Hans Hoffmann
Im Lande der Phäaken
Hans Hoffmann

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Perikles,
der Sohn des Xanthippos.

Dem Priester Panagiotis Chrysikopulos zu Gasturi auf der Insel Korfu wurde an einem Dreifaltigkeitsfeste ein Mägdlein zur Taufe gebracht, auf welches nicht allein dessen Eltern, sondern auch alle anderen zahlreich versammelten Zuschauer mit ganz auserlesenem Antheil blickten. Es war den Eltern, einfachen Bauersleuten, nach zwölfjähriger kinderloser Ehe am Pfingstsonntage gerade unter dem Glockenläuten geschenkt worden; am selben Tage, ja sehr wahrscheinlich zur selben Stunde hatte ein Fieberkranker in der Nachbarschaft eine merkliche Erleichterung seines Zustandes gefühlt; eine Frau hatte einen schon aufgegebenen Ohrring plötzlich in einem Strumpfe wiedergefunden; ein Esel war sehr hoch von einem Felsen gestürzt, ohne sich wesentlich zu verletzen – diejenigen, welche behaupteten, dieser Fall habe sich schon am Tage zuvor ereignet, wurden schnell überstimmt – einige Himmelskundige hatten aus sicheren Anzeichen schlechtes Pfingstwetter 188 prophezeit: es war aber gerade der prächtigste Sonnenschein gewesen. Als das Kind nun seinen ersten Weg zur Kirche that, geschah dies unter einem fernen majestätischen Donner gleich als unter einem himmlischen Glockengeläute; dicht vor der Thür des Hauses kroch eine schillernde Schlange langsam über den Weg, und die Taufhandlung selbst wurde ein wenig dadurch gestört, daß die Wehemutter ganz laut ihren Nachbarn mittheilte, sie habe in stiller Nacht über der Wiege dieses Säuglings ein äußerst freundliches Gewisper vernommen, das nichts Anderes als die Stimme der Mören gewesen sein könne.

Das Kind erhielt den Namen Kalomira und blieb fortan ein Augenmerk der ganzen Gemeinde.

Es zeigte sich bald, daß die allgemeine Erwartung von einem besonders begnadeten Wesen des kleinen Geschöpfes vollständig berechtigt war. Es gedieh nicht nur selbst in trefflichster Gesundheit und in einer Schönheit, die sogar in Gasturi, dessen Frauen doch dieserhalb weithin berühmt sind, Aufsehen erregte, sondern offenbar ließ es auch seine Umgebung an dem sichtbaren Himmelssegen Theil nehmen. Zunächst bemerkte man an den Eltern eine sehr bedeutsame Wandlung. Dieselben waren bisher als ein ziemlich verlottertes, faules und schmieriges Pärchen bekannt gewesen, da sie doch für Niemanden 189 als sich selbst zu sorgen hatten; jetzt auf einmal, nachdem ein kleiner Esser mehr im Hause war, besserten sich ihre Glücksumstände in überraschender Weise. Man sah sie hübsch gekleidet auch am Werktag einhergehen, sie hielten ihr Haus in einiger Ordnung, aßen gut und wußten doch noch ein Sümmchen alljährlich nach der Olivenernte zurückzulegen. Da war es denn kein Wunder, daß sie nun beständig guter Dinge waren, indeß sie früher allzu häufig sich und ihre Nachbarn angeknurrt hatten.

Dieses Alles beobachtete am besten Panagiotis Chrysikopulos, welcher von Natur ein kluger und scharfblickender, wie auch höchst wohlwollender Mann war. Derselbe stammte zwar auch von Korfu, woselbst schon sein Vater und sein Großvater an verschiedenen Orten des Priesteramtes gewaltet hatten, er war jedoch längere Zeit auf der Nachbarinsel Kephallenia thätig gewesen, und als er von dorther in seine jetzige Gemeinde versetzt wurde, merkte er rasch mit einigem Mißbehagen, daß seine korfiotischen Landsleute sich von jenen früheren Beichtkindern sehr beträchtlich und nicht zu ihrem Vortheil unterschieden. Die Kephallenier nämlich sind überall von Hause aus ernst, fleißig und tüchtig, und wenn ihnen der bergig schroffe Boden ihres Landes nicht freiwillig mühelose Gaben bietet, so wissen sie ihm durch 190 Sorgfalt und Ausdauer desto reichere Frucht zu entlocken. Und so wenden sie auch auf ihre Wohnstätten und sonst ihr äußeres Wesen mehr Aufmerksamkeit, kurz sie sind ein anständiges, stilles und allerdings auch etwas kopfhängerisches Geschlecht, an dem ein Volkswirth und ein guter Geistlicher seine aufrichtige Freude haben muß. Ganz anders fand nun Panagiotis seine Gasturier und allerwärts sonst die Leute von Korfu geartet; fröhlich und sorglos lebten sie in den Tag hinein, ließen sich von ihrem über die Maßen freigebigen Lande dankbar ernähren, mit so wenig Arbeit es irgend möglich zu machen war, sammelten unter ihren prachtvollen Oelbäumen die allmählich herabfallenden Früchte – nicht daß sie solche erst mühselig schüttelten oder abschlugen –, weideten ihre Lämmer auf dem fetten Rasen darunter in Frieden, und nur sehr maßvoll trieben sie hier und da auch ein wenig Weinbau oder Gemüsezucht, als welche beide eine unverhältnißmäßig große Anstrengung des Leibes erfordern. Dafür verstanden sie alle Fest- und Ruhetage, deren Zahl doch nicht verächtlich ist, mit ehrlicher Hingebung und tadelloser Kunst des Genießens zu feiern.

Nun konnten sie sich bezüglich dieses ihres etwas lockeren Wesens allerdings mit einigem Fug auf ihre legitime Abstammung von der glückseligen Nation 191 der uralten Phäaken berufen, auch waren sie bei alledem im Großen ein heiterliebenswürdiges Völkchen, wie auch recht viel bitterliche Armuth bei der unerschöpflichen Fruchtbarkeit ihres Bodens nicht gefunden ward. Trotzdem wünschte sie der wackere Chrysikopulos ein wenig anders, etwas arbeitsamer und auch um ein Geringes säuberlicher in ihrem Aeußeren; er hatte freilich mit allen Predigten bisher gegen die festgewurzelte Eigenthümlichkeit des süßen Nichtsthuns so gut wie gar nichts ausrichten können.

Da machte er jetzt die Bemerkung, daß ein ihm so recht besonders anstößiges Paar wie die Eltern der kleinen Kalomira auf einmal ganz von selbst energisch den Weg der Besserung beschritt, und weil er sehr bald auch die Ursache deß erkannte, so kam er auf den Gedanken, ob es nicht angehen möchte, mit einem gleichen Mittel auf die ganze Gemeinde stillheimlich einzuwirken.

In dieser wohlerwogenen Absicht begann er damit, jenen zufällig erwachsenen Volksglauben von der wunderbaren Segenskraft der Kalomira jetzt selber künstlich mit allem Nachdruck aufzupflegen, indem er das Kind unter seiner Aufsicht allerhand kleine Wunderzeichen und glänzende Heilungen vollbringen ließ. Und weil er zugleich aussprengte, an 192 heimlichen Bösewichtern müsse diese himmlische Kraft unwirksam bleiben, so fand sich Niemand, von dem nicht alles Kopf- und Zahnweh, Gliederreißen, Husten und Schnupfen bei Annäherung des Kindes bereitwillig entwich, während Panagiotis allerdings schwereren Gebresten mit Sorgfalt aus dem Wege ging, denn er bedachte, daß gegen den Tod auch dieses Wunderkräutchen nicht gewachsen war.

Nachdem auf solche Weise der allgemeine Glaube genügend gekräftigt war, schärfte der Priester all seinen Beichtkindern ein, es sei geziemend, daß ein Jeglicher der gutthätigen Kalomira seinen Dank in einem kleinen laufenden Zinse von seinem Verdienst abzutragen suche. Damit sie aber selbst durch solche dauernde Steuer nicht in Schaden kämen, sei es ja nur nöthig, daß sie jeden Tag ein ganz klein wenig, nur etwa eine und die andere Minute länger als sonst arbeiteten, um ihre früheren Ernten in gleicher Fülle zu erhalten.

Das leuchtete Allen ein; Keiner wagte sich dem kleinen Tribut zu entziehen, um nicht auch sein Antheilsrecht an dem allgemeinen Segen zu verlieren. Weil aber Jeder wußte, daß er zuvor mit seiner Arbeit nur gerade so viel verdient hatte, als er zum nothdürftigsten Leben gebrauchte, so plagte ihn alsbald die Sorge, fortan mit seinen Einküuften nicht 193 mehr zurechtzukommen, und er wirthschaftete zu aller Sicherheit um so viel fleißiger darauf los, als ob er mindestens um das Zehnfache besteuert wäre. So kam es, daß die kleine Kalomira der freien Gaben die Fülle genoß und zugleich ihre Segensmacht auf das Allerschönste am ganzen Körper der Gemeinde sich offenbarte. Der Wohlstand des Dorfes wuchs zusehends von Jahr zu Jahr, der Anbau des Feldes mehrte sich, die Häuser gewannen ein netteres Ansehen und nicht minder die Menschen selbst; und das Alles geschah, ohne daß dies Völkchen irgend etwas an seiner alten Fröhlichkeit und Festeslust eingebüßt hätte.

Panagiotis Chrysikopulos lächelte mit heiterem Stolz zu seinem Erfolge; das Kind aber ward wie billig immer mehr der Abgott des ganzen Dorfes. Wo es in seiner jungen Schönheit sich zeigte, da wurden alle Gesichter hell; wo die Leute unter den Bäumen saßen, Oliven sammelnd, und Kalomira hüpfte spielend vorüber, da flogen die Hände noch einmal so schnell, und wenn sie gar, wie es der Priester sie in aller Stille gelehrt, auf ein Augenblickchen freundlich mit angriff, da schien es, als ob ein guter Geist die Körbe füllte, so schnell strotzten sie bis zum Rande von den edlen Früchten. Dann küßten die Leute ihr dankbar die Hände, und sie 194 ließ sich solche frommen Huldigungen ohne Kummer gefallen. Auch von ihren Gespielen verschmähte sie nicht die gleiche Ehrerbietung huldreich entgegenzunehmen, ja allmählich mehr und mehr schon zu verlangen. Und seit sie einmal zu einem Jungen, der etwas unsauber gekleidet war und ein gar zu arges Schmutznäschen ihrer Hand näherte, laut gesprochen hatte: »O pfui doch, wie darf ein solches Ferkel meine Hand küssen?« da ging ein Schrecken durch die Schaar der Kinder, und keines wagte künftig anders als in reinlichem Gewande und mit vorwurfsfreier Nase ihrer Nähe zu genießen. Und von den Kindern lernten das hinwiederum auch die Eltern.

Unter solchen Umständen konnte es nicht leicht anders kommen, als daß dies beglückte junge Wesen, da es immer nur freudige Gesichter sich gegenüber sah, auch selber durchaus ähnlichen Gemüthes wurde und so in der Folge wiederum seine innere herrliche Heiterkeit mit unbewußtem Danke segnend auf alle seine Wohlthäter zurückstrahlte. Nebenbei freilich blieb es nicht aus, daß sich früh ein kleiner Hochmuthsteufel ihr in den Nacken setzte, ihr das Näschen kräftig in die Höhe reckte und ihren Kindergeberden eine seltsam possirliche Würde lieh. Denn da alle Anderen sie für eine Art Gnadenprinzessin oder gar 195 Heilige ansahen, wie hätte sie selbst sich diesem frohen Glauben verschließen sollen? Geht doch dem Menschenkinde nichts so wohlig ein als das stattliche Bewußtsein, ein auserlesen Werkzeug Gottes zu guten Zwecken vorzustellen.

Ein Unglück nur betraf sie während ihrer ganzen Kinderzeit: ihre beiden Eltern starben kurz hinter einander mitten im besten Gedeihen ihres Hauses. Doch sogar dieses Mißgeschick schlug ihr gleich wieder zu einem neuen Glücke aus. Der Priester Chrysikopulos nämlich nahm sie in sein Haus auf, in welchem er bis dahin kinderlos mit seiner Gattin gelebt hatte, und leitete mit klugem Sinn ihre weitere Erziehung. Zwar weiß man ja, daß hellenische Dorfgeistliche nicht eben große Gelehrte zu sein pflegen, aber sie verstehen doch meistens ganz gut zu lesen und zu schreiben, und so lernte auch die Pflegetochter etwas von diesen Künsten.

Eines Tages saß die nun zehnjährige Kalomira friedlich im Grase und hütete ihre Lämmer unter den Oelbäumen, hatte auch ein Körbchen mit Orangen neben sich stehen, die sie als Geschenke ihrer andächtigen Verehrer gesammelt hatte. Da trat ein Knabe zu ihr, der um einige Jahre älter und ihr völlig fremd war, denn er stammte aus einem anderen Dorfe, dem benachbarten Benizze unten am 196 Meeresstrand. Er aber kannte sie – ihr Ruhm war nicht auf ihren Heimathsort beschränkt geblieben –, und mit sittsamer Geberde näherte er sich, ihr mit Handkuß und ähnlicher Feierlichkeit seine Reverenz zu machen. Er war jedoch von Herzen ein Schalk und glaubte nicht viel von ihren Gnadengaben, oder meinte doch, dieselben hätten nur für Gasturi Gültigkeit; und so war es denn eitel Uebermuth und Bosheit, was er mit dem Kinde vorhatte. Während er sich scheinbar so rührend demüthigte und die linke Hand fromm vor Brust und Stirn hob, stibitzte unterdessen die rechte mit ausnehmender Gewandtheit eine Orange nach der anderen aus dem Körbchen und stopfte sie hurtig in die weiten Taschen seiner blauen Pluderhosen. Und als er mit diesem Unternehmen zu Ende gekommen war, sprang er laut lachend auf, lief bergabwärts von dannen und warf erst aus sicherer Entfernung einen spöttisch-frechen Blick zu der Beraubten zurück.

Er meinte nun sicherlich, sie würde alsbald in einen unbändigen Zorn verfallen und ihm also der Genuß zu Theil werden, das verhimmelte Geschöpf in einem nur allzu menschlichen Seelenzustand zu erblicken. Das geschah jedoch nicht, sondern das Kind war dermaßen erschüttert durch die unerhörte That, daß es gar nicht einmal die Kraft zu einem 197 Zornesausbruch sammeln konnte, vielmehr immer noch ganz verstört dasaß und dem Räuber stumm mit klagenden Blicken nachschaute, recht wie eine Märtyrerin ihren Bedrängern gegenüber sich geberden soll.

Das schlug ihm nun doch gar wunderlich auf die Seele; hastigen Laufes machte er sich fort aus dem Bereich dieser schrecklich heiligen Kinderaugen und stand nicht eher still, als bis er sein heimisches Dorf und seines Vaters Haus am Strande erreicht hatte. Hier setzte er sich rittlings auf ein umgekehrtes Fischerboot, zog die Orangen hervor und speiste sie eine nach der anderen mit so großer Eile, als könnte er mit ihnen zugleich das heimlich nagende Angstgefühl hinabschlucken. Noch vor der Vollendung dieser Arbeit überraschte ihn sein Vater, und da derselbe die vielen umhergestreuten Schalen erblickte, schwante ihm nichts Gutes, denn er kannte sein Pflänzchen, und er sprach:

»Perikles, Du Lump, wo hast Du diese Orangen gestohlen?«

Solches Donnerwort des Vaters bedeutete für diesen jungen Perikles gemeiniglich ein nicht unwirksames Surrogat des Gewissens; diesmal aber weckte es die halb schon aufgerüttelte Reue zu ganz besonders kräftigem Leben, und obwohl er nichts 198 eingestand, nahm er sich im Stillen um so ernstlicher vor, sein Unrecht an dem Kinde nach Kräften wieder gut zu machen. Natürlich mußte er zu allererst der Geschädigten eine mindestens gleiche Anzahl von Früchten wieder zustellen. Das war nicht schwer: er brauchte ja nur über des ersten besten Nachbarn Mauer zu steigen und zu pflücken, so viel er bedurfte. Wurde er dabei betroffen, so gewann er eine Tracht Prügel; doch das war ein Uebel, welches immerhin noch zu den erträglichen gehörte, wie eine breite Basis von Erfahrung ihn gelehrt hatte. Allein er wünschte noch ein Uebriges zu thun, eine Extrabuße zu erlegen; nur wußte er noch nicht, worin dieselbe bestehen sollte.

In solchen Sorgen lief er am nächsten Tage einsam den weiten Weg in die Stadt Kerkyra, indem er meinte, beim Anblick so vieler aufgespeicherter Schätze daselbst werde ihm schon irgend ein kluger Gedanke kommen. Denn er war von Natur kein erfindungsarmer Kopf und war sich dessen auch wohl bewußt. Nicht umsonst und nicht ohne Selbstbesinnung trug er den Namen Perikles, vielmehr stand in seiner Seele mit glänzenden Zügen die in der Schule empfangene Wahrheit geschrieben: »Perikles, der Sohn des Xanthippos, zeichnete sich aus 199 vor allen Hellenen durch Weisheit, Beredsamkeit und mancherlei bürgerliche Tugend.«

Er pflegte deshalb auch seinen Vater beharrlich Xanthippos zu nennen, während demselben doch eigentlich nur der schlichte Name Spiro zukam, welchen die meisten Einwohner der Insel tragen.

Indem nun Perikles sich in solcher Absicht durch die engen Gassen der Stadt trollte, fiel ihm an einem Schaufenster ein hübsches rothes Band ins Auge, von der Art, wie es sich dort zu Lande die Weiber ins Haar zu flechten gewohnt sind, und es erwachte in ihm die Begierde, dasselbe zu besitzen und als ein zierliches Sühnopfer zu verwenden. Da er jedoch über keinerlei Geldmittel verfügte, so stand er lange und blickte mit ernst-andächtigen Augen zu dem kleinen Gegenstande seiner Wünsche empor.

So merkte er nicht, wie ein Mann in europäischer Kleidung nicht weit von ihm stehen blieb und sich mit erfreuter Miene in seinen Anblick gerade so vertiefte wie er selbst in den des rothen Bändchens. Endlich trat dieser Herr zu ihm, klopfte ihm freundlich auf die Schulter und fragte, wonach er hier so sehnsuchtsvoll hinaufschaue. Perikles bat ihn ohne Zögern gerade heraus, jenes Bändchen für ihn anzukaufen. Und der fremde Herr erklärte sich wirklich 200 bereit, ihm hierin willfährig zu sein; nur forderte er seinerseits den Gegendienst, daß der Knabe sich von ihm solle conterfeien lassen. Er sei nämlich ein italienischer Photograph, der jedoch nicht nur wahrheitsgetreue Porträts gewöhnlicher Menschenkinder, sondern auch schöne Heiligenbilder zu verfertigen wisse. Er bediene sich aber dazu menschlicher Vorbilder, wie sie ihm durch den Ausdruck des Gesichts und durch die Gestalt geeignet schienen, diesen oder jenen Heiligen vorzustellen. So habe jetzt Perikles in seinem anständigen Hinaufblick ihm eine treffliche Verwendbarkeit für ein Bild Sanct Johannes des Vorläufers verrathen, da er auch gerade in dem rechten Alter sei, noch ein Knabe und doch nicht mehr allzu weit von den Jünglingsjahren entfernt.

Der Knabe zeigte keinerlei Abneigung gegen einen so ehrenden Gebrauch seiner Person und folgte dem Italiener, nachdem dieser das Band für ihn erstanden, durch einige Gassen und über einige Treppen hinauf in dessen Werkstatt. Hier mußte er sich rasch seiner levantinischen Gewänder vom Fez bis zu den Schnabelschuhen entledigen und ward dafür mit einem Hammelfell umgürtet und mit einem Stabe versehen, auch wühlte der Meister ihm die schwarzen Haare ziemlich gewaltthätig durch einander, wußte aber diese prächtige Willkür doch 201 wieder durch unmerkbare künstlerische Gesetze reizvoll zu umschreiben. Dahinter befestigte er einen alten mit Goldpapier beklebten Tonnendeckel, welcher im langen Dienst als Heiligenschein freilich schon ein wenig erblindet war. Zum Schluß hieß er den Knaben die schönen Augen zu der gläsernen Bedachung emporheben und empfahl ihm als einen festen Anhaltspunkt, um nicht mit den Blicken zu irrlichteriren, fast gerade über seinem Haupte eine gewisse merkbare Spur, welche ein vorüberfliegender Vogel daselbst bewirkt hatte. So erzielte er einen herrlich schwärmerischen Blick, dessen inbrünstiger Ausdruck noch durch die heftige Angst erhöht wurde, welche den jungen Heiligen ergriff, als er die dunkle Mündung des wunderbaren Apparates gleich einem drohenden Kanonenrohr auf sich gerichtet sah und dazu den Meister viele mystische Zahlen murmeln hörte.

Nachdem diese stille Qual überstanden war, wurde Perikles mit der Verheißung entlassen, es werde zur besonderen Belohnung seiner Anstelligkeit ihm ein Exemplar der Abzüge zur Verfügung gestellt werden. Und wie er nach aufgeregtem Harren einige Tage später sein Bildniß abzuholen kam, durfte er mit Recht gar freudig erstaunen, welch einen prächtigen Sanct Johannes er in den Händen hielt.

202 Als am anderen Morgen Kalomira früh aus der Thür ihres Hauses trat, fand sie auf der Schwelle einen kleinen Berg von Orangen prächtig aufgebaut, und oben darauf lag, mit einem rothen Haarband umwickelt, ein sauberes Heiligenbildchen, welches, nach den Attributen und dem sonstigen Anschein zu urtheilen, Sanct Johannes den Vorläufer darstellte. Auf der Rückseite aber stand ein kurzer, sehr geheimnißvoller Spruch geschrieben, dessen Beziehung die Empfängerin nicht sogleich zu enträthseln vermochte: »Perikles, der Sohn des Xanthippos, zeichnete sich aus vor allen Hellenen durch Weisheit, Beredsamkeit und mancherlei bürgerliche Tugend.«

Da nun Kalomira weder das Aussehen jenes frechen Burschen genugsam ihrem Gedächtniß eingeprägt hatte, um ihn in so frommer Verkleidung wiederzuerkennen, noch von seinem Namen etwas wußte; da sie zudem die ganze Angelegenheit längst vergessen hatte, so fehlte ihr jeder Anhalt, den Zusammenhang auch nur zu ahnen.

Sie nahm also Perikles einfach als den Namen des Heiligen an und dachte sich unter demselben etwa einen Missionsprediger in den Zeiten dunklen Heidenthums, der sich schon im jugendlichen Alter so große Verdienste erworben, daß er Sanct Johannes dem Vorläufer in allen Stücken ähnlich 203 geworden sei. Auch wies das schöne Antlitz sehr deutlich die auf der Rückseite des Bildes angegebenen Vorzüge: auf diesen feingeschwungenen Lippen war die Weisheit sichtbarlich zu Hause, und die großen emporgehobenen Augen sprachen laut von der innerlichen Beredsamkeit einer feurigen Seele; und an seinen mancherlei bürgerlichen Tugenden zu zweifeln, fand Kalomira nicht den geringsten Grund.

Darum hängte sie ihren heiligen Perikles getrost an der Wand ihres Kämmerleins auf, so daß die Inschrift den Augen der Menschen entschwand; sie ließ auch Andere ruhig bei dem Glauben, daß es ein Sanct Johannes sei. Denn es schien ihr gar schmeichelhaft, so eine Art geheimen Privatheiligen zu besitzen, von dem Niemand sonst etwas zu wissen schien und der ihr gleichsam durch besondere Offenbarung zugekommen war. Sie fand überdies, dieser Heilige zeige im Unterschied von den seelenlosen Gesichtern und den todten Augen auf anderen Bildern ein mehr anmuthendes, menschlich lebendiges Wesen, so daß man zu ihm Vertrauen fassen und sich in etwas gemüthlicheren Gebeten mit ihm unterhalten konnte. Und wirklich erhielt von dieser Zeit an ihre Frömmigkeit und ihr Gebetseifer einen bedeutsamen Aufschwung, während sie sich bis dahin mehr passiv 204 heilig verhalten und nur selbst Opfer der Andacht duldsam entgegengenommen hatte.

Nach diesem Vorgange lebte Kalomira einige Jahre ohne andere wesentliche Störungen ihrer Ruhe weiter, und ihre Schönheit ward schier alle Tage augenfälliger. Als sie sich nun dem jungfräulichen Alter sichtlich nahte, ward sie ein Gegenstand tiefen Nachsinnens für ihre Pflegemutter, Frau Paraskevula, die Gattin des Panagiotis. Diese nämlich hatte klar erkannt, welch reichen Schatz irdischen Segens sie selbst und ihr Haus an diesem Wunderkinde hatte; sie sah aber auch ein, daß dieses Glück voraussichtlich ein gar schnelles Ende nehmen müßte, sobald die Tochter nach der Weise anderer Mädchen, von der Gewalt natürlicher Liebe ergriffen, sich einem Manne zu eigen gäbe und diesem alle jene ihr zufließenden Ehrengaben und Steuern mit in sein Haus hinüberführte. Je mehr sie diesen traurigen Fall überdachte, desto heftiger wurden ihre Beklemmungen, weil sie eine gute Hauswirthin war, die redlichen Gewinn und Besitz von Herzen liebte. Darum beschloß sie, dem drohenden Uebel bei Zeiten entgegenzuarbeiten und womöglich dem schönen Kinde alle Heirathsgedanken von vornherein zu verleiden.

Auch fand sie bald ein sinnreiches Mittel, der angehenden Jungfrau ohne Klostermauern auf freien 205 Füßen ein still bindendes Cölibatsgelübde aufzudringen. Sie glaubte plötzlich zu entdecken, daß sie von bösen Ahnungen wie von einer Krankheit gepeinigt werde, und ließ sich eines Abends in die Kirche einschließen, um daselbst zu schlafen. Denn wie bekannt ist ein solcher Tempelschlummer leicht mit Heilkraft und offenbarenden Träumen gesegnet. Und wirklich konnte sie am nächsten Morgen mit begeisterter Geberde aller Welt verkünden, der heilige Spyridon, der große Schutzherr von Korfu, sei ihr im Traum erschienen und habe ihr das Geheimniß anvertraut, daß der von Kalomira ausströmende himmlische Segen streng an deren Magdthum gebunden sei und alsbald von ihr weichen würde, wenn sie je mit einem Manne in liebende Gemeinschaft träte.

Infolge dieses Orakelspruches ward es nicht allein eine dringende Angelegenheit der ganzen Gemeinde, über die jungfräuliche Unnahbarkeit des Gnadenkindes sorgsam zu wachen, sondern, was auch so noch die Hauptsache war, Kalomira selbst ließ sich unschwer überreden, in freiwilliger Jungfräulichkeit ihre Pflicht sowohl als ihren Stolz und ihre Ehre zu erblicken, da sie sich nicht anders die glänzende Stellung im Volke dauernd bewahren konnte, die ihrem hochfahrenden Seelchen schon unentbehrlich 206 schien. So rüstete sie sich denn, die Schwelle des reifen Mädchenalters mit gefaßtem Anstand und einer wuchtigen Verachtung aller Jünglinge und deren verliebter Bestrebungen zu überschreiten. Sie wandelte unter den Menschen einher wie eine Göttin, fremd irdischen Schwachheiten, und nie verweilte ihr Auge mit einigem Antheil auf der Gestalt auch der stattlichsten Burschen. Und nachdem sie solche Uebungen zwei oder drei Jahre lang ehrlich betrieben hatte, durfte sie mit einigem Rechte für gefeit gelten wider die Anfechtungen des Liebesgottes. Auch verminderte sich zu allem Ueberfluß die äußere Gefahr mit jedem Jahre, weil bei der unabänderlichen Kälte ihrer Mienen kein Mann mehr wagte, sie anders als mit andachtsstillen Blicken zu verehren, ohne Hoffnung und ohne das süße Begehren, welches so leicht im offenen Herzen den freundlichen Widerhall weckt.

Um so mächtiger ward nun Kalomira überall als eine angehende Heilige ausgerufen. Und sie nährte ihr einsames Herz mit solchem Stolz, da es an warmer Menschenliebe täglich ärmer ward und sich auf ihrem Antlitz mehr und mehr die kindliche Heiterkeit und Frische verlor, die einst darin gewohnt hatte. Selbst ihr großes Lebenswerk des Heilens und Segenspendens war nicht mehr so wie 207 sonst ein freies Ausstrahlen der innerlichen Huld und Güte, sondern geschah am meisten nur aus prunkendem Pflichtgefühl.

Und dennoch gab es eine Stelle, wo sie allemal demüthig wurde: das war vor ihrem Bilde des heiligen Perikles. Den übrigen Heiligen mochte sie sich allgemach so ziemlich ebenbürtig erachten.

Einmal geschah es, daß dem Dorfe Benizze ein böser Mißwachs des Weines drohte. Da beschloß diese Gemeinde in der höchsten Noth, sich zur Abwehr des Schadens für Geld und gute Worte das Wunderkind von Gasturi zu leihen. Die Verhandlungen darüber gediehen zu gutem Ende; Benizze zahlte hundert Drachmen an Gasturi und erhielt Kalomira für den Nießbrauch eines Tages ausgeliefert, nicht ohne etliche Clauseln wegen peinlicher Fernhaltung gewisser Indiscretionen.

Nun zogen die Bürger von Benizze in so feierlichem Zuge den Schlangenweg nach Gasturi hinauf, als gälte es den Leichnam des heiligen Spyridon selbst in Procession herumzutragen. Kalomira ward ihnen entgegengeführt und übergeben, jedoch nur in der schützenden Begleitung angesehener Männer und Frauen ihrer Heimath. Sie erschien in schneeweißer Kleidung, vom Kopf bis zu den Füßen mit grünem Laub und Kranzwerk behangen. Ein wallender 208 Schleier von hochgelber Farbe umfloß gleich einer Weiheflamme ihr Antlitz, das wie von überirdisch strenger Schönheit leuchtete. Ihre Augen hielt sie groß aufgeschlagen und ließ sie ruhig hin und her über die Menge gleiten, denn sie sah nur die Menge, nicht die einzelnen Menschen. Als der Zug solchergestalt nach Benizze hinabgewallt war, strömte die regellose Schaar der Weiber, Kinder und jungen Leute herbei, drängte sich hier und dort an die begnadete Jungfrau und strebte zum mindesten ihr Gewand zu berühren und zu küssen. Die Glücklicheren drückten ihre Lippen fromm und zagend auf die segnenden Hände, welche sich still bald rechts, bald links auf eines Kindes Haupt legten, das die Mutter ihnen entgegenhielt.

Wohl hatte ein und der andere junge Bursche mit etwas keckerer Lust auf den Anblick der gepriesenen Schönen gelauert, doch wenn sie nahte mit dem regungslosen Antlitz, dann fühlten auch sie nur kaltandächtigen Schauer und waren froh, wenn sie von ihrem heiligen Auge nicht getroffen wurden. Unter diesen Jünglingen war auch Perikles, der sich den Sohn des Xanthippos nannte. Derselbe stand wider seine sonstigen Gewohnheiten etwas schüchtern abseits, denn seine lange vergessene Jugendsünde war ihm auf einmal wieder heimlich drückend auf 209 das Herz gefallen. Aber dennoch fand ihn zufällig ihr Blick, da sie diesen mehr auf die ferner Stehenden als unmittelbar vor sich zu richten pflegte; und sogleich bemerkte er ein eigenes Aufleuchten in ihren kalten Augen, das jedoch kein freudig Grüßen war, vielmehr gemischt aus Schreck und staunender Frage. Auch hatte das seinen guten Grund; nämlich dieser Fremdling erschien ihr beim ersten Anblick wie altbekannt und vertraut, und doch wußte sie sich keineswegs zu entsinnen, daß sie ihn je in der Wirklichkeit gesehen hätte. Es war nur, als habe ein Traum ihn ahnend ihr vorausgezeigt.

Vielleicht, daß Perikles sich diesen Eindruck, den er machte, leidlich zu erklären wußte; jedenfalls verschwand bei dem ersten Schimmer menschlicher Regung in ihrem Blicke für ihn die kühle Wolke heiliger Unnahbarkeit, und von einem sanften Schauer ergriffen, stieß er sich gewaltsam durch das Volk in ihre Nähe und preßte mehr als einen herzlichen Kuß auf ihre fest ergriffene Hand. Kalomira, so unerfahren sie auch in solchen Dingen war, empfand dennoch auf der Stelle, daß diese Küsse anders geartet waren als all die gewohnten Berührungen der Andacht. Ein Schreck durchzuckte sie, und laut aufschreiend, verhüllte sie ihr erglühendes Antlitz tief in ihren Schleier.

210 Daran erkannte ihre heimathliche Leibwache schnell, was geschehen sein mußte. Ein grimmiger Tumult erhob sich und pflanzte sich fort weithin ins Volk hinein, und ehe Perikles recht zur Besinnung kam, fielen von allen Seiten wuchtige Fäuste und bald auch Knüttel und Stangen auf ihn nieder. Und es war vielleicht nicht diese jüngste Sünde allein, welche hier in ausgiebigster Weise von seinen Mitbürgern an ihm gerächt wurde; denn er hatte niemals für einen tadellosen Ruf unter den Seinigen Sorge getragen. Er wehrte sich jedoch mit prächtiger Kraft und Gewandtheit, rannte hier einen der Bedränger über den Haufen, wich dort einem groben Schlage aus, bis es ihm zuletzt gelang, den dichten Kreis zu durchbrechen und in den weiten Oelwald zu verschwinden, der sich vom Meere über die Hügel bei Gasturi aufwärts erstreckt. Die Wenigen, welche ihn noch dahin verfolgten, kehrten bald mehr oder weniger blutrünstig und mit sehr widersprechenden Aussagen über sein Verbleiben zurück, aus deren vergleichender Betrachtung jedoch ziemlich wahrscheinlich wurde, daß ihn der Teufel selbst oder auch nur ein Dämon geringeren Ranges am Ende zu sich genommen und menschlichen Blicken entrückt haben müsse.

Inzwischen schleppten die Gasturier ihr 211 lebendiges Heiligenbild noch verhüllt in die sichere Heimath zurück, wo es alsbald in sein Kämmerlein abseits eilte, um den eigenthümlichen Vorfall in gesonderter Andacht mit dem privaten Heiligen näher durchzunehmen. Hier entdeckte sie aber beim ersten Blick die auffällige Aehnlichkeit desselben mit dem kecken Burschen von Benizze, und es ergriff sie zuerst fast ein stilles Grauen, danach aber eine ernstliche Reue, weil sie sich sagen mußte, sie habe jenen armen Jüngling durch ihr unbedachtes Gebahren in große Uebel verstrickt, und das ursprünglich aus einem Grunde, der doch stark zu seinen Gunsten hätte sprechen sollen, nämlich daß er einem so trefflichen Heiligen bewundernswürdig ähnlich sah.

Diese Erwägung machte ihrem Geiste bei genauerer Betrachtung des Bildes immer nur mehr zu schaffen, so daß sie am Ende die drückende Stubenluft nicht mehr ertrug, sondern einen nachdenklichen Gang in den Oelwald unternahm, um in seiner Frische ihre leis fiebernde Stirn zu kühlen. Es war doch eine große Ueberraschung, die sie in sich zu verwinden hatte.

Nachdem sie eine gute Strecke gewandert war, kam sie zu der einsamen Ruine eines eingestürzten Hauses, wie solche nicht gar selten auf der Insel mitten in blühenden Pflanzungen gefunden werden. 212 Das Gemäuer war gänzlich von Epheu umsponnen, und mancherlei wildes Kraut wucherte in den Rissen der locker gefügten Steine. Hier gedachte sie ein wenig auszuruhen, denn die Stelle war anmuthig und man konnte den Berg hinab durch die krausen Stämme und das Laub hindurchschauen bis aufs Meer. Eben wollte sie sich ins Gras niederlassen, als sie hinter sich ein leises Aechzen vernahm, welches sie anfangs erschreckte, denn es konnte etwa von dem trauernden Genius des jämmerlich verlassenen Hauses herrühren. Sie fühlte sich indessen persönlich vor dämonischen Einflüssen völlig sicher, und nachdem sie einige Kreuze geschlagen, wuchs ihr der Muth und die Neugier; sie getraute sich einen Schritt vorwärts zu thun und in das Gewirre der Kräuter einen forschenden Blick zu schießen. Da sah sie, daß sie nichts Schlimmeres als einen Menschen vor sich hatte, der dort regungslos lag und allein durch das Aechzen ein Zeugniß von seinem Leben gab. Vorsichtig schob sie die Gräser ein wenig zurück und erkannte das Antlitz des Jünglings von Benizze, der ihre Gedanken in so wunderlicher Weise beschäftigte.

Ihr erster Antrieb war, sich so schnell als möglich der Nähe seiner immerhin nicht ganz zweifelfreien Person zu entziehen. Nur ward es ihr eilig 213 klar, daß er nicht etwa von friedlichem Schlaf umfangen ruhte, sondern bei dem Aufruhr übel zugerichtet war und hier bewußtlos im Fieber und allem Elend lag, verstoßen und fern dem Mitleid eines Menschen. Denn, dachte sie, ich darf ja nicht einmal eines Anderen Beistand anrufen, sonst würde ich ihn nur noch grausamer gefährden und seinen Feinden in die Hände liefern.

Bei dieser Betrachtung ward seit langer Zeit zum ersten Mal ihr Herz ein wenig tiefer erweicht, und unvermerkt faßte sie aus reinem menschlichen Erbarmen den Entschluß, für den Verunglückten etwas zu thun, das weder ihre Pflicht war noch ihrer Heiligkeit förderlich sein konnte. Denn es zwang sie, diesmal geheim auf krummen Wegen zu wandeln, wozu sich ihr Stolz sonst nimmer bequemt hätte.

Sie zog sich also sachte aus dem Gemäuer heraus und eilte in geradester Richtung zurück zu ihrem Hause. Hier füllte sie in der Stille ein Körbchen mit Wein, Oel, Früchten und anderen Speisen und wandelte damit ruhig durch das Dorf, als ob sie einen gewöhnlichen Kranken besuchte, wußte es aber bald zu machen, daß sie zwischen zwei Häusern abseits glitt und sich durch die hohen Oelbäume verlor.

214 Unter dieser Weile war Perikles aus seinem Schlaf oder seiner Betäubung erwacht, und nachdem er sich langsam die bösen Ereignisse des Tages ins Gedächtniß gerufen, begann er seine einzelnen Glieder zu befühlen, wie viele derselben zerbrochen oder gänzlich zerquetscht sein möchten. Doch die Prüfung ergab ein überraschend günstiges Resultat; zwar fand er kaum eine Stelle seines Leibes, die völlig von Hieb oder Stoß verschont geblieben war, aber keiner von diesen hatte ein gewisses anständiges Mittelmaß überschritten, so daß er ganz leidlich im Stande war, sich zu bewegen und zu erheben, wenn ihn auch dabei ein dumpfes Schmerzgefühl vom Haupt bis zu den Füßen bedeckte. Vor Allem machte ein brennender Durst sich so gewaltsam geltend, daß er sich bereits anschickte, die schützende Ruine zu verlassen und so gut es ging sich zu irgend einer Quelle zu schleppen, als sein scharfes Ohr einen leichten Tritt bergabwärts vernahm und er mit freudigem Erstaunen der nahenden Jungfrau ansichtig ward.

Zwar wollte er anfangs kaum seinen Augen trauen; doch wie ein gewiegter Feldherr in einem flüchtigen Augenblick zugleich die Stellung des Feindes überblickt, seine Motive und Absichten enträthselt, den eigenen Schlachtplan daraus entwickelt und 215 Jenem entgegenarbeitet, so durchschaute der rasche Bursche ahnend blitzschnell den ungefähren Zusammenhang, und wie er die etwas zaudernde und ängstliche Miene des Mädchens bemerkte, warf er sich hurtig wieder der Länge nach ins Gras zurück, ächzend und sich mäßig krümmend, als ob er vor Schmerzen völlig von Kräften sei. Durch dieses Kunststück gab er in der That dem scheuen Kinde das Verlangen und den Muth zugleich, heranzutreten und das fromme Werk der Hülfe zu beginnen.

Als sie sich nun vorsichtig und ängstlich über ihn beugte, hob er langsam seine Lider empor und schaute mit dem rührendsten Blicke flehender Hülflosigkeit zu seiner Samariterin auf, ohne sich sonst zu regen oder ein Wort zu sprechen. Denn er merkte, daß er sie erst durch seine anscheinende Unkraft und Zerschlagenheit vertraulich machen mußte. Da seine Augen auf diese Weise wieder völlig den schwärmerischen Ausdruck eines Sanct Johannes des Vorläufers gewannen, so ward ihr Herz von doppeltem Erbarmen bewegt, und sie fing an, etwas kühner zu Werke zu gehen. Sie flößte einige Tropfen Wein über seine Lippen, schälte und zerstückte einige Orangen und fütterte ihn sorglich, bis sie meinte, ihn nun hinreichend gestärkt zu haben, 216 daß er des Weiteren sich selbst bedienen könnte. Darauf erhob sie sich still, nahm ihr Körbchen auf, nachdem sie dessen Inhalt ihm in bequeme Nähe gelegt hatte, und wollte ihn sich selbst und der Heilkraft der Natur überlassen. Sobald er dessen inne ward, schloß er rasch wieder die Augen, als ob er vor Schwäche in neue Bewußtlosigkeit verfiele. Da blieb sie stehen, lehnte sich gegen die Mauer und schaute ihn an. Und indem er auch seinerseits durch einen unmerklichen Spalt seiner Lider hindurchblinzelte, genossen sie Beide in aller Stille eine Zeit lang des gegenseitigen Anblicks.

Währenddessen entdeckte Kalomira mit innerlicher Verwunderung, wie ihr noch gar nicht der Gedanke gekommen war, die ihr verliehene himmlische Segenskraft, die sich an anderen Kranken so oft bewährt, auch in dem vorliegenden schweren Falle zu erproben. Sogleich machte sie sich daran, das Versäumte nachzuholen, beugte sich noch einmal über den Ruhenden und legte leise ihre weiche Hand auf seine Stirn, ein kräftiges Gebet dazu murmelnd.

Der Kranke regte sich nicht. Ihr selbst aber fuhr von der Berührung seines Hauptes ein seltsamer Schauer durch die Glieder, der sie furchtbar dünkte und süß in Einem Empfinden, der sie aufscheuchte zugleich und festhielt mit stillem, 217 berückendem Zauber. Sie fühlte das Blut fiebernd in seinen Schläfen pochen und glaubte zu merken, wie es sich wallend in ihre eigenen Adern herübergoß und von der leise zuckenden Hand ausströmte in ihr eigenes Haupt und die heftig erglühenden Wangen. Da riß sie sich endlich gewaltsam empor und trat einen fluchtähnlichen Rückzug an. Und so schien es, als sei an ihr weit mehr noch als an ihrem Patienten ein innerliches Wunder geschehen.

Perikles war nun wieder allein und seinen Gedanken überlassen. Allerdings fühlte er sich in Wahrheit gekräftigt genug, daß er ohne allzu große Beschwerde hätte wandeln können, wohin es ihm beliebte. Es beliebte ihm jedoch, an Ort und Stelle zu bleiben und noch eine Zeit lang weiter den armen Kranken zu spielen. Er befand sich hier in leidlicher Sicherheit vor seinen erbitterten Landsleuten, und der Platz war freundlich genug. Frühling war es und auch die Nacht nicht mehr zu kalt; köstlich aber ruhte es sich in der schon starken Gluth der Mittagssonne, wie sie gesänftigt ward durch die hohen Oelbäume und den feuchten Hauch des Meeres, der mit leiser Regung bis zu ihm heraufzog. Darum schien es ihm gut zu verweilen, und ungern hätte er die verfallene Hütte mit einem fernen Palast vertauscht.

218 Kalomira kam mit neuen Gaben am nächsten Tage und an dem folgenden auch und versah wortlos mit ruhigem Eifer wie das erste Mal ihren Dienst. Es war ihr, als ob sie zu einem mutterlosen Kinde käme, das ihr desto lieber ward, je völliger sein verlassenes Leben in ihre Hand gelegt war.

Nachdem aber der dritte Tag über dieser stillen Pflege hingegangen war, begann sie allgemach zu erstaunen, wie doch dieses Siechthum so ganz hartnäckig andauern könne und weder durch ihre heilsame Nähe noch durch ihre irdische Sorgfalt im geringsten gebessert zu werden schien. Der Verdacht eines falschen Spieles aber vermochte ihre reine und hochmüthige Seele auch nicht einen Augenblick zu berühren, und so wuchs denn nur ihr Mitleid und ihre Sorge so sehr, daß sie sich des Abends vornahm, ihn bei dem nächsten Besuche frei und ernsthaft über seine Leiden zu befragen, vielleicht daß sie ihm dann besser helfen konnte.

Wie sie aber am andern Tage wieder vor ihm stand und nun reden wollte, hatte er seine Augen groß zu ihr aufgeschlagen, und das verwirrte sie so stark, daß ihr plötzlich die Erinnerung abhanden kam, mit welchem Worte sie ihre Ansprache hatte beginnen wollen. In Verlegenheit stand sie da, bis 219 der Jüngling selbst sich ihrer Noth erbarmte und endlich den Mund aufthat.

»Habe Dank, schöne Heilige!« sagte er mit bescheidener Stimme.

Da that sie ein rasches Stoßgebet zu ihrem heiligen Perikles und fragte leise:

»Welches ist Dein Leiden und womit kann ich es heilen?«

Der Leidende besann sich eine kleine Weile, dann zuckte flüchtig ein schlaues Lächeln um seinen Mund, und er sprach:

»Meine Landsleute haben mir den Leib zerschlagen, aber mehr noch die Seele, als sie mich von Deinem Angesicht vertrieben, da ich doch nichts that noch begehrte, als diejenige recht inbrünstig zu verehren, der alle Ehre gebührt. Weil aber meine Seele so schwer getroffen ist, bin ich hülflos geworden wie ein Kind und vermag meine Glieder nicht mehr zu rühren. Auch weiß ich nur Ein Mittel zu meiner Genesung: das wäre, wenn Du selbst mich als ein Kind betrachten wolltest und mit mir verführest, wie Du oft mit kleinen Kindern gethan hast, wenn solche erkrankt waren und ihre Mütter sie nicht zu beruhigen vermochten.«

»So will ich Dir noch einmal die Hände auf das Haupt legen und Dich segnen, vielleicht daß 220 Du gesundest,« sagte sie rasch mit heimlichem Erschrecken.

»Nein,« entgegnete Perikles, »so pflegst Du mit Erwachsenen zu thun, ich aber bin jetzt ein Kind an Kraft und Sinn; man hat mir aber gesagt, Du vermögest Kinder dadurch zu beruhigen und zu heilen, daß Du sie leise auf den Mund küssest.«

Bei dem bedenklichen Wort erbebte Kalomira in ihrem Herzen, denn er hatte die Wahrheit bezüglich der Kinder gehört; und sie gedachte in Zorn zu gerathen und ihm ein so ungebührliches Verlangen mit allem frommen Ernste zu verweisen. Doch da sie sah, wie seine Augen bittend und unschuldig gleich denen eines rechten Kindes zu ihr aufblickten und wie er hier so wehrlos vor ihr lag, gewannen Rührung und Mitleid wieder die Oberhand, und sie meinte sogar eine deutliche innere Stimme zu vernehmen, welche mit dringendem und lieblichem Antriebe rieth, dem flehenden Wunsche des Unglücklichen zu willfahren. Und wie sie an stille geistliche Offenbarungen gewöhnt war und ein Recht darauf zu haben glaubte, wußte sie auch diesmal solchem Rath sich nicht zu widersetzen. Sie überlegte aber sogleich auch weiter, daß im Grunde doch Niemand sehe noch wisse, wenn hier in der Waldeinsamkeit ein 221 ungewöhnliches Ding geschähe, und gewann zuletzt einen klugen Rath in ihrem Herzen.

»Schwöre mir,« sagte sie hastig, »daß Du heute noch, falls Du gesundest, diese Insel verlassen und nimmer wiederkehren willst, so mag ich allenfalls thun nach Deinem Begehren und Dich heilen.«

Perikles bewegte zuerst sehr traurig das Haupt bei dieser Zumuthung; alsbald aber setzte sich wieder der Schalk auf seine Lippen, doch nur einen Augenblick, so daß Kalomira es nicht wahrnahm; dann sagte er laut mit feierlicher Miene:

»Allzu hart wäre es, wolltest Du mich um dieser Sache willen auf alle Lebenszeit in die Fremde schicken; aber ein Jahr lang mag ich Dir willfahren, und also schwöre ich beim heiligen Nikolaos, der die Seefahrer beschirmt, wenn Du mich heilest, will ich noch heute ein Schiff besteigen und diese Insel Kerkyra verlassen, und will mein Haupt auf ihrem Boden nicht zur Ruhe legen während eines ganzen Jahres, es sei denn, daß Du selbst aus freiem Willen mich des Gelübdes entbindest.«

»Dies wird nimmermehr geschehen,« sprach Kalomira zu sich selber, und zugleich dachte sie, ein Jahr sei eine schöne Zeit und lang genug, so kleine Dinge in Vergessenheit zu bringen, und darum machte sie sich zu dem guten Werke bereit, um nur 222 die unangenehme Sache so schnell als möglich aus der Welt zu schaffen. Sie kniete zu dem Kranken ins Gras und streifte den Schleier vom Mund zurück, behielt ihn aber in der Hand, um sogleich nach gethaner Arbeit die Lippen zu wischen. Darauf neigte sie sich leise und furchtsam über ihn, der still lag wie ein Lämmchen, machte die Lippen so spitz, als sie nur konnte, und berührte seinen Mund loser und flüchtiger wie ein Vöglein, das seinen Schnabel ins Wasser taucht.

Sie konnte aber gewiß nicht ahnen, welch ungeheure Heilkraft diesem überzarten Kusse innewohnte: auf der Stelle sprang der Jüngling, alles Siechthums ledig, mit frischer Kraft seiner Glieder feurig empor und vermochte sogleich das erschrockene Mädchen zu fassen und in dankbarer Erwiderung mehrmals auf den Mund zu küssen, aber nicht wie ein flüchtiges Vöglein, sondern wie ein kluger Mann, der ein schönes Weib in seinen Armen hält.

Freilich nur für wenige Secunden blieb sie betäubt und dem Manne hingegeben, schnell regte sich wieder die Heilige in ihr gewaltig, sie stieß den Uebergesunden von sich mit gesammelter Kraft, daß er unsanft gegen die Mauer fiel, und dann stand sie glühend mit geballten Fäusten da und rang nach Worten, sie dem Verräther ins Gewissen zu 223 schleudern. Sie war aber noch so verwirrt, daß ihr zunächst gar nichts Anderes einfiel als eine Frage, die ihr zwar schon lange im Sinne gelegen hatte, die sie jedoch kaum in einem viel unpassenderen Augenblick hätte heraussprudeln können als eben jetzt.

»Wie heißest Du und wer bist Du überhaupt?« rief sie mit der ganzen Strenge eines in sich selbst unsicheren Zornes.

»Perikles, der Sohn des Xanthippos,« erwiderte er, sich rasch wieder aufraffend, mit einem beträchtlichen Anflug von Stolz.

Diese sachliche Auskunft vernichtete den letzten Rest ihrer Fassung mit Einem Schlage; sie machte ein Gesicht, als ob die Erde sich unter ihr aufthäte, und ohne noch ein Wort zu sagen, floh sie mit den Geberden vollster Verzweiflung jählings von dannen.

Perikles stand einen Augenblick verdutzt über eine so wunderliche Wirkung seines Namens, rasch aber hob er wieder das Haupt empor und sprach mit klugem Lächeln hinter der Enteilenden her:

»Perikles, der Sohn des Xanthippos, zeichnete sich aus vor allen Hellenen durch Weisheit, Beredsamkeit und mancherlei bürgerliche Tugend!«

Als Kalomira in ihre Kammer zurückgekehrt war, riß sie mit Hast das verrätherische Bild von der Wand, denn sie hatte beschlossen, es zu 224 vernichten und als ein Sühnopfer dem Vorläufer Johannes darzubringen, dessen rechtmäßigem Dienst sie sich, wie sie nun einsah, jahrelang zu Gunsten eines falschen Propheten entzogen hatte, obzwar ihrem einfältigen Sinne der Hergang dieses bösen Spieles noch immer nicht völlig klar geworden. Rasch setzte sie die vom Winter her im Becken zurückgebliebenen Kohlen in Brand und warf mit bebender Hand das leichte Blatt hinein, das augenblicks in lodernden Flammen aufging. Noch einmal lasen ihre Augen mitten aus der Gluth die schön geschriebenen Worte »Perikles, der Sohn des Xanthippos«, dann war das Papier verzehrt; sie aber spürte zugleich ein so großes Leid, als ob die Flamme an ihrem eigenen Herzen nagte. Und daran erkannte sie, daß sie recht gehandelt und daß es die höchste Zeit gewesen war.

Allein zu schnell erkannte sie auch, daß sie das Opfer zu einem Theile vergeblich gebracht hatte: denn nur frischer und leuchtender, wie aus den Gluthen neu erstiegen, stand die Gestalt des lebendigen Urbildes vor ihren Augen und ward um so deutlicher, je fester sie dieselben schloß und mit den Händen bedeckte.

Da ward sie von heißer Verwirrung und Angst erschüttert; ganz unmöglich schien es ihr, sich vor den Leuten fürder zu zeigen und ihre Segenskräfte 225 spielen zu lassen, denn sie fühlte, daß ihre selbstgewisse Heiligkeit einen schmerzlichen Riß erhalten habe. Ein verborgenes Feuer brannte in ihrem Herzen und auf ihren Lippen, das kein frommes Opferfeuer war.

Sie dachte daran, dem Chrysikopulos das Geschehene zu beichten – aber sie meinte schon ein spöttisch-feines Lächeln um seine Lippen zu sehen und seine ruhige Stimme zu hören, wie er sprach: »So gieb es auf, etwas Besonderes unter dem Volke zu sein, Du hast das Deinige gethan und Deinen Lohn dahin; entschließe Dich denn, ein stillzufriedenes Menschenkind mit den anderen Frauen zu sein . . .« Aber sie wollte nicht aus ihrem Himmel fallen, nicht einer entthronten Königin gleichen . . . sie wollte ihre Pflicht erfüllen.

Darum faßte sie endlich den Entschluß, still das Haus und das Dorf zu verlassen und sich der Einsiedlerin Anastasia zu vertrauen, bei der, wie sie wußte, schon manches arme Mädchen Trost und Rath gefunden hatte. Schnell packte sie einige schlichte Gaben für die Nonne zusammen und wanderte durch den Oelwald hinab an den kleinen Golf Kaliopulos, der einst der berühmte Hafen der alten Kerkyräer war. Am Ausfluß dieses nun verschlammten, schilfumkränzten Beckens liegen zwei winzige 226 Inselchen oder Klippen, deren jede ihr Heiligthum trägt: eine Kapelle und ein klösterlich Haus für die Hüter derselben. Auf der kleineren, die kaum einen Steinwurf vom jenseitigen Ufer entfernt und von einem ruhig wandelnden Menschen leicht in einer Minute zu umschreiten ist, hauste in frommer Einsamkeit die ehrwürdige Anastasia und pflegte ihres Kirchleins.

Zu ihr ließ sich Kalomira hinüberrudern, und ihr vertraute sie in aufgeregter Beichte unter Seufzen und Schluchzen die schlimme Lage ihres Schicksals und daß sie bitterlich darum sorge, der göttliche Segen müsse von ihr gewichen sein; denn sie selber verspüre den Muth nicht mehr, ihr heiliges Amt mit Freuden auszuüben, seit sie so heftige Küsse eines Mannes auf ihren Mund empfangen.

Als sie dies Bekenntniß geendigt, strich Anastasia ihr mit der Hand den Schleier völlig vom Gesicht und blickte sie so unerbittlich forschend an, daß die Jungfrau noch viel tiefer als zuvor erröthete und in heftige Thränen ausbrach. Dann sagte die Greisin: »Es ist schon manchem ehrbaren Mädchen ähnliche Unbill widerfahren, ohne es in großen Schaden zu bringen, falls die Sache nur in der Stille begraben und nicht mit Gewalt unter die Leute gebracht wurde. So wird es auch nicht allzu schwer sein, 227 mit mäßiger Bußübung Dich von dieser Sünde, zumal sie doch völlig wider Deinen Willen geschehen ist, in ziemlicher Eile gründlich zu reinigen. Willst Du aber lieber zuvor in Einsamkeit Dein eigenes empörtes Herz beruhigen und prüfen, so bleibe bei mir einige Tage oder auch Wochen, so es nöthig wird. Ich gebe Dir eine Kammer über der meinen, dort halte Dich stille, bete und schaue aufs Meer hinaus. Wenn aber dann die Trübe und Verwirrung Deines Herzens nicht von Dir geht, so ist Dir wahrlich ein größer Uebel widerfahren, als Du selber glauben magst, und wir werden ernstere Mittel gebrauchen müssen, um Dich zu heilen.«

Die Nonne lächelte ein wenig bei diesen Worten; Kalomira küßte ihr die Hände und bat demüthig, auf ihrer Klippe mit ihr verweilen zu dürfen, bis sie mit sich selbst wieder werde zurecht gekommen sein. Da faßte Anastasia sie freundlich bei der Hand und führte sie ein Treppchen hinauf in ein niederes Gemach, in welchem sich kein Geräthe vorfand als ein dürftiges Lager und ein Betschemel. Dort ließ sie ihren Gast allein, stieg wieder hinab und begab sich zu dem noch harrenden Fährmann. Diesem befahl sie, nach Gasturi zu gehen und dem Priester daselbst zu berichten, wohin sich seine Tochter einstweilen zurückgezogen habe. Denn sie wußte, daß er 228 und alle Anderen alsdann ohne Sorge um dieselbe sein würden.

Kalomira blickte dem Zurückrudernden aus ihrem kleinen Fenster nach; und nun sah sie, wie von der Nachbarklippe, welche Pantokrator oder auch »das Schiff des Odysseus« genannt wird, ein anderer Nachen abstieß und rasch von der Seite auf jenen zustrebte. Ein Mann saß darin, der dem Fährmann winkte und, als er ihn erreicht hatte, einige Worte mit ihm zu wechseln schien. Darauf kehrte er mit langsameren Schlägen zu seinem Eiland zurück, ohne daß Kalomira sein Gesicht erblicken konnte. Sie wußte, daß dort in dem kleinen Kloster nur zwei Mönche hausten und Tag für Tag beschaulich unter den hohen Cypressen lustwandelten, und sie wunderte sich ein wenig, daß die stillen Einsiedler so große Neugier zeigten, wer bei ihrer Nachbarin zu Gaste gekommen sei. Denn einen anderen Grund schien ihr die kurze Unterredung nicht gehabt zu haben.

Als es Nacht wurde, traten die Sterne glänzend am Himmel hervor, und es ward eine unendliche Stille rings auf dem Wasser, das wie ein schimmernder Spiegel dalag; nur manchmal, wenn ein Fisch in die Höhe sprang, ringelte sich die Fluth und sprühte wie von goldenen Funken. Da meinte Kalomira zu empfinden, wie recht ihr die Nonne 229 gerathen, sie solle aufs Meer hinausschauen, denn schon begann leise eine freundliche Ruhe in ihr Herz zu ziehen. Wie es aber etwas später wurde, stieg der Mond empor mit so rother Gluth, als sollte die Sonne aufgehen und das Treiben des Tages schon wieder beginnen. Kalomira trat von dem Fenster zurück und kniete nieder, in dem tiefern Dunkel zu beten, denn noch war zum Schlafen ihr Blut nicht genügend besänftigt.

Plötzlich schlug ein klarer Gesang vom Meere herauf an ihr erschrockenes Ohr: sie meinte diese Stimme zu erkennen, ob sie gleich erst wenige Worte von derselben vernommen hatte, auch verstand sie den Sinn und die Weisen: es waren kleine feurige Liebesliedchen, wie sie unter dem jungen Volk des Landes üblich sind. Sie hatte dergleichen nächtliche Gesänge oft genug vor den Fenstern der Nachbarstöchter gehört, doch nie, so schien es ihr, von einer so sanften und sehnsüchtigen Stimme, auch hatten sie nie ein anderes Gefühl als ernste Verachtung in ihr erregt. Auch das war heute anders: sie fürchtete sich vor den verlangenden Tönen. Nur hoffte sie noch, daß es ein Trug ihrer Sinne wäre oder auch die Neraiden, welche zu dieser Nachtstunde aus dem Wasser tauchten, um sie singend zu necken und ihr Herz zu bethören, daß es seiner heiligen Pflichten 230 vergäße. Denn sie wußte, die Neraiden seien zwar wunderschön von Gestalt und meist auch freundlichen Sinnes, allein dem Christenthum nicht allzu wohlgesinnt. Sie wagte aber durchaus nicht, wieder ans Fenster zu treten, sondern lag angstvoll auf ihren Knieen, bis sie zuletzt die innere Unruhe nicht mehr ertragen konnte und zu ihrer Beschützerin hinabeilte.

Sie fand dieselbe noch nicht im Bette, aber doch über ihrem Rosenkranz ein wenig eingenickt, so daß sie von dem Gesang da draußen nichts vernommen haben konnte. Kalomira weckte sie auf und erzählte ihr hastig ihre neuen Fährnisse.

Anastasia aber schüttelte das Haupt und sprach: »Wie meinst Du, daß solches Singen von den Neraiden abstamme? Warum sollten sie die Stimme eines Mannes annehmen? Mir scheint es weit leichter, zu vermuthen, daß jener Jüngling, den Du fliehest, hier in der Nähe sei und seine lockenden Liedchen anstimme.«

»Das ist nicht möglich,« sagte Kalomira, »er hat mir ja geschworen!«

»So hat er den Eid gebrochen,« erwiderte die Einsiedlerin ruhig.

»Nein, nein!« rief das Mädchen sehr heftig, »das hat er nicht, das kann er nicht, das ist nicht möglich!«

231 »Wer läßt Dich dessen so gewiß sein? Es hat schon mancher Mann, wenn die Begierde ihn trieb, seines Eides vergessen.«

»Nein, dieser nicht! Eidbrüchig kann dieser nicht sein! Mein Herz sagt es mir so sicher und laut, daß ich ihm glauben muß; dieser Jüngling kann kein Verbrecher an dem Heiligsten sein!«

Da nickte Anastasia dreimal mit dem Haupte und sprach: »Ach, wehe einem armen Mädchen, wenn ihm das Herz etwas sagt! – So bleibe Du denn hier und rede noch ein wenig weiter mit Deinem Herzen, denn ich fürchte, es wird Dir noch viele Widerrede machen. Ich aber will indessen um Deinetwillen in meinen Nachen steigen und etwas in die nächtliche Kühle hinausfahren, um Deinen Neraiden ein bischen auf den Zahn zu fühlen.«

Nach diesen Worten that die Alte, hüllte ihr Antlitz in einen weißen Schleier, schritt hinaus, löste den Nachen und ruderte mit rüstigen Armen in einem weiten Kreise um ihr Inselchen herum. Sie brauchte sich nicht lange anzustrengen, denn bald kam ihr ein anderes Boot mit begieriger Eile entgegen, und als es ganz in ihrer Nähe war, zog der nächtliche Schiffer die Ruder ein und breitete die Arme sehnsüchtig aus, als wollte er die Nahende umfangen.

Die wackere Anastasia aber hob schnell ihr eines 232 Ruder mächtig drohend empor und schlug zugleich den Schleier zurück, daß der Mond auf ihr Antlitz schien: das war ehrwürdig und schön, aber keineswegs jung oder reizend, und jetzt zumal war es fast schrecklich zu sehen in seinem ehrlichen Zorn.

»Eidschänder!« rief sie ihm zu. Und Perikles fuhr so hastig zurück und ließ die Arme sinken, als hätte ihn das schwere Ruder wirklich geschlagen.

Er wußte sich indessen noch ziemlich schnell zu fassen, und weil er merkte, daß diese Einsiedlerin sein Geheimniß wußte, erwiderte er kräftig: »Nicht doch, Mutter, Du irrst, mein Eid ist unverletzt. Ich habe geschworen, binnen Jahresfrist mein Haupt nicht mehr auf unserer Insel Kerkyra zur Ruhe zu legen, und diesen Schwur halte ich treulich. Denn ich wohne nun zur Nacht bei den zwei Mönchen hier auf dem Eiland Pantokrator, das ist nicht Kerkyra, und wenn ich bei Tage wandernd das Land drüben betreten will, so wehret mein Eid es mir mit nichten.«

An dieser Rede erkannte Anastasia, daß sie es mit einem gewitzten Schlingel zu thun hatte, und es ward ihr sehr bange um ihren Schützling. Sie konnte ihn wegen des Eides aber nicht mehr strafen und fragte nur strenge: »Warum verfolgst Du unsere fromme Jungfrau und störest ihre Ruhe? Sie 233 verschmäht Dich gänzlich und will nichts von Dir wissen.«

Perikles besann sich nur kurz auf eine Antwort und sagte gelassen: »Wenn Kalomira gar nichts von mir wissen will, was kann es ihre Ruhe stören, wenn ich auf freiem Meere meine Lieder singe? Ja wie weiß sie dann, daß sie ihr gelten und nicht etwa Dir, Mutter Anastasia? Bist Du doch weithin angesehen und Jedermann hält Dich hoch, und ich nicht am wenigsten. Doch ich erkenne, daß sie ihr Ohr ein wenig meinem Singen öffnet, und das nehme ich mir zu einem guten Zeichen. Wohl weiß ich, warum ihr Herz sich sträubt und sich wider sich selber setzt: sie möchte ihren Heiligenschein vor dem Volke wahren und die Ehren nicht gern einbüßen, die sie bisher genoß; darum verstockt sie sich gegen die Liebe und gegen mich, der ich allein wagte, um sie zu werben, den Leuten beider Dörfer zum Trotz, die mir darum feind sind und mich bitterlich verfolgen. Und ich bin deß nun müde, und höre Du denn genau, was ich thun will, um zu einem Ende zu kommen. Ich will der Stolzen eine neue Wette bieten, die sie von mir befreie, wenn sie will, und einen neuen Eid thun, der klarer sei und mich sicherer binde. Ich bitte Dich, verkündige Du ihr meine Meinung, und sie wisse, daß ich nicht eher, weder 234 hier noch wo sie immer weilen mag, mein Singen einstellen will, als bis sie die Wette eingeht. Mir liegt nichts mehr an meinem Leben ohne sie und ohne ihre Liebe, doch ich will nicht von hinnen gehen, ehe ich noch einen einzigen Augenblick des Glückes genossen habe. Darum sage ihr: sie soll mich einmal noch küssen, und das mag das allerletzte Mal sein. Dann schwöre ich hier bei der Allheiligen, ich will meinen Fuß nie wieder auf ein Land setzen, das sie trägt, und auch nicht in der Nähe weilen, sondern für alle Zeiten ihres Lebens will ich ihr so fern sein wie ein Todter in der Unterwelt – es sei denn, daß sie selbst komme und aus freiem Willen mich zurückführe und also den Schwur aufhebe. So soll mein Eid sein, und Du sollst ihr diese Wette vorlegen. Doch diese Nacht noch soll es geschehen und will ich scheiden, denn mein Herz brennt so sehr von Sehnsucht nach ihr, daß ich keine Ruhe finde weder am Lande noch auf dem Meere, bis mein letztes Begehren erfüllt ist.«

Die Nonne blickte ihm recht mißtrauisch ins Gesicht bei diesem seltsamen Vorschlag und zauderte unschlüssig, ob sie seiner Bitte willfahren dürfe. Allein zuletzt sagte sie sich selber, daß in einer verzwickten Lage es immerdar am klügsten ist, eine rasche Entscheidung zu fördern und den Dingen 235 gerade ins Antlitz zu sehen. Denn, dachte sie, ist es dieser Jungfrau ernst mit ihrer Weigerung, so wird ihr ein Kuß mehr zu den übrigen keinen argen Schaden bringen, falls sie nur den Burschen seinem Eide gemäß nie wieder mit Augen sieht. Bricht er aber den Schwur, so wird er ihr auf alle Fälle so gemein und verächtlich werden, daß sie ihr Herz mit Schaudern von ihm wendet, und er mag in seiner Schande vor ihr dahinfahren. Darum ist es gut, ich thue nach seinem Wunsche, ob ich ihm gleich noch jetzt nicht viel Gutes zutraue.

So nickte sie ihm Gewährung, fuhr schweigend Bord an Bord mit ihm an ihr Klostereiland und erlaubte ihm daselbst zu landen. Er mußte aber draußen stehen und harren, indessen sie ins Haus ging, mit der Jungfrau zu reden.

Und er blieb eine beträchtliche Weile in sorgender Einsamkeit; es war so still um ihn her vom Meere zu den Bergen, als ob er der einzige lebendige Mensch wäre mitten in einer erstorbenen Welt; und doch trug er in seiner Brust einen Entschluß, durch den er leicht in wenigen Stunden von der lebend erwachenden Welt als ein todter Mann erblickt werden konnte.

Doch als endlich die Nonne wieder erschien, führte sie Kalomira mit sich an der Hand. Perikles 236 aber sah, daß sie ihr Antlitz tief in den Schleier verborgen hatte, und sprach: »Willst Du mir thun nach meinem Verlangen, so enthülle Dein Haupt, daß ich den Eid frei vor Deinem offenen Antlitz leisten könne.«

Stumm gehorchte sie dieser Mahnung und schlug den Schleier über die Schulter zurück, und Perikles sah, sie war blaß wie eine Lilie. Da sprach er mit zitternder Stimme seinen Eid, ganz wie er ihn Anastasia zuvor verheißen hatte. Und dann umfing er die Geliebte, die sich nicht wehren durfte, und küßte sie auf den Mund und die Augen; und er fühlte, wie Thränen leise ihren Wimpern entströmten. Auch erwiderte sie ganz heimlich seinen Kuß, denn sie dachte, sie würde ihn auf Erden nimmer wiedersehen, und wußte doch in diesem Augenblick, daß sie ein großes Wohlgefallen an ihm gewonnen hatte. Und wäre nicht ihr Stolz und ihre Pflicht gewesen, sie hätte ihn am liebsten für ihre Lebenszeit in ihren Armen festgehalten.

Nachdem Perikles in solcher Weise eines kurzen süßen Glückes theilhaftig geworden, richtete er sich rasch empor und sagte laut mit fester Stimme:

»Jetzt will ich meinen Eid lösen, wie ich ihn geschworen habe, und noch ein Stück darüber. Ich habe verheißen, den Fuß nie wieder auf ein Land 237 zu setzen, das Dich trägt, Kalomira. Nun aber füge ich hinzu und schwöre bei allen Heiligen, ich werde den Fuß nie wieder auf irgend einen Boden setzen, weder auf das Festland, noch auf eine Insel, noch auf eine Klippe, noch selbst auf ein Schiff, sondern einzig das Wasser soll mich tragen, so lange es kann. Denn wenn Dir Dein heiliger Name höher steht als meine Liebe, so will ich eher sterben, als Deiner Liebe entbehren. Darum scheide ich jetzt von Dir und von der Erde auf ewig, es sei denn, daß Du selbst mich zurückholst und so mit eigener Hand meinen Eid vernichtest.«

Nach diesen Worten that er einen Sprung, warf sich, wie er war, von dem Steine ins Meer und begann mit starken Stößen hinauszuschwimmen.

Die beiden Frauen schrieen laut auf, als sie den wilden Sinn seines Schwures erkannten, und Kalomira sank in die Kniee. Anastasia aber sprach: »Wahrlich, mich erbarmt dieses treuen und kühnen Jünglings, den nun jeder Schlag seines Armes dem Tode näher bringt; doch ich vermag ihm nicht zu helfen, denn sein Eid bindet auch mich. Ich will in mein Kirchlein gehen, für seine Seele zu beten und für die Deine.«

Kalomira lag auf ihren Knieen und starrte mit Grausen dem Schwimmer nach. Sie erkannte wohl, 238 es war ihm furchtbar ernst mit seinem Schwur; er schwamm und schwamm mit rüstigen Armen, als gelte es ein herrliches Ziel zu gewinnen. Kalomira blieb erstarrt in hülfloser Angst, indessen die Minuten gingen. Ja, sie wußte, sie konnte ihn retten, sie allein in der Welt, jetzt noch, diesen Augenblick noch – aber dann war er auch seines Eides entbunden, dann war ihm alle Macht über sie gegeben, sie fühlte, daß sie ihm nicht mehr zu widerstehen vermochte. Und dann war sie eine Pflichtvergessene vor ihrem Volke, des himmlischen Segens baar und unwerth, sie mußte fortan die Augen niederschlagen, wo sie das Haupt sonst hoch und herrlich getragen.

Und eine entsetzliche Furcht ergriff sie vor irgend einer dunkel drohenden göttlichen Strafe für ihren Abfall wie vor einer fernen Gewitterwolke, die das Herz mit dumpfer Ahnung künftigen Unheils niederdrückt. Und diese Angst riß wie ein Sturmwind alle anderen Gedanken aus ihrer Seele, diese ungewisse Angst vor der geheimnißvoll richtenden Allmacht über den Wolken. Es war zu Schweres auf ihr Haupt gewälzt in dieser Stunde, ihr heiliges Amt des Segenspendens lag plötzlich auf ihr wie eine zermalmende Last, und gern hätte sie alle Ehren hingegeben für ein einziges Wort, ein Zeichen von 239 oben, das ihr Verzeihung gewährte, nur Verzeihung und nichts mehr, wenn sie ihr stilles Gelübde brach.

Sie schloß die Augen gewaltsam vor dem Schrecklichen, das sich draußen auf dem Meere vollziehen sollte; sie preßte beide Hände wie im Krampf vor ihr Antlitz, sie brach zusammen und drückte die Stirn fest auf den harten Stein – da war es ihr, als habe sie einen leisen Todesseufzer vernommen; es war nur der Seufzer ihrer eigenen Brust, der ihr so fremd erschien, als käme er ihr dort aus jener Ferne; und sie sprang wieder empor auf ihre Füße, riß die Augen weit auf und starrte hinaus zu dem verlorenen Manne im einsamen Meer.

Schon war er so weit vom Lande entfernt, daß er schwerlich mehr zurückkommen konnte, auch wenn er gewollt hätte; nach aller menschlichen Berechnung mußte ihm die Kraft lange vorher versagen. Und er ruderte doch immer noch weiter, sie sah die ruhige, gleichmäßige Bewegung seiner Arme, die ihn unbeirrt dem schauerlichen Ende näher führte. Und rings umher lag das Meer stumm und unbelebt in der leuchtenden Mondnacht, kein Schiff, kein Nachen war weit und breit zu erspähen. Noch ragte sein Haupt kräftig über der glatten Fluth empor – doch jetzt verschwand es, die Kraft der Glieder schien plötzlich zu erlahmen . . . doch es zeigte sich wieder, 240 nur ein Augenblick war es gewesen, vielleicht ein Versuch, die Qual langsamer Ermattung freiwillig abzukürzen.

Aber dieser eine Augenblick entschied den langen Kampf des erschütterten Mädchens.

»Allheilige Jungfrau!« betete sie leise, aber gewaltig, »strafe mich, schlage mich, zerschmettere mich, aber laß mich ihn retten! Denn sieh, er ist ohne mich ja ganz verloren!«

Und sie sprang in den Nachen, und von verzweifelten Ruderschlägen getrieben, schoß das leichte Fahrzeug dem fernen Schwimmer nach, allmählich die Weite der trennenden Fläche verringernd. Laut rief Kalomira seinen Namen über das Wasser, und er wandte das Antlitz herum: aber dennoch schwamm er weiter, langsamer wohl und matter, doch er hielt seinen Eid bis zum allerletzten Augenblick. Immer schneller näherte sich das Boot dem lebendigen Ziel, immer freudiger wuchsen die Kräfte der rüstigen Jungfrau, und jetzt endlich, jetzt war sie an seiner Seite und streckte ihm selber die Hände zur Hülfe entgegen. Er vermochte sie zu fassen und sich über den Bord zu heben, aber dann sank er bewußtlos nieder auf den Boden des Schiffchens und blieb dort liegen bleich und ohne Leben. Kalomira küßte ihn leidenschaftlich auf den Mund und versuchte ihn 241 damit wie jüngst auch diesmal zu Kräften zu bringen. Doch nun zeigte es sich, daß ihre heilige Macht wirklich ganz von ihr gewichen war.

Da ruderte sie mit tüchtiger Menschenkraft zu dem Eiland zurück und rief die Nonne zu eiliger Hülfe herbei. »O Anastasia,« sagte sie entschuldigend, »ich konnte nicht anders, ich habe ihn mir zurückgeholt!«

Doch die nickte nur ganz zufrieden, und Beide trugen den leblosen Körper in die Kapelle und legten ihn nieder unter das Bildniß der Gottesmutter, ihn ihrer Fürsorge zu empfehlen. Aber doch versäumten sie nicht, mit ihren Händen der Göttin tapfer beizuspringen, sie rieben und wärmten ihn und stärkten ihn mit Wein. Und nicht allzu lange währte es, da erfüllte die Panagia ihre Bitte und goß dem Jüngling frisches Leben in die erstarrten Glieder.

Am anderen Morgen mit dem Frühsten besandte Anastasia durch den Fährmann den Priester Chrysikopulos von Gasturi; denn Kalomira war während der Nacht in eine schwere Verzagtheit gefallen, daß nichts sie aus ihrer Trübsal aufzurichten vermochte. Als Panagiotis nun kam und sah, wie sich die Dinge gefügt hatten, zugleich aber auch erstaunte, wie schwer seine Tochter die gebrochene 242 Pflicht ertrug, da streichelte er sie, lächelte gütig und sprach:

»Das mag noch Alles gut werden, wenn wir Geduld haben mit unserer frommen Gemeinde und den Leuten Zeit lassen, sich von einem alten Wahne langsam zu entwöhnen. Ich will euch Beide hier sogleich in diesem Heiligthum als rechtmäßige Ehegatten zusammensprechen. Wenn ich darüber ein wenig in Strafe verfalle, so soll mich das dieses eine Mal nicht allzu sehr verdrießen. Dann sollt ihr einen Monat in tiefer Verborgenheit unter Obhut der Schwester Anastasia mit einander wohnen; doch nach dieser Frist soll Kalomira in mein Haus zurückkehren und wieder daselbst leben wie zuvor, als ob nichts geschehen wäre, bis mir die Zeit gekommen scheint, dem guten Volke Alles zu offenbaren.«

Es geschah nun Alles so, wie er gerathen hatte. Nach einem Monat geheimen Glückes lebte Perikles die folgende Zeit in freiwilliger Verbannung auf dem Eiland Pantokrator bei den zwei Mönchen, diente ihnen als Fischer und hatte daselbst seine Treue in langer Entsagung zu bewähren. Die junge Gattin kehrte nach Gasturi zurück, pflag ihres frommen Amtes wie zuvor und empfing ihre Gaben. Niemand wußte von dem Geschehenen, nur waren 243 ihrer Viele, die sich wunderten, daß auf einmal all jene strahlende Frische und beglückende Heiterkeit in ihr schönes Antlitz zurückgekehrt war, die sie vor Jahren als Kind besessen. Und es gab Keinen, dem das mißfallen hätte, vielmehr schien alles Glück und alles Gute im Lande nur desto schöner zu wachsen, und die Leutchen gediehen in stiller Arbeit immer noch besser.

Als nun ihre Zeit gekommen war, genas Kalomira heimlich eines Kindleins, und als dasselbe zur Taufe kommen mußte, ließ der Priester die ganze Gemeinde sich versammeln, zeigte das Neugeborene und sprach:

»Wie ihr wisset, ward unsere Tochter Kalomira mit besonderen Gaben zu unser Aller Bestem vom Himmel ausgerüstet; aber ein Irrthum war es, wenn ihr wähntet, der Himmel wolle ihr zugleich eigenes Glück der Liebe und trauter Häuslichkeit entziehen, daß sie euch Anderen allein zum Heile lebe. Nein, die Heiligen machen nicht dergleichen Bedingungen und Vorbehalt; wen sie begnaden wollen, dem schenken sie die Fülle ihrer Herrlichkeit aus freier Güte und ohne dafür ein Gegenopfer zu heischen. Und dessen sollt ihr jetzt ein vollgültiges Zeugniß sehen. Ist etwa im Laufe des jüngsten Jahres der Segen in unserem Lande geringer 244 geworden, als er früher gewesen? Habt ihr nicht im Herbst des Weines und jetzt im Winter des Oeles die Fülle geerntet? Ist irgend ein gemeines Unglück über euch gekommen? Sind mehr Leute unter uns erkrankt und gestorben als in anderen Jahren? Nichts dergleichen ist mir bekannt geworden, sondern immer blühet unsere Gemeinde wie keine andere rund umher auf diesem Eiland. Und dennoch, sollt ihr nun erfahren, ist unser Segenskind beinahe seit Jahresfrist die gültige Gattin eines Mannes; die himmlischen Gaben aber sind nicht von ihr genommen, und zum Zeichen, daß kein Heiliger ihr zürnt, ward ihr dies Kind beschert, das nun bei euch in gleicher Ehre stehen soll wie sonst seine Mutter; denn in diesem Kinde sollt ihr von Neuem beglückt und gesegnet werden. Und also fordere ich von euch, daß ihr Alle insgemein den heimlichen Ehebund meiner theuren Tochter Kalomira nun öffentlich gutheißet. Wer aber anders gegen sie gesinnt wäre, der soll der neuen Gnade nicht mit theilhaftig werden.«

Als Panagiotis geendigt, ging erst ein leises Murmeln der Verwunderung durch die versammelte Schaar, doch bald schwoll es an zu lautem Beifall und immer hellerem Jubel; und es ward also Friede geschlossen zwischen der abtrünnigen Kalomira und 245 all ihren Beschützern, ehe noch ein Krieg erklärt war. Und das Glück blieb der Gemeinde getreu und nicht am wenigsten dem jungen Hause, welches Perikles, der Sohn des Xanthippos, in Gasturi sich gründete.

Von ihm wußte man später mancherlei bürgerliche Tugend zu rühmen: Weisheit und Beredsamkeit, meinte Chrysikopulos, habe er von jeher fast ein bischen zu viel besessen.

 


 


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