Hugo von Hofmannsthal
Andreas
Hugo von Hofmannsthal

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Er saß schon auf dem Frachtwagen, die Pferde zogen an, er wußte nicht wie. Eine Zeit muß vergehen, hierbleiben kann ich nicht, aber wiederkommen kann ich, dachte er, und bald, als der Gleiche und als ein Anderer. Er fühlte die Kette zwischen seinen Fingern, die ihn versicherte, daß alles wirklich war und kein Traum.

Der Wagen rollte bergab, vor ihm war die Sonne und das erleuchtete weite Land, hinter ihm das enge Tal mit dem einsamen Gehöft, das schon im Schatten lag. Seine Augen sahen nach vorn, aber mit einem leeren kurzen Blick, die Augen des Herzens schauten mit aller Macht nach rückwärts. Die Stimme des Fuhrmannes riß ihn aus sich, der mit der Peitsche nach oben zeigte, wo in der reinen Abendluft ein Adler kreiste. Nun wurde Andreas erst gewahr, was vor seinen Augen lag. Die Straße hatte sich aus dem Bergtal herausgewunden und jäh nach links hingewandt; hier war ein mächtiges Tal aufgetan, tief unten wand sich ein Fluß, kein Bach mehr, dahin, darüber aber jenseits der mächtigste Stock des Gebirges, hinter dem, noch hoch oben, die Sonne unterging. Ungeheure Schatten fielen ins Flußtal hinab, ganze Wälder in schwärzlichem Blau starrten an dem zerrissenen Fuß des Berges, verdunkelte Wasserfälle schossen in den Schluchten hernieder, oben war alles frei, kahl, kühn emporsteigend, jähe Halden, Felswände, zuoberst der beschneite Gipfel, unsagbar leuchtend und rein.

Andreas war zumut wie noch nie in der Natur. Ihm war, als wäre dies mit einem Schlag aus ihm selber hervorgestiegen: diese Macht, dies Empordrängen, diese Reinheit zuoberst. Der herrliche Vogel schwebte oben allein noch im Licht, mit ausgebreiteten Fittichen zog er langsame Kreise, der sah alles von dort, wo er schwebte, sah noch ins Finazzertal hinein, und der Hof, das Dorf, die Gräber von Romanas Geschwistern waren seinem durchdringenden Blick nahe wie diese Bergschluchten, in deren bläuliche Schatten er hinabäugte, nach einem jungen Reh oder einer verlaufenen Ziege. Andreas umfing den Vogel, ja er schwang sich auf zu ihm mit einem beseligten Gefühl. Nicht in das Tier hinein zwang es ihn diesmal, nur des Tieres höchste Gewalt und Gabe fühlte er auch in seine Seele fließen. Jede Verdunklung, jede Stockung wich von ihm. Er ahnte, daß ein Blick von hoch genug alle Getrennten vereinigt und daß die Einsamkeit nur eine Täuschung ist. Er hatte Romana überall – er konnte sie in sich nehmen wo er wollte. Jener Berg, der vor ihm aufstieg und dem Himmel entgegenpfeilerte, war ihm ein Bruder und mehr als ein Bruder. Wie jener in gewaltigen Räumen das zarte Reh hegte, mit Schattenkühle es deckte, mit bläulichem Dunkel es vor dem Verfolger barg, so lebte in ihm Romana. Seine Seele hatte einen Mittelpunkt. Er sah in sich hinein und sah Romana niederknien und beten: sie bog ihre Knie wie das Reh, wenn es sich zur Ruhe bettet, die zarten Ständer kreuzt, und die Gebärde war ihm unsagbar. Kreise lösten sich ab. Er betete mit ihr, und wie er hinübersah, war er gewahr, daß der Berg nichts anderes war als sein Gebet. Eine unsagbare Sicherheit fiel ihn an: es war der glücklichste Augenblick seines Lebens.

 

Als er zu seinen Hausleuten herunterkam, fand er das Mädchen Zustina in eifrigem Handel mit einem kleinen Mann in mittleren Jahren, dessen Gesicht durch eine fast halbmondförmig gekrümmte Nase ein verwegenes und besonderes Aussehen erhielt, und der in einem baumwollenen Schnupftuch etwas in der Hand trug, wovon das Zimmer mit Fischgeruch erfüllt war. »Nein, es geht wirklich nicht, was Sie sich von den Leuten aufschwatzen lassen«, hörte er sie sagen. »Wenn es ein anderer Tag wäre, würde ich es vor der Mutter verantworten. Aber heute müssen Sie mir wieder herunter. Und vergessen Sie dann auch den Tapezierer nicht. Verhandeln Sie es mit ihm Punkt für Punkt, genau so wie ich gesagt habe. Die Ziehung ist genau eine Woche nach Mariä Geburt, also muß am Abend vorher der Altar geliefert sein. Fehlt das geringste, so wird ihm ein halber Silberdukaten abgezogen. Genau wie einen Fronleichnamsaltar will ichs haben, vorne eine Draperie mit Girlanden, und in die Mitte zwischen frischen Blumenarrangements kommt die Urne, aus der die Lose gezogen werden. Für die Aufstellung darf er nichts separat rechnen. Er hats ins Haus zu liefern, beim Zurichten und Dekorieren muß Zorzi helfen. Jetzt gehen Sie und richten es so aus, daß man Sie beglückwünschen muß, und lassen Sie mir Ihr Ausgabenbuch da, ich werde es durchsehen.«

Der Alte entfernte sich, als Andreas eintrat. »Da sind Sie ja«, sagte Zustina. »Ihr Gepäck liegt schon unten. Zorzi wird Leute holen, die es heraufschaffen. Dann wird er Ihnen ein gutes Kaffeehaus zeigen und Sie, wenn Sie wollen, zu meiner Schwester begleiten, die sich sehr freuen wird, Ihre Bekanntschaft zu machen. – Zu solchen Diensten ist er gut«, setzte sie hinzu, »im übrigen aber ist es durchaus nicht nötig, daß Sie gleich Ihren Vertrauten aus ihm machen. Das ist übrigens Ihre Sache, es gibt allerlei Menschen auf der Welt, und jeder muß sehen, wie er sich durchfindet. Ich sage, man muß die Welt nehmen wie sie ist.« Sie lief zum Herd, sah in der Röhre nach, begoß den Braten; ein paar Kleidungsstücke, die der Mutter und den Knaben zu gehören schienen, verschwanden in einem großen Schrank. Sie jagte die Katze vom Speisebrett und besorgte einen Vogel, der im Fenster hing. »Eines wollte ich Ihnen auch sagen«, fuhr sie fort und blieb einen Augenblick vor Andreas stehen, »ich weiß nicht, ob Sie eine größere Summe Geldes bei sich haben oder einen Brief an Ihren Bankier. Wenn es das erstere ist, so geben Sie es einem Geschäftsfreund oder wen immer Sie hier in der Stadt kennen zum Aufheben. Nicht als ob es unehrliche Leute im Hause gäbe, aber ich will keine Verantwortung haben. Ich habe genug zu tun, das Haus in Ordnung zu halten, meine zwei Brüder zu unterrichten und für meinen Vater zu sorgen; denn meine Mutter ist meist auswärts beschäftigt. Auch können Sie denken, daß mir die Vorbereitung für die Lotterie Mühe und Denken genug kostet. Wie leicht beleidigt man... – Sie müssen entschuldigen, daß es uns nicht möglich ist, Ihnen ein Los anzubieten, obwohl Sie bei uns wohnen, aber Sie sind ein Fremder, und in einem solchen Punkt sind unsere Protektoren sehr genau.«

Sie rechnete unterweilen stehend das kleine Ausgabenbuch nach und bediente sich dazu eines winzigen Bleistifts, den sie in irgendeiner Locke ihres Toupets verborgen gehabt hatte; denn sie war frisiert wie zu einem Ball mit einem hohen Toupet und trug zu den Pantoffeln einen Taffetrock mit Silberspitzen, oben aber eine karierte Hausjacke, die ihr viel zu weit war und den reizenden schlanken, aber gar nicht kindlichen Hals völlig zeigte. Ihre Augen gingen unterm halblauten Rechnen, mit dem sie ihre Rede unterbrach, bald auf Andreas, bald auf den Herd, bald auf die Katze. Auf einmal schoß ihr etwas durch den Kopf, sie flog ans Fenster, bog sich weit hinaus und rief durchdringend hinunter: »Graf Gasparo! Graf Gasparo! Hören Sie mich noch! Ich muß Ihnen noch etwas sagen.«

»Hier bin ich«, sagte der Herr mit der Hakennase und den Fischen und trat unvermutet durch die Tür ins Zimmer. »Was schreist du nach mir durchs Fenster? – hier stehe ich«, und er wandte sich zu Andreas: »Ich habe soeben unten erst vernommen, daß Sie der ansehnliche junge Fremde sind, den ich die Ehre habe, als meinen Gast zu begrüßen. Ich wünsche Ihnen und uns, es möge Ihnen unter unserem bescheidenen Dache wohlergehen. Sie bewohnen die Zimmer meiner Tochter Nina. Sie kennen sie noch nicht, und so können Sie den Beweis der Hochschätzung und des Vertrauens noch nicht ermessen, den wir Ihnen geben, indem wir dieses Appartement zu Ihrer Verfügung stellen. Die Wohnung eines solchen Wesens ist wie das Kleid eines Heiligen, an dem Kräfte haften. Was immer Sie in dieser Stadt erleben werden – und Sie sind hergekommen, um Erlebnisse und Erfahrungen zu sammeln –, in diesen 4 Wänden wird die Ruhe des Gemüts und das Gleichgewicht der Seele Ihnen zurückkehren. Die Luft selber in diesen Zimmern atmet, wie soll ich sagen, eine unüberwindliche Tugend. Lieber zu sterben als diese Tugend zu opfern, war der eherne Vorsatz meines Kindes. Ich, mein Herr, war weder imstande, meine Tochter in einer solchen Gesinnung zu bestärken, noch sie dafür zu belohnen. Ich bin eine gescheiterte Existenz, herabgestürzt in Stürmen von der Höhe meiner Familie.« Er berührte Andreas' Arm mit seiner Hand die weiß und außerordentlich wohlgeformt nur zu klein für einen Mann und dadurch unerfreulich war. Er trat zurück und ließ die Hand mit einer unnachahmlichen Gebärde sinken. Mit einer Verneigung verließ er das Zimmer.

Zustinas Gesicht strahlte vor Bewunderung über die Rede des Grafen. Wirklich war die Art, wie er die wenigen Sätze vorgebracht hatte, ein Meisterwerk von Anstand und Abstufung: Der Ältere sprach zum Jüngeren, der Hausherr zu seinem Gast, der vom Leben geprüfte Greis väterlich zum ungeprüften Jüngling und ein venezianischer Edelmann zum Edelmann: – das alles war darin. »Was sagen Sie dazu, wie mein Vater sich ausdrückt?« fragte sie. Über dem aufrichtigen und kindlichen Vergnügen, das sie empfand, schien sie vergessen zu haben, daß sie den Vater um irgendeiner Sache willen zurückgerufen hatte. »So findet er in jeder Lage«, rief sie mit leuchtenden Augen, »das richtige Wort. Er hat viel Unglück gehabt und viele Feinde, aber seine großen Talente kann ihm niemand abstreiten.« War sie früher quecksilbern und eifrig gewesen, aber dabei trocken, so war sie nun erst ganz belebt von innen heraus, ihre Augen leuchteten, und ihr Mund bewegte sich mit einem unbeschreiblichen, kindhaften Eifer. Etwas in ihr ließ an ein Eichhörnchen denken, doch war sie eine resolute brave kleine Frau.

»Nun kennen Sie also auch meinen Vater, und ehe eine Stunde vergeht, werden Sie meine Schwester kennenlernen und sicher auch einige ihrer Freunde. Der vornehmste darunter ist der Herzog von Camposagrado, der spanische Gesandte. Er ist ein so großer Herr, daß, wenn der König von Spanien mit ihm spricht, so setzt er seinen Hut auf. Erschrecken Sie nicht, wenn Sie ihn sehen, er sieht aus wie ein wildes Tier, aber er ist ein sehr großer Herr.« Sie hielt inne. »Da hat sie einen unter ihren Freunden, der mir selbst gefiele, – aber wozu von mir sprechen. Es ist ein österreichischer Hauptmann, ein Slawonier, das heißt, er besitzt ein österreichisches Hauptmannspatent und hat Privilegien, die Vieheinfuhr für ungarische und steirische Ochsen über Triest, ein schönes Geschäft, und er ist auch ein schöner Mann und in Nina verliebt über alle Begriffe. Denken Sie, daß er nie von Tisch aufsteht ohne auf ihr Wohl zu trinken und daß er dann jedesmal sein Glas durch die Scheiben in den Kanal oder gegen die Mauer wirft, wenn es aber ein besonderer Tag ist, so zerschlägt er in der gleichen Weise alles Glas was auf dem Tisch ist, und alles Nina zu Ehren. Natürlich bezahlt er dann die Gläser. Ist das nicht eine Bestialität? – aber in seinem Land ist das größte Höflichkeit. Er ist ein großer Spieler – nun, Sie werden ihn selbst kennenlernen und werden leben wie die andern. Wäre er mein Mann, würde ich ihms schon abgewöhnen. Eines aber«, fuhr sie fort und sah ihn ernsthaft und wichtig an, mit einem reizenden Ausdruck, »wenn Sie Händel bekommen, Mißverständnisse, Zank und Streit, so setzen Sie Ihren Willen durch. Lassen Sie sich nicht durch Tränen herumkriegen, weder durch die Tränen von Weibern noch von Männern. Das ist eine läppische Schwachheit, die ich nicht leiden kann. Aber ich spreche nicht von Ninas Tränen. Ninas Tränen sind echt wie Gold. Wenn sie weint, da ist sie wie ein kleines Kind. Man hat nicht das Herz, ihr zu versagen, was sie sich wünscht, denn sie hat ein zehnmal besseres Herz als ich, obwohl sie schon dreiundzwanzig ist und ich noch nicht sechzehn. Aber was kann das Sie interessieren«, setzte sie mit einem schelmischen Blick hinzu, indem sie den Vogel am Fenster versorgte, »mich über mich reden zu hören – dazu sind Sie nicht nach Venedig gekommen. Gehen Sie hinunter, Zorzi wird unten stehen und auf Sie warten.«

Andreas war schon auf der Treppe, als sie ihm nachkam. »Noch eins – es ist mir nur so durch den Kopf gegangen. Sie sehen gutmütig aus, und einen Guten muß man beim ersten Schritt warnen. Lassen Sie sich niemals von einem andern Wechsel zum Akzeptieren aufschwätzen, wenn er Ihnen auch zur Deckung andere zugleich anbietet, die vor den seinigen fällig sind, – niemals, verstehen Sie mich.« Einen Augenblick legte sie ihre Hand leicht auf Andreas' Arm – es war ganz die gleiche Gebärde, die vorhin der Vater gehabt hatte, aber wie wahr ist das Sprichwort, wenn Zwei dasselbe tun, ist es nicht dasselbe. Es war eine so reizende kleine Hand und die mütterliche, frauenhafte Gebärde bezaubernd. – Sie war schon wieder drin, und als Andreas die Treppe hinabging, hörte er sie auf der andern Seite durchs Fenster Zorzi zurufen.

»Ist sie nicht eine allerliebste kleine Frau«, sagte Zorzi, der unten stand, als hätte er erraten, womit sich Andreas' Gedanken beschäftigten. – »Aber was hat es mit der Lotterie auf sich«, fragte Andreas nach den ersten Schritten, »wer gibt die Preise aus, und was hat die Familie damit zu schaffen? es sieht ja aus, als wären sie selber die Veranstalter.« Der Maler antwortete nicht sogleich. »Das sind sie auch«, sagte er, indem er seine Schritte an einer Straßenecke verlangsamte und Andreas an sich herankommen ließ. »Warum soll ich es Ihnen nicht sagen? die Lotterie geht in einem kleinen Kreise von vornehmen und reichen Herren vor sich, und der erste Preis ist die Kleine selber.« – »Wie, sie selber?« – »Nun, ihre Jungfernschaft, wenn Sie ein anderes Wort wollen. Sie ist ein gutes Geschöpf und hat sich in den Kopf gesetzt, ihren Leuten aus dem Elend zu helfen. Sie sollten hören, wie schön sie über die Sache redet und welche Mühe sie sich mit der Subskription gegeben hat. Denn bei ihr muß alles nett und ordentlich zugehen. Ein großer Herr, der ein alter Gönner der Familie ist, hat das Protektorat übernommen«, hier dämpfte er die Stimme, »- es ist der Patrizier Herr Sacramozo, der zuletzt Gouverneur von Korfu war. Ein Los kostet nicht weniger als vierundzwanzig Zechinen, und es ist kein Name auf die Subskriptionsliste gesetzt worden, der nicht von Herrn Sacramozo gebilligt worden wäre.«


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