Arthur Holitscher
Geschichten aus zwei Welten
Arthur Holitscher

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Straßenecken-Legende

Was bin ich? Eine Straßendirne, ein verworfenes Geschöpf, und mein Los auf Erden ist: daß die Männer all den Haß und die Wut, womit ihr Leben sie erfüllt, an mir auslassen und mir Geld geben dafür, daß ich es erdulde. Ich liebe es nicht, daß junge Knaben zu mir kommen, auch nicht die gierigen, geilen Alten, ich will mein Schicksal fühlen, so hart es mich auch geschlagen hat, dafür bin ich ein Mensch! Ich weiß ganz gut, welch ein Schimpf das ist, sagt mir's einer ins Gesicht, du Mensch! aber wenn ich ganz allein bin, da spreche ich's mir doch vor, du bist ein Mensch, ein Mensch, trotz allem. Ich habe es mir abgewöhnt, darüber zu weinen, wovon sollt ich denn leben; eine traurige Hure ist keines Geschmack.

Aber jüngst, da kam einer zu mir, der wollte mich traurig haben. Er hat gesagt, ich soll die Lippen zusammenpressen und ihn aus halbgeschlossenen Augen ansehen, so als sei ich schläfrig. Er ist dann bei mir sitzen geblieben, auf einem Stuhl mir gegenüber, und hat mich erst lang angesehen, bis er dann anfing, leise und mit großer Achtung zu mir zu sprechen – ich merkte gleich: der spricht nicht zu mir, sitzt nur da und denkt an eine andere, und ich soll die andere vorstellen. 194 Darum wagte ich's auch gar nicht, mich zu rühren, nur wie er dann seinen Kopf mir in den Schoß legte, da habe ich ihm mit den Händen ganz sacht über die Haare weggestrichen – und dann hat er mich geküßt. Seine Augen waren zu, und beim Fortgehen gab er mir Geld, mehr als ich's gewohnt bin.

Aber wirklich, er hat mich auf den Mund geküßt, als wär mein Mund ein Menschenmund, geschaffen, ruhige Worte zu sprechen, die aus einem freudigen Herzen und einem gebildeten Hirn hervorkommen.

Schon dreimal war er hier, und noch immer scheint er diese elende Stube nicht zu bemerken und nicht dieses elende Kleid, in dem ich ihm an der Straßenecke begegne, und das ich mir vom Leib reiße, sobald ich ganz allein bin. Neulich hab ich ein paar Worte zu ihm gesprochen, und er hat mich ganz entzückt angesehen, so daß ich glaube: auch meine Stimme muß im Klang ähnlich sein wie die Stimme der Frau, die er lieb hat – ganz stolz und glücklich bin ich darüber, denn nichts ist mir so grauenhaft, wie die Stimmen der Mädchen, die mit mir an der Ecke stehen in der Nacht.

Nichts weiß ich von ihm, als daß er fein gekleidet ist und schöne, gepflegte Hände hat. Er ist nicht wie die anderen, ich kann ihm zuhören, 195 solange ich mag, am Ende ertappe ich mich dabei, daß ich mir kein Sterbenswort von allem gemerkt habe, obzwar ich hörte, wie er von seinem Leben sprach, seiner Arbeit, seiner Mutter. Es kommen oft welche zu mir, die sprechen, sprechen, aber ihr Feind ist's, der ihnen zuhört und sich merkt, was sie ihm antun, das ist nicht so bei meinem Liebsten. Einmal hat er mich gefragt, ob ich ein Kind habe? Ich gab darauf gar keine Antwort, denn ich weiß ja, ich bin die andere, und zu der spricht er, nicht zu mir. Erst wenn er mich in den Armen hält, bin ich wieder ich, ich selbst, denn ich bin ja auch wieder eine andere, und zu der kommt er wohl auch! Aber wenn wir uns lieben, dann bin ich nicht die, dann bin ich ich selbst. So betrüge ich ihn!

Wenn ich ihn nur nicht verliere. Oft ist's mir, wenn ich ihn ansehe, als könnt's nicht lange mehr dauern, und ich wünsche mir, er käme eines Tages und hörte von den Mädchen beim Tor: die ist gestorben, heut hat man sie weggetragen. Und jedesmal, wenn er fortgeht, sage ich mir: sieh ihn gut an, siehst ihn nicht wieder. Er spricht auch wenig mehr zu mir, sieht mich kaum an, und das letztemal, als er mich eine Weile angeschaut hatte, da hat er mich geschlagen! Er hat mir nicht weh getan und ich hab vor Lust geweint, 196 aber er hat sich dann, wie ein Kind, mit der Stirn gegen die Wand gestellt und geschluchzt vor Scham und Schwäche und ist dann gegangen. Ich hab mich gefürchtet vor seinem Blick – er hat mir die Hand gereicht und hat mich angeblickt, so als sähe er mich zum erstenmal, mich, darum hatte ich Angst. Denn eher möchte ich tot fortgetragen werden aus diesem Haus, als daß er nicht wiederkäme!

Und jetzt ist er schon so lange nicht mehr dagewesen. Was mag mit ihm sein. Ich fürchte mich! Ich hatte sein Gesicht noch so gut in der Erinnerung, und nun auf einmal nicht mehr. Ich sitze nur da und starre in meinen Spiegel, traurig, mit zugepreßtem Mund und schweren Lidern – und ertappe mich dabei, wie ich gar nicht an ihn denke, sondern an sie, an die Frau! Immer denk ich jetzt an die, mit dem zugepreßten Mund und den schläfrigen Augen, die mir so sehr ähnlich sieht.

Ich bin in ein anderes Quartier verzogen und denke mir jetzt: er sucht mich und kann mich nicht finden. Die Männer, die mich früher gekannt haben, kommen auch nicht und das ist gut für mich. Ich habe das Geld aus der Sparkasse geholt und meine Hurenkleider verkauft, aber ich muß im Gang und Aussehen noch etwas haben, das die Leute sich 197 nach mir umdrehen läßt. Darüber gräme ich mich. Denn ich gehe jetzt halbe Tage lang in der Stadt herum, es treibt mich, ich weiß gar nicht, was ich suche.

 

Ich weiß es, jetzt weiß ich's! Gestern sah ich sie.

Aus meinem Spiegel hab ich sie erkannt.

Sie ist aus einer Equipage gestiegen und quer vor mir übers Trottoir in ein Modegeschäft eingetreten.

Sie ist hellblond wie ich, sie hat meinen Wuchs, sie hat denselben Kinderhals, sie hat den schläfrigen Blick und die zugepreßten Lippen, aber sie ist blaß, nicht bloß so aus eleganter Affektiertheit, sondern als wollte sie in Wirklichkeit die Augen nicht auftun, um die Welt nicht zu sehen, und den Mund nicht, weil sie was zu verschweigen hat.

Die! – sagte ich zu mir. Und wieder habe ich die entsetzliche Angst gespürt von damals, wie er zum letztenmal fort ist, eine entsetzliche Angst, mit einemmal. Ich bin der Frau nachgegangen, in das Geschäft, stellte mich in ihre Nähe und suchte einen Stoff aus. Die Kommis, die uns bedienten, rissen die Augen auf, sahen sich heimlich an und machten freche Gesichter, aber die Dame hat's nicht bemerkt, so etwas bemerkt nur 198 unsereiner. Von der Kassiererin habe ich dann ihren Namen erfahren. –

Ich sehe in meinem neuen Kleid ganz anständig aus, niemand würde mich für eine Prostituierte halten, eher für eine Erzieherin, bessere Kammerzofe oder so.

Gestern war ich bei der Dame. Man hat mir gesagt, sie empfängt niemand. Ich hab die Klinke in der Hand gehalten, die er gewiß so oft niedergedrückt hielt, ich war ganz schwach, ich hab mich abweisen lassen und sagte nur kleinlaut, ich wollte in ein paar Tagen wiederkommen. Ich log, ich sei Manikure und an die Dame empfohlen. –

Ich will dies Handwerk lernen und probieren, ob ich mich durchschlage. Ich bin auch gleich zu unserer Manikure in der Christinenstraße gegangen und habe aufgepaßt, wie sie's macht. Und morgen geh ich wieder zu der Dame, und sollte ich die Zofe über den Haufen rennen müssen, ich werde hineinkommen und erfahren, was es mit meinem Liebsten ist!

Ich war heute bei ihr. Was hab ich da erlebt. Sie saß an ihrem Schreibtisch und frug mich, wer mich schickt? Aber eh ich noch ein Wort herausbrachte, sah sie mich wie erstarrt an, so hat sie's auch gleich gemerkt, wie ähnlich ich 199 ihr sehe. Ihre Augen sind ganz klein geworden. Ich ging ganz nahe zum Schreibtisch und suchte, ob ich ein Porträt in einem Rahmen dort finden würde, es war aber nur ein kleiner, verwelkter Veilchenstrauß da, in einer silbernen Vase. Da erinnerte ich mich, daß er mir auch ein-, zweimal Veilchen mitgebracht habe, ich hab sie aber nicht mehr, ich hab sie nicht aufbewahrt. Sie frug ganz leise, was ich will? Da fing ich auf einmal, ich weiß nicht wie, zu weinen an und nur, wie sie mich nach einer Weile, schon wie im Zorn, gefragt hat, was ich will, hab ich mich fest gemacht und sie grad aufs Gesicht zu gefragt, was mit meinem Liebsten ist? Erst hat sie mich ganz erstaunt angeblickt, aber lange konnte sie meinen Blick nicht ertragen: die Tränen schossen ihr in die Augen, aber sie schluckte nur und sah weg. Da hab ich gewußt: er ist tot und sie ist schuld daran. Ich bin dagestanden vor ihr und keins hat gesprochen, lange Zeit. –

Am Ende aber hielt ich's nicht länger aus und fing zu sprechen an. Ich sei ein armes Mädchen, aus der Provinz, und habe meinen Liebsten kennen gelernt, als ich bei seiner Mutter Arbeit hatte. Kaum hab ich das gesagt, ist mir auch schon eingefallen: daß ich mir ja dann bei seiner Mutter hätte Rats 200 holen können. Ich wurde ganz verlegen, sie aber stand auf und zeigte nach der Tür: »Sie gehen von hier! Sie gehen augenblicklich!« Aber ich habe mich nicht gerührt, stand da und sah sie an. Im Spiegel bei der Tür erblickte ich mein Gesicht: ich dachte, es blicke voll Verachtung, aber es war mein Straßeneckengesicht, das mir entgegenblickte. Sie war ins andere Zimmer gegangen und hatte sich hinter der Portiere versteckt. Ihre Zofe kam, doch mich anzurühren traute sich die nicht. Ich bin dagestanden und hab gesprochen. Hast du schon keinen, der dich aus Liebe anhört, wenn du deine Not klagst, so redest du's dir vom Herzen vor einem, auf den du den größten Haß hast in dieser Welt! Ich sagte alles her, wie er zu mir gekommen war, daß ich erst sie vorgestellt habe und daß er mich auf den Mund geküßt hat. Und daß er mich auch auf den Mund geküßt hat nachher, wie er mir von ihr erzählt hat und von ihrem Kind, von ihrem Kind auch! Ich habe es ein paarmal gesagt: daß er mir von ihr erzählt hat und von ihrem Kind, obzwar ich nur eine Straßendirne bin, eine Straßendirne. –

Sie hat den feinen Vorhang in Stücke gerissen, in lange Fetzen, die herunterhingen, und hinter denen ich ihre Augen sah. Ich war ganz 201 von Atem und mußte mich setzen, so stark pochte mein Herz. Als es dann ruhiger wurde, hörte ich, wie sie immer ein paar Worte vor sich hinmurmelte . . . von einem reinen Andenken, das jetzt beschmutzt war, das reine Andenken beschmutzt . . . Nun, wenn du reiche, gebildete Frau nichts weiter aus dir heraus findest, als diese Worte, sagte ich mir, dann hasse ich dich nicht, dann hasse ich dich nicht. Ich fürchtete mich, aufzustehen, denn da würde sie doch sicher schreien: Kommen Sie mir nicht in die Nähe! und die Hände an ihr Kleid pressen wie in einem Theaterstück. Wo ich sie doch gar nicht berühren will, nicht im Guten und nicht im Bösen. Ich bin ganz verlegen geworden, für sie, nicht für mich, und auch nicht wegen einer Lüge wie zuvor, sondern aus Wahrhaftigkeit, denn ich hab zum erstenmal, seit ich denke, Mitleid gespürt mit einem Menschen, der nicht ich war.

»Ich gehe,« hab ich gesagt, »ich möchte Sie nicht beflecken mit meinem Hauch, denn ich bin ja eine, die jeder für Geld kaufen kann und an die wohl keiner in seiner Todesstunde denkt, nicht einmal meine Eltern haben's getan. Und doch: wenn die guten Stunden gezählt werden, die einer auf Erden gehabt hat, und die schlimmen, und es wird dann gefragt, wer hat sie dir geschenkt, 202 die guten, wer hat sie dir angetan, die bösen – Ich hab nicht gewußt, wie ich den Satz zu Ende sprechen soll, ich hab meinen Schirm genommen und bin rasch hinaus, und im Vorzimmer ist das Kind gestanden, ein blasses kleines Mädel in einem Spitzenkleidchen. Aber wie ich auf der Straße war, bin ich mir gar nicht mehr wie ein Auswurf vorgekommen. Ich habe sogar die Blicke ausgehalten, und an die Manikure dachte ich nicht mehr, dachte nicht mehr daran. – –

 

Was alles ist weit. Ein Jahr zurück? Viele? Heute war ich wieder im Modengeschäft, und wie ich aus meinem Wagen steige, hält vor mir einer und die Dame steigt aus, die von dazumal, und tritt vor mir ins Geschäft ein. Ich hätte sie kaum wiedererkannt, sie hat sich sehr verändert, so dürr, mit solchem Kinderhals, als wär sie eingegangen, kleiner geworden – sie sieht mir gar nicht mehr ähnlich.

Mich hat derselbe Kommis bedient wie damals. Die Leute schauen mich nicht mehr frech an, ich habe mich herausgemacht in der Zeit. Ich ließ mir den teuern Chinastoff vorlegen, aus dem Schaufenster, er paßt sehr gut zu meinem Teint und zu meiner Gestalt und zu meinem Haar. 203

 


 


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