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Zweites Buch

T Thomas Kerkhoven saß allein im Café Luitpold und riß nervös an seinem Spitzbarte. Die Kritik in den »Neuesten Nachrichten« war ihm näher gegangen, als er sich eingestehen mochte. – Daß auch gerade heute niemand von den andern kam!

Am Nachbartisch sahen zehn, zwölf junge Griechen, die geräuschvoll und so schnell durcheinander schnatterten, daß einem schwindlig werden konnte. Einer von ihnen hatte das Wassermädel Mali an der Hand gefaßt und redete halblaut auf sie ein. Sie lauschte belustigt, mit schief geneigtem Kopfe; auf einmal aber befreite sie ihre Finger, gab dem Courmacher einen Klaps auf die Hand und sagte: »Naa, Sie san ein Schlimmer!«

Der Grieche lachte. – Mali warf einen mokanten Seitenblick auf ihn und entfernte sich mit einem:

»Mir waar's genügend!«

An Thomasens Tisch blieb sie stehen:

»Heut ganz allein, Herr Kerkhoven?«

»Vielleicht kommen die andern noch.«

Mali warf einen Blick zu den Griechen hinüber. »So was!« Sie lachte glucksend. »Dös san scho die richtign!«

»Na, der eine hat's aber scharf auf dich abgesehn; schau, was er für geschmalzene Augen hermacht.«

»Von mir aus derf er s' sich in Sauer kochen lassen, der Tepp!« erwiderte Mali voll Verachtung und hob ihre kecke Nase, während die roten Hände in den Schürzentaschen verschwanden.

Thomas lächelte.

»Überhaupts, zu was brauch denn i an Schatz!«

»Recht hast du,« nickte Thomas.

»Obzwar ...,« begann Mali ein wenig rätselhaft und fragte dann plötzlich: »Wo ist denn die große Blonde hin, die wo immer mit Ihnen kommen is?«

Thomas machte eine Handbewegung, die »futsch« sagte.

»Nix währt ewig,« bemerkte Mali tiefsinnig. – »Trinken S' noch a Pilsner, Herr Kerkhoven?«

Thomas nickte; Mali nahm sein Glas, blieb aber wieder stehen.

»Schaun S', Herr Kerkhoven, mit so an Schlawiner, wenn ich anfangen tät, nacher waar ich doch schön dumm. Aber was so a richtiger, besserer Herr wär, da könnt man sich's noch überlegen ... A bissel was für's Herz sollt der Mensch aa ham.«

»Such' dir nur einen!« lächelte Thomas. »Siehst du, ich komm nicht in Betracht. Ich bin ja selber ein Schlawiner. Aus Rußland, weißt du.«

»So was!« eiferte Mali, »dös ist eine ganz eine andre Geschicht. An Herr wia Sie. Sie san ja bereits ein Münchner. Einer von unsre ältesten Stammgäst ...

»Ja,« lachte Thomas, ein wenig bitter, »dazu hab' ich's in acht Jahren glücklich gebracht!«

»Sie könnten mir schon gfallen, Herr Kerkhoven,« sagte Mali geschämig.

»Ach?!«

»Ja, wissen S', Sie haben so ein ... So ein leidenschaftsbleiches Gesicht ham Sie.«

Ein wohlgenährter junger Mann mit glattrasiertem Gesicht, ziemlich auffällig im Stil der Biedermeierzeit gekleidet und frisiert, kam durch den Säulengang auf den Tisch zu.

»Ein Braunbier, Mali!« Dabei hängte er Hut und Mantel auf.

»Gratuliere,« sagte Thomas und reichte ihm die Hand.

»Wozu?« fragte Karsten Anton Wacker und setzte sich. »Ach so! Mein Beileid!«

»Ja,« sagte Thomas, »mich hat der Stolterfoot allerdings in der Luft zerrissen. Aber deshalb häng' ich mich noch lange nicht am clou de l'exposition auf.«

»Ich danke Ihnen.« Wacker verneigte sich mit altväterischer Grazie. »Ich kann's auch gar nicht vertragen, wenn so was an mir rumbaumelt.«

Thomas lächelte:

»Ja, Sie sind jetzt groß raus. Na ja, und schließlich, verdient haben Sie's; und Zeit war's endlich mal!«

»Ach Gott, bester Herr Kerkhoven, wenn Sie ne Ahnung hätten, wie ich zu der Kritik komme. – Glauben Sie, meine Bilder gefallen dem Stolterfoot? – I wo, er ist ja selber ein sauer gewordner Maler.«

»Aber er ist doch direkt begeistert?«

»Stolterfoot ist ja nämlich seines Glaubens auch Lübecker und interessiert sich für meine jüngste Schwester. Das ist die ganze Geschichte.«

»Sagen Sie,« fragte Thomas, »ich möchte ... Wie finden Sie mein Bild?«

»Es hat ein sehr schönes Format.«

»Nein, lachen Sie nicht so dreckig. Sagen Sie wirklich ...«

»Wirklich ...? Na ja, es ist ja eigentlich gut, aber ... Ich weiß nicht ... Sie wollen so furchtbar viel ... Ich glaub', Sie sind zu klug ... Ein Kunstmaler kann ja nicht dumm genug sein ... Sie sollten Schriftsteller werden.«

Thomas lachte nervös.

»Ja, sagen Sie, Herr Wacker ... Ich male Gedanken, finden Sie. – Was malen Sie denn eigentlich? Hm?«

»Sehr schmeichelhaft, wenn Sie meine kleinen Witzchen Gedanken nennen. Ich meine mit Gedanken so was in Ritterstiefeln, wie unser guter Volker die Theaterstücke nennt, wo man die Hände nicht in die Hosentaschen stecken kann.«

Thomas zündete sich eine frische Zigarette an und blies den Rauch nachdenklich vor sich hin.

»Meinen Sie also,« begann er dann wieder, »es wäre besser, sich einfach vor ein Stück Natur zu setzen und zu malen, was man sieht.«

»Ja freilich! Nee, wissen Sie, ich hab' das ja auch schon probiert. Ist ja alles bloß Einbildung. Und das ewige Naturstudium kann das beste Talent zugrunde richten.«

»Na ja, das ist ja recht witzig, aber ...«

»Wieso? Ich behaupte ja nicht, daß die tiefsinnigen Radierungen unsres diabolischen Penzberger gut wären, weil er sich von Kindesbeinen an so jungfräulich rein vom Naturstudium bewahrt hat. Schludriger gezeichnet könnten die nach der Natur auch nicht sein.«

»Um wieder auf den besagten Hammel zurückzukommen,« witzelte Thomas ein wenig krampfhaft, »was haben Sie denn im einzelnen an meinem Bilde auszusetzen?«

»Gott, ich sag' ja: ich find' es gut gemacht. Ich kann's nur nicht leiden, wenn man in einer Sache so das Trampeln der Weltgeschichte hört.«

»Ich versteh' Sie schon ... Sie meinen ... Ja gewiß ... Ich wollte ... Ihre Bilder haben so was Nobles, Ruhiges ... So gar kein ... Und doch ...«

Thomas suchte nach Worten.

»Reißen Sie sich bloß kein Bein aus! Ich bezwecke gar nichts, als nette Bilder zu malen und möglichst viel dabei zu verdienen.«

»Na, wenn's Ihnen bloß darauf ankäme,« lachte Thomas, »würden Ihre Bilder anders aussehn.«

»Absolut nicht. – Das beste Geschäft auf die Dauer ist immer: gute Sachen machen. Seien Sie überzeugt: mit der Zeit rentiert sich das sicher. Gott, so furchtbar eilig hab' ich's nie gehabt. Ich bin Gott sei Dank vorsichtig in der Wahl meiner Eltern gewesen.«

»Ja, Sie haben's gut,« seufzte Thomas.

»Aber, lieber Herr Kerkhoven, Sie können's wahrhaftig auch ruhig abwarten. Was schert Sie der Stolterfoot?«

Thomas warf einen schnellen Blick auf Wackers blühendes Gesicht.

»Sie haben so eine beneidenswerte Sicherheit,« sagte er leise und verschwieg eine ganze Gedankenkette, die sich an diese Worte hängte.

»Da kommt das Kamel übrigens.« Wacker wies mit dem Kopf in den Säulengang hinaus.

Stolterfoot kam langsam und in gebeugter Haltung auf den Tisch zu, zog seinen Schlapphut und fragte:

»Gestatten die Herren ...?«

Wacker nickte grinsend, und der Kritiker zog seinen Lodenhavelock aus.

Eine schwüle Pause entstand.

Stolterfoot suchte mit seinen braven Bernhardineraugen Thomasens Blick, ohne ihn erhaschen zu können. Dann glättete er mit beiden Händen hastig sein allzu langes Wollhaar, das auf dem Scheitel nur noch als leichter Flor lag, während es über den Ohren und dem Nacken dicke, weit abstehende Wülste bildete. Mit krummen Fingern kämmte er dann noch ein Weilchen seinen verwahrlosten Spitzbart, bevor er sich mit einem schüchternen Lächeln an Wackern wendete:

»Nun?«

»Nun?« fragte der gleichmütig.

»Ja, haben Sie das Vorabendblatt der Neuesten Nachrichten noch nicht gelesen?«

»Ich lese nie Zeitungen.«

»Aber da steht doch meine Kritik über Ihre Bilder in der Sezession drin!«

»So?« fragte Wacker müde.

»Mali,« rief Stolterfoot, »die Neuesten von heute abend! – Sie haben sie wohl schon gelesen?« wendete er sich dann an Thomasen.

»Ja,« antwortete der kurz und trank einen Schluck.

Das Wassermädel brachte die Zeitung.

»Hier, bitte!« Stolterfoot reichte das Blatt Wackern und wies ihm die Stelle.

Wacker warf einen Blick darauf, blätterte um und sagte faul:

»Muß ich das lesen? – Das ist so lang?«

»Ja ...?« stieß der Kritiker mit einem hölzernen halben Achselzucken hervor und wurde rot.

»Wenn Ihnen so viel daran liegt ...« Wacker vertiefte sich scheinbar in die Lektüre und las und las; sein Gesicht schien in Gleichgültigkeit versteinert zu sein.

Stolterfoot richtete seinen ehrlich betrübten Hundeblick wieder auf Thomasen. Zwar schielte er manchmal schnell zu Wackern hinüber, um den Effekt seiner Kritik festzustellen, aber er fixierte den andern doch so anhaltend, daß der schließlich den Blick erwidern mußte und dabei über die Dummheit dieser Situation zu lachen anfing.

»Sie sind mir böse?« fragte der Kritiker auf einmal eindringlich, ohne den Blick abzuwenden.

»Nö, warum?« sagte Thomas mit geheucheltem Staunen.

»Sehn Sie, gerade an Ihr Bild mußte ich einen besonders strengen Maßstab anlegen ...«

»Wissen Sie, ich mach mir wirklich nicht so ungeheuer viel aus Kritiken. Wenn Ihnen das Bild nicht gefällt, müssen Sie's ja natürlich sagen.«

»Das freut mich,« sagte Stolterfoot. »Sehn Sie, es gibt so wenig Künstler, die Kritik vertragen können. Mit meinen besten Freunden bin ich deshalb auseinander gekommen. Ach ja, ein glücklicher Beruf ist das nicht! Ich bin vielleicht der bestgehaßte Mann in München. Ich glaube, mancher wäre imstande, mich hinterrücks zu erschießen.«

»Man keine Bange, das tun se nich. Durchhauen, ja, das könnte eher passieren,« warf Wacker dazwischen und versank wieder hinter seiner Zeitung.

» Ich hasse Sie nicht,« tröstete Thomas mit einem ironischen Lächeln.

»Sehn Sie, und Sie werden auch einsehn, weshalb ich gerade an Ihr Bild einen besonders strengen Maßstab anlegen mußte ... Sie sind mir persönlich so sympathisch ...«

»A!?«

»Ja, sehn Sie: wäre es das Bild eines mir persönlich ganz unbekannten Künstlers, dann ... Ich kann mir doch auch nicht sagen lassen, ich lobte das Bild, weil ich mit dem Künstler gut bekannt bin; und auch ... mir selbst gegenüber ... Ich hüte mich natürlich ängstlich davor, aus persönlicher Sympathie am Ende zu günstig über jemand zu schreiben.«

»Sie haben ein sehr zärtliches Gewissen,« lachte Thomas aus und fügte mit einem verbindlichen Lächeln hinzu: »Ich will trachten, Ihnen in Zukunft unsympathischer zu werden.«

Wacker ließ die Zeitung sinken und legte sie beiseite, dann nahm er schweigend eine Zigarre aus seinem Etui, schnitt umständlich die Spitze ab und entzündete ein Streichholz.

»Nun, was sagen Sie?« fragte Stolterfoot neugierig.

Mit paffenden Zügen wurde die Zigarre in Brand gesetzt, dann kam es gleichgültig zurück:

»Mm, ganz nett ...«

»Ich weiß ja, daß ein so sichrer Künstler wie Sie auf Lob und Tadel nicht viel gibt. Aber ich meine ... Verständnis ist doch auch etwas ... Habe ich Sie verstanden? Ihre künstlerischen Absichten ...?«

»Nee, aber dafür werden Sie ja auch nicht bezahlt.«

»So?« sagte der Kritiker betreten.

Thomas lachte:

»Ja, es ist ein schwerer Beruf, Herr Stolterfoot.«

In diesem Augenblick trat der »dämonische« Penzberger an den Tisch, ein sehr junger Mann, der darauf hielt, in seinem Äußern den Korrekten zu spielen, und mit etwas ärmlicher, aber diskreter Eleganz gekleidet war. Nur die ungesunde Gesichtsfarbe und die unsteten, tiefumschatteten Augen sprachen von »Nachtseiten« seiner Natur oder schlechter Ernährung.

Er begrüßte Wackern und Thomasen mit schlaffem Händedruck: Herrn Stolterfoot schien er nicht zu bemerken.

»Sind Sie mir böse?« fragte dieser auch ihn.

»Ich kenne Sie nicht,« erwiderte Penzberger kühl, dann setzte er sich und wendete sich an Thomasen: »Was halten Sie vom Kritikerberuf?«

»Mm ja ...?« Thomas wurde ein bißchen verlegen.

»Ich wundre mich nur,« sagte Penzberger, »daß Leute, die dies Handwerk betreiben, nicht auch die Konsequenzen daraus ziehen. – Der Schinder im Mittelalter pflegte ja auch draußen vorm Stadttor zu wohnen ...«

Stolterfoot erhob sich. Ein peinliches Schweigen herrschte an dem Tische. Aber der gekränkte Kritiker ließ die Schultern wieder nach vorn sinken, schüttelte ergeben den Kopf und sagte:

»Ich will die Herren nicht stören. – Pepi, zahlen!« Dann zog er den Havelock an, stülpte den Schlapphut über seine Glatze und ging, gebeugt und dennoch durch so viel Haß in seinem Selbstbewußtsein gehoben, langsam dem Ausgange zu.

»Sagen Sie, Herr Penzberger, schreiben Sie eigentlich noch die Münchner Kunstberichte für die Rheinische Zeitung?« fragte Wacker sanft.

»Leider! Essen muß der Mensch schließlich. Ich hab aber wenigstens das Bewußtsein, wie niedrig diese aufgezwungne Tätigkeit ist.«

»Na ja, das ist immerhin schon ein Vorzug,« so tröstete ihn Wacker.

Zwei Damen und zwei Herren gingen vorüber. Die Herren grüßten, und einer von ihnen kam zu den Malern an den Tisch.

»Na, heute so elegant, Herr Volker?« fragte Thomas.

Volkers rasiertes Komödiantengesicht zog sich lächelnd in die Breite; er sah an seinem schäbigen Gehrock hinunter und sagte:

»Ja, der war einmal sehr teuer. – Ich hab heute den Grafen Traft zu spielen g'habt. Eine fade G'schicht, so eine Premiere: da muß man sich schminken.«

»Das ist doch die Rose Karrar?« fragte Penzberger interessiert. »Rassiges Weib! Hab sie neulich in der Wildente gesehn.«

»Kommen Sie doch mit nüber!« sagte Volker.

»Lassen Sie sich nicht abhalten,« sagte Wacker, »ich wollte heute sowieso früher nach Hause.«

»Ach nein, gehn Sie doch mit,« bat Volker, »die Damen haben schon so viel von Ihnen gehört ...«

»Nee, ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie meine Witze in Ihren Kreisen kolportieren, aber das können Sie doch nicht verlangen. Ich mag keine Theaterweiber.«

»Ja, die Alte sieht bös aus,« fand Thomas.

»Ist das die Rosée?«

»Nee,« sagte Wacker überzeugt, »ich find die Junge viel ekliger.«

»Alles bloß Vorurteil,« lachte Volker. »Wenn ein Mensch keine Theaterweiber mag, bin ich's. Aber die Roserl is wirklich ein netter Kerl.«

»Und dann sitzt auch der Kitschier dabei, der Niedermayr ...«

»Der beißt uns nicht,« so beruhigte Thomas Wackern. »So ein harmloses Tier!«

»So schöne Männer sind mir unappetitlich. Sehn Sie bloß, wie der Kerl sich anzieht.«

»Ist doch tadellos angezogen, und durchaus nicht auffallend.«

»Er sieht wie ein Bereiter aus. Nee, ich geh nicht mit. Aber lassen Sie sich nur nicht abhalten. Ich wär doch gleich gegangen.«

»Die andern Herren kommen dann aber sicher nüber?« fragte Volker dringend, »es kommen vielleicht noch mehr Leut: die schöne Frau Chottak hat's eigentlich versprochen; auch der Sieben will kommen.«

»Die eklige Chottak?« fragte Wacker.

»Was? Die schönste Frau von München ...?«

»Ich hab, wenn ich sie anseh, so'n Gefühl, als müßte man mit der Hand durch sie hindurch greifen können, wie durch nen Haufen Kleister.«

»Je, Sie sind bös!« Mali, die von ihrem Sitzplatz an der nächsten Säule aus gehorcht hatte, gruselte sich.

»Damit bringen Sie mich auf eine Idee!« rief Penzberger und begann mit weit aufgerissenen Augen zu brüten.

»Radieren Sie doch gleich einen Zyklus über diese Idee,« schlug Wacker freundlich vor.

»Also Sie kommen dann bestimmt?« fragte Volker noch einmal und begab sich zu seiner Gesellschaft, der er sofort Wackers schönen Vergleich erzählte: das merkte man an der entsetzten Heiterkeit der Damen und an Niedermayrs blasiertem Achselzucken.

*

Als Wacker aufgebrochen war, gingen Thomas Kerkhoven und Penzberger an den Schauspielertisch hinüber.

»Schade, daß sie Herrn Wacker net mitbracht haben! Er soll ja so ungeheuer witzig sein,« sagte die Rosée, nachdem die Herren vorgestellt waren.

»Sinds froh, Rosinerl!« lachte Niedermayr. »Mit dem hättens was erleben können! Ein Mundwerk hat Ihnen der uhnsympattische Mensch! Sie 'ntschuldigen schon, meine Herrn; aber ich kann den Menschen net leiden. Und was der Pappstoffel, der Stolterfoot, heut in die Neusten für ein Gered von ihm daherg'macht hat. Jetzt wird er gleich gar nimmer zum haben sein. Er is ohnedies schon so arrogant, wie ich weiß net glei wer.«

»Wie war doch Ihr Name?« fragte die Rosée Penzbergern.

»Penzberger. – Leider!«

Rose Karrar lieh den Strohhalm, durch den sie ihren Eiskaffee sog, fahren und sah mit lustig blitzenden Augen auf.

»Sind Sie der mit die Radierungen – oder was es sind – in der Sezession?«

»Ja,« bestätigte er geschmeichelt, »haben sie Ihnen gefallen?«

Sie machte ein komisch nachdenkliches Gesicht.

»Ja ... ja ... Sie nickte lächelnd. »Das heißt ... zum gefallen sind's wohl eigentlich net so recht. – Gegraust hab ich mich fest ...«

Penzbergern genügte das.

»Also sie wirken? Sie lassen jedenfalls nicht gleichgültig?«

»Im Traum können s' ei'm vorkommen!«

»Ja, ja ... Es sind ja auch eigentlich Träume ...«

»Jessas na, von solchen Sachen träumen Sie? Da müssen S' einen unruhigen Schlaf haben!«

»Das heißt ...«

»Und ich hätt glaubt, das hätten Sie sich alles bloß so ausgedacht.«

Thomas lachte auf. Diese kleine Schauspielerin war gar nicht so dumm.

Auf einmal sagte die Rosée zu Thomasen, der im Begriff war, sich eine Zigarette anzuzünden:

»Nein, was Sie für ein schönes Zigarettenetui haben! Darf ich's einmal anschaun?«

»Bitte sehr.«

Sie drehte das goldne Etui mit dem russischen Emailmuster bewundernd in ihren Händen.

»Nein, is das schön! Schau doch, Rose!«

Die Karrar bewunderte es gleichfalls.

»Ich bin nämlich Kennerin,« wendete sich die Rosée an Thomasen.

»Ähemm!« krächzte Volker ironisch, und Rose lächelte belustigt.

»Ich hab eine Sammlung von Zigarettenetuis ...«

»Aber nur aus edeln Metallen,« erläuterte Volker.

»Eins hab ich, das wär beinah ein Pendant zu dem Ihren. Ich hab es von einem ungarischen Grafen ... Ach ja, damals in Budapest, das war mein schönstes Engagement. Das sind wirklich feine Kavaliere, diese Ungarn. Denkens, ich hatte das Etui eines Abends bewundert, und am nächsten Tag schickt es mir der Graf zu, bis an den Rand voll Goldstücke!«

»Respekt!« sagte Volker und grinste. »In welchem Jahr wär denn das gewesen?«

»Ach, da möcht ich gleich wieder hin!«

»Geh, bleib da! Deine Magnaten sind ja derweil gestorben oder vor Altersschwäche vertrottelt.«

»Du, Volker, übertreib fei net. So lang is das auch net her. Tu nur net gleich, als ob ich achzig Jahr wär!«

»Ach Gott,« seufzte Volker, »ich wollt, ich wär erst ein alter Trottel und über die verliebten Zeiten hinaus!« Er warf einen düster schmachtenden Blick zur Karrar hinüber, die ihm lächelnd eine lange Nase drehte. – Das goß neue Hoffnung in Niedermayrs Herz.

»Fräulein!« schrie er.

Die Kellnerin kam.

»Zwei Flaschen Pommery extra dry

Penzberger kaute an seinen Nägeln und boste sich darüber, daß gerade immer die Kitschiers Geld für Pommery übrig haben mußten. Volker flüsterte Thomasen ins Ohr:

»Ach wissen S', Sie könnten mir einen großen Gefallen tun. Pumpen Sie mir bis zum Ersten fünfzig Emm.« Er nahm das Geld heimlich unter dem Tisch in Empfang und ließ es unauffällig in seine Westentasche gleiten. »Stellen S' gleich auch für mich zwei Flaschen kalt!« rief er der Kellnerin zu, als die mit den Gläsern kam.

»Welchen Juden hast denn du erschlagen, schöner Ferdl?« erkundigte sich die Rosée.

»I, wo werd ich denn ...? Nichts gegen Glaubensgenossen!« beteuerte Volker, die Hand auf dem Herzen. »Prost, meine Herrschaften!«

Als der Champagner die Tafelrunde schon in den Nebel einer vergnügten Blödsinnigkeit gehüllt hatte, erschien das Ehepaar Chottak. Die schöne Frau Thessa wurde mit einem verhaltnen Grinsen empfangen. Alle mußten an den Kleisterhaufen denken, mit dem Wacker sie verglichen hatte. – Es interessierte sie lebhaft, Penzbergern kennen zu lernen, und der freute sich des dankbaren Publikums, das er an ihr fand. Sie begleitete die Erzählung seiner gruseligen Jugenderinnerungen mit leichten hysterischen Lachschreien und lud sich alsbald für den nächsten Nachmittag auf sein Atelier ein, wo sie eine Anzahl Radierungen ansehen wollte, deren Sujets für eine öffentliche Ausstellung zu heikel waren.

Ihr Mann, der Rechtsanwalt Doktor Chottak, ein auffallend grobknochiger, viereckig gebauter Herr, dessen hellblonde Haare in einer harten Bürste nach oben strebten, saß schweigsam am Tische, trank viel und wand seine Hände ineinander, daß die Knöchel knackten. Er musterte die Gesellschaft mißmutig, mit Augen, die plötzlich zu einem phosphoreszierenden Blick erwachten, um gleich wieder matt zu werden und sich nach innen zu wenden. Von Zeit zu Zeit blies er über die vorgestreckte Unterlippe in seinen Schnurrbart, daß die borstigen Haare flatterten.

Die Rosée und Niedermayr erzählten sich halblaut schmierige Anekdoten. Volker sah, den Kopf zwischen den Schultern, schlaff und mit rundem Rücken, das Komödiantengesicht in sentimentale Gramfalten gelegt, und stierte zur Karrar hinüber, die seine schwimmenden Augen vermied und es Thomasen durch kaum bemerkbare Bewegungen ihres Kopfes und der Schultern zeigte, daß sie diesen unglücklichen Liebhaber lächerlich fände, aber an seinem auffälligen und lästigen Benehmen nichts ändern könnte.

Und Thomas fühlte bei diesem heimlichen Einverständnis mit dem hübschen, lebensvoll anmutigen Mädchen eine wohlige Wärme in sich aufsteigen.

»Ich würde Sie furchtbar gern einmal malen, Fräulein Karrar,« sagte er plötzlich.

Sie maß ihn mit einem schnellen Blick.

»Ich bin oft gemalt. Aber ich hab so wenig Zeit. Die vielen Proben ...! Haben Sie das Bild im Glaspalast net g'sehn, was der Niedermayr von mir g'macht hat?«

»Ja; das ist aber nichts,« flüsterte er mit lachenden Augen, »da wüßte auch kein Mensch, daß Sie das sein sollen, wenn's nicht im Katalog stünde?«

»Finden Sie's net ähnlich? – Ach, Sie wollen mich wohl recht wüscht malen?«

»Kommen Sie doch mal auf mein Atelier und sehn Sie sich meine Bilder an.«

»Ja, ich komm vielleicht einmal gelegentlich mit Rosinerl.«

»Is die so ne Kunstkennerin?« fragte Thomas mit einem Blick, der zugleich lächelte und drängte.

»O nein, Sie täuschen sich, mein Herr!« lachte Rose Karrar auf, ohne jedoch im geringsten gekränkt zu sein. »Von der Sorte Schauspielerinnen bin ich net; und die sind überhaupt net so häufig, wie Sie vielleicht meinen.«

»Aber gnädiges Fräulein, ich wollte doch wirklich nicht ...«

»Ja, ja, die Kunstmaler ...« sagte die Karrar mit komischem Pathos.

»Also, und wann kommen Sie mit Rosinerl, dem Anstandswauwau?«

»Ach, nächstens einmal.«

»Das ist ein dehnbarer Begriff. Sagen wir: morgen!«

»Morgen? Ja, schließlich ... Es ging' schon ... Wir haben keine Probe. – Wo ist denn Ihr Atelier?«

»Kaulbachstraße siebzehn.«

»Wär's Ihnen recht, wenn wir vormittags kämen?« So gegen zwölf ...?«

»Natürlich, dann können wir vielleicht nachher irgendwo zusammen essen.«

»Na ja, das sehn wir dann nachher schon!«

»Also, morgen gegen zwölf!«

*

»Na, wie ist es Ihnen gestern bekommen?« fragte Rose Karrar Thomasen, als er ihr und der Rosée die Tür öffnete.

»Danke sehr. Heute früh beim Aufwachen ein kleiner Brummschädel ... Ist schon wieder vorbei. Und Ihnen?«

Rose fuhr mit dem Handrücken an ihrer Stirn vorüber.

»Heut müßt ich, glaub ich, ein gutes Modell für den Herrn Penzberger sein. Wenn ich so interessant ausschau, wie ich mich elend fühl ...«

»Mir fehlt gar nix,« stellte die Rosée fest.

»Wollen die Damen nicht ablegen? Ich hab für alle Fälle eine Flasche Sherry und einen kleinen Imbiß bereitgestellt.«

»Eine famose Idee!« sagte die alte Schauspielerin billigend und steuerte durch die offne Ateliertür auf den gedeckten Frühstückstisch zu.

Vormittags hat der Alkohol eine schnellere Wirkung als am Abend. So entstand bald jene vergnügte Katerstimmung, die gleichsam das Erdengewicht des Menschen aufhebt; die Organe für Ernst und Sorgen sind gelähmt, die sinnlose, panische Heiterkeit kann frei dahinströmen, weil die bretternen Schleusen der Vernünftigkeit aufgezogen sind.

Als man eine halbe Stunde beim Frühstück saß, klingelte es; der kleine Diener meldete Herrn Volker, dessen Erscheinen mehr Thomasens als der Damen Verwunderung erregte. Sein breit lächelndes Gesicht paßte übrigens gut in diese Stimmung: doch bei ihm war sie die herrschende seines Daseins.

»Na, Ferdl, hast es wohl gerochen, was es hier für gute Sachen gibt?« So begrüßte ihn die Rosée.

»Sie entschuldigen schon, daß ich so frei bin,« sagte Volker, »aber ich interessier' mich so für Bilder. Und wie ich gehört hab', daß die Damen hergehn ...«

»Von wem hast denn du das gehört?« fragte die Rosée.

»Na, gestern abend ...!«

»Er hat geübte Ohren,« stichelte Rose Karrar, »vom Souffleur her.«

»Ja, wenn ich meine Rollen auch noch lernen wollt', na käm ich ja zu nix anderm mehr, vor lauter Theater. Das könnt mir abgehn!«

Der kleine Diener wurde gerufen und brachte ein frisches Gedeck.

»Ausgezeichnet ist der Sherry,« sagte Volker nach dem ersten Schluck. »Daß Sie einen guten Weinkeller haben, hab' ich übrigens schon gwußt, wie ich noch gar net in München war. Was glauben S', wer mir das verraten hat?«

»Keine Ahnung.«

»Ein Kolleg' von mir in Frankfurt an der Oder. Appeltoft heißt er.«

»Mein Vetter August?«

»Ja, der Appeltoft. Sagen S', is das eigentlich wahr, daß der einmal Kunstmaler gewesen is?«

»O ja, jahrelang. Aber er kam nicht recht vom Fleck dabei. Er tat zu wenig. Und da spielte er hier einmal im Akademisch-dramatischen Verein mit – irgendwas von Ibsen, glaub ich –, dabei entdeckte er sein Schauspielertalent.«

»Ja, er ist ein ganz talentierter Mensch,« nickte Volker, »noch ein bissel anfängerhaft war er damals zwar, aber Bombenmittel hat er gehabt. – Mehr so alte Schule,« wendete er sich erläuternd an die Kolleginnen, »Stil Matkowsky.«

»Pfui, wie eins den Kaviar nur so ohne Brot hineinschaufeln mag!« ermahnte ihn die Rosée.

»Bist mir am End neidig, Rosinerl?« fragte Volker unbeirrt. »Sagen Sie mal, Herr Kerkhoven,« fuhr er dann fort, »wo steckt der Appeltoft denn jetzt? Wenn ich mich recht erinner, ging er nach Berlin?«

»Ja, aber bloß ans Ostendtheater. Da hat er in einer Saison Hundertfünfzigmal einen Pfalzgrafen geben müssen, der im letzten Akt lebendig verbrannt wurde. Und das war ihm zu eintönig. Jetzt ist er am Hoftheater in Altenburg.«

Rose Karrar lehnte faul in ihrem Armstuhl und sagte nichts. Thomas ließ seine Augen auf ihr verweilen ... Es war nicht nur das Interesse des Malers, was seinen Blick fesselte. Die kräftige Anmut, die dieses Mädchen hatte, und gerade in den Augenblicken, wo sie sich gehen ließ ...! Sie streckte sich wohlig, diskret, aber ungeniert, und sah entzückend aus, wie sie so das Kreuz hohl machte, die Brust wölbte und die Ellenbogen langsam rückwärts und abwärts drückte. Dann sank sie wieder in süßer Schlaffheit zurück; ihre Augen sahen träumerisch durch das große Fenster hinaus, über Dächer mit rauchenden Schornsteinen hinweg in den bleigrauen Himmel, auf dessen dunkelm Grunde die Häuser seltsam hell standen, in gelblichem Licht.

»Sie haben ein famoses Profil,« sagte er. Seine Stimme klang sonderbar unfrei.

Aha, eitel ist sie doch, lächelte er in sich hinein, als sie ihm jetzt mit einem lebhaften Ruck ihr Gesicht zuwendete und fragte:

»Finden Sie wirklich? Ich weiß net ... Kein sehr edles Profil hab ich wohl net ...«

»Ach, edel ...! Ich male Sie ganz bestimmt im strengen Profil; das ist sicher das beste an Ihnen.«

»Na, ich dank schön!« lachte sie.

»Bitte, wenn ich das sage, so bedeutet das sehr viel.«

»Ich hoffe, das beste an mir is mein Talent.«

Er verneigte sich lächelnd:

»Ich bin überzeugt davon! Nämlich, ganz aufrichtig gestanden, ich hab Sie noch nie spielen sehen.«

»Was?« rief sie verblüfft.

»Ich werde dies Verbrechen aber in Zukunft wieder gut machen.«

»Komische Leute, diese Kunstmaler,« so mischte sich Volker ein, »die meisten, die ich kenn, mögen ums Verrecken net ins Theater. Höchstens einmal in was Lustiges. Aber ernste Stücke ... Nein!«

Rose stand auf und schlenderte durch das Atelier. Hie und da blieb sie vor einem Bilde stehen. Thomas folgte ihr und beantwortete ihre Fragen, die naiv waren, aber von einem gewissen natürlichen Geschmack zeugten.

»Fräulein Karrar,« sagte er auf einmal, »darf ich nicht gleich mal versuchen, Sie zu zeichnen? Eine flüchtige Skizze bloß! Ganz schmerzlos!«

»Wenn Sie wollen ...«

»Dann setzen wir uns vielleicht da hinein.« Er wies auf einen kleinen Nebenraum, eine Art Erker, zu dem zwei Stufen hinaufführten. »So, wenn Sie sich da in den Stuhl setzen wollen, ganz ungezwungen, bitte. Lehnen Sie sich nur zurück! – Der Stuhl ist bequem, was? – Nach eignen Angaben gebaut. – – So, und jetzt sehn Sie zum Fenster hinaus! Famos!« Er stemmte den Zeichenblock auf seine Kniee, musterte Rosen nachdenklich und begann zu zeichnen.

»Kann man schon was sehen?« fragte sie, als er nach einer Weile innehielt.

»Nein, es ist noch nichts. – Sie brauchen übrigens nicht zu sitzen wie beim Photographieren. Es ist mir lieber: Sie sprechen. Nur im allgemeinen die Stellung müssen Sie beibehalten.«

»Also ... ja ...,« lachte sie auf, »wenn man so durchaus soll, dann fällt einem grad nix ein.«

Volkers krumme Gestalt erschien plötzlich auf den Stufen.

»Ach, der Meister is schon bei der Arbeit! Derf man ein bissel zuschaun?«

»Es ist mir lieber, wenn Sie mir nicht auf die Finger sehen,« sagte Thomas und zog den Block an seine Brust.

»Ich will durchaus net stören. Dann geh ich wieder und unterhalt mich mit Rosinerl. Und mit Ihrem Sherry.«

Volker verschwand. Thomas und Rose setzten das unterbrochne Gespräch nicht fort. Er vertiefte sich wieder in seine Arbeit.

Endlich ließ er den Bleistift sinken, hielt den Block ein wenig von sich ab und verglich seine Zeichnung mit dem Modell.

»Fertig?« fragte Rose. »Darf ichs einmal sehn?«

»Sie werden kaum befriedigt sein.« Lächelnd reichte er ihr die Skizze und sah sie gespannt an. Ein überraschtes Zucken ging durch ihr Gesicht, dann begann sie ihr Porträt mit ernsthafter Miene zu studieren.

»Nun?« fragte er.

»Schau ich wirklich so aus?« war ihre Antwort.

»Tja ...« Er zuckte die Achseln.

»Sie dürfen mich aber nachher wirklich eine Idee hübscher machen. Das heißt ... Es braucht drum ja net gleich uninteressant werden ...«

»Nein,« sagte er plötzlich, »der Mund ist noch gar nichts. – Aber das wollen wir gleich haben.« Er nahm ihr den Block fort, zog ein Stück Gummi aus der Westentasche und radierte die ganze untre Hälfte des Gesichtes weg. »Ach bitte, noch einen Moment ...! So ...! – Das Kinn etwas höher! – Nicht so viel! – So ist es grade richtig. – Halt! Bleiben Sie!« Er begann wieder zu zeichnen, angespannt vergleichend, Gesichter schneidend und den Mund, den er treffen wollte, mit seinen Lippen nachformend.

Es war nichts zu hören als ihre Atemzüge, die die gezwungne Haltung beschleunigte, und das hastige Kritzeln seines Bleistiftes. Von Volkern und der Rosée drang nur von Zeit zu Zeit ein leises Tuscheln herüber. Sie mochten sich Geschichten für Junggesellen erzählen ...

*

Thomas saß vor Rosens Porträt, das eigentlich fertig war. Heute sollte sie zu der letzten Sitzung kommen; und die war auch nur ein Vorwand für ihn, sie noch einmal bei sich sehen zu können. Viel ändern konnte er an dem Bilde nicht mehr, wenn schon es seinen ernüchterten Augen wenig gefiel. Schaffen ist ein Rausch, der bösen Katzenjammer bringt ...

Rose war in einem tief dekolletierten Empirekleide dargestellt, das sie sich noch in Graz für die Rolle der Madame Sans-Gêne hatte machen lassen. Sie lehnte in einem Armstuhl aus der Zeit Ludwigs des Sechzehnten, hielt die Hände locker unter der Brust gefaltet und sah dem Beschauer träumerisch, ja ein wenig melancholisch, in die Augen.

Thomas hatte oft innerlich darüber lachen müssen, mit welcher Sicherheit sie jedesmal diesen Ausdruck zu finden wußte, sobald sie sich in Positur gesetzt hatte. Sehr sympathisch däuchte es ihn nicht, daß sie ihr Gesicht so in der Gewalt hatte; eben, weil sie es war.

Und aus diesem Grunde war noch ein zweites in das Bild hineingekommen: ein Quentchen Ironie, das die Stimmung zerstörte und gleichsam sagte: Diese junge Dame ist durchaus nicht so melancholisch, wie sie tut; es ist halt eine kleine Schauspielerin, die Melancholie mimt, und zwar mit einer etwas konventionellen Theatralik, die dich, verehrtes Publikum, wohl kaum foppen dürfte. Der einzige Gefoppte ist hier der ergebenst gefertigte Künstler, der die junge Dame so verteufelt ernst nahm. – Ganz so dumm, wie er danach aussehen könnte, ist er übrigens nicht. Und das möchte er hiermit ausdrücklich betont haben.

Das Bild war ein Ausdruck der Zwiespältigkeit seiner Gedanken über Rosen und seiner Gefühle für sie.

Thomas erhob sich und begann unruhig auf und nieder zu gehen.

Ein sonderbarer Kerl war er doch! Aus der einen Seite gar zu bereit, auf alles zu »fliegen«, worauf die Dummen hereinfallen, und andrerseits tief innerlich mißtrauisch, mißtrauisch vielleicht ganz besonders gegen das Echte, an andern und an sich selber. – Und warum grübelte er jetzt über die Natur seiner Gefühle nach? Rose war doch die erste nicht ... Und was verschlug's, wenn auch hier auf die Eroberung die Ernüchterung folgte! Er hatte doch sonst nicht so lange hin und her überlegt, wenn er in ein Mädel verliebt gewesen war. Sollte es diesmal wirklich die »berühmte« Liebe sein, die sogenannte »große Liebe«, von der man in Büchern las ...? Gab es die denn in Wirklichkeit noch, und hatte es sie überhaupt jemals gegeben ...?

Würde für ihn hier zum erstenmal auf die Leidenschaft kein Katzenjammer folgen ...?

»Wart's ab, mein Sohn!« sagte Thomas laut zu sich selber. Etwas frivol sagte er es, warf den Kopf flott auf die Seite und ging, die Hände tief in den Jackettaschen, zum Spiegel, in dem er sich eine Zeitlang aufmerksam studierte. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und schlenderte mit wippenden Schritten über den Teppich, wobei er sich unwillkürlich bemühte, immer wieder auf die gleichen Ornamente zu treten.

So oder so, die Sache muß ein Ende haben! sagte er energisch in sich hinein. Das ist kein Zustand, würde der gute August sagen. Diese ewige Bummelei mit der ganzen Komödiantenblase habe ich gründlich satt. Das süße Rosinerl hat mein Zigarettenetui jetzt glücklich; aber das ist doch wahrhaftig kein Grund, daß ich ihr bis an mein Lebensende jeden Abend einen Haufen Sekt bezahle, um sie als Beilage zu Rosen genießen zu dürfen. Niedermayr bezahlt seinen Sekt zwar selbst, aber auch daran ist mir nicht viel gelegen. Und daß mich der wackre Volker schon ganz als unglücklichen Liebeskollegen ansieht und deshalb Bruderschaft mit mir getrunken hat, wird meine Entschlüsse auch kaum zu ändern vermögen.

Da ließ ihn der tröpfelnde Metallton der elektrischen Glocke zusammenfahren. Recht wie ein sehr junger Verliebter sprang er in ein paar Sätzen durch das Atelier in den Flur hinaus.

Er hatte die Tür schon aufgerissen, bevor der phlegmatische kleine Diener sich zeigte.

»Was! Heute ohne Anstandswauwau?« begrüßte er Rosen erstaunt und freudig.

Sie schüttelte ihm lachend die Hand.

»Es derf Ihnen fei net unangenehm sein!«

»Im Gegenteil!« sagte er, vielleicht etwas zu lebhaft, denn sie hob scherzhaft abwehrend die Hand.

»Bilden Sie sich bloß keine Schwachheiten ein, Herr Kunstmaler! Rosinerl hat nämlich ein bisserl Influenza und muß im Bett bleiben. Aber wenn sie auch fern ist, ihr Geist wacht über mir.« –

Rose hatte ihre Handschuhe ausgezogen und den großen, schwarzen Hut abgenommen. Jetzt lockerte sie mit der Hutnadel ihre Haare über der Stirn: das war eine Bewegung, die er an ihr kannte und liebte, weil sie so ausgesprochen weiblich und von einer gewissen Komik war, die für ihn etwas Rührendes hatte.

»Haben Sie seit gestern noch was an dem Bild getan?« fragte sie.

»Keinen Strich. – Aber lassen Sie sich doch mal anschaun! Ich weiß ja gar nicht, wie Sie ohne die Rosée aussehn.«.

» Ach ...!« sagte sie, »ich weiß gar net, was Sie gegen die Rosinerl haben?«

»Nicht das geringste. Namentlich, wenn sie Influenza hat!«

»Mein Gott, Rosinerl hat ja viele unangenehme Eigenschaften ... Ja, eigentlich ist sie wohl ein rechtes Ekel.«

»Weiter hab ich auch nichts an ihr auszusetzen,« pflichtete Thomas ihr ernsthaft bei.

Sie mußte lachen und errötete leicht.

»Ich meine,« so fuhr sie dann schnell fort, »weil sie so habsüchtig und geizig is ... Und ich darf bald nix mehr tun, ohne sie um Erlaubnis zu fragen. Sie is so herrschsüchtig ... Aber, mein Gott, was will ich denn machen? Ich allein ...! Wenn sie net mit ging, käm ich ja überhaupt gar nie unter Menschen. Und wenn mans anders anschaut: ich war ja noch so dumm, wie ich nach München gekommen bin, ganz ohne jede Erfahrung und so unpraktisch. Manchen guten Rat verdank ich ihr doch. Sie hat ja natürlich viel Erfahrung ...«

»Waren das wirklich so gute Ratschläge?« fragte Thomas eindringlich.

»Ich weiß schon, wie Sie's meinen. Aber gut war'n sie schon. Ob sie so sehr »schön« und »edel« war'n, dös is ja eine andre Frag. Aber wohin kam man damit, wenn eine ein armes Mädel is, und wenn man beim Theater solche Kolleginnen hat, wie zum Beispiel die Weller? Wenn Rosinerl net wär, hätt ich vielleicht überhaupt noch nie eine größere Rolle zu spielen bekommen. Sie hat mir erst gesagt, wie ich den Direktor anfassen muß.«

»Und die Männer überhaupt ...? Denn darin hat sie wohl die meiste Erfahrung?«

»Ach, Herr Kerkhoven, das sagen Sie so. Unsereine lernt das wahrhaftig früh genug, wenn eine net dumm is und ein anständiges Mädel bleiben will.«

»Anständig oder unanständig wird eine Sache nur dadurch, wie man sie tut.«

»Möchten S' denn jetzt net anfangen?« fragte sie.

»Ja, fangen wir an! Bitte!« Er wies auf die Tür des Nebenzimmers.

»Was? Muß ich mich umziehn?« fragte sie verwundert. »Ich hab mir gedacht, Sie wollen bloß noch am Kopf was machen?«

»Nein, die Schulter da sitzt noch gar nicht, hab ich nachträglich gesehn; die rechte Schulter wackelt bedeutend.«

Sie sah ihn zweifelnd an und lächelte ein bißchen ironisch.

»Fürchten Sie sich am Ende vor mir?« fragte er; es sollte scherzhaft klingen, kam aber gezwungen und heiser heraus.

»Ja, net wahr, so schau ich aus?« erwiderte sie mit hellem Lachen und machte ihm eine lange Nase und lief ins Nebenzimmer.

Er stand und schämte sich. Warum eigentlich? – Schön, er hatte eine Dummheit gesagt, eine Geschmacklosigkeit vielleicht! Aber gab es einen Menschen, dem das nicht manchmal passierte? Was war er denn besondres, daß er so viel daraus machte?

Wie wenig er es doch verstand, seine Gedanken und Gefühle zu verbergen! Für den fremden und oberflächlichen Beobachter besaß er diese Kunst freilich. Er galt bei vielen wegen einer gewissen Schüchternheit und Gefühlskeuschheit für einen verschlossenen Menschen. Aber er wußte genau, daß jedes schärfere Auge ihn leicht durchschaute.

Und so sehr er sich jetzt bemühte, seine Gedanken zu verstecken – er sah Rosen nur mit einem halben Seitenblick an, als sie umgekleidet ins Atelier trat –, sie erriet sie sofort. Ein kleiner Schauer überlief sie. Sie trat auf das Podium, setzte sich in den Louis-Seize-Stuhl, faltete die Hände unter der Brust und schaute mit träumerischem Ausdruck ins Leere.

»Is so recht?«

Er nahm die Palette und die Pinsel zur Hand.

»Den linken Arm etwas ungezwungner, bitte! Die Hände etwas höher! So, und spreizen Sie den kleinen Finger nicht so weg!«

Er sagte das kurzatmig und sah sie jetzt voll an, mit Augen, in denen er das Blut klopfen fühlte. Zum Schein des Gerechten schickte er seinen Blick manchmal zu dem Bilde hinüber, als stelle er Vergleiche an. Dann bückte er sich mit einem Seufzer und holte aus dem Farbenkasten eine große Tube mit Weiß, die er mechanisch aufschraubte. Was er eigentlich tat, merkte er erst, als er die Tube leer in seiner Hand fühlte und sah, daß die Farbe sich auf der Palette zu einem kleinen Berg aufgetürmt hatte.

Na ja, dachte er, da haben wir die Ferkelei! Wenn ich in der Weise weiter mache, kann ich das Bild schön verpatzen! – Und mit entschlossener Miene legte er sein Malgerät auf den Farbenkasten.

»Nun?« fragte Rose.

»Ach was!« stieß er hervor. »Warum tun Sie eigentlich immer so ...? Wenn ich dabei noch das Gefühl hätte, daß ich Ihnen gleichgültig wäre ... Aber das habe ich nicht. Und jetzt erklären Sie mich bitte für einen eingebildeten Hanswurst!«

Sie machte ein betrübtes Gesicht und ließ ihre Hände sinken; mit kraftlosem Ausdruck lagen sie auf den Armlehnen. »Mußte das denn kommen?«

»Es hat wohl müssen.« sagte er mit einer Bewegung, als wäre sein Jackett ihm unbequem.

»Lieber Herr Kerkhoven, nun war alles so gut und so nett und so schön. Und nun kommen Sie auch so ... Soll jetzt das alles vorbei sein?«

»Selbst auf die Gefahr hin ... Obgleich ... Sie haben ja ein ganzes Gefolge von Mannsleuten, die Ihre Körbe geduldig hinter Ihnen hertragen ... Aber haben Sie keine Angst, ich werde dies Gefolge nicht vergrößern. Sie brauchen bloß ein Wort zu sagen, und Sie sind von meiner Gesellschaft befreit.«

»Das würde mir sehr leid tun.«

»Rose!« sagte er mit zitternder, beinahe zorniger Stimme und umfaßte ihre Handgelenke und hielt sie fest, trotz ihrer Bemühungen, sich los zu machen. »Rose! Warum ...?«

»Was?« fragte sie tonlos, mit schmerzlich weiten Augen.

»Rose, ich weiß doch ... Sie ... Ich weiß doch, daß ich ... daß ich Ihnen nicht gleichgültig bin!«

»Und darum ... darum soll ich alles vergessen?«

»Rose, es gibt Situationen, wo man alles vergißt!«

Ein wehmütiges, ironisch verstehendes Lächeln schlich über ihr Gesicht.

»Das sagen Sie. – Wo käm ich dabei hin?«

»Rose, wenn Sie so etwas sagen, hör ich immer die Rosée sprechen. Sind Sie denn nicht frei? Können Sie nicht tun, was Sie wollen? Wenn jeder in jedem Augenblick so rechnen wollte ...! Man lebt nur einmal. Und das bißchen Glück ist leicht versäumt ...«

Sie schüttelte leise den Kopf. – Er sagte:

»Sie werden's sehen! Es wird auch über Sie kommen. Liebe zerbricht die klügsten Prinzipien.«

»Die meinen net!« Sie warf aufatmend den Kopf zurück. »Lieber Gott, Liebe ...! – Liebe is ein Luxus, den sich unsereine net leisten kann. Und Gott sei Dank ist Liebe ja net das einzigste im Leben.«

»Sondern ...? – Die Kunst, nicht wahr?« fragte er höhnisch.

»Mein Gott, ja ... Mir is mein Beruf, Gott sei Dank, doch auch etwas.«

»So ...? Glauben Sie denn, es wird Ihrer Kunst schaden, wenn Sie die Liebe kennen lernen? Oder?«

»Nützen gewiß net; das sind so Romanideen, lieber Herr Kerkhoven. Und dann ...« Sie machte eine hilflose Handbewegung. »Und dann ... Vielleicht brauch ich das ja gar nimmer kennen lernen, was ... was Sie Liebe nennen.« In ihrer Stimme klang eine hastige und kindisch trotzige Entschlossenheit.

Er knickte förmlich zusammen.

»So!« sagte er leise und leidend. »Ja, dann ...!«

Sie stand mit gesenktem Kopfe, ihre Lippen formten sich zu Worten, die nicht laut wurden. Sie sah ihn mit einem schnellen, unentschlossenen Blick an, worin Schmerz und Scham brannten. Auf einmal hoben sich ihre Schultern, als wollte sie sagen, es sei ja gleich; und trotzig und plump stieß sie die Worte hervor:

»Es war halt mein erster Direktor ...«

»Natürlich!« lachte er auf. »Aber aus Liebe, bewahre, da werfen Sie sich nicht weg.«

»Ich war damals ja noch so dumm,« sagte sie zaghaft und sah jetzt ganz wie ein kleines Mädchen aus.

»Im Gegenteil, Sie waren zu klug, viel zu klug. Ob aber solche Klugheit immer ihr Ziel erreicht ...?«

»Ich erreiche mein Ziel,« sagte sie fest, und fügte dann matt hinzu: »Wenn ich wegen dem einen auch auf vieles andre verzichten muß.«

»Nein!« rief er. Dieses Nein klang scharf. – »Sie haben wohl recht, Fräulein Karrar, wir passen doch wohl nicht zusammen.«

Einen Augenblick sah es aus, als wolle sie auf ihn zu, mit einem warmen, zitternden Wort. Aber sie machte dann nur eine überlegen bedauernde Bewegung mit den Armen und ging schnell ins Nebenzimmer.

Als sie nach einer Weile in ihrem Straßenkleide herauskam, stand er am Atelierfenster und sah nach den weißen Wolken, die sich im langsamen Vorüberziehen auf dem blauen Himmelsgrunde ballten und auflösten, wuchsen und vergingen ... Rosens Schritt stockte einmal, aber sie ging.

Er blieb noch lange so stehen. Stolz war er aber nicht auf sich ...

*

Am nächsten Tage begann Thomas nach langem Hin- und Herüberlegen einen Brief an Rosen abzufassen. Der hatte schon acht Seiten, als er ihn wieder zerriß, um einen neuen anzufangen. Schließlich war es ein ganz kurzes Schreiben, das er abschickte:

Liebes Fräulein Rose.

Sie haben Grund, mir böse zu sein. Ich bitte Sie, verzeihen Sie einem reumütigen Sünder, der trotz allem die Hoffnung nicht aufgibt, Ihr Herz noch einmal zu erweichen und Ihnen ein bißchen mehr zu werden, als er heute ist

Ihr herzlich ergebener
Thomas Kerkhoven.

So! dachte er, als er den Brief selbst in den Kasten gesteckt hatte, damit gehöre ich also auch zu der Garde ihrer Kanephoren: Niedermayr, Volker und Konsorten. Die werden ihr in der gleichen Situation wohl ungefähr ebenso abgeschmackte Briefe geschrieben haben.

Am nächsten Morgen brachte ihm Pepi Rosens Antwort ans Bett. Er musterte das Kuvert: nachgemachtes Büttenpapier, eine Schrift, die ihre Ungeübtheit hinter riesigen, dünnen, zurückfliegenden Zügen zu verbergen trachtete. Die breite Klappe des Kuverts war durch zwei aus grünem Papier gestanzte Glücks-Kleeblätter geschlossen. – Der Brief lautete:

München, den 27. 5. 95.

Werter Herr Kerkhoven,

Ich habe Ihr Schreiben von gestern dankend erhalten und teile Ihnen mit, daß ich Ihnen durchaus nicht böse bin. Es wird mir immer eine Freude sein, mit Ihnen in alter Freundschaft zu verkehren. Aber was das andre betrifft, so dürfen Sie es mir nicht in übel nehmen, daß ich Sie bitte, daß Sie nicht mehr das Gespräch zwischen uns auf derartige Sachen bringen. Sie müssen nicht glauben, weil ich Schauspielerin bin. Es gibt auch Ausnahmen! Und was ich Ihnen sonst noch unbedachterweise gesagt habe, das beweist noch gar nichts!! Man kann trotz und alledem ein anständiges Mädchen sein! Wollen wir all das begraben sein lassen und lassen Sie sich bald wieder sehn. Mittags im Café Heck. Die andern haben sich schon gewundert, wo Sie heute waren. Die machen sich, wenn ich nicht irre, verschiedne Gedanken. Angenehm sind ihre Sticheleien nicht!! Darum kommen Sie morgen bitte!! Und sagen Sie vielleicht, Sie haben Besuch aus Rußland gehabt.

Verbrennen Sie diesen Brief gleich!! Ihr Pepi ist gewiß sehr neugierig und braucht das ja nicht zu wissen.

Mit Gruß!
Rose Karrar.

Thomas ließ den Brief auf seine Bettdecke sinken.

»Was denkt sich die Gute nun dabei?« sagte er laut vor sich hin.

Aber diese Überlegungen hielten nicht lange an. Ein warmes Glücksgefühl durchströmte ihn, und es half nichts, daß er es dumm und sinnlos schelten wollte.

Er war doch sehr verliebt; mit tausend kleinen Widerhaken mußte sich dieses Gefühl in seinem Herzen verankert haben, weil die dürftige Gewißheit, Rosen wieder täglich sehen zu dürfen, in ihm eine so kindische Freude aufblühen ließ.

*

Am Abend dieses Tages saß Thomas wieder im gewohnten Kreise im Restaurant Hoftheater.

Rose war zufrieden mit ihm: er hatte es heute mittag und heute abend zustande gebracht, unbefangen und heiter zu erscheinen. Sie behandelte ihn dafür mit besondrer Freundschaftlichkeit; das weckte neue Hoffnungen in ihm und steigerte seine Stimmung.

Als das Lokal sich von andern Gästen schon ziemlich geleert hatte, wurde Sekt bestellt; und schließlich saßen sie ganz allein in dem weiten, öden Raume, wo nur noch über ihrem Tische zwei Gasglühlampen brannten und ihr grünliches Licht vergeblich in den Kampf mit der Finsternis ringsum schickten. Überall sonst standen die Stühle übereinandergestapelt auf den Tischen, – ein matt spiegelndes Liniengewirr.

Das hell beschienene Tischtuch sah wüst aus. Volker hatte einen melancholischen Rausch, der ihm besonders lähmend in die Hände gefahren war. Er hatte mindestens fünfmal sein Glas umgeworfen, und von seinem Platze zog sich ein feuchtgrauer Fleck mit langen Ausläufern über die weiße Leinwand und hauchte den Geruch von abgestandnem Sprit aus. Zigarrenasche, Zigarettenstummel, Kügelchen aus Staniol und halbe Semmeln lagen umher. Die Rosée war selig betrunken und lachte in einem fort ohne jede Veranlassung ihr trocknes und doch schmieriges Lachen. Konrad Sieben, der bekannte Dramatiker, der in letzter Zeit viel in dem Kreise verkehrte, trank viel und wurde dabei immer eifriger in dem theoretischen Vortrage über die Technik des Dramas, den er Volkern hielt.

Von Zeit zu Zeit warf der Dichter einen bösen Bulldoggenblick zu Niedermayrn hinüber, der auf Verlangen der Damen mit halber Stimme Chansons vortrug und ihn dadurch störte.

Thomasens Lustigkeit wich langsam einer trübseligen Stimmung. Er saß schweigend, den Kopf in die Hand gestützt.

Sollte er dieses Leben weiter führen, ohne ein Ende abzusehen? Sollte er Abend für Abend in diesem Kreise sitzen, der ihm nicht behagte, und mehr trinken, als ihm gut war, nur um sich munter zu erhalten? – Er sah sein Selbstgefühl und seine Hoffnungen langsam in diesem Fuseldunst ersticken, er sah seine innre Einsamkeit und Sammlung in dem plätschernden Gewässer dieser Gespräche ertrinken.

Sein Blick haftete grollend und heiß aus Rosen. Hätten die andern darauf geachtet, – an diesem Gesichtsausdruck hätten sie alle den unglücklichen Liebhaber erkennen müssen.

Sie selber nahm ihm dies Anstarren nicht übel. Sie schien ganz in weiche Stimmung gehüllt zu sein. – War es der Eindruck des schmachtenden Liedes, war es der Wein, war es ...? – Sie erwiderte Thomasens Blick mit einem matten, hingebenden Lächeln, und auf dem Grunde ihrer träumerisch verschleierten Augen brannte heimlich ein fremder Glanz.

*

Thomas ging mit der Rosée und Rosen durch die schlecht beleuchteten, widerhallenden Straßen der Altstadt.

»Erst bringen wir Sie nach Hause, Rosinerl,« sagte er schnell.

»Ich kenn euch schon,« drohte sie neckisch, mit stolpernder Zunge, »ihr wollt mich bloß losbringen und nachher zu zweit im Mondschein schwärmen.«

»Ach, Rosinerl,« Rose lachte ein bißchen gezwungen, »schau, es scheint ja gar kein Mond. Und du müßtest einen großen Umweg machen, und für mich liegt die Sendlingerstraße bereits am Weg.«

»Ja, ja,« sagte die Rosée elegisch, »amüsierts euch nur, solang ihr jung seid.«

»A geh, Rosinerl! Amüsier'n? Der Herr Kerkhoven bringt mich schön brav heim, und gar is.«

»E, e, e,« meckerte die alte Schauspielerin, »ich kenn eine, die sich auch amüsiert hat, wie sie jung war. Weshalb sollen sich junge Leut net amüsiern? Bloß Dummheiten muß man keine machen.«

*

Von der Sendlingerstraße bogen Rose und Thomas nachher selbander in eine der engen Seitengassen, die zum Viktualienmarkt führen.

Auf einmal – er wußte selbst nicht, wie er dazu gekommen war – schob er seinen Arm unter den ihren. Sie wehrte ihm nicht; ein tiefer Seufzer ging durch ihre Lippen. Leise und mit schüchterner Zärtlichkeit glitt seine Hand an ihrem Arme hinauf und wieder herunter. Sie ging mit gesenktem Kopfe, und auf einmal preßte dieser kühle Arm seine Hand an ihren atmenden Körper.

Da zog er sie an sich. Sie blieb stehen, den Kopf hintüber gebeugt, und hob ihm ihren Mund entgegen.

Es war ein Kuß, von dem sie sich nicht trennen konnten.

Und als sie langsam weiter gingen, sprach keins von ihnen, aber es war nicht mehr das zitternde Schweigen der Scheu vor dem ersten Worte, nein, ein lasses, erlöstes Schweigen, – war hier doch alles gesagt!

Und als sie vor Rosens Haus in der Reichenbachstraße unwillkürlich und aus alter Gewohnheit stehen blieben, erwachten sie gleichsam und schauten staunend an der öden Fassade der hohen Mietkaserne hinauf.

Rose seufzte auf und holte ihren Hausschlüssel aus dem Handtäschchen.

»Sperr auf!« sagte sie und reichte ihn Thomasen.

Es dauerte eine Zeitlang, bis er damit zustande kam.

Dann gab sie ihm die Hand und hielt ihm die Lippen hin.

»Gut Nacht!«

Er küßte sie.

»Rose! Rose! Rose!«

Da waren sie in dem dunkeln Flur. Er preßte sie in seine Arme, und sie ließ sich, willenlos hingegeben, von ihm halten. Die Haustür fiel langsam zu. Als aber die Zunge des Schlosses einschnappte, fuhr Rose auf. »Nein, nein, nein,« flüsterte sie hastig, »nein, du mußt gehn, geh jetzt, bitte, bitte geh!«

Und als er mit halben, sinnlosen Worten bat und schüchtern ihre Arme berührte, schrie sie es fast heraus:

»Ich bitte dich, geh!«

Er trat einen halben Schritt zurück und senkte böse den Kopf. Da wisperte sie, so nah an seinem Gesicht, daß ihre Stirnlöckchen es streiften:

»Morgen, Liebster!«

Das blaue Flämmchen eines Wachskerzchens erglomm und wuchs zu gelbem Schein. Rose schloß die Haustür auf. Er sah nur ihr Gesicht, die heißen Wangen, über die verwirrte Haarsträhnen hingen, und den schwimmenden Glanz der Augen.

Dann noch ein Händedruck, ein schneller Kuß ... Er stand im blauen Lichte der Dämmerung auf der leeren Straße.

Wohl eine Viertelstunde ging er vor dem Hause auf und nieder, ohne sich von dem Gefühl ihrer Nähe trennen zu können. Dann warf er den Kopf in den Nacken und schritt rüstig aus. Er wollte einen Gang durch den Englischen Garten machen, bevor er ins Bett ginge.

Leicht und frei war ihm zumute; an Rosen dachte er mit unendlich weichen, warmen Gedanken.

Er verstand seine frühere Stellung zu ihr nicht mehr. War er es denn, der noch gestern ohne den Schatten eines Zweifels bei sich festgestellt hatte: So was heiratet man nicht?!

»Ich bin glücklich,« sagte er vor sich hin, und ein Drang, zu jauchzen, schwellte seine Lippen.

Ja, er wollte sie herausheben aus der staubigen, dürftigen Umgebung. In Schmutz und Armut war sie geworden, was sie war; wie würde sich ihre starke Natur erst in den hellen, gelüfteten Stuben des Heims entfalten, das er ihr bereiten wollte!

Sein Entschluß war gefaßt; er träumte sich Bild über Bild aus seinem künftigen Leben mit ihr.

Er ging zwischen blühenden Wiesen, in denen Inseln aus gelben Löwenzahnblüten brannten, wie Stücke der großen Sonne, die befruchtend aus die Erde gefallen wären. Ein tausendfältiger feiner Regenbogenschimmer flinkerte aus dem tauigen Grase. Die grünen Wellen des kleinen Isararmes jagten Thomasen nach und holten ihn ein und liefen Hals über Kopf voraus, als gelte es einen Wettlauf nach dem Glück. Er aber ließ sie ruhig laufen. Er hatte sein Glück.

*

Thomas schlief nach seinem Morgenspaziergang bis gegen zwölf und erwachte dann aus einem unsinnigen Traume, dessen Bilder noch in die ersten wachen Augenblicke groteske Schatten warfen, bis sich auf einmal das Tagesbewußtsein energisch aufrichtete und der Flor des Zwischenzustandes von Schlaf und Wachen zu Boden glitt. – Gott sei Dank, das alles hab ich geträumt, und jetzt ist alles klare Wirklichkeit! – Dieser erste Gedanke staunte mit großen Augen in die Mittagsonne. Und wie die Erinnerung lebendiger wurde, verwandelte sich dies Staunen in ein Leuchten. Es war ja wirklich alles so klar geworden und hatte sich so schön gewendet, wie er sich's gestern noch nicht hätte träumen lassen.

Nur schnell zu Rosen! – Er zog sich an und lief beinah ins Café Heck.

Aber dort traf er nur Volkern, der, Gramfalten im katzenjämmerlich blassen Gesicht, mit der Gabel in einer Portion Irish Stew herumstocherte.

»Grüß Gott,« krächzte er heiser.

»Grüß Gott,« entgegnete Thomas zerstreut und setzte sich.

»Herrgott Sakrament, der richtige Knochenfraß!« fluchte Volker, holte einen langen Knochensplitter aus seinem Munde und legte ihn zu den andern, mit denen der Rand seines Tellers garniert war. Thomas fragte in gleichgültigem Tone:

»Wo bleiben denn unsre Damen? Probe?«

»Jawoll!« verneinte Volker ärgerlich. »Die Probe is lang gar. Der Aff, der Niedermayr, war im Theater und hat sie zum Frühstück abgeholt. Die fressen jetzt was andres wie Irish Stew. Mich hat er natürlich net eingladen, der Saukopf! Er mag lieber allein der Hahn im Korb sein.«

»Du, Volker, was ist denn heute im Theater?« fragte Thomas.

»Liebelei. Da hab ich wieder die dankbare Rolle von dem unbekannten Herrn, der so damisch brüllt. Gott sei Dank komm ich bloß im ersten Akt. – Sieht man dich heut abend im Hoftheaterrestaurant?«

»Will mal sehn. Vielleicht. Also, grüß Gott!«

Thomas war sehr verdrossen. Daß er Rosen nicht getroffen hatte, war ihm eine peinliche Enttäuschung, und er gab sich diesem Gefühle so widerstandslos hin wie ein Kind, dem man ein verheißenes Spielzeug nicht mitgebracht hat. Einen wahrhaft komischen Zorn empfand er gegen Niedermayrn, der ihm ja doch eigentlich gar nichts getan hatte. Das ging bis zu dem Wunsche, ihn vor sich und einen Revolver in der Hand zu haben, um ihn über den Haufen knallen zu können. – Als Thomas aber bis dahin gekommen war, fand er sich selber recht lächerlich und legte seiner Phantasie Zügel an. – Ihm wurde klar, daß sein Zorn auf ein eifersüchtiges Mißtrauen gegen Rosen zurückging. In diesem Augenblick, wo er sich nach ihr sehnte, ließe sie sich sicherlich aus Tod und Leben die Cour machen.

Auf einmal kam es Thomasen zum Bewußtsein, wie merkwürdig es wäre, daß er so häßlich von der Frau dachte, die er liebte.

Wenn er Rosen nur bald hätte sehen können! Ein Wort von ihr müßte ja wieder einen andern Menschen aus ihm machen. Zu Niedermayrn gehen wollte er nicht. Und nach Hause kommen würde Rose auch erst kurz vor Beginn des Theaters; und dann würde die Rosée bei ihr sein. Und abends nach der Vorstellung säße sicherlich die ganze Bande beisammen. Thomas wollte sich nicht so lange quälen und womöglich bis tief in die Nacht warten. Er beschloß, ihr zu schreiben.

Als er zu Hause am Schreibtische saß und die Feder ansetzte, also gleichsam zu Rosen zu sprechen begann, war plötzlich alle Qual verflogen. Diesmal brauchte er nicht erst lange zu überlegen. Er schrieb schnell, nur von Zeit zu Zeit hielt er inne, las die letzten Sätze noch einmal durch und schrieb dann hastig weiter.

Liebe Rose,

ich bin kreuzunglücklich, daß ich Dich heute mittag nicht getroffen habe. Ich hatte Dir nämlich etwas zu sagen, womit ich nicht bis zum Abend warten kann. Verliebte Leute sind eben ungeduldig. Darum bitte ich Dich, mir gleich, fürs erste schriftlich, zu antworten. Ich schicke diesen Brief durch meinen kleinen Diener in Deine Wohnung. Da er Dich aber sicher nicht zu Hause treffen wird, bitte ich Dich, Deine Antwort auf dem Wege ins Theater am Büfett des Café Heck zu hinterlegen. Da hole ich mir sie dann.

Dieser Brief bezweckt nämlich nicht mehr und nicht weniger als einen formellen Heiratsantrag. Das kommt Dir vielleicht ein bißchen überraschend, weil wir uns ja gegenseitig unsre Abneigung gegen die Ehe im allgemeinen und besondern oft genug mitgeteilt haben. Aber ... Verzeih mir, ich möchte nicht pathetisch werden, aber es ist mir sehr ernst mit dem, was ich schreibe ... Ich kann nicht anders. Wohl bin ich der frohen Zuversicht, daß Du mich ebenso lieb hast wie ich Dich, und Du wirst finden, daran könnten wir uns genügen lassen. Aber wie die Welt heute nun einmal ist ... Doch wozu die vielen Worte? Kurz und gut: verheiratet sein ist doch etwas andres. Mir steht die Bohèmewirtschaft bis zum Halse, und Du wirst ja wohl auch nicht anders denken.

Und noch ein aufrichtiges Wort, das ich Dir sagen kann, weil Du es wohl nicht lächerlich finden wirst. Ich könnte es überhaupt nicht ertragen, wenn es so weiter ginge wie bisher. Ich bin, grob gesagt, einfach zu eifersüchtig dazu. Natürlich, die alte Praktikerin Rosine wird ja wohl recht darin haben, daß eine Schauspielerin sich mit aller Welt gut stehen muß. Aber der Mensch kommt schließlich vor dem Künstler. Das Leben übrigens auch vor der Kunst. Und wie ich Dich kenne, wirst Du selber herzlich froh sein, wenn Du es nicht mehr nötig hast, vor jedem Esel Männchen zu machen. Ich weiß, daß Du froh sein wirst, wenn das alles hinter Dir liegt. Ein Einwand, den Du machen kannst und im Moment machen wirst, ist: »Aber ich soll meine Kunst aufgeben.« – Aber gibt man denn seine Kunst auf, wenn man darauf verzichtet, sie einem verehrlichen Publico vorzuführen? Die heimlichen Künstler sind die guten Künstler.

Aber genug des Geredes, liebste Rose. Ich überlese diesen Brief nicht erst noch einmal im ganzen, aber ich bin überzeugt, daß er kein Meisterwerk ist. Ich bin Maler und habe keine Übung im Schreiben, schreibe auch sonst fast niemals Briefe. Mündlich könnte ich vielleicht ... Nein, ganz ehrlich, mündlich wäre es erst recht nicht gegangen. Redselig sein ist, wie Du weißt, sonst nicht meine Sache. Und bin ich's hier auf dem Papier geworden, so sei deshalb nicht böse. Und glaube vor allem nicht, ich machte so viele Worte, weil ich meiner Sache unsicher wäre. Nein, wirklich: ich habe durchaus keine Angst, daß Du mir »Nein« sagen könntest.

Aber natürlich bin ich sehr ungeduldig, Dein Ja schwarz auf weiß zu sehen. Antworte mir also unter allen Umständen gleich.

Herzlichst
Thomas.

*

»Ist kein Brief für mich abgegeben worden?« fragte Thomas den Kellner Otto, als der ihm im Vorüberhuschen die Speisekarte auf den Tisch warf.

»Ich weiß von nix. Vielleicht am Büföh? Ich will gleich schaun.«

Die Büfettmamsell addierte eben eine Zahlenreihe in ihrem Kontobuch herunter. Thomasen däuchte die Zeit, die sie dazu brauchte, eine Ewigkeit. Endlich erhob sie ihr gleichgültiges Gesicht, sagte etwas und holte einen Brief aus der Geldschublade. Thomas sah von weitem, daß das Kuvert mit zwei Glückskleeblättern verschlossen war.

So ungeduldig und – wenn er's auch vor sich selber nicht wahr haben wollte – voll banger Zweifel Thomas den ganzen Nachmittag gewesen war, jetzt drehte er den Brief zaudernd in den Fingern. Einen Augenblick dachte er sogar daran, erst zu essen und ihn nachher zu Hause zu lesen. Aber dann lachte er sich selber aus und riß das Kuvert auf. Er entfaltete den Bogen mit beiden Händen und mußte sie fest aufs Tischtuch stemmen, damit sie nicht zitterten. Kaum hatte er den ersten Blick auf die Anrede geworfen, als er ein eigen peinliches Gefühl von Trockenheit in der Kehle bekam. Und er las den Brief langsam, Wort für Wort, als gäbe ihm das eine Galgenfrist. Da stand:

Lieber Herr Kerkhoven!

Ich danke Ihnen für Ihre aufrichtigen Zeilen und möchte Ihnen ebenso aufrichtig antworten.

Ich weiß ja, Sie sind ein guter Mensch und werden mich einen unbewachten Augenblick nicht entgelten lassen. Aber Sie müssen vergessen, was gestern abend gewesen ist. Und es ist ja auch eigentlich nichts gewesen. Nicht wahr, das müssen Sie doch selbst zugeben? Es kann nun einmal nicht sein.

Gewiß ist es richtig, daß mir Ihre so sehr sympathische Persönlichkeit von allem Anfang an sympathisch gewesen und habe Sie auch im Verkehr sehr lieb gewonnen. Aber vor einer Heirat muß ich noch sehr viele andre Dinge bedenken, nicht wahr? Ich stehe noch am Anfang von meiner Karriere und habe von meinem Talent nicht recht viel hergemacht. Und das ist der Grund, weshalb ich auf meine Laufbahn nicht verzichten kann. Wie gesagt, habe ich Sie recht lieb, und Ihr Antrag ehrt mich, wie mich kein andrer ehren würde, möchte aber zuerst etwas mehr erreichen!

Verzeihen Sie meine Aufrichtigkeit und seien Sie nicht traurig! Vielleicht in ein paar Jahren, wenn Sie mich gefragt hätten, dann könnte es anders sein. Aber so, wie ich jetzt dastehe, vom Theater weggehen, da würde ich mir recht blamiert vorkommen. Wenn ich erst etwas bin, dann ist es etwas anderes.

Aber bis dahin werden Sie schon lange eine andere gefunden haben, die Sie glücklicher machen wird, als ich es in der Lage bin, das weiß ich sicher!

Lieber Thomas, Du mußt vernünftig sein, es ist nicht anders. Schwellenden Knospen im Lenz sind unsre Hoffnungen ähnlich; stets wenn die eine verwelkt, schließt die andre sich auf. Täglich sendet uns die Sonne neue Strahlen, also warum den einen festhalten von gestern, da morgen neue Gluten uns umfließen. – Und so ein Sonnenstrahl läßt sich nicht halten, er huscht flüchtig vorüber.

Verzeihen Sie meine Schrift, jedoch ich habe furchtbare Eile! Seien Sie bestens gegrüßt

Ihre treue Freundin
Rose Karrar.

Na ja, dachte Thomas, mit einem Seufzer, und faltete den Brief in einer Ruhe zusammen, die ihm selbst wunderlich genug vorkam. – Sogar ihr Stammbuch hat sie für mich beraubt! lächelte er säuerlich in sich hinein. – Er machte sich aus Art und Stil ihres Briefes etwas wie einen Trost: sie beide wären nach Erziehung und Denkweise doch wohl zu verschieden, als daß sie hätten gut zusammen passen können. Und die Betäubung, die wolkig in seinem Gehirn schwankte und das Bewußtsein wohltätig dämpfte, sprach er als eine Art Zufriedenheit darüber an, daß nun alle Zweifel hinter ihm lägen, daß ein Abschluß gefunden wäre und die liebe Seele Ruh hätte.

*

Als er vor seiner Haustür in der Kaulbachstraße stand, überkam ihm eine heftige Abneigung davor, jetzt hinaufzugehen und den ganzen Abend allein zu sitzen.

Er machte eine scharfe Wendung auf dem Absatz und ging wieder nach der Stadt zu.

Im Café Luitpold hoffte er am ehesten Bekannte zu treffen. Richtig saßen da auch das Ehepaar Chottak und Penzberger, »das bleichschenklige Dreieck«, wie Wacker die drei zu nennen pflegte. Amüsant waren die nun freilich nicht. Sie begrüßten Thomasen einsilbig, aber mit einem gewissen erleichterten Aufseufzen, das den vierten Mann willkommen hieß und sich eher von ihm eine Ablenkung zu versprechen schien.

Die schöne Thessa und Penzberger tranken Absinth. Ihre glimmenden Augen wichen nicht von dem käsebleichen Gesicht des kleinen Radierers, der schlaff dasaß, als hinge er nur noch notdürftig in den Gelenken zusammen. Der Doktor Chottak sah aus, als müsse er aller Augenblicke ein sehr stachliges Unglück verschlucken. Er spülte fleißig mit Kognak nach; die kleine Karaffe mit den kontrollierenden Reifchen leerte sich allmählich.

Jawohl, ich bin in der richtigen Gesellschaft! so spottete Thomas innerlich über sich selber. Man könnte eine Schauerballade über uns viere dichten, die alle die Liebe unglücklich gemacht hat! – Eine Art wütenden Humors packte ihn, und er wunderte sich im stillen, wie beredt er auf einmal wurde, und wie witzig. Das Dreieck staunte ihn ordentlich an. Wie kam dieser stumpfsinnige Kunstmalermeister auf einmal zu dieser Menge von giftigen Bonmots?

Thomas trank schnell und redete fast ohne Unterbrechung; aber trotzdem ihm die lachende Bewunderung der andern oberflächlich schmeichelte, fühlte er sich gar nicht wohl. Er wußte ja, daß diese Lebhaftigkeit innerliche Aufregung verbarg, und kam sich bei dem allem beinah hysterisch vor, nicht weit von einem Weinkrampf oder von einem schweren, stumpfsinnigen Rausche.

Und dann verstummte er und fühlte sich auf einmal fürchterlich müde. Er saß mit einem Gefühl von Ohnmacht da, körperlich schlaff und ohne Gedanken ... Schließlich raffte er seine Energie zusammen: er stand auf und empfahl sich unvermittelt.

Als er aus dem rauchigen Wirtshaus in die Nachtluft trat, wich die Schläfrigkeit plötzlich von ihm. Er ging langsam nach dem Odeonplatze. Dort machte er halt und schaute sich um. Er sah nach rechts in die Theatinerstraße hinein, über deren Mitte ein winkliger Zug von blauen Bogenlampen den Weg in die Stadt wies, – zu Rosen, die jetzt wohl lachend im Hoftheaterrestaurant säße. Er fühlte auf einmal eine brennende Sehnsucht nach ihr: hingehen und tun, als ob nichts geschehen wäre! ...

Schon hatte er ein paar Schritte nach der Stadt zu gemacht, da schrie auf einmal etwas in ihm auf; er drehte schnell um und ging nach Norden, hinein in die Gasflammenallee der Ludwigstraße, die sich schnurgerade bis in die Unendlichkeit zu recken schien. Aber seine Schritte wurden immer langsamer. Das merkte er zuerst an dem Widerhall in der leeren Straße. Es klang ganz so, als ob da drüben in gleichem Takte mit ihm ein andrer ginge, gleichsam ein zweiter Thomas Kerkhoven, der ihn ansähe und überlegen lächelte.

Und es war, als ob dieser unsichtbare Zweite seinen Trotz wecke: er ging wieder schneller und bog bald in die Schönfeldstraße ein. Vor seiner Haustür schwankte er noch einen Augenblick, dann aber stieg er die drei Treppen ohne Zaudern hinauf, wenn auch sehr langsam, denn das Steigen wurde ihm so schwer, als sei er auf einmal alt geworden. Er atmete hastig und hatte ein dumpfes Schmerzgefühl in den Kniekehlen.

Thomas ging gleich zu Bett, und merkwürdig: er lag kaum zwischen den Laken, als er auch einschlief. Er hatte nicht einmal die Kerze auf dem Nachttisch löschen können. Ein brauner Schmetterling kam durchs Fenster hereingeflogen und surrte um die Flamme, daß sie zuckte und tanzende Lichter auf Thomasens blasses Gesicht warf ...

*

Thomasens Erwachen am nächsten Tage glich dem von gestern wenig. Er fuhr davon auf, daß sein kleiner Diener, der im Atelier rein machte, mit dem Teppichbesen gegen die Schlafzimmertür donnerte.

Mit einem Seufzer richtete Thomas sich auf und stützte sein Kinn in die Hand. Zu schlaff, um sich weiter zu rühren, blieb er lange in dieser Stellung; seine Augen starrten unbewegt in das Licht dieser illusionslosen Stunde. Immer ärmlicher däuchte ihn diese ganze Liebesgeschichte, immer lächerlicher seine eigne Rolle dabei. Und diese Stimmung griff weiter, aus diesem besondern Fall ins Allgemeine hinaus. Thomas wurde sich selber ein harter Kritiker ohne Liebe.

Nur hinaus aus dem allen! sagte er zu sich.

Und er wußte plötzlich, wohin er wollte. Er drückte dreimal auf den Klingelknopf über seinem Bette.

Der kleine Diener erschien, hemdärmlig, eine blaue Schürze vorgebunden.

»Herr Kerkhoven?«

»Pepi, Koffer packen! Wir gehen auf ein paar Wochen nach Holz hinaus.«

»Haut schon,« sagte Pepi mit vergnügtem Nicken.

»Und stell schleunigst Teewasser auf.«

»Jawohl, gnä Herr.«

Pepi verschwand, und aus der Küche klang seine Stimme herüber, die ein lustiges Lied sang. Die Freude des Jungen weckte etwas wie ein Echo in Thomasen. Auch er freute sich, hinauszukommen, zwischen grüne Wiesen und unter Bauern. Die letzten Wochen mit ihren Erlebnissen däuchten ihn auf einmal ferngerückt, als hätte er nachher tagelang in einem Strich geschlafen. Er freute sich aus das Dörfchen am Tegernsee, das mit seinen stattlichen Häusern oberhalb der Straße und abseits vom Wege der Sommerfrischler lag.

*

Thomas verlebte in Holz stille Wochen und arbeitete fleißig; das Schaffen ging ihm gut von der Hand, und die Stunden, wo er im Grünen vor der Staffelei saß, waren seine besten. – Rose freilich blieb immer in seinen Gedanken. So kritisch sein Verstand sie sezierte, – auf einmal erhob sie sich lebend und blühend vor seinem Gefühl. Er rang mit sich jeden Tag und sog sich trostlose Kraft aus einem ärmlichen Stolz. Und wußte doch, daß alles Lüge war, was er zu sich sagte, wußte, daß alles einstürzen würde, was er jetzt mit unsichern Händen baute, sah den Augenblick kommen, wo es ihn forttragen würde, wie der Gießbach einen Strohhalm führt ...

*

Eines Nachmittags, als Thomas im Grasgarten saß und malte, wechselte plötzlich die Beleuchtung. Er schaute auf: hinter der Holzeralpe jagte ein blauschwarzer Wolkenwall am Himmel heraus.

Die Blätter der Obstbäume erzitterten mit ahnungsvollen Wisperstimmen. Über der Natur lag eine Spannung, die allen hellen Lauten wehrte. Auch Thomasen faßte sie. – Er sammelte sein Malgerät und trug es ins Haus.

Dann ging er in sein Zimmer und stellte sich an eins der niedrigen Fenster.

Staubwirbel kreisten draußen aus dem Wege empor; in raschen Stößen pflügte der Wind durch die Kronen der Bäume, die sich duckten und ihm mit flatternden Blättern nachwinkten. Der See lag leuchtend grün, und der Wallberg stand seltsam nah und noch in der Sonne. Ein plötzlicher Knall ließ das Haus erzittern. Und die Berge nahmen ihn auf und warfen ihn sich zu, daß er verhundertfältigt von Wand zu Wand sprang über den schauernd aufbegehrenden Wellen. Erst ein zweiter Schlag löste ihn ab und verschlang ihn; und es war, als verdoppele er dadurch seine Kraft.

Der Regen brach los und schleuderte schräg seine Glaspfeile, daß sie, zu tausend Tropfen zersplittert, vom Boden zurückprallten. Thomas öffnete das Fenster. Grell schwankendes Licht, Donnergesang, schwellend und sinkend, das Sausen des Regens, das leise, aber scharf vernehmlich auf dem dumpfen Brüllen schwamm, und dazu das hastige, spitze Geschwätz der Wassersäule, die aus der vorspringenden Dachrinne in die zementierte Vertiefung lief und sie überschwemmte, daß das Wasser auf den Weg hinaussprudelte, dessen Gräben längst überfüllt waren ... Alle die zügellosen Töne einten sich zu einer großen Harmonie, – es war gleichsam das Atemholen eines Riesen darin, der seine Fesseln zerbrochen hat und ruhig dasteht, seiner Freiheit bewußt.

Thomas lehnte die Stirn an seine Hand; seine von innen heraus dunkel leuchtenden Augen waren groß und durstig. Er schlürfte durstig die Regenluft. In seiner Brust wuchs ein Klingen, das in den Gesang des Wetters einstimmte. Tränen einer heißen Andacht wollten in ihm aufsteigen, und von seinen Lippen kam es wie ein Stammeln.

*

An diesem Abend warf Thomas unten in Gmund einen Brief an Rosen in den Briefkasten; der war anders als seine früheren: frei von der Angst, seine Gefühle zu zeigen. Da gab es keine Phrasen mehr, keine Vernünfteleien, keine gezwungnen Scherze; hier schrie ein Mensch nach einem andern, in einer Leidenschaft, die ohne Bedingungen gab und begehrte.

Ein Abglanz des befreienden Gewitters glühte in diesem Briefe. In diesen kurzen Sätzen verschenkte sich ein Mensch ohne Vorbehalt. Thomas fühlte, daß einer sich dem Leben schenken müsse, um es zu gewinnen. Nur die Besiegten können Sieger werden.

Ruhig ging er durch die Dunkelheit nach Holz zurück. Heute zagte er nicht um Rosens Antwort. – – –

Am nächsten Morgen kam ein Telegramm:

»Ja, hinauskomme selbst vier einundzwanzig. Gruß Rose.«

*

Die Minuten krochen für Thomas, als er auf dem Bahnhof wartete. Er ging wieder auf die Straße hinaus und spähte nach der Waldlücke, aus der der Zug kommen mußte.

Endlich hörte er einen Pfiff. Wie eine Raupe kroch der Zug aus dem Walde und winkte mit seinem langen Rauchschal. Die Bremsblöcke gaben die Räder frei, in beschleunigter Fahrt ging es die Kurve entlang, die kleine Lokomotive schnaufte renommistisch. Drei schwindsüchtige Pfiffe, wieder ein Knarren der Bremsen, und Rosens lachendes Gesicht schaute unter einem lebhaft violetten Hut, den Thomas noch nicht kannte, nickend aus einem Fenster. Sie warf einen Handkuß und verschwand, um gleich wieder auf der Plattform des Wagens zu erscheinen. Und hinter ihr – Thomas glaubte nicht recht zu sehen –, aber es war wirklich Volkers krumme Gestalt, sein breit lächelndes Komödiantengesicht ...

Rose lief aus Thomas zu, stutzte vor ihm einen Moment – ein wenig soubrettenhaft, fand er – und gab ihm einen hastigen, spitzen Kuß auf den Mund. Dann lief sie zur Tür der Schranke und zeigte dem belustigt lächelnden Beamten ihr Billett vor.

Indessen war Volker herangekommen; erreichte Thomasen seine lange, blasse, nicht ganz saubre Hand und sagte mit Gefühl:

»Herzlichen Glückwunsch. Einem andern hätt ich sie net gegönnt. Ach ja, was kann so'n armer Teufel wie ich machen? Zuschaun, wie andre Leut glücklich sind. Aber dir gönn ich sie.«

»Kommt er mit, um mir das zu erzählen?« dachte Thomas bei sich.

Rose hängte sich an seinen Arm.

»Vorwärts marsch!« lachte sie, »was denken denn die Leut hier am Bahnhof von uns!«

»Geht nur voraus und seid glücklich! Ich komme langsam nach, ich will net stören,« sagte Volker düster. Und dann in verändertem Ton: »Ich muß nachher über was Wichtiges mit dir reden.«

So gingen sie die Landstraße entlang, das Brautpaar voran; in zwanzig Schritten Abstand folgte Volker.

Thomas hatte sich das alles ganz anders gedacht. Volker brachte einen Hauch von Stadtluft mit, der nicht hierher paßte. Oder war es Rosens eigne Art, die sich drückend auf seine Stimmung legte? Schließlich aber – Hatte er denn nicht erreicht, worum er lange gerungen hatte? Rose ging neben ihm und stützte sich auf seinen Arm. Er ergriff ihre Hand.

»Endlich!« sagte er leise.

»Ich bin fei net schuld,« lächelte sie. »Ja, mein Herr, das hättens schon lang haben können.«

»Hast du mich lieb, Rose?«

»Dumme Frage!«

»Und hast doch ...?«

»Ja, weil du verlangtest, ich soll das Theater aufgeben. Siehst du, das hätt ich net können ... Aber jetzt ist ja alles gut.«

Ein Wolkenschatten kroch über die Straße. Thomas seufzte leise.

»Geh zu!« bat Rose. »So eifersüchtig derfst net sein. Mit der Kunst mußt du mich schon teilen. Aber außerdem is einfach alles weg aus der Welt. Bloß wir zwei allein.«

»Rose!« sagte er leise, und ihm war, als wolle seine Brust zerspringen vor schmerzlichem Glück.

*

Thomas hatte von der Bäuerin Kaffee kochen lassen. Den tranken sie selbdritt in dem Gartenhäuschen, das eine so weite Aussicht über den See und auf die Berge hatte; und nachher saß man schweigsam und ohne Behagen. Thomasens Augen wanderten immer zu dem unbequemen Dritten hinüber, der da düster und unentrinnbar wie ein Schatten im Sonnenschein saß. Volker mochte fühlen, daß er lästig war. Er begann unvermittelt zu sprechen.

»Du, Kerkhoven, ich wüßt was für dich ...«

»Nämlich!«

»Ja, weißt du, es wird dir zuerst komisch vorkommen, aber hör mich zu Ende an ... Die Sache is nämlich gar net so dumm, wie s' vielleicht ausschaun mag.«

»Na, sag's schon!«

»Du sollst Direktor werden!«

»Was soll ich?«

»Unsern Kunststall sollst du übernehmen.«

»Sonnenstich?« erkundigte sich Thomas teilnehmend.

»Nein, Liebster, es is gar net so dumm, was er vorhat,« fiel Rose ein.

Thomas sah sie mit einem überraschten Blick an und zog die Stirn in Falten.

Volker begann eifrig zu werden und gestikulierte lebhaft.

»Der Bertin ist gänzlich pleite; jeden Tag könnens ihm die Bude zuwappeln ...«

»Ja, soll mich das ermutigen?«

»Ach was, das Theater is durchaus lebensfähig, und das Publikum geht gern hinein.«

»Na ja,« meinte Thomas, »aber Bertin ist doch immerhin Fachmann. Was soll ich da erst mit dem Theater anfangen?«

»Der Fachmann bin ich doch!« sagte Volker mit einer Art naiven Erstaunens.

»Ach so! Du willst Direktor werden, und ich soll das Geld hergeben.«

»Nein, durchaus net. Ich mein nämlich, wir müßten, um wirklich was von uns herzumachen, den alten Kunststall net bloß so pamperlhaft weiterfretten. Was Neues müßt man bieten! In ganz Deutschland ein Geschrei von uns machen!«

»Wie das?«

»Einen neuen Bühnenstil aufbringen. Du hast doch immer so viel von deinen Ideen über Dekorationen und Kostüme und Schauspielkunst gesprochen. Jetzt hast du die beste Gelegenheit, das alles zu verwirklichen.«

»Aber du hast meine Ideen doch immer für Blödsinn erklärt!«

»Es ist ja wurscht, was man macht. Es muß nur was Neues sein.«

»Wie denkst du denn darüber?« wendete sich Thomas an Rosen.

Sie lehnte sich an ihn und sah mit zärtlichen Augen zu ihm auf.

»Das kannst du dir doch denken, daß ich net gern so bald wieder von dir fort möcht.«

»Fort?«

»Ja, wenn der Bertin zumacht, müßt ich mir doch ein andres Engagement suchen. Hier in München find ich ja doch nix. Und wo ich hinkäm, kann kein Mensch wissen. Keinen Namen hab ich leider noch nicht. Wie kann auch eins gegen die Weller aufkommen! Gegen gemeine Intrigen kann unsereins nix machen.«

Daran hatte Thomas noch gar nicht gedacht. Er sah Volkers Plan auf einmal in einem neuen, verlockenden Lichte. – Wenn er das Theater übernähme, hinge ja Rose auch nicht mehr von allerlei fremden Leuten ab; er würde auch ihr Berufsleben teilen und nicht täglich verlassen draußen stehen bleiben, wenn sie auf Stunden untertauchte in der muffigen Atmosphäre, die der Kulissenstaub verdickte.

»Aber zur Übernahme gehört wohl sehr viel Geld?« fragte er.

»Kein Schein! Schau, da hab ich dir die ganze G'schicht zusammengestellt.« Er reichte Thomas sein aufgeschlagnes Notizbuch. »Ein paar von den Gagen ließen sich leicht noch reduzieren.«

»Die erste, der wir den Marsch blasen, is die Weller,« sagte Rose in dem Vorgefühl befriedigter Rache.

*

Von den Wochen, die nun folgten, behielt Thomas zeit seines Lebens nur ein dumpfes, verworrnes Bild. – Junge Liebe will Stille haben und verlangt den Menschen ganz. Hier aber kamen tausend fremde Ansprüche heran, das Leben wurde zu einer Hetzjagd: Thomasen, der nie Eile gehabt hatte, machte das beinahe krank.

Das Theater war überall: ihm gehörte seine Zeit, ihm gehörte seine Arbeit; und wenn er glücklich einmal mit Rosen allein war und bei ihr alles vergessen wollte, begann sie vom Theater zu sprechen. Thomas hatte den ganzen Tag zu tun, und doch war ihm sein Leben noch nie so leer vorgekommen; er hatte sein Ziel erreicht und sich Rosen erobert, aber dennoch war er innerlich unzufrieden und wußte nicht, warum.

Lag es an Rosen? Lag es an ihm selber? Hatte Rose sich ihm nicht ohne Vorbehalt geschenkt, als es einmal entschieden war? War sie nicht lieb und herzlich zu ihm? Suchte sie nicht, ihm alles recht zu machen?

Es mußte wohl an ihm selbst liegen. Vielleicht war es ein Erbteil von seinem Vater, dem Sonderling. Hatte es nicht etwas von einer Ironie des Schicksals, daß auch er eine Schauspielerin heiraten mußte? Und enthielt der Gedanke an den Vater nicht eine Warnung? Warum konnte er Rosen nicht nehmen, wie sie war, – und wie er sie schließlich doch auch liebte? – Denn er liebte sie mit einer peinigenden Atemlosigkeit, mit einer Eisersucht, die keinem andern auch nur ihr Lächeln gönnte. Und weil sie das fühlte und wirklich alles vermeiden wollte, was ihm hätte weh tun können, wurde sie unsicher und verlor die Frische und Natürlichkeit ihres Benehmens. Damit verwundete sie nun wieder ihn, wie auch mit tausend andern Kleinigkeiten, die er selbst in helleren Stunden als nichtig erkannte. Aber er kam nicht darüber hinweg; und ob er sich krankhaft empfindlich und halb verrückt schalt, – ein Wort, eine Gebärde von ihr konnte ihn für Stunden verstimmen.

Diese Gefühle waren seine schwerste Qual; und er mußte sie ganz allein tragen, denn Rosen lag das alles fern: sie wußte sich seine Verstimmungen nicht zu deuten.

Viel besser verstand sie sich auf gröbere, häßlichere Zweifel und Konflikte, die manchmal in ihm wühlten, deren er sich schämte, während sie sich nicht einmal darüber wunderte. Es war die ganz gemeine, plumpe Eifersucht auf ihre Vergangenheit, die zuweilen übermächtig wurde und ihn seinen wohlerzognen Geschmack vergessen ließ. – Er wußte ja so wenig von ihrem Leben ...

Rose aber fühlte sich nicht beleidigt dadurch: sie hatte viel verliebte Männer gesehen, sie war klug genug, Thomasen zu begreifen, und hatte ihn so gern, daß sie alles aufbot, ihn zu trösten. Das versuchte sie nicht mit kleinen Lügen und erheuchelter Backfischnaivität, sondern sie sprach mit einer selbstverständlichen Ruhe von ihren Erfahrungen, die echt naiv war und nicht geheuchelt sein konnte.

*

Endlich war der Tag der standesamtlichen Trauung herangekommen. Thomas, der auch nachher mit Rosen eine Zeitlang in seiner alten Wohnung bleiben wollte – in der neuen arbeiteten die Handwerker – ging fertig angezogen im Atelier auf und nieder und wartete auf seine Zeugen: Volkern und den neu engagierten ersten Helden und Liebhaber des Sezessionstheaters: August Appeltoft. Rosen wollten sie nachher bei der Rosée abholen, wo sie heute übernachtet hatte.

August erschien zuerst.

»Moin!« so begrüßte er Thomasen und ging zum Rauchtisch, wo er sich eine Zigarette holte. »Na, wie fühlste dich vor der Katastrophe?«

»Danke,« antwortete Thomas kurz und stellte sich an das Atelierfenster.

»Es muß doch ein komisches Gefühl sein. – Verlobt war ich ja schon öfter; aber ich hab mich immer noch im richtigen Moment seitwärts in die Büsche geschlagen. – Wo bleibt denn unser Freund, der Direktöhr? Er ist ja sonst so präzise.«

»Ja,« entgegnete Thomas, »das ist etwas, was mich bei Volker wirklich gewundert hat. Ich hatte nämlich deswegen einigermaßen Angst ... Aber er ist gar nicht zu erkennen ... Er hält seine Bureaustunden ein, ist der erste auf der Probe ...«

»Nee, präzis war er immer ... Er ist ja eigentlich ne Bureaukratenseele ...«

»Na, weißt du ...«

Draußen klingelte es.

»Das muß Volker sein.« Thomas sah nach der Uhr.

Und richtig trat der Erwartete ein, in seiner ganzen Eleganz! Denn das neue Amt hatte sein Äußeres sehr verändert. Er trug jetzt ständig einen sehr langen schwarzen Gehrock in etwas mißverstandenem Biedermeiergeschmack. Wohl hing auch der infolge der täglichen Benützung schon ein wenig schief auf den runden Schultern, und die seidnen Rabatten sowie die Gegend der Knopflöcher waren nicht mehr frei von Fettflecken, aber trotz dieser Schönheitsfehler sah sein äußerer Mensch gegen früher geradezu glänzend aus.

»Na, Direktöhr!« sagte August und hielt ihm seine Uhr hin. »Fünf Minuten Verspätung! Was bedeutet das?«

»Ach Kinder, es ist ja Zeit genug. Übrigens, geliebter Appeltoft, verdanke ich das nur dir ...«

»Natürlich,« lachte August, »schlechte Sitten verderben gute Beispiele.«

»Nein, nein, ganz im Ernst ...! Ich komm grad vom Sieben ...«

»Und dort, mein Fürst ...?«

»Ich hab nämlich heut in der Früh einen Brief von ihm bekommen, wegen deiner gestrigen G'schicht mit ihm ...«

»So? – An mich traut er sich nicht ran ...«

»Er wollte sein Stück zurückziehn. Er braucht sich net so behandeln lassen, schrieb er. Er wär Konrad Sieben und absolut net angwiesen aufs Sezessionstheater; die ganze Welt ständ ihm offen ...«

»Jawohl, bis auf die Bühnen, die seinen Moses schon abgelehnt haben, wie das hiesige Hoftheater! – Und du, lieber Direktöhr, bist ihm wirklich auf den Leim gekrochen und bist gleich hingerannt und hast ihm gute Worte gegeben?«

»Na ja, warum denn net!«

»Na, und ...?« fragte Thomas, »hat sich Sieben denn nun glücklich wieder beruhigt?«

»Da fragt er noch!« hohnlachte August.

»Es ist alles wieder in Ordnung.« Volkers Miene wurde schmelzend, als er sich jetzt an August wendete: »Gel, Appeltoft, und du fängst net wieder Krakeel mit ihm an?«

»Wenn er ...!«

»Ach geh! Ich hab mit ihm ausgemacht, er soll dir selber gar nix sagen und sich mit seinen Wünschen an mich wenden ...«

»Wenn er sein Maul hält, tu ich ihm auch nichts ...«

»Es ist schon ein reizendes Geschäft, Theaterdirektor zu spielen!« sagte Thomas. »Für uns wird's jetzt aber höchste Zeit.«

»Er kann's nich erwarten!« lachte August und holte seinen Zylinder vom Rauchtisch.

*

Nach der Trauung gab es ein Frühstück bei Schleich.

Rose hatte es sich nicht nehmen lassen, alle ihre Theaterkollegen einzuladen, die ihre schlechten Zeiten gekannt hatten und jetzt ihr Glück laut bewunderten und ihr im stillen neideten. Ganz im stillen; denn mit der mächtigen Gattin des neuen Direktors wollte es niemand verderben. Es herrschte ein allgemeiner Wettlauf um Rosens Gunst; und auch auf ihre alte Duenna, die Rosée, fiel ein Abglanz ihres Glückes. Die dicke Dame saß stolz da und paßte auf, daß jeder ihr huldige; das belohnte sie dann mit einem schmalzigen Lächeln.

Eine stumme Person saß in dem lärmenden Trubel. Das war der Doktor Chottak, dem vor vierzehn Tagen seine Frau mit Penzbergern durchgegangen war, »nicht ohne seinen Geldschrank um sechstausend Emm zu erleichtern«, wie Volker sich ausdrückte. Der Doktor hatte auf die Verfolgung der Flüchtigen verzichtet und mit niemand aus dem Kreise ein Wort über die Sache gesprochen. Sein Verstellungstalent war aber nur gering; und so mußte jeder, der ihn ansah, erkennen, daß hier ein im tiefsten getroffner Mann saß. Für Thomasen wurden die lärmenden Gefühlsäußerungen ringsum von dem Schweigen des echten Gefühls verschlungen, das in diesem kantigen Bauernschädel bohren müßte, langsam, Zoll für Zoll, aber seines Zieles gewiß ...

Im übrigen stieg die Stimmung mit jeder Stunde. Der Wein erwies sich wieder einmal als Geisterbeflügler, freilich aber auch als Zerstörer von Rücksichten und äußerlich angenommnen Manieren, und vor allem als Kuppler.

Sehr viel schöne Menschlichkeit zu enthüllen, hatte der Wein hier keine Gelegenheit. Thomasens Gefühl wurde durch tausend Dinge verletzt.

Rose, die sehr angeregt und vergnügt hierhin und dorthin lachte und plauderte, ergriff auf einmal mit warmem Druck seine Hand und sagte:

»Na, schon wieder einmal verstimmt? – Ah geh!«

»Ach nein,« stotterte er, »ich weiß nicht ...! Die vielen Menschen ...! Die Luft ist so schlecht ...«

»Nervöser Prinz!« lachte sie und schüttelte seine Hand aufmunternd. »Es is ja so furchtbar fidel und gemütlich!«

»Es ist ja auch nichts! Ein bißchen Kopfschmerzen ...« erwiderte er und gab sich Mühe, ihr zuzulächeln. –

So verlief Thomas Kerkhovens Hochzeitstag ...

*

Auf der Bühne traf Thomas Rosen, die im Kostüm der Recha überraschend schön war.

»Es wird schon gehn!« Sie nickte Thomasen zu.

Von einer ägyptischen Tempelsäule im Hintergrunde löste sich Siebens schwarze Gestalt.

» Bon soir, Monsieur le directeur!« sagte er. »Na, Monsieur le directeur, was denken Sie?«

»Jedenfalls wünsch ich Ihnen ...«

»Nee, nee, lieber nicht wünschen!«

»Na, dann: Hals und Beine!«

»Ja, nicht wahr? Eigentlich sollte man's doch meinen? Es ist doch so im ganzen eine gute Sache, was? Und die Ausstattung! Und dann diese fabelhafte Recha!« Er küßte Rosen die Hand. »Wissen Sie, vor wem ich reichliche Angst habe? Vor diesem Appeltoft. Sie entschuldigen, er ist ja Ihr Vetter, aber ...«

»Geschieht Ihnen ganz recht, Maestro!« ertönte Augusts Stimme plötzlich. Sieben fuhr zusammen und versuchte dann seinem Moses mit sauersüßer Stimme unter Händereiben und Dienern zu erklären, wie er es gemeint hätte, und daß er sein Talent durchaus nicht habe anzweifeln wollen.

»Das wäre mir auch wurscht,« tröstete ihn August. Er bot im Kostüm des Moses mit dem langen Vollbart ein sonderbares Bild, denn in der einen Hand hatte er eine halbgeleerte Champagnerflasche, in der andern ein Glas.

»Schluck Sekt?« fragte er Rosen.

»Ach ja, das is vielleicht ganz gut.«

»Schenken Sie mir auch ein Glas,« bat Sieben.

»Wollen wir es ihm konzedieren?« fragte August und sah die andern zweifelnd an.

»Na, also trinken Sie, Maestro! Weil's gleich ist! Aber mehr wird nicht hergegeben, sonst hab ich mein Quantum nich.«

»Es ist vielleicht ganz gut, wenn Sie nicht zu viel trinken,« meinte Sieben nervös.

»Keene Bange! – Ich bin auf der Bühne noch nie besoffen gewesen. Und wenn ich's war, hat's keine Katze gemerkt. Sie haben ja keene Ahnung, wie blöd das Publikum is!«

»Ein schöner Trost!« Sieben lachte auf.

»Sein Sie doch froh! Davon lebt ihr Dramatiker ja,« sagte August und goß schnell die beiden letzten Gläser aus der Flasche herunter.

Volker lachte aus vollem Halse sein lautes, geübtes Lachen. Er war vielleicht der einzige, der keine Spur von Lampenfieber kannte.

Dann schaute er durch das Guckloch im Vorhang hinaus, wendete sich um und klatschte in die Hände. Die Schauspieler, die zu Anfang auf der Bühne zu sein hatten, strömten herein, der Inspizient platzte fast vor Eifer.

»Erstes Zeichen!« rief Volker. Thomas eilte in die Direktionsloge. Er hatte sich gerade gesetzt, als das zweite Läuten ertönte. Der Zuschauerraum verdunkelte sich, sich, der Vorhang glitt hinauf. Da lag Thomasens ägyptischer Marktplatz in hellem Sonnenlichte, belebt von großen Menschengruppen, die schöne, ruhige Farbenflecke bildeten.

Ein allgemeines »Ah!« ging durch den Zuschauerraum und verschlang die ersten Sätze des Stückes. Thomas fühlte sein Herz klopfen.

*

Die Aufnahme des Stückes war zwiespältig. – Es gab mehrere Male starken Beifall bei offner Szene, in den sich meistens Rose und August teilten. Und Thomasens Ansicht war, daß sie es beide verdienten, so verschieden sie ihre Rollen auch auffaßten.

Was den Erfolg des Stückes selber angeht, so hörte man nach den ersten Akten nur ein dünnes Beifallklatschen.

Nach dem vierten Akte gab es einen Kampf. Zischer und Klatscher hielten sich die Wage. Und nach dem letzten Akt war es anfangs ebenso. Schließlich aber, als vielleicht noch ein Zehntel des Publikums im Zuschauerraume war, siegte der Beifall; der Vorhang erhob sich noch oft. Auch Thomas ließ sich nach langem Sträuben auf die Bühne zerren.

Als es endlich still geworden war, trat Sieben auf Thomasen zu. Er schüttelte ihm die Hand und sagte mit einem beinahe mißtrauischen, schnell abirrenden Blick:

»Ein schwer errungener Sieg!«

*

Eine Gesellschaft, die die Hauptdarsteller des Abends, eine Anzahl jüngerer Schriftsteller und ein paar Maler vereinigte, begrüßte Rosen und Thomasen im Restaurant mit großem Hallo. Man hatte mehrere Tische zusammengerückt und saß an einer ungemütlich langen schmalen Tafel. Für Rosen hatte Sieben einen Platz neben sich reserviert. Thomas setzte sich ganz ans andere Ende der Tafel.

Als er gegessen hatte, brachte Sieben ihm einen Herrn, der Thomasen als gänzlich Unbekannter schon vorher aufgefallen war. Es war ein langer, magrer, starkknochiger Mensch, der sich in seinem Äußern ganz auf den Engländer zurecht gemacht hatte. Aus dem bleichen Gesicht sprang eine große Hakennase vor; trotzdem hatte es nichts Scharfes, weil seine andern Formen weichlich geschwollen und schlaff waren.

»Herr Tegtmaier!« stellte Sieben vor, »ein Landsmann von mir, expreß aus Bremen zugereist, um die Münchner Kunst zu retten!«

»Sie gestatten?« sagte Herr Tegtmaier, holte sich einen Stuhl und zwängte sich damit zwischen Thomasen und dessen Vetter ein. »Bruno Tegtmaier!« sagte er mit einer hastigen Verbeugung zu August und begann dann in sprudelnder Geschwindigkeit auf Thomasen einzusprechen.

»Lieber Meister, ich möchte Ihnen meine Bewunderung aussprechen. Die Dekorationen und die Kostüme: tip – top! Eine Leistung ersten Ranges und sehr originell. Bei wem haben Sie das malen lassen? Interessiert mich nämlich. Na ja, wenn ich Ihnen hätte raten können ... Manches hätte ich nun anders gemacht ... Effektvoller, wissen Sie! Zum Beispiel ...«

»Sie sind Künstler?« unterbrach ihn Thomas.

»Nein, das gerade nicht ... Aber was ähnliches, hahaha. Hab mich auch schon darin versucht. Aber wissen Sie denn gar nichts von meinem Plan? Ich bin Bruno Tegtmaier! Nichts davon gehört? – Macht nichts! Werden schon noch von mir hören!«

In Thomasens Kopfe dämmerte etwas. Das wäre wohl der junge norddeutsche Millionär ...

»Ja, ja,« sagte er, »ich hab wohl etwas gehört, aber ich war die letzte Zeit so beschäftigt ...«

»Jawohl,« nickte Tegtmaier fröhlich, »es ist in München schon kolossal verbreitet. Und dabei habe ich kaum die ersten Vornotizen in die Presse lanciert ...«

»Wenn ich recht verstanden habe, handelt es sich um irgend etwas Kunstgewerbliches?« fragte Thomas.

»Irgendwas? Ziemlich viel! – Ich will das deutsche Kunstgewerbe gründen. Was jetzt so hie und da gemacht wird, ist nichts. Damit ist kolossal viel zu machen. Ich war jetzt nämlich fünf Jahre in England. Das ist eine ganz sichre Spekulation; da liegen heutzutage die Millionen auf der Straße.«

»Meinen Sie? – In Deutschland ...?« sagte Thomas.

»Grade in Deutschland!« versicherte Tegtmaier.

»Was wollen Sie denn eigentlich machen?«

»Alles!«

»Was heißt: alles?«

»Die Kunst ins Leben einführen, unser ganzes Leben mit Kunst durchtränken ...«

»Ja, wie wollen Sie denn das erreichen?«

»Ich bin schon mit einem Haufen Künstler in Verbindung. Es wird eine Gesellschaft unter der Firma ›Deutsches Heim‹ gegründet.«

»So eine Art Fabrik für moderne Möbel?«

»Nicht nur Möbel. Alles! Viele Fabriken, Werkstätten, Ateliers ... Kunst nicht mehr über unserm Leben, unser Leben selbst Kunst, wissen Sie!«

»Ein weit ausschauender Plan!« lächelte Thomas.

»Ja, das will ich meinen! Sehr weit sogar! – Und da haben Sie mich eben aus was Neues gebracht.«

»Ich?«

»Das heißt, ich hab natürlich schon früher daran gedacht. Wir müssen unbedingt auch ein Atelier für künstlerische Dekorationsmalerei haben. Und dafür wären Sie der Mann.«

»Ich weiß doch nicht ...«

»Sie sollten sich an unsrer Gesellschaft beteiligen! Sagen wir: bloß mit fünfzigtausend Mark!«

»Ich glaube, Sie halten mich für reicher, als ich bin.«

»Das ist doch kein Geld!«

»Nein, Herr Tegtmaier, das ist ganz ausgeschlossen. Ich habe eben erst das Theater übernommen ...«

»Aber hier bekämen Sie einen gut dotierten Direktorposten. Die kleine Geldeinlage würde ja nur dazu dienen, Ihre Interessen enger mit dem Unternehmen zu verknüpfen ...«

»Nein, Herr Tegtmaier, auch auf den Direktorposten muß ich verzichten. Das Theater zieht mich schon gerade genug von meinem eigentlichen Berufe ab. Schließlich bin ich doch Maler.«

»Ach, Bilder malen ...! Das ist doch eigentlich eine überlebte Sache!«

»Na ...?«

»Na ja, und wie ist es mit der Beteiligung? Es ist die sicherste Kapitalsanlage. Ihr Geld rentiert sich in drei Jahren mit mindestens zwanzig Prozent.«

»Nein, Herr Tegtmaier, es geht wirklich nicht.«

»Na ja ja! Es war bloß eine Anfrage. Wir sprechen ein andermal darüber. Jedenfalls gestatten Sie mir, Ihre Dekorationen und Kostüme für meine Zeitschrift zu photographieren. Ich geb nämlich vom ersten Oktober ab eine kunstgewerbliche Zeitschrift heraus, die auch »Deutsches Heim« heißen soll. Übrigens, schreiben Sie mir doch zu den Photographien auch einen Artikel für die erste Nummer, in dem Sie Ihre Ansichten über neue Theaterkunst darlegen.«

»Ich will mal sehn. Ich würde allerdings ganz gerne einmal ... Probieren kann ich's ja ...«

»Also, ich rechne darauf. Nicht zu lang! Höchstens zehn Großoktavseiten inklusive Bilder. Ein sehr hohes Honorar kann ich allerdings fürs erste nicht anlegen ... Fünf Mark pro Seite ... Das ist Ihnen doch recht?«

»Na,« meinte Thomas, »viel scheint mir das ja nicht zu sein; aber aus das Honorar kommt es mir hierbei nicht so sehr an!«

»Ja, natürlich, Sie müssen bedenken, eine wie weite Verbreitung Ihre Ansichten finden ... Sie sprechen damit zu Europa ...«

*

Als Thomas und Rose aus dem Restaurant traten, lag schon die Morgensonne drüben auf den obern Stockwerken.

Thomas mußte in der Helligkeit dieses Sommermorgens zuerst eine Sekunde die Augen schließen, und die frische Lust wollte ihn schier betäuben, nachdem er so lange in der dunkeln, rauchigen Wirtsstube gesessen hatte.

Rose hing schwer an seinem Arm und schien etwas unsicher zu gehen. Auch er selber hatte Mühe, seine Bewegungen in jedem Augenblick zu beherrschen, obgleich sein Zustand weit eher einem Katzenjammer als einem Rausche glich.

An der Hauptpost nahm er eine Droschke.

»Na, was hast du denn? Du machst so ein Gesicht!« fragte Rose, als sie durch die Residenzstraße fuhren.

»Ich bin abgespannt,« erwiderte er kurz.

»Freust du dich denn gar nicht über meinen Erfolg, Kleiner?«

»Natürlich freu ich mich.«

»Ah geh! Sei net so grantig!«

»Ich bin müde.«

»Hab ich was getan, was net recht war?«

»Nein, getan hast du nichts. Aber du warst heute so anders ... Macht das der Erfolg bei den Leuten ...?«

»Is es dir net recht, wenn ich mich darüber freu?«

Thomas schwieg und lächelte ironisch in sich hinein. Sie legte die Hand sanft auf seinen Arm.

»Ah geh, Kleiner, sei net fad! Erfolg is Erfolg. Ich bin ja so froh! Endlich einmal is man in einer großen Rollen herausgekommen, die einem liegt; endlich hab' ich zeigen können, was ich kann! Und, Kleiner, wem dank' ich das, wie dir? Also verdirb mir die Freud net! Wo wär ich ohne dich? Vielleicht am Stadttheater in Passau oder Regensburg. – Also geh, sei gut!« Sie gab ihm lachend einen Kuß.

Sein Gesicht hatte sich aufgehellt. Er hielt ihre Hand, und eine Wärme strömte von ihr zu ihm.

*

Die Kritik in den »Neuesten Nachrichten« nannte das Stück von Sieben ein seltsam stilloses Ragout, das das Publikum kalt gelassen hätte. Der Dichter müsse sich bei den Schauspielern bedanken, deren leider im übrigen verschwendete Anstrengungen dem unglücklichen Machwerk wenigstens zu einer Art bestrittenem Achtungserfolg verholfen hätten. Da müsse in erster Linie Frau Karrar genannt werden, die aus der löschpapiernen Schlange Recha eine von warmem Blut erfüllte, genial gesehene Menschengestalt gemacht und damit den Beweis geliefert hätte, daß hier ein großes Talent seit lange unterdrückt worden wäre, und zwar zugunsten einer höchst mittelmäßigen Konkurrentin. – Einen großen Anteil am Erfolge habe auch der neue Held des Sezessionstheaters, Herr Appeltoft, wenn seine Leistung auch ein wenig zu sehr im Rahmen der konventionellen alten Schule geblieben wäre. Sein Engagement könne unter allen Umständen begrüßt werden. Was die neuen Dekorationen und Kostüme betreffe, die mit so großem Tamtam im voraus angekündigt worden wären, so überlasse der Theaterreferent das Urteil hierüber dem ständigen Kunstberichterstatter des Blattes. – Stolterfoot überschrieb seinen Artikel: Ein neuer Dekorationsstil und machte ein Fragezeichen dahinter. Er begann mit den szenischen Künsten der alten Griechen und kam in drei Spalten glücklich bis zu Wagner und den Meiningern, um in einer weitern halben Spalte sein Urteil kurz dahin zu präzisieren, daß er Thomasens Dekorationen gleichzeitig primitiv und bizarr finde: auf der einen Seite von einer durch keine Sachkenntnis getrübten Naivität der Bühne gegenüber, auf der andern von einem beinah abstoßenden Raffinement, das die Meininger noch übermeiningere.

Thomas brachte die Zeitung Rosen. Sie las, was da über sie stand, und freute sich sehr.

»Siehst du,« rief sie dann, »Hab' ich's net g'sagt? Jetzt hab' ich den schwersten Schritt hinter mir. Endlich einmal ein richtiger Erfolg.«

»Ich gratuliere dir!« sagte Thomas warm.

»Und was sagt der Stolterfoot über dich?«

Rose überflog den Artikel flüchtig.

»Ach, dieser Stolterfoot ist ein Stiesel!« rief sie. »Aber der Werkenthin ...! Das laß ich mir gefallen. Der versteht was vom Theater. Und wie er's der Weller gegeben hat! Und das, was er vom Stück sagt ... Da, find' ich, hat er ganz recht ...«

Thomas seufzte leicht und ironisch.

»Geh, Kleiner,« bat Rose aus einmal in ganz verändertem Tone, »mach' kein so G'sicht! Wegen dem dummen Stolterfoot ...! Deswegen waren deine Dekorationen doch schön; und wer was versteht, muß das zugeben. – Dies Ekel, der Stolterfoot! Mit keinem Aug' schau ich den jetzt mehr an. Er soll mich nur noch einmal grüßen! Wer net dankt, bin ich!«

»Ach, nicht grüßen ...! Was soll denn das?«

»Nein, grad net! Und du derfst ihn auch net grüßen! Nein, das verlang' ich von dir! – Und jetzt sei gut!« Sie schlang einen Arm um seinen Hals und zog seinen Kopf tröstend an ihre Schulter.

*

Im ersten Jahr seiner Ehe bekam Thomas zwei Briefe von seiner Tante Leocadie.

Mit dieser Tante hatte er alle die Jahre hindurch in gelegentlichem Briefwechsel gestanden. Das war ganz von selbst gekommen. Die alte Dame, die mit ihren andern Verwandten kaum verkehrte, empfand das Bedürfnis, wenigstens einem Blutsverwandten Liebe zu erweisen und sich mit ihm auszusprechen.

Thomas beantwortete vielleicht nur jeden zweiten oder dritten Brief seiner Tante. Er wußte ihr nie viel von Tatsachen zu berichten; denn einmal hatte er selbst das Gefühl, als ob er alle die Jahre bis zur ersten Begegnung mit Rosen nichts erlebt hätte, und zweitens erschien ihm das, was er hätte erzählen können, für die Ohren einer alten Dame aus Riga kaum geeignet. Seit er verheiratet war, hatte er ihr überhaupt nicht mehr geschrieben; nur gleich im Anfang einmal ein paar Zeilen, die ihr von dem großen Wendepunkt in seinem Leben berichtet hatten.

Und nun – es war an einem Februarmorgen, der Föhn rüttelte an dem Blech des Daches, daß es hart und trocken lärmte, und das Schneewasser rieselte eintönig von den Dächern – brachte ihm der kleine Diener einen Brief aus Rußland ins Atelier.

Thomas las:

Bilderlingshof, 3./15. Febr. 1896.

Lieber Thomas!

Heute habe ich eine recht traurige Veranlassung, Dir zu schreiben. Aber ich will es doch gleich tun, denn es handelt sich um jemand, den Du, wie ich glaube, einmal sehr gern gehabt hast. Ich kann mich ja täuschen, glaube es aber nicht.

Aber ich will alles von Anfang an erzählen, sonst verstehst Du die ganze Geschichte gar nicht. Siehst Du, Annemarie hat sich vielleicht auch manches zuschulden kommen lassen, aber zu bedauern bleibt sie doch immer, und man muß wissen, was sie für ein schweres Leben gehabt hat. Woldemar Bökh war ja ein schrecklicher Mensch. Ich will Dir gar nicht erzählen, was Annemarie mir alles vorgeklagt hat, wenn sie mal eingekommen war und mich besucht hat. Und sie wollte sich schon oft scheiden lassen, aber Du kennst ja ihre Eltern.

Aber ich habe jetzt schon die erste Seite vollgeschrieben und komme nicht zur Sache. Nämlich die traurige Geschichte verhält sich so: Woldemar Bökh hat sich zuletzt gar nicht mehr um die Landwirtschaft gekümmert und hat vor einem Jahre als Verwalter Magnus Schlaar angestellt. Aber mir fällt eben ein, daß Du den Magnus Schlaar wohl kennst. War er nicht ein Schulkamerad von Dir? Jedenfalls wirst Du davon gehört haben, daß er seinerzeit das Pistolenduell mit dem Konsul Bondelius gehabt hat, bei welchem derselbe sein Bein verlor.

Also, ob nun zwischen diesem Schlaar und Annemarie irgendwelche unerlaubte Beziehungen bestanden haben oder nicht, davon will ich nichts sagen. Das sind die Geheimnisse von Annemarie, und sie hat mich noch nicht in ihr Vertrauen gezogen. Jedenfalls aber scheint Waldemar Bökh diese Meinung gehabt zu haben; und die Dienstboten haben es auch behauptet, aber was auf Dienstbotengeschwätz zu geben ist, das weiß man ja.

Kurz und gut, am vorigen Sonnabend, wie Waldemar Bökh eben erst von Riga nach Hause gekommen war, haben er und Annemarie und Magnus Schlaar zusammen Mittag gegessen, und wie es eigentlich gekommen ist, weiß ja niemand, und von Annemarie habe ich auch nichts darüber erfahren können. Es muß einen Streit zwischen den beiden Männern gegeben haben, und Magnus Schlaar hat Waldemar Bökh mit einer vollen Rotweinflasche auf den Kopf geschlagen, daß er ohne ein Wort hingestürzt ist. Und dann ist der Diener hereingekommen und hat noch Knechte gerufen, und sie haben Magnus Schlaar gebunden. Und dann ist nach dem Doktor geschickt worden, und nach der Polizei. Und die hat alle Leute im Hause verhört. Und dann, denk' Dir nur, haben sie auch Annemarie verhaftet und sie mit Magnus Schlaar nach Riga in den Arrest transportiert. Und Waldemar Bökh ist noch dieselbe Nacht gestorben, ohne daß er noch einmal zum Bewußtsein gekommen ist.

Nun, Du kannst Dir denken, daß ich gleich mit dem nächsten Zuge eingefahren bin, um mich zu erkundigen. Gott, schließlich ist der arme Albert auch zu bedauern. So einen geschlagenen Menschen habe ich noch nie gesehen. Leider machte er sich dadurch Luft, daß er schreckliche Sachen über Annemarie sagte.

Aber daß zwischen Annemarie und Magnus Schlaar etwas Unerlaubtes gewesen sein muß, das schienen sie alle für selbstverständlich zu halten! Ich habe dann gemacht, daß ich fortgekommen bin, und bin dann gleich in das Gefängnis gefahren. Aber ich durfte Annemarie nicht sehen. Der Direktor vom Gefängnis hat mir aber gesagt, ich kann ihr schreiben, und die Sache steht gut für sie, und sie wird wohl in den nächsten Tagen entlassen.

Ich kann Dir sagen, ich war froh, wie ich wieder bei meiner Lene zu Hause war. Das arme lettische Dienstmädchen denkt wirklich christlicher über die schreckliche Geschichte als die leiblichen Verwandten. Sie hat geweint und hat mir gesagt, ich soll nur ja gleich an sie schreiben, daß sie bei uns wohnen kann, wenn sie aus dem Arrest kommt. Denn Albert hat ja gesagt, sie darf nicht mehr in sein Haus.

Und das habe ich natürlich gleich getan. Und heute habe ich nun Annemarie abgeholt. Sie muß schwere Tage hinter sich haben und sieht furchtbar elend aus. Jetzt liegt sie im blauen Zimmer im Bett, die Tür steht offen. Ich glaube, sie schläft jetzt ein bißchen. Ich habe mit ihr natürlich noch gar nicht viel gesprochen. Sie hat wahrhaftig Ruhe nötig. Ich habe Albert, der gleich herausgekommen war, auch ganz einfach nicht zu ihr gelassen. Er wollte durchaus, sie soll sofort weg aus unseren Provinzen; aber das geht schon deswegen nicht, weil der Direktor gesagt hat, sie muß in der Nähe bleiben, bis der Prozeß gegen Magnus Schlaar entschieden ist.

Nun will ich aber wirklich aufhören. Hoffentlich geht es Dir recht gut und Du bist glücklich in Deinem jungen Hausstand. Schicke mir doch mal ein Bild von Deiner lieben Frau, welche ich unbekannterweise herzlich grüße. Hast Du Dich nicht auch wieder mal abnehmen lassen? Wie geht es denn mit Deinem Theater, was Du Dir gekauft hast? Ich weiß nicht, diese Geschichte macht mir etwas Sorgen, weil Du doch in diesen Sachen kein Fachmann bist. Aber Deine liebe Frau wird Dir schon helfen.

Mit herzlichen Grüßen
Tante Leocadie.

P. S. Schreibe mir doch auch einmal wieder. Wenn ich etwas Neues in der Sache erfahre, teile ich es Dir mit.

Tante.

Thomas faltete die Blätter ordentlich zusammen und steckte sie wieder ins Kuvert. Seine Augen sahen durch das große Fenster lange in den mattblauen Himmel hinaus, auf dessen Fläche schnelle Wolken vorüberzogen, die merkwürdig nah erschienen. Ein eignes, stumpfes Gefühl lastete in seiner Brust, und seine müden Gedanken trachteten, es langsam zu zergliedern. Erschüttert hatte ihn der Brief nicht, das mußte er sich gestehen. Was er empfand, war eher eine gewisse betäubte Verwunderung, – eine Verwunderung nicht nur über Annemariens Schicksal, sondern auch über sein Leben und das Leben überhaupt. Traumhaft däuchte ihn alles, was ihm selber seit der Stunde geschehen war, wo er Annemarien zum letzten Male gesehen hatte, – auf dem flachen Dach seines Vaterhauses; traumhafte Fäden sah er von jener Stunde bis zu Magnus Schlaars hitziger Tat führen.

*

An einem Sonntagmorgen im April kam wieder ein Brief von Tante Leocadie. Thomas lag noch im Bett, als das Mädchen ihn mit dem Kaffee und der Zeitung hereinbrachte. Am Abend vorher hatte das Sezessionstheater seinen ersten großen Erfolg mit einem neuen, modernen Stücke von Sieben gehabt. Und das war natürlich bis tief in die Nacht hinein gefeiert worden.

Aus Tante Leocadiens Brief erfuhr Thomas, daß Magnus Schlaar zu zehn Jahren Zwangsarbeit und danach zur Ansiedlung in Sibirien verurteilt worden war. Durch die Aussagen der andern Zeugen war ziemlich klar erwiesen worden, daß zwischen ihm und Annemarien unerlaubte Beziehungen bestanden haben mußten, und Annemarie selbst hatte das, durch Kreuz- und Querfragen des Richters in Verwirrung gebracht, in der Hauptverhandlung zugegeben.

Was Annemarien betraf, so war sie nun ganz auf ihren Vater angewiesen gewesen, denn die Familie ihres Mannes wollte natürlich nichts mehr von ihr wissen, das Gut war Majorat, und sonst hatte er nichts als Schulden hinterlassen. Aber der Staatsrat Kerkhoven hatte sie nicht mehr als seine Tochter ansehen wollen. Er hatte ihr nur eine einmalige Abfindungssumme von fünftausend Rubeln angeboten unter der Bedingung, daß sie auf alle weitern Ansprüche verzichte, sofort nach dem Innern Rußlands gehe, um sich dort eine Existenz zu gründen, und sich verpflichtete, nie wieder in die Ostseeprovinzen zurückzukehren.

Annemarie hatte wohl oder übel ja sagen müssen, sie hatte den vom Staatsrat entworfnen Revers unterschrieben und war jetzt schon in Moskau, wo sie mit der Hilfe einer ehemaligen Schulfreundin eine Anstellung am Statistischen Bureau zu finden hoffte.

Arme Annemarie, dachte Thomas, was muß sie alles durchgemacht haben! Aber wie frei wird sie sich jetzt fühlen, wo die ganze schlimme Vergangenheit abgeschlossen ist! – Und Thomas ertappte sich auf merkwürdigen Grübeleien: wie gut es sein müsse, so auf einmal befreit zu sein aus allen verwickelten und schwierigen Verhältnissen und nur einen zwar schmalen, aber klaren Weg vor sich zu sehen!

Aber war er nicht undankbar? Und was verlangte er denn? Hatte sein Theater nicht gestern den ersten wirklichen Erfolg gehabt? Konnte denn der nicht endlich das gähnende, schwarze Loch schließen, in das er so erstaunlich viel von seinem Vermögen hatte hineinwerfen müssen? Er konnte doch hoffen, daß von jetzt an alles besser gehen würde. Vielleicht auch zwischen ihm und Rosen. Denn er mußte sich gestehen, daß auch in ihrem Verhältnis mancherlei ganz anders war, als es hätte sein sollen. Und wie immer, wenn er hierüber nachdachte, fand er im letzten Grunde die Schuld in sich selbst.

Er fühlte das Bedürfnis, ihr etwas Gutes zu sagen. Leise streckte er seine Hand unter ihre Decke und faßte ihre Hand. Sie schrak aus dem Schlafe auf.

»Was ist ...?« fragte sie hastig.

»Nichts!« sagte er leise und mit weichem, gerührtem Ausdruck. »Ich hab dich lieb.«

Sie gähnte und lächelte:

»Und deshalb mußt du mich wecken?«

»Ja, Rose ... Es war auf einmal ... Ich ... Ich bin in der letzten Zeit oft gar nicht nett zu dir gewesen ...«

Sie richtete sich auf dem Ellbogen auf.

»Siehts der Monsieur einmal ein?«

»Ja, Rose, das soll in Zukunft anders werden. Sieh mal, wir beide ...«

»Das ist recht,« nickte sie vergnügt. »Siehst du, das ist doch dummes Zeug ... Alle die Gedanken, die du dir machst ... Und wenn ich ganz harmlos etwas sag, meinst du, es müßte Gott weiß was dahinter stecken ... Und gar, wenn du eifersüchtig bist ...! Und im Grund weißt du doch ganz genau, daß deine Frau niemand lieb hat wie dich ... Möcht auch wissen, wen?«

Thomas hatte den Arm um ihren Nacken gelegt und zog ihren Kopf zärtlich an seine Brust und küßte sie auf die wirren, schwarzen Haare. Sie schlang ihre nackten, schlummerwarmen Arme um seine Schultern und hob ihm die Lippen entgegen, zwischen deren tiefem Rot, ein schmaler, weißer Streifen, die Zähne glänzten. In ihren Augen erglomm ein Feuer, das die halbgeschlossenen Lider schamhaft verbergen wollten.

»Siehst du, Kleiner!« lachte sie dann auf einmal, atemlos zwischen zwei Küssen, »wenn du nett bist zu mir, kann ich auch sehr nett sein. – Aber Wort halten, Kleiner, und wirklich nimmer so dumm sein ...«

*

Es war im dritten Jahre von Thomas Kerkhovens und Ferdinand Volkers Direktion, als eines Tages eine sehr ernsthafte und lange Konferenz auf der Kanzlei des Rechtsanwalts Doktor Bernburger stattfand, an der die beiden Direktoren, der Rechtsanwalt selber und ein vereidigter Bücherrevisor teilnahmen.

»Ja,« sagte schließlich Doktor Bernburger – ein Mann in den besten Jahren, doch von krankhafter Dicke – und schnaufte asthmatisch, »wenn wir auch noch drei Stunden rechnen, es kommt immer wieder dasselbe heraus. Und im Grunde is die Sache ja sehr einfach. Ich halte das Unternehmen an sich für durchaus gesund ...«

Hier stockte er, und ein dumpfes Röcheln, mit pfeifenden Lauten untermischt, entrang sich seinem Halse.

»Das Theater muß sich doch rentieren!« fiel Volker lebhaft ein. »Die durchschnittliche Kasseneinnahme der letzten fünf Monate war elfhundert Mark. Wie viel Theater haben denn das? Und die existieren doch auch!«

Der Doktor hatte sich erholt und erwiderte:

»Deswegen nenne ich das Unternehmen an sich ja gesund. Aber, meine Herren, nehmen Sie's mir net übel, aber wie unsinnig haben Sie gewirtschaftet! Bedenken Sie doch bloß allein den Gagenetat! Und rechnen Sie dann die ungeheuern Ausgaben für die Ausstattung! Letzteres hat in letzter Zeit ja nachgelassen, aber wie Sie's zuerst getrieben haben ...! Der unglückliche Moses von Sieben hat ja allein bald fünfzigtausend Mark gekostet. Und das verstaubt jetzt und kostet nur Platz. Und rechnen Sie die unverhältnismäßig hohe Pacht!«

»Die ist doch net hoch?« sagte Volker erstaunt.

Der Doktor hatte einen fürchterlichen Hustenanfall und konnte nicht gleich antworten.

»Herr Doktor, um wieder zur Sache zu kommen,« fiel Thomas nervös ein, »Sie wollten sagen ...?«

»Ja, wo standen wir doch?«

»Sie meinen also,« sagte Thomas, »daß unsre Ausgaben in keinem Verhältnis zu unsern Einnahmen stehen?«

»Natürlich, dazu brauchen Sie ja nur diese beiden ganz flüchtigen Überschläge anzusehen. Selbst wenn das Theater jeden Abend ausverkauft wäre – was ja ausgeschlossen ist –, würden Sie wahrscheinlich net ganz auf die Kosten kommen.«

»Also ist das ganze Unternehmen geschäftlich der hellste Wahnsinn?«

»Ich begreif es net,« sagte Volker mit trüber Stimme, »bei einer Durchschnittseinnahme von elfhundert Mark ...«

»Ja, Herrgott,« fuhr Thomas auf, »begreifst du das wirklich nicht, oder tust du nur so, um damit deine geistvolle Geschäftsführung zu entschuldigen?«

»Bitte sehr, ich bin kein Kaufmann!« antwortete Volker gekränkt.

»Ja, leider!«

»Ja, ich kann nix dafür und wasch mir die Hände in Unschuld.«

»Meine Herren,« sagte der Doktor, »vor allen Dingen müssen Sie sich eine unbedingt zuverlässige kaufmännische Kraft hinsetzen, auf die Sie eben hören und nach deren rechnerischen Anschlägen Sie sich richten müssen.«

»Das ist erst die zweite Frage ...,« erwiderte Thomas.

»Die erste ist natürlich, daß das Unternehmen auf eine ganz andre rechnerische Basis gestellt wird,« bestätigte der Doktor kurzatmig. »Wenn Sie mir die Unterlagen bis morgen dalassen wollen, bin ich gern bereit, Ihnen diesbezügliche Vorschläge auszuarbeiten.«

»Sollen Gagenreduktionen gemacht werden?« fragte Volker hastig.

»Das is klar!«

»Aber doch nur bei den Mitgliedern?«

»Wie meinen Sie das?«

»Bei den Direktoren doch nicht?«

Der Doktor lächelte, ergriff eins der Blätter, die auf dem Tische lagen, und hielt es dicht vor seine kurzsichtigen Augen.

»Herr Direktor Kerkhoven bezieht ja doch gar keine Gage ...«

»Nein, das ist ja auch ganz egal. Es ist ja doch alles sein Geld.«

»Ja,« schmunzelte der Doktor, »und Sie mit Ihren zehntausend Mark werden wohl auch dran glauben müssen.«

»Nein,« rief Volker entsetzt, »das geht nicht. Ich hab' mich auf das Einkommen eingerichtet und ...«

»Das werden die andern Mitglieder aber auch sagen ...«

»Die! Die finden leicht wo anders ein ebenso gutes Engagement, aber ich ...«

»Es reguliert sich alles nach Angebot und Nachfrage,« bemerkte Doktor Bernburger trocken.

Thomas nahm jetzt das Wort:

»Nein, vor allen Dingen kommt es zunächst nicht auf unsre guten Vorsätze für die Zukunft an, sondern darauf, wie wir aus den augenblicklichen Verlegenheiten herauskommen. Und da möchte ich Ihren Rat hören, Herr Doktor.«

»Ja, nun, was ist darüber zu sagen? Die Sache ist doch ziemlich einfach. Es müssen jetzt eben die dringenden Verpflichtungen gedeckt und dann muß das Ganze auf neue Grundlagen gestellt werden.«

»Das ist mir natürlich auch klar. Nur fragt es sich jetzt: wie soll man sie decken.«

Etwas wie ein Aufblitzen der Überraschung erwachte in des Doktors Augen, die sonst immer matt und halbbedeckt unter den dicken Lidern standen.

»Ja ...?« schnaufte er zweifelnd.

»Es handelt sich«, sagte Thomas, »um fällige Rechnungen, rückständige Pacht und Tantiemen im ungefähren Betrage von fünfzigtausend Mark.«

»46 868 Mark 13 Pfennige,« las der Revisor von einem Zettel ab.

Thomas fuhr fort:

»Die voraussichtlichen Einnahmen bis zum Ersten würden vielleicht die Gagen decken ...«

»Ja, nehmen wir's an!« nickte der Justizrat. »Wenn's einigermaßen gut geht. Und das wollen wir doch hoffen. – Also so fürchterlich ist die Geschichte ja net, wenn man nur in Zukunft vernünftig wirtschaftet.«

Thomas gab sich einen Stoß und sagte schnell:

»Aber ich weiß nicht, wo diese fünfzigtausend Mark herkommen sollen.«

Wieder blitzte es in des Doktors Augen auf. In seiner zungenfaulen, unakzentuierten Weise sagte er:

»Das is doch im Verhältnis dazu, was Sie schon hergegeben haben, kein Betrag. Und es is doch das einzige Mittel, um mit der Zeit wieder zu Ihrem Gelds zu kommen. Wie gesagt, ich halte das Unternehmen an sich für gesund ...«

Stockend und gequält stieß Thomas hervor:

»Ich hab' das Geld aber nicht.«

Der Doktor öffnete seine Augen beinahe ganz. Der Revisor schüttelte bedauernd und doch belustigt den Kopf.

»Ja, können Sie sich die Summe net aus Rußland kommen lassen?!«

Leise erwiderte Thomas:

»Ich habe kein Geld mehr aus Rußland zu erwarten.«

»Das ist allerdings schlimm!« Der Doktor gab einen gedehnten Ton von sich, der einem heisern Singen glich. Plötzlich schnappte er ab. »Aber Sie haben doch wohlhabende Verwandte in Rußland?«

»Mit den wohlhabenden darunter steh ich leider nicht besonders.«

»Aber das ist doch gleich, Herr Direktor! Die Leute werden ein Einsehen haben. Wenn Sie ihnen schreiben: So und so liegt die Sache ... Oder noch besser: Sie reisen selbst hin. Mündlich erledigt sich das viel leichter. Setzen Sie den Hebel nur gleich etwas tiefer ein. Das kann nix schaden ...«

Thomas sann, und in seinem bleichen Gesicht arbeitete es heftig.

»Das kann ich nicht ...« sagte er schließlich. »Lieber ...!«

»Nein, Herr Direktor, es wär wirklich schad, wenn Sie die Flinte ins Korn werfen würden. Sein Sie überzeugt, Sie werden an dem Theater noch viel Freude erleben.«

»Das Geld muß her!« sagte Volker eindringlich.

Thomas schwieg und wand seine Finger ineinander. Endlich stammelte er:

»Nein ...! Da möchte ich doch lieber versuchen, ob ich nicht hier ...?«

»Sie wollen in München Geld auftreiben? Mm ...! Da wäre es vielleicht eher möglich, daß Sie jemand fänden, der sich gegen eine Kapitalseinlage am Theater beteiligte. Leicht wird das aber auch nicht sein. Und zudem wären die Bedingungen für Sie in Anbetracht dessen, was Sie schon hineingesteckt haben, sicherlich sehr drückend und unvorteilhaft. – Nein, ich würde Ihnen denn doch entschieden raten, sich an Ihre Verwandten zu wenden ...«

»Ich kann jetzt nicht ... Und als letzter Ausweg bliebe das ja noch immer.«

»Zu lange würde ich das jedenfalls nicht hinziehen ...,« meinte der Doktor. Dann wendete er sich an den Revisor: »Herr Scheindobler, es hat wohl keinen Zweck, wenn wir Sie jetzt noch länger bemühen. Ich telephonier' Ihnen, wenn wir Sie weiter brauchen sollten. Die Bücher lassen Sie fürs erste da!«

Ein langes Schweigen herrschte, als er gegangen war. Der Doktor saß, als ob er schliefe, und atmete geräuschvoll.

»Ja,« sagte er schließlich, »das wäre vielleicht eine Idee ...! Wissen Sie, bei wem Sie's versuchen könnten? – Sprechen Sie doch einmal mit Tegtmaier.«

»Tegtmaier?« In Thomasens Stimme klang ein starker Zweifel.

»Das ist übrigens wahr! Tegtmaier!« rief Volker.

»Glauben Sie ...?« fragte Thomas.

»Ja, warum schließlich net? Schaun S', Tegtmaier hat einen sehr großen Vorzug: er is unternehmend. Natürlich kann er sich dabei einmal das Genick brechen, und ich würde ihm sicher kein Geld anvertrauen. Ich glaub auch bestimmt, daß er schon tiefer in der Klemme gesessen ist, als irgend jemand sich denkt. Aber die schlimmste Zeit hat er jetzt doch wohl hinter sich. – Und dann, wie gesagt: unternehmend is er ja, und dabei is er zäh wie Sohlenleder und läßt sich net so leicht erschrecken. Wissen S', er hat für mich was vom Nachtwandler, der ganz gemütlich am Dachfirst spazieren geht. Ja, ja, solche Leute haben das Glück ...,« nickte der Doktor in sich hinein.

»Herr Doktor,« begann Thomas stockend, »Sie sagen ja, daß Sie das Unternehmen an und für sich für gesund halten ... Da ... Sie sind ein reicher Mann ...«

Der Doktor bekam einen blauroten Kopf.

»Ich? Ich? Wer hat Ihnen das aufgebunden? Nein, da täuschen Sie sich sehr! Ich hab net so viel, daß ich mich heut, wenn es nötig würd, zur Ruh setzen könnt ...«

Thomas empfand einen bittern Geschmack im Munde. Trübe Vorahnungen erfaßten ihn.

»Also werden wir uns wohl an Tegtmaier wenden müssen,« sagte er mit ausgetrocknetem Munde.

»Ach, Tegtmaier tut es sicher,« warf Volker ein.

Das Telephon auf dem Schreibtische klingelte. Der Justizrat ergriff das Hörrohr.

»Hier Doktor Bernburger – – – Ja – – – Wie meinen Sie? – – – Ja, Doktor Bernburger is selbst am Telephon. – – – A, Grüß Gott, Herr Kollega. – – – Wie? Was! Nein! Wann denn?« Der Doktor wurde bleich, und das Hörrohr zitterte in seinen Fingern; er gab ein bedauerndes Zungenschnalzen von sich. – »Nein, und noch so jung! ... Wie meinen Sie, Herr Kollega? – – – Ja, da haben Sie freilich recht. – – – Ja, die Jurisprudenz wird den Verlust verschmerzen können – – – Sagen Sie, und das war's wohl auch net allein? Die Geldverhältnisse ...? Ja, freilich, das ließ sich ja denken – – – Wie meinen Sie? – – – Ja, natürlich! – – – Armer Teufel! – – – Ja, also Handkuß an die Frau Gemahlin! – – – Wie meinen? – – – Ach so, dank schön! Gleichfalls! Hab die Ehre, Herr Kollega!«

Er läutete ab.

Thomas sah erstaunt in das verzerrte Gesicht, das sich ihm zuwendete.

»Was haben Sie, Herr Doktor?« fragte er.

»Ja, denken Sie sich, was mir grad der Kollega Neuburger telephoniert: Kollega Chottak – Sie haben ihn ja auch gekannt – hat sich heute nachmittag erschossen. Im Englischen Garten ...«

»Erschossen!« stotterte Volker.

»Für ihn war's vielleicht das beste,« seufzte Thomas.

Doktor Bernburger wußte, daß er bei seiner Statur zu Schlagflüssen neigte, und war ein großer Hypochonder. Ein Schauer schüttelte ihn.

Es wurde noch eine Zeitlang von dem Verstorbnen gesprochen. Dann kam man auf die Angelegenheit des Theaters zurück und beschloß, daß Thomas und Volker am nächsten Vormittag zu Tegtmaiern gehen sollten.

»Und Sie geben mir dann gleich Nachricht von dem Resultat,« sagte der Doktor bei der Verabschiedung.

*

In einem Zimmer, dem trotz einer gewissen Gesuchtheit ihrer Formen ernst und streng dreinschauende Möbel etwas von der primitiven Feierlichkeit altägyptischer Tempel gaben, mußten Thomas und Volker lange warten. Tegtmaier wurde gesucht.

Thomas ging unruhig im Bureauzimmer auf und nieder. Volker saß in einem großen Lederfauteuil. Keiner sprach.

Auf einmal hörten sie hastige Schritte den Gang entlangklappern. Die Tür flog mit einem Ruck auf, Tegtmaier stelzte auf seinen langen Beinen herein, zog jedem der Herren seine lange, lappige Hand flüchtig durch die Finger und warf sich in seinen Schreibtischstuhl, daß das moderne Möbel bedenklich krachte.

»Morgen, meine Herren! Freut mich, Sie zu sehen. Sie entschuldigen schon, aber ich muß erst mal ... Ich hab so furchtbar viel zu tun! ... Sehn Sie, das ist eine einzige Post ...« Er hob einen Haufen Briefe auf und ließ sie auf den Tisch fallen. Dann steckte er den Kontaktstift in eine Öffnung des Haustelephons, drückte auf den Knopf und ergriff das Hörrohr: »Hier Tegtmaier! – – Was – Wer ist da? – So'n Unsinn! Ich hab doch die Schreinerei gerufen. – – – Nummer fünf? Ach so! – Das ist immer eine Wirtschaft mit dem Telephon ...!«

Er schien vollkommen vergessen zu haben, daß er mit der Schreinerei hatte sprechen wollen, denn er wendete sich jetzt an die beiden Besucher:

»Rauchen die Herren? – Bitte hier: Zigarren und Zigarretten! – Na, hab ich's Ihnen nicht immer gesagt: Sie bekehren sich noch mal zu mir? Mit diesen gewöhnlichen Dekorationsfritzen kann eine Bühne wie Sie auf die Dauer nicht arbeiten. – Da fehlt's!« Er schlug sich mit der Hand vor die Stirn.

»Herr Tegtmaier, es handelt sich um keine Dekoration; es handelt sich um eine rein persönliche Angelegenheit.«

Tegtmaier suchte sich einen Brieföffner, riß einen Brief auf und begann ihn zu lesen.

»Bitte, schießen Sie nur los!« sagte er und machte sich an den zweiten.

Thomas begann sein Anliegen vorzutragen und litt dabei körperliche Qualen, weil überhaupt nicht zu erkennen war, ob Tegtmaier zuhöre. Denn der las dabei die ganze Post durch, und dazwischen stellte er plötzlich Fragen nach ganz andern Dingen, die mit dem Sezessionstheater nichts zu tun hatten.

»... Ja, und da wollte ich Sie denn fragen, ob Sie sich nicht an dem Theater beteiligen wollen? – Durch die verhältnismäßig kleine Einlage von fünfzigtausend Mark könnten Sie sich einen ziemlich hohen Anteil am Gewinn sichern. Ich bin bereit, Ihnen hierin sehr weit entgegenzukommen ...«

Thomas schwieg. Tegtmaier antwortete nicht, sondern öffnete einen Brief nach dem andern.

Dann wendete er sich plötzlich zu Thomasen und fragte in raschem Tone: »Ich soll also das Sezessionstheater kaufen?«

»Eigentlich ...«

»Ja! Warum nicht? Ich hab schon selber dran gedacht, daß ich ein Theater haben müßte. Schön, ich kauf es! Aber fünfzigtausend Mark, das ist zuviel. Das glauben Sie ja selber nicht.«

»Herr Tegtmaier, ich glaube, Sie verstehen mich nicht ganz. Es handelt sich ja nicht um einen Kauf, sondern um eine Kapitaleinlage, eine stille Beteiligung gewissermaßen ...«

»Ja, was ...! Glauben Sie, ich würde in einer künstlerischen Sache je Geld anlegen, ohne mir einen persönlichen Einfluß, und zwar einen bestimmenden Einfluß, dabei zu sichern? Seh ich wie ein stiller Teilhaber aus?« Er lachte.

Thomas fing an:

»Ich hätte ja schließlich auch nichts dagegen ...«

Aber Tegtmaier ließ ihn nicht weitersprechen.

»Sagen Sie, wie denken Sie sich das eigentlich? Ich soll fünfzigtausend Mark bezahlen, damit Sie das Theater behalten? – Warum? Das seh ich nicht ein!«

»Sie würden ja Teilhaber. Und schließlich hab ich mehr als das Sechsfache davon hineingesteckt.«

»Aber was habe ich für ein Interesse daran? Ich soll Ihre Schulden bezahlen? Was hab ich davon? Ich wäre doch verrückt ...!«

»Aber, lieber Herr Tegtmaier, verstehen Sie mich doch ...«

»Nein, das versteh ich gar nicht. – Außerdem scheinen Sie mich für einen Millionär zu halten. Das bin ich nicht, bin ich nie gewesen ...« Seine Stimme nahm einen weinerlichen Klang an.

»Herr Tegtmaier, Sie tun so, als ob ich Ihnen irgend etwas besonders Merkwürdiges und nie Dagewesenes vorschlüge. Ich will einfach Kapital auf ein Geschäft aufnehmen, und zwar will ich Ihnen sehr günstige Bedingungen bieten ...«

»Ja, halten Sie mich denn für einen alten Rentier, der Geld für fremde Geschäfte übrig hat? Wenn ich in meinem Kassenschrank übrige fünfzigtausend Mark hätte, würde ich doch lieber morgen ein eignes Theater gründen, statt Ihre Schulden zu bezahlen.«

»Sie täuschen sich vielleicht doch über die Kosten einer solchen Gründung,« sagte Thomas und stand verdrießlich auf.

»Nee, mit fünfzigtausend Mark stell ich München auf den Kopf!«

»Ja also, wenn Sie nicht wollen ...« sagte Thomas.

»Nee, warum soll ich so was wollen?«

»Dann empfehl ich mich also.«

»Auf Wiedersehn. War mir sehr angenehm.«

»Der Hanswurst!« sagte Thomas grimmig, als sie draußen waren.

»Mir imponiert der Mensch,« versicherte Volker. »So wie der, so muß, glaub ich, ein Kaufmann sein.«

»Der, und Kaufmann ...!«

»Ja, gerade,« sagte Volker, »er hat für mich was vom Nachtwandler ...«

»... der auf dem Dachfirst spazieren geht?« spottete Thomas.

»Ja,« fuhr Volker eifrig fort, »du wirst sehen, der bringt es zu was! Solche Leute haben immer Glück.«

»Das ist schon möglich,« erwiderte Thomas gepreßt.

*

Thomas machte an diesem Tage noch mehrere vergebliche Versuche bei Kapitalisten, die er kannte, und auch bei berufsmäßigen Geldvermittlern. Und derweil schwoll ihm der Ekel immer höher im Halse empor.

Als er am Nachmittag dem Justizrat Bernburger auf dessen Bureau Bericht erstattete, wurde ihm plötzlich übel. Alles drehte sich um ihn, und seine Stirn wurde naß von kaltem Schweiß.

Menschliche Teilnahme zitterte in der Stimme des Doktors, als der tröstend zu Thomas trat. Seine Praxis hatte ihm viel Elend gezeigt und ihm viel Einblick in menschliche Seelenzustände gewährt.

»Na, wer wird denn gleich ...? Herr Direktor! Herr Kerkhoven ...! Soll ich Ihnen ein Glas Wasser besorgen? Is Ihnen schlecht?«

»Nein, danke,« würgte Thomas hervor, »ach, ich hab es so satt ...« Und dabei ging ein irrendes Lächeln über sein Gesicht und bat gleichsam um Verzeihung.

»Nein, so müssen Sie net reden. Schaun S', Herr Kerkhoven, es is ja wirklich kein Grund zum Verzweifeln ... Es haben sicher viele Geschäfte schon viel gefährlichere Krisen durchgemacht, und heute blühen sie und tragen einen Haufen Geld ...«

Es war Thomasen ein Trost, sich so zusprechen zu hören. Er hob den Kopf und sagte mit flehender Stimme:

»Und Sie, Herr Doktor ...? Könnten Sie denn nicht helfen? Sie sind ein reicher Mann ...«

»Nein,« erwiderte der dicke Herr erschrocken, und es war, als ob ihm der Kragen plötzlich zu eng würde. »Wenn ich wirklich ein reicher Mann wäre, – wie gern, lieber Freund, wie gern!« Dabei bekam seine Stimme auf einmal eine falsche Salbung. »Nein, ich kanns net. Schließlich hab ich doch auch Pflichten ... Meine Familie ...«

»Nein, nein,« wehrte Thomas apathisch ab und sagte dann mit einer Art trocknem Auflachen: »Es war ja auch nur so eine Idee ... Worauf verfällt man nicht alles ...!«

»Also, na, Sie sehns ja selber ein,« sagte der Doktor, auf einmal beinahe vergnügt, und wurde wieder warm und trostreich wie vorher; »nein, Sie müssen einfach nach Riga fahren und sich an Ihre Familie wenden! Sagen Sie selbst ... Das ist doch das Nächstliegende.«

Als Thomas nicht antwortete, sondern immer nur vor sich hinstarrte, drang er weiter in ihn:

»Schaun S', es is wirklich das beste, was Sie tun können. Denn hier in München ... Ganz aufrichtig ... Ich glaub, durch Ihre heutigen Besuche werden Sie sich mehr geschadet wie genützt haben ...«

»Das ... kann ... schon ... sein,« flüsterte Thomas.

»Und schließlich ... Sie dürfen gar net verzweifeln! Sie haben doch eine Frau ...!«

Thomas richtete sich mit einem Ruck gerade auf.

»Ja, meine Frau!« sagte er vor sich hin. Dann stand er auf. »Also, Herr Doktor, ich werd es mir überlegen. – Jedenfalls ... Also, Sie bekommen morgen Nachricht ... Und fürs erste besten Dank ...!«

Mild, still und etwas staubig lag die Luft in den Straßen. Die ersten Bogenlampen erhellten sich zuckend und standen mattrosig glänzend im wachsenden Blau der Dämmerung.

Thomas ging Schritt vor Schritt mit gesenktem Kopfe zu Rosen.

Es war ihm auf einmal ganz eigen körperlich bewußt geworden, daß sie der einzige Mensch war, der zu ihm gehörte. Auf der ganzen, weiten Gotteswelt der einzige ...

*

Als Thomas die Tür seiner Wohnung öffnete, hörte er aus dem Wohnzimmer Niedermayrs hübsche Baritonstimme zu klimpernder Gitarrenbegleitung ein Chanson singen, dessen Refrain lautete:

» A la Villette«

Ach richtig, heute war Rosens Jour! Der Kleiderrechen hing voll von fremden Mänteln und Hüten.

Thomas ging leise in sein Atelier, wohin nur vereinzelte Laute aus dem Wohnzimmer drangen. Mantel und Hut warf er auf einen Stuhl.

Die Farben seines angefangnen großen Bildes schrieen ihm entgegen. Seit vierzehn Tagen vielleicht hatte er nicht mehr daran gemalt. Er trat vor sein Werk und sah es an. Es stellte einen Tantalus dar, der sich vom Durst gepeinigt niederbeugte, um mit der Hand von dem Wasser zu schöpfen, das sprudelnd zurückwich. Dem Dulder zu Häupten leuchteten seltsame Früchte gleichsam von innen heraus. – Wie elektrische Birnen! dachte Thomas und stieß einen rauhen Laut aus. Er sah sein Werk jetzt mit kühlen, ja feindlichen Augen. Er prüfte die gierige Gebärde, den gequälten Ausdruck des gemalten Muskelmannes da.

»Pfui Deuwel!« sagte Thomas, griff nach der Palette mit den hartgewordenen Farbenklecksen und drückte eine große Tube darauf aus. Dann nahm er einen breiten Pinsel und bedeckte seinen Tantalus mit einer dunkelbraunen Fläche.

»So!« sagte er erleichtert, als es geschehen war, und hatte das Gefühl, als wäre das eine symbolische Handlung gewesen, die viel zugedeckt und wieder gut gemacht hätte.

Draußen läutete das Telephon; er hörte den kleinen Diener hinlaufen.

»Hier Diener von Herrn Direktor Kerkhoven. – Ja? – Der Herr Direktor? – Glaubs net. – Will einmal schaun! – Einen Augenblick!«

Es klopfte an die Ateliertür. Thomas rief müde:

»Herein!«

»Der Herr Direktor Volker wär am Telephon und ließ den Herrn Direktor bitten.«

Thomas erhob sich schwerfällig wie ein alter Mann und ging hinaus.

»Ja?« fragte er ins Telephon hinein.

»Bist du's, Kerkhoven? Hier Volker! Grüß Gott. Na, wie ist's geworden?«

»Das kann ich dir telephonisch nicht so sagen.«

»Ja, du, dann komm ich zu dir naus. In einer halben Stund. Du bist doch da?«

Thomas sah nach der Uhr. Es war fünf Minuten nach sieben.

»Wart mal, du,« sagte er, »ich hab erst noch was zu tun; komm nicht vor halb neun!«

»Halber neune? Is recht! Aber sag mir doch, was los is? Stehts gut?«

»Nein.«

»O je!«

»Schluß!« rief Thomas und läutete ab.

Dann ging er wieder ins Atelier und lauschte auf den Gang hinaus. Die Gäste fingen zu gehen an: ihre Stimmen wurden draußen laut.

Dann kam Rose den Gang herauf; er hörte es am Rascheln der seidnen Röcke, ihre Schritte vernahm man aus dem dicken Läufer nicht. Sie öffnete die Tür und stand hell beleuchtet in ihrem dunkeln Rahmen, mit geröteten Wangen, von der Unterhaltung angeregt.

»Der Pepi sagt mir grad, du wärst daheim,« begann sie, noch mit einem Nachklang des letzten Lachens in der Stimme. »Warum zeigst du dich denn gar net? Ich sag dir, fidel war's! So lustig is net leicht bei einem andern Tee.«

Thomas hatte ein paarmal versucht, sie zu unterbrechen.

»Rose, ich muß mit dir über eine ernste Angelegenheit sprechen.«

»Was hast du? Du machst so ein Gesicht?« fragte sie mit theatralisch verdeutlichter Anteilnahme in der Stimme. – Auf einmal wies sie auf die Staffelei: »Was is denn das?«

»Zugedeckt!« sagte er gleichgültig.

»Du hast das schöne Bild übermalt? Wo du mindestens sechs Wochen daran gearbeitet hast? Das is na alles für die Katz gewesen? – Du bist ein komischer Kerl!«

»Ja, das Zudecken geht rascher,« lächelte er trüb.

»Ja, lieber Freund, was willst du nachher von mir? Hättest du mich zuvor gefragt, ich hätt dir gesagt: tu's net! – Aber jetzt ...?«

»Ich will nicht von dem Bilde mit dir sprechen. Setz dich, bitte, ruhig hin, da auf den Stuhl, und hör zu.«

»Da bin ich doch gespannt,« sagte sie erbleichend und setzte sich.

Hat sie ein schlechtes Gewissen, weil sie auf einmal so blaß wird? Diese Frage fuhr ihm wie ein Blitz durch den Kopf. Aber er schob sie beiseite zu den andern bittern Fragen und Phantasien, die ihn so oft in einsamen Stunden quälten, ihm den Atem versetzten und sein Blut in einer kranken Hitze durch die Adern trieben. – Darauf kam es hier nicht an; zu etwas anderm drängte die Stunde unerbittlich.

Und er erzählte Rosen, wie es um sein Vermögen und die Verhältnisse des Theaters stand, er erzählte ihr von den vergeblichen Versuchen, die er gemacht hatte, Geld herbeizuschaffen.

»So, jetzt weißt du alles,« schloß er endlich.

Ein kurzes Schweigen folgte darauf. Dann sagte Rose langsam:

»So, das is ja recht erbaulich!«

»Rose ...!« bat er.

»Ja, ja, ja,« sagte sie und schlug mit den Händen auf die Armlehnen ihres Sessels, »es is ja alles ganz recht, aber ... Weißt du, was ich dir zum Vorwurf mach?«

»Du ...?« Er sah überrascht auf.

»Ja, dir! – Daß du mir nie was davon gesagt hast, wie es stand.«

Er seufzte:

»Du hättest es wohl merken können, wenn du dich ein bißchen mehr für meine Stimmung interessiert hättest.«

»Ja, daß du Sorgen gehabt hast ... Aber ...« Sie brach ab und sah, das Kinn in die Hand gestützt, auf die braun übermalte Leinwand.

»Rose,« sagte er schmerzlich und warm, »verstehst du denn nicht, daß es Liebe von mir war ... Ich wollte alles Schwere von dir fern halten ... Ich hoffte ja auch ...«

»Na ja,« begütigte sie und stand auf und stellte sich neben seinen Stuhl, »es wird ja net gar so schlimm sein.« Und als er die Hände vors Gesicht schlug und kein Wort sagte, begann sie leise seinen Kopf zu streicheln. »Geh, Kleiner, wer wird denn gleich verzweifeln? Der Doktor Bernburger sagts ja auch ... Derfst mirs glauben: ich hab schlimmere Zeiten gekannt.«

Er richtete sich auf und sah ihr ins Gesicht, bleich, mit großen, erwartenden Augen.

»Rose, fühlst du die Kraft ...?«

»Ach geh, Kleiner, nimms net so tragisch! Es kommt schon alles wieder in die Reih!«

»Meinst du?« Ein Erwachen von Hoffnungen war in seiner Stimme; er ergriff dankbar ihre Hände.

»Ja, und es ist auch wirklich wahr ... Wie der Volker mit den Gagen gewirtschaftet hat ...! Das heißt, eins sag ich dir gleich: von meiner Gage laß ich mir nix abdividieren.«

»Rose!«

»Nein, absolut net! Das wär auch das Höchste! Heut hab ich das nimmer nötig. – Möcht wirklich wissen, wegen wem gehn die Leut ins Theater? – Wegen mir!«

»Aber Rose, das können wir ja immer noch sehen; jetzt ...«

»Nein, ich kanns auch gar net, da kosten ja meine Toiletten bereits mehr.«

»Dafür wird schon gesorgt werden, Rose. Laß mich nur dafür sorgen!«

»Ach, Kleiner, wenn du kannst ...!« seufzte Rose leicht. »Und schau, schließlich is es ja auch dein eignes Interesse, daß deine Frau was verdient ...!«

»Ach, Rose, das ist jetzt nicht so wichtig. Siehst du, wenn ich jetzt einen Teilhaber bekomme, und er verlangt ...«

»Geh, einen Teilhaber ...! Das is ja Unsinn! Nein, du mußt das Theater schon allein behalten.«

»Wenn ich nur wüßte, wie ich das machen soll!«

»Fahrst halt nach Riga und bittest deine Verwandten!«

»Ach, Rose, wozu! Das ist ganz vergeblich.«

»Geh, vergeblich ...! Die tuns schon, wenn du's ihnen nur richtig sagst.«

»Nein, Rose, du kennst die Verhältnisse nicht. Da kann ich ebensogut hier bleiben und meinen Konkurs erklären.«

»Ah geh, Kleiner!« Rose setzte sich auf die Seitenlehne seines Stuhles, legte einen Arm um seinen Nacken und nahm mit der andern Hand seine beiden Hände. »Schau, sei net so verzweifelt! Ich seh's schon ein, daß es dir net leicht fällt! Tu's für mich, denk: wir beide ...! – Mußt es deinen Verwandten nur richtig sagen. Net gleich nachlassen, wenn sie anfangs net wollen! Gel, du fährst nach Riga? Am liebsten gleich morgen! Gel?«

Er wehrte sich noch, aber sein Widerstand gegen ihre Bitten und Liebkosungen wurde immer schwächer. Es klopfte an die Tür.

»Herein!« rief Rose.

»Der Herr Direktor Volker wär da,« meldete der kleine Diener.

»Er soll nur kommen!«

Als Volkers schwere Schritte schon den Gang heraufstapften, trat sie noch einmal zu Thomasen, der trübselig auf den Teppich starrte, und legte zärtlich beide Hände auf seine Schultern. »Gel, du versprichst mir, daß du hinfährst? Geh, sei lieb und nett!«

»Ich versprech es dir,« sagte er dumpf.

Sie gab ihm einen Kuß.

»So is recht, so bist du ein guter Mann! – Und jetzt paß auf, es kommt noch alles in die Reih!«

Er legte den Arm um sie und streichelte zerstreut ihre Schulter. Eine kalte Leere verbreitete sich in seiner Brust.

Pepi öffnete von draußen die Tür, und Volkers krumme Gestalt erschien; auf seinem Gesicht lag ein dummes, ängstliches Lächeln ...

*

Thomasens Reise nach Riga war vergeblich gewesen. Von seinen Verwandten hatte er nichts erhalten als engherzige gute Ratschläge; und Demütigungen hatte er still herunterschlucken müssen, Bemerkungen über seine Frau, auf die er anders geantwortet haben würde, wenn ihm ein heimlich bohrendes Mißtrauen nicht zugeflüstert hätte, daß er Rose vielleicht in falschem Licht sähe und die Philister in ihrer banalen Nüchternheit die Klügeren wären.

Dann war ein Telegramm von Volkern gekommen, das ihn schleunigst nach München zurückrief, falls er in der Heimat nichts erreichen könnte. Es hätte sich ein Käufer für das Theater gefunden.

In München erwartete ihn Volker am Bahnhof und führte ihn sogleich in einem Weinrestaurant mit dem Kommissionsrat Bartenfeld, einem ehemaligen Theaterdirektor aus Berlin, zusammen. Dieser kundige Geschäftsmann sah in der Krise des Sezessionstheaters eine günstige Gelegenheit für sich. Er wollte das Ganze mit Aktiven und Passiven übernehmen, sonst aber nicht einen Pfennig dafür bezahlen.

Und Thomas bemerkte zu seinem bittern Staunen, daß eigentlich alles abgemacht war und ihm kaum etwas andres übrigbleiben würde, als seine Zustimmung zu geben. Er erfuhr, daß hier in seiner Abwesenheit kein Mensch an ihn, jeder nur an sich selbst gedacht hatte; auch Rose, – und das war das Schwerste. Sie hatte, da Bartenfeld nur geringe Gagen zahlen wollte, ohne weiteres ein günstiges Engagement nach Berlin angenommen, das sich ihr gerade darbot.

Als Thomas das vernahm, brach er die Verhandlungen ab, erbat sich Bedenkzeit und verabredete für den nächsten Morgen eine Zusammenkunft mit den andern bei seinem Rechtsanwalt.

Auf der Straße merkte Thomas die Wirkung des schweren Weines, von dem er während der Unterredung in seinem Ärger mehrere Gläser hastig heruntergegossen hatte. Sie äußerte sich rein körperlich, es war eine Art Lähmung der Glieder. Er mußte sie mit Gewalt unter seinen Willen zwingen, aber der Wille war hell und scharf.

Es wäre am besten für ihn, dachte er, wenn er zu Fuß nach Schwabing hinausginge, um sich zu ernüchtern.

Er mußte sich bei der Auseinandersetzung mit Rosen, die jetzt bevorstand, ganz in der Hand haben. Er würde ihr den Kopf schon zurecht setzen; und wenn sie erst einig wären, würde er der andern Bagage schon beweisen, daß er ein Mann war. Wie schwach und kleinmütig hatte er sich die ganze Zeit über gezeigt! Aber die Herren Bartenfeld und Volker sollten schon merken, daß sie ihre Rechnung ohne den Wirt gemacht hatten.

Nur ruhig mußte er sein. Er mußte diesen Zorn bezwingen, der immer wieder in ihm emporkochte, daß er die Nägel in seine Handteller preßte, um nur an sich zu halten. Er schickte seinen Verstand dagegen ins Feld, er sagte sich mit nüchterner Überlegung, daß es ein Wahnsinn sei, an Schatten von Vermutungen, an Nuancen in Roses Stimme, an ein reines Nichts Ketten von Schlußfolgerungen zu hängen, an denen Glied um Glied immer größer wurde. – Aber was half das alles? – Wieder fiel ihm irgendetwas ein, was sein Mißtrauen schürte; und wieder lief es auf dasselbe Ziel hinaus. Immer fester sah er Rosen in das Netz seiner Beweise verstrickt ...

Er zitterte vor Zorn und ging immer schneller.

Auch Rose sollte sehen, daß er ein Mann war!

*

Rose kam Thomasen auf dem Gange entgegen, mit leichtem Schritt, ein Lächeln um die Lippen.

»Ah, du bist schon da?« Sie gab ihm einen Kuß und hängte sich an seinen Arm.

»Schon ...?« fragte er.

»Ja, ich meine ... Na, was hast du mit dem Ekel, dem Bartenfeld, ausgemacht?«

»Nichts Definitives,« sagte er, müde gleichsam und verdrossen.

»So!« Roses Stimme klang verwundert. Dann nahm sie auf einmal den spielerisch zärtlichen Ton an, den Thomas so gut kannte, aus dem Leben und von der Bühne: »Ach du armer, guter Kleiner! Das war wohl schrecklich, die lange Fahrt? Und in Riga die Verwandten ...! Recht nett wird's net g'wesen sein, armer Kleiner?«

Er schwieg und biß die Zähne zusammen. – Nur ruhig bleiben! sagte er zu sich, und dabei ging ein Zittern der Anspannung durch seinen Körper.

Sie traten ins Atelier; Rose schaltete an der Tür das elektrische Licht ein.

»So, und jetzt setzst du dich recht schön in deinen Denkerstuhl!« Sie faßte ihn an beiden Oberarmen und drückte ihn mit sanfter Gewalt in den Ledersessel. »So! Und jetzt schaff' ich an, daß dir ein Bad gerichtet wird. Ich bin gleich wieder da.«

Als er allein war, sprang er auf und begann unruhig aus einer Ecke in die andre zu gehen. Er fühlte, wie die Hemmungen in ihm immer gebrechlicher wurden. Sein erstes Wort würde sie alle aus einmal sprengen, – er kannte sich ...

»Nein, nein, nein!« flüsterte er mit beschwörender Eindringlichkeit vor sich hin. »Ich will ruhig sein! Ich werde ruhig sein!«

»Na, was wär denn das!« sagte Rose, als sie eintrat, »willst du dich gleich setzen! Du mußt ausruhn.« Und dann auf einmal in anderm Tone: »Ja, was hast du denn? Du machst so ein Gesicht?« Auch ein Quentchen Kampfbereitschaft lag darin.

»Du ... Du hast ein Engagement nach Berlin,« stieß er mit einer ruhigen Kälte hervor, unter der sie seine Gedanken gären hörte, – sie hatte scharfe Ohren für so etwas bekommen.

»Ja.« sagte sie eisig, »hast du was dagegen?«

»Zu Wolters?« Ein Knarren schwoll in seiner Stimme.

»Zu Wolters!« bestätigte sie, scheinbar gleichmütig, setzte sich, ihm halb den Rücken wendend, schlug die Beine mit einer geübten Bewegung übereinander und verschränkte die Finger vor ihrem linken Knie.

»So! Das ist ja sehr schön! Mich geht die Sache gar nichts an! Ich werde natürlich überhaupt nicht gefragt ...!«

»Du warst ja gar net da ... Und dann ... Was willst du denn machen? Ich denk', du hast eher Grund, froh drum zu sein.«

»Froh!« schrie er, mäßigte seine Stimme aber sofort zu eindringlichem, zornheiserem Flüstern: »Du kennst wohl das Renommee dieses ... dieses Herrn Wolters ...«

»Mein Gott, die Leute reden viel ...!«

»Natürlich! Alles bloß leeres Gerede ...! Daß der Weg auf seine Bühne durch sein Schlafzimmer geht, ist alles bloß böswillige Verleumdung! Er lebt wie ein Mönch, – was!?«

»Ich kann dir bloß sagen,« erwiderte sie voll ruhiger Verachtung, »daß ich so viel auf diesen Theatertratsch geb'! Möcht' wissen, ob's einen Direktor gibt, dem das net nachgeredet würd'!«

Thomas fühlte, daß er sich vor ihr lächerlich machte, daß dies alles klein und häßlich und seiner nicht würdig war, aber unwiderstehlich rissen sich die Worte aus seinem Munde.

Die Ruhe, die Rose heuchelte, reizte ihn am meisten; und zugleich empfand seine nervös verzärtelte Seele eine Art perverser Wollust daran, wie jetzt vulgäre Gedanken in nackten, schamlosen Worten aus ihm hervorbrachen, eins das andre übertrumpfend, eins dem andern auf die Schulter springend, eins immer grotesker agierend als das andre, sich steigernd am andern. Dabei trotz aller Wut eine schnell kombinierende, kalte Logik, die spionierend aus einem Winkel hervorlauerte und, wo sie den schmutzigen Fetzen eines Beweises sah, mit einem Sprunge darauf losstürzte, um ihn irgendwo in das löcherige Bild hineinzupassen, das seine Phantasie entworfen hatte ...

»Die armen Theaterdirektoren!« höhnte er. »Man sagt ihnen so viel Schlechtes nach! Und dabei kommt so was ja nie vor!«

»Nur zu!« sagte Rose, ohne sich umzuwenden. Sie legte sich in ihrem Stuhle zurück und kreuzte die Arme unter der Brust.

»Du hast ja etwas Derartiges von einem Direktor noch nie erlebt!« schrie er.

»Schrei noch etwas lauter, daß die Dienstboten es auch richtig hören!«

»Das ist mir gleich!« – Er sprach aber unwillkürlich leiser. – »Hast du mir's nicht selbst erzählt? Und du hast tausendmal mehr verheimlicht, als du erzählt hast.«

»Immer zu!« – Ihre Stimme zitterte. – »Sag' mir nur recht viele Gemeinheiten nach. Ich kann's vertragen, das weißt du ja; ich bin's ja gewöhnt.«

Ihr Ton, der trotz seiner Feindseligkeit klagend war, ergriff ihn und brachte ihn für einen Augenblick zur Besinnung.

»Rose ...!« bat er. – »Rose ...!« wiederholte er noch einmal; seine Stimme schwankte und klang gleichsam geschwollen. – Ihre Antwort war ein kurzer Laut des Ekels.

»Rose ...!«

»Nein, pfui! – Du wirst mir am End' auch noch nachsagen, ich hätt' ein Verhältnis mit dem Voller g'habt!«

»Rose! Wann hab' ich so was gesagt?«

»Aber gedacht hast du's! Überhaupt ...! Was du für eine schmutzige Phantasie hast ...! – Und ich sag' dir, wer net selber so is, sucht's net hinter andern.«

»Ich?!« fuhr er wieder auf.

»So schmutzig!«

»Das sagst du mir! Du ... mir ...!«

»Ja, was denn? – Wer net selber so is ...!«

»Schweig!« schrie er. Und dabei arbeiteten hastige Gedanken in seinem Gehirn: Warum hat sie das mit Volker gesagt? Sollte das von vornherein einem Verdachte die Spitze abbiegen? – Sie war aufgesprungen und trat dicht vor ihn hin:

»Ich laß mir net den Mund verbieten, daß du's weißt! Ich net! Die Wahrheit is dir natürlich unangenehm!«

»Wenn ich nur mehr Wahrheit bei dir gefunden hätte! Aber immer nur Lüge, nichts als Lüge!«

»Wann hab' ich gelogen?«

»Immer, jeden Tag! Glaubst du, ich hab's nicht jedesmal gemerkt, wenn ich auch nichts gesagt habe? Was weiß ich denn von deinem frühern Leben! Nichts!«

»Und wenn ich gelogen hätt' ...!« Sie stampfte mit dem Fuße auf. »Bist denn du der Mann, dem man die Wahrheit sagen dürft'? Bist du überhaupt ein Mann? Es hat mich oft g'nug gereut, daß ich dir das mit meinem ersten Direktor gesagt hab' ...!«

»Daß du einmal aufrichtig warst ...!«

»Hast du's mir vielleicht net jeden Tag aufs Butterbrot geschmiert?! Und wie klein, wie gemein, wie ... Wie dumm!«

»Dumm war ich; ja, du hast recht!« lachte er auf. »Ich habe mich immer wieder von dir an der Nase herumführen lassen! Blind ...!«

»Ich weiß net, ob man das blind heißt, wenn einer immer mehr sieht, als wie da is?«

»Ich war ja ein Narr von Anfang an! Daß ich glauben konnte, du hättest mich je geliebt ...!«

»Wenn du das net weißt, tust du mir leid!«

»Wann hast du denn dein Herz für mich entdeckt? Als das Theater vor der Pleite stand ...!«

»Pfui!« sagte Rose.

»Jawohl, als dir alles daran lag, einen Geldmann fürs Theater zu finden ...«

»Ja, ja, sag' nur gleich, ich hätt's mit meinem Schatz, dem Volker, so ausg'macht: ich heirat dich wegen 'm Geld, daß er Direktor wird!«

»Wenn du das noch einmal sagst, dann möchte ich bald glauben, daß es so gewesen ist.«

»Ah, du glaubst es ja so! Du glaubst ja jede Gemeinheit von mir.«

»O, ich Esel!« stieß er hervor, »ich Esel! Und ich konnte glauben ... Immer wieder ...! Jetzt hab' ich ja den klaren Beweis in den Händen!«

»Du bist verrückt!« sagte sie kalt. »Oder bist du betrunken?«

»Ja, natürlich, das ist das bequemste! Ich bin betrunken, natürlich!«

»Ich möcht's wünschen. Außerdem hättst du den Verfolgungswahnsinn.«

»Kaum habe ich jetzt für ein paar Tage den Rücken gekehrt – jetzt, wo alles drauf ankommt –, da hast du auch gleich mit meinen Feinden paktiert!«

»Red' doch so keinen Unsinn!«

»Natürlich, mein Geld ist zu Ende; damit bin ich selber auch abgetan.«

»Du, weißt du, ich glaub', morgen denkst du selbst anders über die Sachen.«

»Wo ich den klaren Beweis in den Händen habe ...!«

»Ah geh!«

Er trat auf sie zu und faßte sie heftig am Oberarm:

»Jetzt sag' mir selbst aufrichtig ...«

»Au, du tust mir weh!«

»Sag' doch selbst: Hättest du mich auch genommen, wenn ich ein ganz armer Teufel gewesen wäre, wenn du für mich auf deine Karriere hättest verzichten müssen, wenn ...?«

»So laß mich doch aus! Du tust mir weh, sag' ich.«

»Antwort!« Er ließ ihren Arm fahren.

»Aber so sei doch vernünftig!« sagte sie und rieb sich den Arm.

»Ja oder nein!«

»Mein Gott, daß wir dann net hätten heiraten können, is doch klar.«

»Das ist es ja eben!«

»Wenn, wenn ...!« Sie zog die Schultern in die Höhe, hob die Hände ein wenig zur Seite und ließ sie wieder an ihren Rock fallen. »Was dies Gefrag' für einen Zweck haben soll!«

»Ohne Geld hättest du mich nicht genommen ... Also hast du mich doch wegen des Geldes genommen!«

»Ja, du kennst das Leben!« lachte sie auf. »Weißt du, dann hätt' ich Reichere finden können! – Ach Gott, was red' ich lang! Es wird einem ja zum Ekel; du glaubst ja selber net, was du so daher redst. – Möcht' wirklich wissen, was aus uns hätt' werden sollen, wenn wir beide nix g'habt hätten und nix g'wesen wären!«

»O, die Liebe fragt nicht, was draus wird ...«

»Eine solche Liebe gibt's in Theaterstücken. Im Leben hab' ich's noch net troffen ...«

»Ja, du ...! Das glaub' ich dir gern!«

»Ja,« sie wendete sich plötzlich zu ihm um, »hab' ich dir schon einmal so was vorgemacht? Hab' ich weiß Gott wie überspannt getan? Hab' ich oder hab' ich net?«

»Ja, ja, laß nur! Nein, du hast es nicht getan. Aber ich wußte nicht, daß du so bist. Ich dachte mir, eine Liebe wie meine müßte schließlich Gegenliebe erzwingen.«

»Eine Liebe wie die deine!« sagte sie ironisch. »Kannst du denn lieben?«

»Jawohl,« lachte er rauh. »Das ist allerdings die beste Verteidigung; den Spieß umdrehen ...!«

»Ja, denn du bist kalt,« erwiderte sie. »Kalt bist du. Und das sag' ich!«

»Na ja, also, dann bin ich kalt.« Er brachte das in resigniertem, leidendem Ton hervor und fühlte, wie ihm eine flüssige Wehmut in der Brust aufstieg; so grenzenlos einsam und unverstanden däuchte er sich. – Schneidend fuhr Rose fort:

»Hast du je nur einen Funken Vertrauen zu mir gehabt? Ist das Liebe, wenn einer immer mißtrauisch ist und gleich das Schlimmste denkt?«

»Also ich hab' dich nicht geliebt? – Rose! – Rose!«

»Ja?«

Er fühlte selber, wie lächerlich und vulgär das wieder war, was er nun sagte, aber er konnte nicht anders:

»Rose, bin ich nicht gut zu dir gewesen? Hab' ich dir mit meinen Sorgen das Leben verbittert? Hab' ich dir je einen Wunsch versagt? Und selbst, als ich nicht mehr aus noch ein wußte ... Hab' ich ... hab' ich dir wegen deiner Ausgaben je einen Vorwurf gemacht?«

»Ja, ja, ja!« stieß sie ungeduldig hervor. »Du warst ja immer so – gut, wenn du net grad deinen Raptusanfall g'habt hast. Aber – daß du's weißt! – auf diese Art Gutheit geb' ich so viel.«

»Natürlich!«

Sie zuckte die Achseln.

»Und ich? – Hab' ich dir schon einen Vorwurf g'macht wegen der wahnsinnigen Wirtschaft am Theater, daß wir mit eins vor der Pleite dagestanden sind?«

»Ja. das fehlte allerdings noch!«

»Und doch hätt' ich ein Recht dazu.«

»So! Nur immer weiter! Ich hab' das Theater ja zu meinem Vergnügen übernommen.«

»Das ist gerad so wie mit deiner Gutheit! Mein Lieber ...! Hättst du mir früher gesagt, wie es mit uns steht, das wär g'scheiter g'wesen. Ich hab' schon schlimmere Zeiten durchgemacht ... Gut heißt du das? Ich heiß es anders. Willst du wissen, wie ich das heiß? – Feig heiß ich das, bequem heiß ich das, dumm heiß ich das! Dir scheint's vielleicht sehr vornehm und großartig, sich all diese kleinlichen Geldsorgen, wie du sie nennst, möglichst vom Leib zu halten! Jawohl!«

In ihm siedete es.

»Jawohl, ich hab' mir die Sorgen vom Leibe gehalten! Ich hab' ja nur an mein Amüsement gedacht! Ich hab' keinen trüben Gedanken gekannt! – Ich hab' nie hier im Atelier gesessen und mir den Kopf zermartert um Auswege! Ich hab' nie schlaflos im Bette gelegen vor Sorgen, während du ruhig neben mir schliefst!«

»Das is es ja grad! Hättest du mir gesagt, wie's stand, nachher wär heut alles anders, das derfst du ruhig glauben. Was bist du denn für ein Mann! Sorgen macht er sich und Sorgen, daß er die Nacht net schläft ... Aber daß du ein einziges Mal gesagt hättest: Das muß ein End' haben! Daß du was getan hättest, o das gibt's net. Ein Geschäft haben ... Ja, meinetwegen! Aber einmal auftreten und dich als Geschäftsmann zeigen ... Ah nein, das is ja so peinlich, so unangenehm ...! Es is viel großartiger, den lieben Gott einen guten Mann sein lassen. Und genau so bei mir ...! Daß bloß deine Frau alleweil ein lustig's G'sicht macht, daß es keine Verstimmungen gibt! Und dann hat man noch das Gefühl, wie gut man heimlich is, und kann herumgehn und ganz gerührt sein von seiner eignen Gutheit. So ist's, mein Lieber!«

Ihre Worte trafen ihn wie Schläge. Sie hatte ja recht. Sie sprach Gedanken aus, die er hundertmal gedacht hatte. Aber daß Rose ihn so sah, schnürte ihm die Kehle zu. – Mit zitternder Stimme begann er endlich:

»Mag sein, daß manches von dem wahr ist, was du da sagst. Aber du, gerade du hast kein Recht, mir das zum Vorwurf zu machen. Dir zuliebe bin ich zu dem allen gekommen ...«

»Jawohl, ich hab' nur wenig davon!«

»Du denkst immer nur an deinen Vorteil. Bei allem ...!«

»Das lernt sich, mein Lieber! Wünsch dir net, daß du in die Schule kommst, die ich durchgemacht hab'!«

»Und dann ... Wo wärst du heute, wenn ich damals das Theater nicht übernommen hätte?«

»Sei net bang! Ich hätt' meinen Weg immer g'macht, ein bissel langsamer vielleicht ...«

»Also ein bißchen hab' ich dir vielleicht doch genützt?« fragte er bitter.

»Ja,« erwiderte Rose, »sehr viel sogar! Sei doch froh, daß ich anders bin als du, daß ich die Gelegenheit zu nützen verstanden hab', die du mir freilich gegeben hast. Außerdem hätt' ich jetzt net den Kontrakt nach Berlin – und was täten wir nachher?«

»Rose!«

»Ja?«

»Rose, du willst wirklich zu diesem Wolters?«

»Natürlich! Weißt du: daß er bei mir nix erreicht, dafür kenn' ich mich.«

»Rose, und wenn ich dich bitte ...!«

»Ja, was denkst du dir denn? Bartenfeld will mir dreihundert Mark Gage zahlen. Das reicht net für die Toiletten. Und leben wollen wir auch!«

»Rose, und wenn wir uns die erste Zeit einschränken müssen ...! – Glaubst du, ich will von deiner Gage leben? Ich kann doch auch verdienen?«

»Mit deinen Bildern?« fragte sie mit hochgezognen Brauen und zuckte die Achseln.

»Ich kann doch auch eine Stellung finden. Tegtmaier zum Beispiel ...«

»Ach Tegtmaier, der Filz! Was der schon zahlen wird, wenn er dich nimmt ...!«

»Und schließlich ... Warum soll ich denn nicht fähig sein, mit meiner Kunst Geld zu verdienen?«

»Ich glaub's net,« sagte Rose kalt und sachlich.

»So? Du traust mir also gar nichts zu? Nicht einmal du?«

»Ich versteh ja nix von Bildern ... Aber ... Es hat doch keinen Zweck, daß ich dir was vormach ... Ich glaub's halt net. Ich glaub net, daß einer künstlerisch was erreichen kann, der so is wie du.«

»Wie – meinst – du – das?«

»Ja, ich weiß net ... Es is wie bei manchen Schauspielern, die zu viel denken ... Vor lauter Finessen vergessen sie auf ihr Temperament.«

Auch dies traf Thomasen. Er sah: Rose kannte ihn gut. Aber konnte eine Frau, die ihren Mann liebte, so scharf und kritisch in alle Winkel seines Innern schauen? – Er schwieg und starrte düster vor sich hin. – Sie kam und legte die Hand auf seine Schulter:

»Geh, nimm mir's net in übel! Sollt ich dir was vormachen?«

»Nein,« sagte er, »nur immer weiter ...! – Ich weiß ja, daß ich nichts kann und nichts bin.«

»Nein, Kleiner, so derfst auch net reden. Dazu is kein Grund vorhanden. Und was versteh denn ich davon! Vielleicht sind deine Bilder ausgezeichnet ...«

»Ach nein,« wehrte er müde ab.

»Wer kann das wissen! Der Erfolg sagt auch net alles. – Aber eins weiß ich gewiß: Erfolg wirst du nie haben! – Denn dazu reicht's gar net, daß einer gute Bilder malt. Auch in der Kunst muß eins sein G'schäft verstehn. Schau dir den Niedermayr an! Du sagst alleweil, er is ein Kitschbruder. Aber schau, der versteht's! Vierzigtausend Mark verdient der im Jahr mit seinen Porträts, wenn's reicht!«

Eine heiße Welle flutete aus einmal von unten herauf durch Thomasens Körper. Er sprang auf und schrie:

»Ja, bin ich denn verrückt? – Ich glaub's wirklich selber ...! Da sitz ich eine Stunde und hör dir zu, wie du alles verächtlich und lächerlich machst, was das Beste in mir ist. Ja – mach nur so ein Gesicht! –, ich halte das für mein Bestes! – Und dabei hör ich dir zu und glaub dir und mach mir selber Vorwürfe und bin zerknirscht, weil ich bin, was ich sein muß.«

Rose sah ihn mit seitwärts geneigtem Kopf an, ein überflüssig ironisches Lächeln um den Mund und in den Augen.

»Ach, Kleiner ...!«

»Nenn mich nicht immer Kleiner!«

»Auf einmal? – Weißt, du derfst mir's net in übel nehmen, aber ich mein, damit ist's dir selber net gar so ernst ...«

»So? Nicht ernst ...?«

»Ja, ernst – schon! Aber – wenn du so ganz sicher davon überzeugt wärst, tätst du am End net so schrein.«

Seine Fäuste ballten sich.

»Du, ich sag dir, spar dir dies wohlfeile Lächeln! Es gibt ein Lächeln, an dem man den Proletarier erkennt!«

»Aha!« höhnte sie, »jetzt kommt bei ihm die Vornehmheit heraus! So, dann will ich dir nur eines sagen: wenn ich auch bloß eine Wechselwärterstochter bin, – darauf kommt's net an; sondern was einer im Leben erreicht!«

»Mir kommt es darauf an, was einer ist! Was du etwas erreichen nennst ...!«

»So? Was einer ist? Was bist du denn schon gleich? – Weißt du, was du bist? Du willst ein Künstler sein? – Ein Philister bist du, wie's keinen zweiten gibt! Grad so einer wie deine Spießersippschaft von Verwandten!«

Er trat drohend auf sie zu.

»Schweig jetzt!«

»Jawohl, von dir laß ich mir den Mund verbieten! Ausgerechnet von dir! – Ja, gegen deine Frau hast du Schneid! Und auch bloß, wenn du was getrunken hast. Aber, daß du gegen den Volker aufgetreten wärst, wie sich's gehört hätte ... Nein!«

Thomas packte sie an den Armen und schüttelte sie heftig.

»Ja, schlag mich doch gleich,« kreischte sie, »du bist ja der Stärkere!«

Er hielt sie mit klammernden Händen, soviel sie sich wand, und flüsterte, ganz nah bei ihrem Gesicht, heiser und warnend auf sie ein, in Wut, und zugleich in atemloser Angst vor sich selber, vor dem, was kommen wollte:

»Rose, ich sag dir, reiz mich nicht! Rose, sei vernünftig, ich weiß nicht, was ich tu ...!«

»Hahahaha!« lachte sie auf. »Schlag mich nur! Du hast ja Angst!«

Er stieß sie mit einem Ruck von sich, daß sie beinahe gefallen wäre. Als sie wieder festen Fuß gefaßt hatte, sah sie ihn schweigend an, den Kopf zurückgeworfen, die Augen sprühend vor Verachtung, aus den Lippen das alte, herausfordernde Lächeln. – Er stand abgewendet, mit gesenktem Kopf und hängenden Armen, seine Hände ballten sich und öffneten sich wieder, in schnellem Wechsel. – Flackernd kamen abgerissene Worte aus seinem Munde.

»Ich wollte ... Nein, das ... Also, verzeih mir, wenn ich ...«

»So, so! Verzeihen soll ich?«

»Rose!« Wieder wuchs ein Drohen in seiner Stimme.

»Aber – daß du's weißt! – ich bin net wie du: bald so, bald so; wie's dir grad einfällt. – Heut hast du's bei mir verschüttet auf lang. Und jetzt hab ich genug! Tob dich allein aus! Ich geh!«

Er holte sie ein, als sie die Hand schon auf der Klinke hatte; heftig riß er sie zurück und stieß sie ins Zimmer.

»Du bleibst!«

»Zu was denn?«

»Du gehst jetzt nicht so fort! Verstehst du mich!«

»Also ...!« Sie verschränkte die Arme trotzig unter der Brust und wendete ihm den Rücken. »Raufen werd ich mich net mit dir! Aber eins sollst du wissen: red, was du willst, – du darfst ebensogut an die Mauer hinsprechen! Ich hör nichts! Mit uns zwei is es vorbei! Heut hab ich dich erkannt. Net so viel hab ich mehr übrig für dich!«

»So? Auf einmal?« schrie er. »Dann will ich dir sagen, daß ich mir das gedacht hab, daß ich das gewußt hab, von dem Augenblick an, wo ich sah, daß es mit dem Theater schlecht gehen könnte.«

»Was hast du gewußt?«

»Daß es zwischen uns zu Ende sein würde, sobald ich kein Geld mehr hätte.«

»Pfui Teifel!« sagte sie. »In einem hast du freilich recht ...! Viel bleibt nimmer über von dir, wo das Geld all is.«

»Also, dann kann ich ja gehen! Vielleicht erwartest du gerade einen Liebhaber, der mehr hat.«

»Natürlich, gleich fünf!«

»Also ich geh! Mich siehst du nicht wieder.«

»Geh nur! Mir is es sehr recht.«

»Rose!« Er trat drohend auf sie zu.

»Geh doch endlich und laß die Komödie! Ich geh! sagt er ... Aber daß du wirklich gingst ...!«

»So, du glaubst mir nicht? Komödie, sagst du? Du zu mir

»Wie sollt ich das denn sonst heißen! Du hast noch alleweil alles bloß mit dem Mund getan.«

»Mir scheinen solche Entschlüsse allerdings schwerer und ernster als dir, – – Komödiantin!«

»Jawohl, ich spiel Komödie am Theater; bei dir is das ganze Leben nix anders. Ich spiel den andern Komödie vor; du spielst sie dir selber vor, weil kein andrer so dumm is, daß er dir's glauben tät.«

Er knirschte mit den Zähnen und ballte die Fäuste.

»Was deine Art nicht begreifen kann, ist ihr nicht wahr! Was außerhalb deines Horizontes liegt, das gibt es überhaupt nicht.«

»Nein, das gibt's auch net. Gib dir keine Müh, schöne Benennungen für deine Jämmerlichkeit zu finden! Ich glaub's doch net!«

Er stellte sich vergebens auf einen hohen Standpunkt. Ein gutes Teil von ihren Angriffen traf ihn doch und steigerte seine Wut zur Sinnlosigkeit.

»Du ...!« röchelte er und hob seine Hand und schlug sie ins Gesicht.

»Schlag zu!« sagte sie leise, aber voll Haß, und stand, ohne sich zu rühren.

Ein tiefer Schrecken darüber, was er getan hatte, erfüllte seinen Körper mit Kälte. Wie feig das war, wie traurig und verächtlich! Er sah sie stehen, bleich und starr, mit Augen, in denen ein gleichsam hypnotisierter Haß stille stand. – Da schoß ihm wieder alles Blut zu Kopfe.

»Jawohl,« schrie er, »ja, ich bin gemein, ich bin niedrig, ich bin feig, ich bin verrückt. Aber wer hat das aus mir gemacht? Du! Du ganz allein!«

Und er schlug sie wieder, zwei-, dreimal. Sie zuckte bei jedem Schlage zusammen, rührte sich aber nicht von der Stelle und wehrte sich nicht. – Er starrte sie an. Ihre äußerliche Ruhe steigerte seine Raserei bis zum Gipfel. Ein krampfhaftes Verlangen packte ihn, mit beiden Händen ihren Hals zu umklammern und sie zu erwürgen. Er duckte sich schon zum Sprunge ... Aber plötzlich ließ die Spannung nach; er richtete sich müde auf, drehte sich um und ging zur Tür.

*

Weite Wege ging Thomas in dieser Nacht, weitere Wege noch gingen seine Gedanken. – Das Leben, das hinter ihm lag, jagte sie hinunter in die Abgründe des Todes; aber wie ein Körper, der ins Meer fällt, in einer gewissen Tiefe sein Gewicht verliert und Halt macht, so kamen Thomasens Gedanken, als sie tief genug gedrungen waren, aus ihrer leidenschaftlichen Fahrt. In schwankendem Gleichgewicht verzogen sie eine Weile in der trübroten Dämmerung jener Bezirke, bis eine leichte, müde Strömung sie ergriff und sie mitnahm, in sanftem Auftrieb zu einer neuen Küste des Lebens.

*

Thomas bog, sobald er konnte, aus den belebten Straßen Schwabings in einsamere ein. Aber auch hier führte der kupplerische Frühlingsabend liebende Herzen zusammen: die Luft war voll von Gelächter, Seufzern und Spannung.

Thomas ging schnell und sah immer gerade vor sich hin. Und dabei dachte er daran, wie wenig Glück aus aller der Liebe entspringen würde, die hier die Luft gleichsam in widerlich lauwarmen Wellen zittern machte. Wer unter allen diesen jungen Leuten würde den Leiden der Liebe entgehen? – Die vielleicht, die am meisten Leiden verursachten, die Lebenstüchtigen, die leichten Herzens Leben zu zertreten vermochten ... Wehe denen, die zu sehr liebten!

Endlich bog Thomas in eine Straße ein, die ganz verlassen lag: eine tote Straße mit Häusern in allen Stadien der Vollendung und Plätzen dazwischen, wo der Grund schon für Fundamente ausgehoben war; aber kein Baugerüst war zu sehen, kein Arbeitsgerät lag da. Thomas war hier noch nie gewesen; aber er konnte sich denken, daß dies die Baugründe des großen Schwindlers waren, dessen Millionenkonkurs kürzlich Hunderte von Arbeitern um Lohn und Brot, viele kleine Handwerker um ihr sauer verdientes Geld gebracht hatte. – Auch von Thomasen hingen viele Existenzen ab. Hatte er nicht die Pflicht, zu tun, was in seinen Kräften stand? Wenn er mit Bartenfeld abschlösse, wären sie vor unmittelbarer Not geschützt ...

Aber auf einmal blieb er erstaunt stehen. – Wie kam er dazu, sich hierüber den Kopf zu zerbrechen? Was hatte er damit noch zu tun? – Das alles würden andre Leute schon besorgen!

Er lächelte mit bitterlicher Selbstironie. – War er noch immer der alte Thomas Kerkhoven, der alles Entscheidende gern recht weit hinausschob? – Alle die Gedanken, die er gedacht hatte, seit er aus seinem Hause getreten war, – sie alle waren nichts gewesen als ein Zurückdämmen der Flut seiner Gefühle, die drunten schwollen und gärten; er hatte sich wieder einmal eine Galgenfrist gegeben, bevor er jetzt die letzte, die Konkursbilanz seines Lebens zog. –

Jetzt war er da, wo er sein mußte, jetzt ging er, wohin er gehörte, die tote Straße hinunter, von Westen nach Osten ...

Wie eine kahle, bleifarbne Sumpffläche sah er sein Leben, schweigend, von keinem Windhauche berührt. Nur hier und da stieg plötzlich eine Blase vom Grunde auf: ein bißchen Luft, durch die Verwesung aus den drunten ruhenden Leichen seiner vergangnen Tage befreit. So stiegen Gedanken auf, die aus alter Gewohnheit noch mit dem Leben rechneten ... Stiegen auf und zerplatzten ...!

Das Leben kennen heißt: mit dem Leben fertig sein, sagte er zu sich. Die Lebenstüchtigen kennen es ja nicht ... Wie eine Reihe tiefer Fußstapfen, in denen Moorwasser zittert, lagen seine Jahre hinter ihm. In sinnlosen Bogenlinien war er seinen Weg gegangen, wie ein Nachtwandler oder ein Trunkner. Wo er herkäme, ahnte er kaum; ein Ziel war nicht zu sehen.

Wir haben kein Ziel, dachte Thomas, ohne Hoffnung ist, wer das Leben erst kennt. Um nichts müssen wir klein werden, und schmutzig werden, und uns selber verachten lernen. Fäulnisprodukte sind wir im Sumpfe des Werdens und Vergehens, sinnlos gezeugt, um sinnlos zu zeugen. Und ich habe nicht einmal diesen Beruf erfüllt. – Er seufzte. – Rose hatte ja keine Kinder haben wollen.

»Aber es ist gut so!« sagte er dann laut, warf den Kopf in den Nacken und schritt entschlossener aus, auf den dunkeln Wegen des Englischen Gartens. Er wußte selber nie genau, wo er wäre, aber er wußte: schließlich müßte er so an die Isar kommen.

*

Und endlich rauschte der Fluß vor seinen Füßen. Er sah im Dunkeln nichts, als daß da ein unruhiges Wasser dahintrieb, aber er wußte, daß es gelb und schmutzig war, weil der warme Wind den Schnee im Gebirge schmelzte; und – stromaufwärts lag München. – Mitten unter dem Unrat der leichtsinnigen Stadt würde sein Kadaver dahingewirbelt werden. Es war gleich! Gehörte er nicht dahin: Thomas Kerkhoven, der Sohn des Sonderlings und der Komödiantin, die irgendwo im Spital zugrunde gegangen war. Thomas Kerkhoven, der verpfuschte Künstler, der vom Leben in den Schmutz getretne Mensch?

Warum wartete er noch? Warum warf er sich nicht hinein?

Ihn fröstelte; seine Kniekehlen schmerzten. Er nahm den Hut vom Kopfe und strich sich über die Stirn. Dann setzte er sich nieder, auf das harte Steingeröll des Ufers. Die Arme um die hochgezognen Knie geschlungen, sah er lange und sah auf das wirblig gleitende Wasser hinaus und lauschte seinem Wispern ...

Daß dieses Leben dennoch so viel werbende Kraft besaß! Daß es sich gegen die Vernichtung – oder war es nur Verwandlung? – sträubte! – Seltsam! Seltsam! ...

Was stand ihm alles bevor, wenn er leben bliebe! War das dürftige Dasein, das ihn danach im besten Fall erwartete, diese Fülle von peinlichen Alltagsleiden, von brennender Scham und Demütigung überhaupt wert?

»Vielleicht doch!« flüsterte Thomas vor sich hin.

Waren seine Leiden nicht am Ende die Leiden der Menschheit, die einer schwerer trägt, der andre leichter; aber jeder trägt sie, und keinem werden sie ganz geschenkt?

Der große Fehler in seinem Leben war gewesen, daß er für sich selber einen falschen Wert eingesetzt hatte ... Hier saß er, Aug in Auge mit dem Tode, und begrub seine Träume. Ein andres Ich war aus ihm herausgetreten und stand, ein Schatten mit scharfen Augen und barmherzigem Munde, hinter dem Kauernden und legte eine kühle Hand auf sein Haupt.

»Erkenne und lebe!« sagte der Schatten.

Und weiter sprach er; und Thomas horchte ... Wie die Stimme einer Glocke, die fernher über einen nebligen See kommt, däuchte ihn dieser Klang. Ja, er mußte von dem trügerischen Glauben lassen, daß er ein Mensch wäre, auserwählt unter vielen, zu stehen über den vielen im Sonnenschein. – Der Schatten sprach die Wahrheit: sein Platz war in der Menge.

Sich bescheiden heißt: das Leben ertragen. Und wer es erträgt, den belohnt es. – Braucht das Leben ein Ziel? – Wenn die verstiegnen Wünsche schweigen, beginnen die Blumen am Wegrain zu sprechen ...

Über der Höhe des andern Ufers begann der Himmel sich zu röten. – Mit einem tiefen Erstaunen stand Thomas auf. – Kam schon der Morgen ...?

Noch einen Blick auf das hastige Wasser, – dann ging er den Weg zurück, den er gekommen war, dem Tage und seinen peinlichen Pflichten entgegen ...

Strack ging er dahin, und um ihn entbrannten allmählich die Wipfel der Bäume zu grünen Flammenzeichen des Frühlings ...


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