblicke gethan haben möchte? Denn er hatte uns vorher auch lange auf den damals noch anonymen Verfasser des Lustspiels ›Das Rätsel‹ raten lassen. Er stand ein Weilchen an. Und Frau von Goethe meinte: sie würde gethan haben, als sehe sie den Brief nicht! Da wären denn freilich Madame wohlfeilen Preises davon gekommen, erwiderte Goethe, und forderte mich auf, weiter zu berichten. Denn wer, fügte er hinzu, kann erraten, was eine kluge verständige Schauspielerin in so kritischem dringendem Augenblicke thut? – Die Bethmann im ersten Moment bezeigt die höchste freudigste Überraschung, stürzt in Hast auf den Brief zu, ergreift ihn begierig, durchstiegt ihn mit funkelnden Augen und ... wirft ihn mit dem Ausdruck getäuschter Erwartung von sich, als sei es ein anderes Blatt Papier. Man muß selbst gesehen haben, wie die auseinander gerissenen Fugen des dramatischen Dichterwerkes durch diesen einzigen Griff einer zarten Frauenhand zusammengefaßt und gehalten wurden! Es brach ein Beifallssturm aus, der das Haus erbeben machte.« –

Gerade so wie vier Jahre vorher in Berlin, trieben es die französischen Theaterfreunde zu Wulfs Zeiten in Piastau, wo sie noch festsaßen und natürlich dominierten. Wir haben schon erwähnt, daß sich die Kantersche Direktion und deren Truppe sehr wohl befand unter Napoleons Truppen, die mit vollen Händen das Geld wegwarfen, welches dem Lande abgepreßt ward. Wir wollen auch der Wahrheit gemäß zugestehen, daß die Sache der Schauspielkunst dabei eher gewann als verlor ... obgleich uns diese Anklage unseres deutschen Theaterpublikums schwer fällt. Wir dürfen also auch nicht verschweigen, daß Wulf, in seinem vollen Werte erkannt und durch die lebendigsten Ehrenbezeugungen ausgezeichnet, vollständig kalt dagegen blieb und jede Berührung mit den ungebetenen Gästen vermied. Er hatte sich bis dahin noch nie Rechenschaft gegeben über seine Vaterlandsgefühle. Die Sorgen um eigenes Fortkommen hatten jegliche Sorge um Deutschlands Gegenwart und Zukunft in ihm erstickt, und. bei seinem Hin- und Herziehen aus einer Provinz in die andere, durch die verschiedensten Länder und Nationalitäten, hatte er längst nicht mehr daran gedacht, daß es doch endlich nur deutsche Dichtkunst sei, die ihn über das Elend der Wirklichkeit erhebe; daß er, wenn gleich keine irdische, doch eine geistige Heimat habe! Dies Bewußtsein erwachte jetzt in ihm, desto mächtiger, je bitterer es ihn kränkte, Franzosen mit wärmerer Teilnahme, mit richtigerem Takte seinen künstlerischen Bestrebungen folgen zu sehen, als es die Einheimischen wollten oder vermochten. Aus seiner Abneigung gegen die Fremden machte er gar kein Geheimnis und äußerte sich offen darüber; Bäckers Warnungen überhörte er. Es fehlte nicht an niederträchtigen Menschen, die ihn als Franzosenhasser verdächtigten und, was er unvorsichtig gesagt, entstellt rapportierten. Seltsam genug steigerte dies die Achtung, die man ihm zollte, und erhob in der Meinung des Feindes seinen Charakter eben so hoch über dm der übrigen Schauspieler, wie sich sein Talent über alle erhob. Weniger zufrieden zeigte sich dabei Madame Kanter. Ihr hatten Spione und Klatscher manche bittere Anklage, manchen treffenden Witz gemeldet, den Wulfs Franzosenhaß wider sie, wider alle Frauen, die in zarteren Verhältnissen mit den Weltbezwingern standen, schonungslos gerichtet. Sie gab Bäckern zu verstehen, daß sein Herr Stiefsohn nicht alt werden dürfte im Engagement, wofern er nicht wenigstens die Zunge im Zaume halten lernte! Bäcker pflegte gehorsamst einzustimmen, brummte aber dann für sich: Solange ich noch zu leben habe, wird er sich hier schon halten; dafür sorgt der Direktor!

Allerdings hielt dieser große Stücke auf Wulf, und daß der den Freunden der Madame Kanter übel wollte, mißfiel Herrn Kanter keineswegs. Er bewies sich bei allen Gelegenheiten zuvorkommend, kam allen Ratschlägen und Wünschen seines Helden gern entgegen. Ja, er gab sogar seine Zustimmung, daß »Wilhelm Tell« aufgeführt werde. Als das Buch angelangt, ausgeschrieben war, machte die Rollenverteilung Schwierigkeiten; mehrere der kleinen Partien mußten mit einem Schauspieler besetzt werden, weil die numerischen Kräfte nicht ausreichten. Vater Bäcker hatte gar deren drei erhalten. Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich frage dich nicht,« sprach er, »weshalb du gerade auf dieses Drama drangst, obschon wir doch so mancherlei zu geben hätten, was unfern beschränkten Mitteln besser zusagt. Dir ist's nicht um die Rolle zu thun; dir stecken die Anspielungen und Beziehungen im Sinne, die sich von selbst darbieten. Unbegreiflich würde mir der für gewöhnlich so vorsichtige Kanter sein – denn wer steht ihm und uns dafür, daß uns der Kommandant nicht in den Hungerturm werfen läßt, wie vor dreihundert Jahren den sieben Ratsherren geschah? – unbegreiflich, sag' ich, hätt' ich nicht die Überzeugung, und er natürlich ebenfalls, man werde die Aufführung inhibieren. Es sitzt auf der Kommandantur ein Pfiffikus von deutschem Schreiber, als welcher sämtliche noch nicht hier gespielte Stücke erst sein säuberlich beriechen muß, ehe und bevor die Einwilligung erfolgt, und ich hoffe ...«

»Du hoffst,« fiel ihm Wulf ängstlich in die Rede, »du hoffst, Vater Bäcker, was ich befürchte? Würd' es dir denn Freude machen, wenn solch' ein Interdikt mir die meinige zerstörte? Ich habe mich seit lange auf nichts gefreut wie auf den Tell!«

»Nun dann,« erwiderte Bäcker gleichmütig, »dann wird erst recht nichts daraus. Wenigstens gilt das bei mir als Regel, und ich besorge sehr, es wird bei dir nicht anders sein. Wie?«

Kleinlaut, nicht widersprechend, fragte Wulf: »So dürfte man nach deiner Theorie sich auf gar nichts mehr freuen?«

»Klüger wär's,« antwortete Bäcker.

»Aber Gott erbarm' sich, zu was lebt man denn überhaupt?«

»Um zu sterben, mein Sohn; das ist unser Geschäft hienieden vom ersten Moment der Geburt, und wir setzen's eifrig fort, anfänglich ohne uns Rechenschaft von unserm Fleiße zu geben. Später erst kommen wir dahinter. Du bist noch in der ersten Hälfte der Arbeit und machst sie spielend ab. Was mich betrifft, ich stöhne bereits über den letzten Tagwerken. Es ist eine harte Robott, hauptsächlich bei Nacht. Der beste Trost dabei und der sicherste bleibt immer, daß es bisher noch ein jeder zustande gebracht hat. Sterben ist das einzige Pensum, welches jeglicher Sterbliche richtig ablieferte; auch der Faulste!«

So hatte Bäcker sich nie ausgesprochen Ängstlich fragte Wulf: »Wie er auf dergleichen düstere Betrachtungen gerate?«

Der Alte lächelte ihm zu: »Stunde für Stunde ruft sie mir ins Gehör; meine Grube steht offen. Gönn' mir's doch! Sieh, mein Junge, es geht mir wie einem eingefleischten Tabakraucher; so wie dem die Pfeife nicht mehr schmecken will, da heißt's: Der macht's nicht mehr lange! Ein eingefleischter Komödiant, dem 's Theater nicht mehr schmeckt... pfui, gallenbitter!«

Darauf hatte Wulf nichts zu entgegnen.

Einige Tage nachher brachte ihm der Theaterfriseur die Nachricht, daß die Darstellung des Schauspiels »Wilhelm Tell« untersagt sei. Er eilte zu Bäcker, bei dem er seinen Ärger auslassen wollte, und fand diesen emsig über einem uralten, schon von Kauzburg her bekannten schwarzen Fracke nähen und flicken, was der zitternden Hand nur mühsam gelang. »Giebt's denn keinen Schneider in Piastau?« fragte er zur Thür hinein.

»Die Axt im Haus erspart den Zimmermann! hättest du zu sagen gehabt, mein Junge, wenn dir die Franzosen nicht das Wort vom Munde wegnehmen. War meine Prophezeiung nicht richtig?«

»Leider ja. Aber wozu brauchst du den Frack? Hat dich der Kommandant zur Tafel geladen?«

»Spotte nur! Wer weiß, welcher Kommandant mich ›zum Speisen‹ ruft, ehe der Mond wechselt? Man will doch anständig gekleidet erscheinen, deshalb thu' ich mein Bestes an diesem Kleide. Ich hab' so meine Gedanken! ... Nun Freund, hierorts wär's denn nichts mit deinem Tell. Dagegen in der Hauptstadt ... lies gefälligst, was die Zeitung vermeldet: ›Herr Generaldirektor Iffland – Gastrollen – Wilhelm Tell?‹ Wie klingt das? He?«

»Ha, den möcht' ich sehen!«

»Glaub's! Sieh' ihn! Wer kann dir's versagen? Ein Katzensprung bis Breslau. Kanter muß dir Urlaub geben auf ein paar Tage. Wird's auch willig thun, als Pflaster auf die Wunde, die der von deinem Herzen gerissene Tell machte. Geh' stante pede zu ihm hin ... im schlimmsten Falle küsse ihr die Hand ... binnen einer Stunde bist du unterwegs ... morgen Abend kannst du vergleichen, wie des berühmtesten deutschen Akteurs Auffassung sich verhält zu der deinigen ... Geschwind, trödle nicht!«–

Vierundzwanzig Stunden später ließ Wulf am Eck der Ohlauer- und Taschengassen sich drängen und zwängen vor der unscheinbarsten Eingangspforte, die je zum Innern eines Schauspielhauses führte. Er achtete der Püffe und Stöße nicht, die ihm reichlich von allen Seiten zu teil wurden. Er hätte zu Schlägen still gehalten. War es ihm doch nur um einen Vorderplatz dicht am Orchester zu thun; denn damals hatte man das Stehparterre noch nicht weit zurück hinter die vornehmeren Sperrsitze verwiesen. Die echten Theaterfreunde bildeten noch ein kompaktes, aus anständigen Männern jedes Alters und Standes zusammengestelltes, tonangebendes Publikum. Und keiner ließ sich's verdrießen, seine Bequemlichkeit einen langen Abend hindurch aufzuopfern, wenn es galt, etwas Gutes zu hören! Und keinem fiel es ein, sich im Zwischenakte nach der Bierkneipe zu begeben! Nicht wahr, ihr jungen Herren mit dem Zwicker am Auge, das scheint euch fabelhaft, wie eine Mythe der Vorzeit?

Musikdirektor Luge, der kleine Mann mit dem großen Kopfe, der tüchtige Geiger, leitete die schöne Musik Anselm Webers, der sich um Schillersche Werke hochverdient gemacht. Hinter Luge stand Wulf und lugte zwischen dessen dickem Haupte und dem langen Halse des Kontrabasses nach der Bühne hinauf. Doch die liebliche Introduktion samt ihren melodischen Liedern rührte ihn nicht. Ihm war's mir nm Teils Auftritt. Dieser sollte entscheiden, mit einem Worte, auf einen Schlag, wie der Meister die Rolle nahm. Aus der ersten Zeile wollte Wulf erkennen, ob er sich bei seinen eigenen Vorbereitungen auf eine falsche Bahn gewagt, ob er eine Richtung eingeschlagen habe, welche mit dem Gewicht Schillerscher Diktion vielleicht gar nicht in Einklang zu bringen sei. Ihm hatte während des Studiums der schlichte, derbe, doch schlau zurückhaltende Bauer, der kräftige, geübte schweizer Bergschütze vorgeschwebt. Wenn jetzt der Berliner Generaldirektor auch geschniegelt und geleckt angetänzelt kam in seidenen Strumpfhosen, wie ein Markeur aus dem Billardsaale eines Ritterkaffeehauses ... Wie dann, du armer, unbekannter, umherziehender Komödiant? ...

»Wer ist der Mann, der dort um Hilfe steht?« klang es plötzlich aus der hintersten Coulisse hervor, ohne Pathos, ohne deklamatorischen Anlauf, menschlich, wahr, energisch, natürlich ... und der schweizer Landmann stand in einfacher, grober Tracht unter den Mitspielenden. Kein Aufputz, kein Puffenkram an ihm.

»So hab' ich mir's gedacht!« schrie Wulf. Das Publikum bedeckte durch seinen Empfangsapplaus diesen Schrei aus tiefster Brust, doch auf die Bretter war er gedrungen; denn Ifflands Feuerblick heftete sich eine Sekunde lang an den Raum zwischen der Baßgeige und des kleinen Vorgeigers großem Kopfe. Die vier Augen begegneten sich und entlockten sich Funken.

Ifflands Tell blieb sich treu. Die verhängnisvollen drei Zeilen nach dem Apfelschusse, welche so vielen Schauspielern Gelegenheit boten und bieten, »Mätzchen zu machen« – wer von meinen älteren Lesern sich noch an Esslair erinnert, wird die Experimente nicht vergessen haben, die dieser verdienstvolle Künstler damit anstellte! – sagte Iffland frei, rasch, von der bedrückten Brust herunter, ohne Kunstpausen, ohne lauernde Effektdrucker, eben wie ein aufs äußerste getriebener Vater: »Mit diesem zweiten Pfeil durchschoß ich Euch, wenn ich mein liebes Kind getroffen hätte; und Eurer wahrlich hätt' ich nicht gefehlt!« – Da war's, wo Wulf zum zweitenmal ausbrach. Er hatte sich die Stelle nach seiner Ansicht mehr auseinandergesetzt, hatte einer jeden der drei darin liegenden Empfindungen gesonderten Ausdruck zu geben gedacht. Jetzt übermannte ihn die naturgemäße Zusammenfassung jener drei verschiedenen Gefühle in ein Ganzes, und er rief laut: »Ich war ein Esel! so ist's richtig!«

Man ist nicht darauf gefaßt, am wenigsten im Parterre eines überfüllten Schauspielhauses, dergleichen aufrichtige Selbstbekenntnisse zu vernehmen. Und weil diesmal kein lauter Zuruf des Auditoriums – denn dieses an allerhand Zerrer, Dehner, Brüller, Mauzer und Zitterer in oben citierten drei Versen gewöhnt, hütete sich wohl, einen so schlichten Vortrag mit Beifall zu belohnen! – weil diesmal kein lauter Zuruf den seinigen bedeckte, so wurde er überall gehört, erregte Gelächter und störte momentan. Das betrübte den unfreiwillig Schuldigen, verdarb ihm den Genuß der nachfolgenden Scenen und trieb ihn, da der Vorhang zum letztenmal gefallen war, in unbestimmtem Drange, sein Vergehen gut zu machen, nach der Hinterthür, welche durch eine Art von Keller und eine schmierige Lampenkammer zur Bühne führte. Dort postierte er sich in einen finstern Winkel und wartete. Sämtliche Mitspielende zogen an ihm vorüber, hielten ihn wahrscheinlich für einen Aufwärter oder für einen jener Theaterenthusiasten, welche, ohne Geld in der Tasche, sich den Arbeitern anschließen, die schwersten Dienste auf, unter, über den Brettern willig verrichten, ja sogar mit Gefahr ihrer Knochen die »Courtinen zu springen« gern bereit sind, dürfen sie nur einen Blick auf die Scene werfen und einige Worte erlauschen. Keiner der an ihm Vorübergehenden konnte ahnen, daß dort ein Mensch sich versteckt halte, der sie samt und sonders (Ludwig Devrient befand sich auf Urlaub!) in Grund und Boden gespielt haben würde, wäre ihm beschieden gewesen, mit ihnen in die Schranken zu treten.

Endlich erschien auch Iffland in Begleitung eines dicken Mannes, der wie ein dienstthuender Kammerherr neben ihm her ging und gerade, da sie in Wulfs Nähe gelangten, des Gastes Einladung: sein Gast für diesen Abend zusein, dankbarlichst annahm.

Wulf that einen Schritt aus seinem Winkel vorwärts: »Ich bin der Esel, Herr Generaldirektor! soll ich die Nacht nicht schlaflos mich abquälen, so erteilen Sie mir Pardon für die Störung!«

»Sie sind vom Handwerk?« fragte Iffland, indem er den Bittenden durchdringend fixierte.

»Ein reisender Komödiant, der von Piastau hierher kam, um den Tell zu sehen.«

»Besuchen Sie mich morgen früh vor Acht.«

»Mein Urlaub reicht nur bis morgen Abend, und Herr Kanter versteht keinen Spaß.«

»Nun so kommen Sie jetzt mit uns ... Sie haben doch nichts dagegen, Schallchen, daß dieser lampenkammerliche Weglauerer mit uns speise?«

Der dicke Mann stimmte freundlich lispelnd zu.

Sie zogen die dunkle Ohlauergasse entlang. Keine Laterne brannte. Die Beleuchtungsanstalten pflegten sich damals auch in noch größeren Städten und Residenzen mit leichtem Sinne über die häufig intensiven Finsternisse der Sommermonate wegzusetzen. Unweit des sogenannten »Schwibbogens« rannte Wulf, des Pfades unkundig, an eine »in Gedanken stehen gebliebene« Karre, stolperte und fiel. Iffland und Schall hoben ihn vom Steinpflaster auf, teilnehmend besorgt, ob er nicht ein anderes Pflaster gebrauchen werde, und fragten, ob er sich wehe gethan. Er verbiß seinen Schmerz und hinkte weiter. Ein aus dem Bierhause heimkehrender Bürgersmann hatte die Frage gehört – den Fall sehen konnte nur ein Kater in solcher Nacht; – der mengte sich ins Gespräch und tröstete: »Sie sind ja wohl Fremde? Ja, meine lieben Herren, im Sommer da fragt unser Magistrat nichts danach, da können Sie den Hals brechen bis an ... bis an die Rockschöße!«

Iffland äußerte sich entzückt über die Hyperbel des Bierseligen und griff den Breslauer poetischen Kurzwarenhändler Schall mit allerlei Neckereien an, die Zustände seiner Vaterstadt betreffend. Schall ging lustig darauf ein, verteidigte die Fürsorge der Behörde, welche doch wenigstens während milder Jahreszeit geheimnisvoll-romantischen Abenteuern etwelchen Vorschub leiste und dem alten Wahlspruch treu bleibe: Im Dunkeln ist gut munkeln.

»Und was hält Madame Unzelmann, geborene Petersilie, von Euren unmoralischen Wahlsprüchen, dicker Don Juan!«

»Sie vergißt nie, daß ich ihr eine dankbare Rolle geschrieben habe in dem Lustspiele: ›Der Kuß und die Ohrfeige‹«

»Laßt Ihr Euch Ohrfeigen geben, Weiberknecht?«

»Nach Umständen lieber denn Küsse.«

»Ihr bleibt ein ungeheuerlicher Kerl, Drei-Pumpernickel-Macher! Daß Ihr so fest an Eurem Breslau klebt, verdreußt mich baß. Könnt' ich Euch nur nach Berlin zaubern! Euch möcht' ich um mich haben, Mondekar! Schließt Eure Quincaillerie-Bude, zieht nach der Spree.«

»Ernennen Sie mich zum Theaterdichter, Generalissimus aller Schauspieler und Direktoren; stellen Sie mich mit gutem Jahrgehalte an ...«

»Soll ich Herklots totschlagen? Er hat fleißig für uns gearbeitet, übersetzt noch alle neuen Opern, ist unermüdlich thätig ... und Ihr seid faul, Dicker!«

»Für den geistigen Verkehr mit einem Iffland werd' ich niemals faul sein.«

»Wie lange wird denn der Iffland noch halten? Er geht aus dem Leime. Und was dann?«

»O Reinerz läßt uns nicht im Stiche! Verjüngt und neugeboren schickt es Sie nach Hause.«

Iffland seufzte: »Die letztvergangenen Jahre lassen sich nicht wegspülen, und wenn ich die herrliche laue Quelle bis auf den letzten Tropfen austränke. Ich habe zu schwer gelitten, zu schwer, Freund Schall! Die Schlacht bei Jena, die Flucht des Königs und der Königin, ihr Tod, die ewigen Häkeleien mit den französischen Befehlshabern, die Perfidie und Feigheit der unsrigen, die nagende Sorge um notdürftige Erhaltung des Institutes, der Gram in meiner deutschen Seele ... wenn man so allein steht, ohne Anhalt und Rückhalt ... es war zu viel, es hat mir den Rest gegeben. Welzel, mein Arzt, mein Freund, er schüttelt bedenklich den Kopf trotz aller Zuversicht, die er sonst auf sein Reinerz stellt. Könnte wohl kommen, daß dieses Gastspiel mein Schwanenlied wäre! – Doch siehe, da lächelt Fiebigs Lucerne in die Finsternuß Eurer Gassen, und ›Karliene. die Jungfer Schleißerin‹ wird längst harren mit ihren Tellern auf Tellen! Tretet ein, Ihr zwei Mannen, und laßt uns erproben, wie ein frischer Labetrunk im Sommer thut, wenn man von den Schweizer Alpen herniedersteigt in die schlesischen ›Drei Berge‹«

Sie saßen am Tische und ließen sich's schmecken. Doch kam kein rechtes Gespräch in den Zug wie sonst, wo Iffland allein mit Schall war und sie sich die Scherze von den Lippen nahmen. Es schien, als ob des Dritten Gegenwart ihnen Zwang auflegte. Das beängstigte den bescheidenen Wulf. Da hob Iffland heiter an: »Wir essen zu rasch, wir plaudern zu wenig. Wie wär's, wenn Sie, mein von französischer Censur unterdrückter Tell-Kollege uns einiges aus Ihren Theaterwanderungen erzählten? Das wird uns anregen und fröhlich Geschwätz in Fluß bringen.«

Wulf ließ sich nicht bitten, er gab unterschiedliches zum besten. Gelegentlich sprach er auch von jenem Boten in der Braut von Messina, und Schall, der sogleich den einstigen Herzberg für den jetzigen Devrient erkannte, ließ sich ausführlich einzelne Thaten berichten, wobei der Erzähler nicht umhin konnte, den Einfluß anzudeuten, den er selbst auf jenen interessanten Anfänger gehabt zu haben glaube. Schall hörte gespannt zu; wahrscheinlich verglich er im Geiste Wulfs Angaben mit denen, welche Devrient in trauten Stunden ihm selbst gemacht.

»Ist es nicht eigentümlich,« warf Iffland dazwischen, »daß dieser hier gegenwärtige Mann, in dem wir entschieden einen braven Schauspieler anerkennen, es nicht weiter bringen konnte; daß er bei ambulanten Truppen sich ungenannt und ruhmlos fortquält... während der andere in kurzer Frist sich so hoch emporhob, daß er eigentlich schon berufen gilt, meinen Platz auszufüllen ... sobald ich Platz gemacht habe. Und weshalb ist er mir ausgewichen? weshalb hat er mich nicht sehen, weshalb seine Künste nur nicht zeigen wollen? Sie müssen das wissen, Schall; sie sind ja sein Freund, sein artistischer Berater, wie man mich versichert. Was trieb ihn fort?«

»Er sehnte sich längst, eine kleine Erholungsreise anzutreten, deren er nach gewaltigen Anstrengungen höchst bedürftig ist. Die Erlaubnis dazu konnte ihm, dem hier Unentbehrlichen, nur für die Dauer Ihrer Anwesenheit erteilt werden. Dies ist der einzige Grund. Wer einen andern geltend macht, verleumdet. Er ist Ihr aufrichtiger Bewunderer. Und wie könnte er's nicht sein? Wer hat ihm denn als höchstes Vorbild gegolten seit frühester Jugend? Schlug sein Talent auch eine ganz andere Richtung ein, niemals würd' er sein Muster verleugnen, den großen Künstler, dem es die erste Erweckung verdankt. Es thut mir unbeschreiblich leid, daß Sie ihn diesmal nicht spielen sahen ... und auch um Herrn Wulfs willen bedaure ich, daß er nicht zugegen ist. Diesem würde der Vergleich mit dem vormaligen Herzberg Stoff bieten zu merkwürdigen Betrachtungen.«

»Zuverlässig,« erwiderte Wulf. »Er wäre mir ungleich erwünschter gewesen als sein Stellvertreter für den heutigen Landvogt Geßler, der mir allzu sauer nach unseren gang und gäben Provinzialtyrannen und Bösewichtern schmeckte. Dagegen hat mich – insofern neben Ifflands Tell noch Entzückung für Nebenpersonen übrigbleibt – der Mann entzückt, der die kleine Rolle des Itel Reding gab. Ich hatte unterlassen, mir einen Zettel zu kaufen, und wie die Darstellung begonnen, dachte ich nicht mehr daran, daß die Menschen da droben außer den Namen, die Schiller ihnen lieh, noch eigene Namen führen. Sagen Sie mir, Herr Schall, wer ist jener Komödiant von altem Schrot und Korn? Es läßt sich gar nicht ausdrücken, wie mir zu Mute wurde, als er sprach: ›Doch schwör' ich's droben bei den ewigen Sternen, daß ich mich nimmer will vom Recht entfernen!‹ So etwas hört man jetzt nicht mehr. Der Mann muß eine große Vergangenheit haben.«

»Ei, das glaub' ich,« lachte Schall; »Sie sind nicht blöde. Sie nehmen gleich den besten Bissen aus der Schüssel. Ja, mein lieber Herr Wulf, in jenem Landamman haben Sie die ehrwürdige Ruine eines der ersten deutschen Schauspieler gesehen, des einzigen Mannes, der Fleck zur Seite stand, und nicht selten zur rechten.«

»Maximilian Scholz? Ist's möglich! Dann allerdings ...«

»Nu, nu, Schallchen,« sprach Iffland, »stoßt auch nicht zu stark in die Trompete! Scholz war ein fürtrefflicher Künstler; mag auch zuverlässiger, arbeitsamer, solider im Studium, gleichmäßiger in der Ausführung gewesen sein, nicht von Launen und Stimmungen abhängig, das geb' ich zu. Aber wo blieb er doch zuletzt im Vergleiche mit Fleck, wenn einmal aus diesem die volle Gewalt des Genies herausquoll! Wo blieb Scholz, wo blieben und bleiben wir alle, und die nach uns sein werden! ... O mein Fleck! mein Fleck! sie haben sich's angelegen sein lassen, mich und ihn zu verhetzen, haben ihm Böses von mir, mir Böses von ihm zugeraunt. Hat auch im Anfang manchen Tanz gegeben, denn hatte er zu viel geladen, war er nicht sein, spottete meiner neuen Einrichtungen, donnerte mit burschikosen Flüchen wider mich los. Ich ließ mich nicht irre machen. Hatte ihn bald erkannt, und nachdem er mich erst erkannt hatte, hernach war's von ganzer Seele, daß einer am andern hielt ... Tot, tot! mir ist, als wär's erst seit gestern. Ach, und sie haben ihn schon vergessen. Vergessen, ihn! Ich aber vergesse ihn nimmermehr. Ich verkündige seinen Ruhm, so lange ich Atem habe. Wir armen Schauspieler! Der Dichter, der Komponist, der Baumeister, der Bildhauer, der Maler kann von seinen Kunstwerken sagen: dies ist, und es wird sein. Wir Armen, wir Ärmsten, nur das Aufgebot aller Kräfte gewährt unseren Schöpfungen drei Stunden der Vollendung; jede dieser Stunden stößt uns dem Grabe zu. Das sagen, wie der Vorhang fiel, die keuchende Brust, die klopfenden Pulse, die zitternden Nerven ... und wir dürfen uns nicht getrösten: ›Dies wird einst sein!‹ Mitnichten. Es war nur! Es ist dahin, wie Lächeln über ein Menschenantlitz. Darum rede der Kenner, der Freund, der Bewunderer des seltenen Talentes ein dankbar Wort von dem, was gewesen ist ... Redet auch von mir, Schallchen, wenn ich – gewesen sein werde!«

Sie reichten sich die Hände und schwiegen.

Nach einem Weilchen fuhr sich Iffland über die Stirn, leerte hastig ein großes Glas und entschlug sich bald seiner trüben Gedanken. »Apropos,« sprach er zu Wulf gewendet, »wollen Sie uns vielleicht hören lassen, wie die sonoren Töne Ihrer Brust klingen, wenn Sie des Dichters Worten Geltung schaffen? Ein Probestückchen, mein schmucker Gesell, dem Berliner Herbergsvater! Mehr oder weniger ist auch Freund Schall zünftig!«

Hätte Wulf nicht Wein getrunken, er hätte nicht gewagt zu gehorchen. Für den geübten Schauspieler ist's eine peinliche Aufgabe, außerhalb der Bühne, ohne Podium, im engen Räume zu zeigen, was er vermag. Je mehr zu Hause auf den Brettern, desto weniger heimisch wird er sich im kleinen Zimmer fühlen. Und nun gar vor Iffland ... Die Aufforderung blieb eine Minute hindurch erfolglos. Am Tische sitzend, aus heiler Haut anzuheben ... das ging über Wulfs Kräfte. Sein Schweigen wurde ausgelegt, als ob er noch darauf sinne, welche Wahl zu treffen sei. Die Hörer warteten mit einiger Spannung. Endlich ermannte er sich ... sprang empor ... ergriff seinen Hut ... riß die Stubenthür auf ... und stürzte hinaus. Schall brach in dröhnendes Gelächter aus, daß Flaschen und Gläser klirrten. Iffland aber sagte bedächtig: »Schallchen, lacht mich nicht über den Haufen! Wofern dieser Mensch seiner Sache nicht sicher war, hat er das klügste Auskunftsmittel erwählt.«

Und die Thür öffnete sich wieder, und Wulf trat ein, nahm einen Stuhl, auf den er sich mit vornehmer Nachlässigkeit hinwarf und begann, Iffland anredend, als wäre dieser Clavigo und Schall Saint Georges: »Ein französischer Kaufmann, der bei einer starken Anzahl von Kindern« und so weiter. Er führte die lange eindringliche Rede in drastischer Steigerung, doch mit weiser Mäßigung durch. Erst gegen Ausgang derselben ließ er sich vom Feuer fortreißen und donnerte die Schlußworte mit voller Macht seiner Stimme: »Ich komme, bewaffnet mit der besten Sache und aller Entschlossenheit, einen Verräter zu entlarven, mit blutigen Zügen seine Seele auf sein Gesicht zu zeichnen; und der Verräter – bist du!«

»Das geht über den Spaß,« rief Iffland zu Schall hinüber. Dann trat er dem Sprecher nahe, der aufgestanden war und sich an der Lehne des Stuhles hielt. »Mensch,« sagte er zu ihm, beide Hände auf Wulfs Schultern drückend, ihn hin und her wiegend wie ein Rohr, »Mensch, welch' ungünstiges Verhängnis hat dich ferngehalten von mir, von unserem Theater? Vor zehn Jahren mußt' ich dich haben, in der ersten Blüte des Jünglings, bildsam, gelehrig, mit allen Gaben geschmückt. Du wärst der Ersten einer, wärst der Held des Tages! Seit meines Flecks Tode hab' ich solche Sprache nicht gehört. Jetzt ist's zu spät. Zu spät schon vielleicht für dich ... gewiß für mich. Eh' ich ihm ein Feld erkämpft habe, worauf er sein Talent frei entfalten darf, werd' ich abgerufen, werd' ich hinüber gegangen sein. Dennoch muß es versucht werden. Macht Euch los von Euren Banden, schlagt Euch durch bis nach Berlin, meldet Euch bei mir! Von hier aus kann ich gar nichts thun. Was ich dort werde thun können? ... weiß ich's. Wissen wir alle, was mit uns geschieht? Dürfen wir atmen und regsam walten unter dem Drucke dieser undeutschen Zeit? Hab' ich eine Macht, einen Willen, wo wir um Pfennige geizen und feilschen müssen? ... Geht mit Gott, Meister Wulf! Meister! hört Ihr? Eine rohe Meisterschaft, eine ungeglättete; sie trägt die Spuren geringer Werkstätten an sich. Innen ist sie gediegen, markig, ihr Herz gesund, ihr Geist frisch. Dabei habt Ihr, was mir fehlt, was er hatte, der unerreichbare Fleck, was nur Natur verleiht, was keine Kunst erzwingt. Aus dieser starken Brust quillt der volle Strom der Rede. Haltet ihn rein. Auf Wiedersehen in Berlin!«

Tief erschüttert schied Wulf, konnte nicht sprechen.

Schall rief ihm nach: »Möchten Sie's erst hier versuchen, so schreiben Sie mir. Ich will mit Regierungsrat Streit davon reden ...«

Wulf hörte nichts mehr. Er taumelte durch finstere Gassen und ließ sich von Wächter zu Wächter in sein Nachtquartier weisen.

*   *   *

Der öffentlichen Postkutsche seinen Leib anvertrauen, hieß annoch sich allen erdenklichen Mißhandlungen bei schlechtem Wege aussetzen und nebenbei so langsam wie möglich vom Flecke kommen. Wulf suchte andere Gelegenheiten, die ihn auf allerlei unterschiedenen Fuhrwerken von einem Orte zum nächsten mitnahmen, wobei er sich eben auch nicht kuriermäßig befördert fand. Die letzte Strecke mußte er gar zu Fuße machen, und da langte er denn spät in der Nacht, eigentlich erst am Morgen des vierten Tages in Piastau wieder an. Die Festungsthore waren noch nicht geöffnet. Nur nachdem er Namen und Stand dem Korporal über die Zugbrücke gerufen, und dieser ihm dem wachthabenden Offizier gemeldet, öffnete sich die kleine Seitenpforte. Der Leutnant empfing ihn mit der Nachricht, »monsieur le regisseur Bäck« liege im Sterben. Wulf spürte nichts mehr von Müdigkeit. Er flog ans Krankenlager. Sein Pflegevater befand sich in tiefem Schlafe, wie es schien, im letzten. Die Zimmervermieterin kam herbei. »Wir haben dem guten Manne nichts abgehen lassen.« versicherte sie, »doch der Arzt gab ihn schon vorgestern auf.«

Wulf beugte sich zu ihm nieder. »Armer Vater Bäcker,« schluchzte er.

Da that der Sterbende die matten Augen auf: »Mußt du's doch noch mit ansehen, mein Junge? Ich hätte dir's gern erspart. Weil's nun aber nicht so geschwind geht, wie ich erst dachte, ist mir's lieb, daß du da bist. Setz' dich zu mir ... erzähle mir, was du gesehen ... sprich dann von Kauzburg ... das war die beste Zeit ... sonst hab' ich nicht viel Gutes gehabt hienieden ... jenseits ... besser ... will's Gott...«

Wulf blieb beim Entschlummernden, bis er tot war.

Den schwarzen Frack, den Bäcker so fleißig ausgebessert, zogen sie ihm an, da sie ihn in den Sarg legten.


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