Hans Hoffmann
Bozener Märchen und Mären
Hans Hoffmann

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Der Irrtrank.

Ein Märchen.

An der Mündung des wilden Eggenthals, durch das man von Bozen zum Rosengartengebirge hinaufsteigt, gerade an der Stelle, wo heute auf schroffem Felskegel das hohe Schloss Karneid liegt, bewohnte vor Zeiten die Zauberin Similde ein wunderbares Krystallhaus. Es war erbaut aus lauter so klarem Glase, dass von weitem es niemand sehen konnte; nur wenn gegen den Abend die Sonnenstrahlen darauf fielen, sah man von Bozen her es mächtig aufblinken wie 54 sprühendes Feuer; des Morgens aber, wenn die Sonne gerade dahinter stand, erhub sich ein vielfarbiges Blitzen und Funkeln wie von einem riesigen Diamanten. Wer aber hinauszog, das Haus zu suchen, der konnte es nicht finden, ausser wenn ihm die Zauberin selbst aufmachte und ihn hereinliess. Das waren aber wenige.

Jedoch gingen viele Hilfsbedürftige und Arme hinauf auf ihren Berg, und es geschah denen oft, dass sie plötzlich im Grase ein Goldklümpchen fanden oder auch ein zierliches Edelgestein; und mancher Kranke glaubte zu fühlen, dass ihm ein Heiltränkchen leise über die Lippen glitt oder eine lindernde Salbe sich sanft auf seine Wunden legte. Und so kehrten sie fröhlich und gestärkt nach Hause.

Solcherart ging viel Gutes von ihr aus, und Böses that sie niemanden, also dass auch niemand um ihrer Zauberkünste willen sie verlästerte noch bedrängte.

Etliche Male im Jahre kam sie von ihrem Berge hernieder in die Stadt, ganz besonders um die Zeit, wenn die Pfirsiche blühten, und wiederum wenn sie reif waren. Sie fuhr 55 dann in einer Kutsche, die war ganz aus blinkendem Glase, auch die Räder und die Deichsel, und war bespannt mit sechs blüthenweissen Schimmeln, die niemand lenkte, sondern sie liefen von selber, wohin sie sollten; die Hufeisen waren von Krystall und die Zügel aus einem zarten Gespinst, das wie Schneeflocken glitzerte.

Die Zauberin selbst, die darin sass, war alt, grauhaarig und runzelig; doch führte sie stets ihre Enkelin mit sich, die auch Similde hiess und die schönste Jungfrau im ganzen Etschlande war; die trug ein schimmerndes Kleid von der Farbe der Pfirsichblüthe, aber die Farbe ihres Antlitzes war noch um vieles zarter und lieblicher, und darinnen lachten zwei veilchenblaue freundliche Augen. So fuhren diese beiden langsam um die Stadt und segneten leise die Weinberge und die Obstgärten und kamen auch durch die Gassen und redeten mit den Leuten, die ihnen begegneten und sie artig begrüssten, am liebsten mit den Kindern. Und wo sie vorübergezogen waren, blieb der Boden bestreut mit einem feinen Goldstaube, den jeder auflesen konnte.

56 Es geschah aber jedesmal, wenn sie so sich hatten sehen lassen, dass viele der edelsten Jünglinge, die das schöne Mädchen erblickt hatten, von Liebe zu ihr ergriffen wurden und fortan keinem anderen Gedanken mehr nachgingen, als wie sie es zum Weibe gewinnen könnten.

Zuletzt, wenn sie die Sehnsucht nicht mehr ertragen konnten, zog einer nach dem anderen hinauf nach dem Berge am Eggenthal, um das krystallene Haus zu entdecken. Allein es währte niemals lange, so kam jeglicher zurück in einem jämmerlichen Zustande, abgetrieben und zerzaust; und wenn man sie fragte, wusste keiner etwas zu sagen, als dass er sich im Gebirge verirrt habe. Zu welchem Zwecke sie ausgegangen waren und was sie danach erlebt hatten, das hatten sie völlig vergessen und schüttelten sehr verwundert die Köpfe über solche Fragen. Auch die schöne Similde blieb ihrem Gedächtnisse ganz und gar entschwunden, als ob sie die niemals gesehen und geliebt hätten. Nur manchmal, wenn sie Morgens oder Abends das mächtige Blinken auf jenem Berge zufällig erblickten, zuckten sie leise 57 zusammen und duckten sich ein wenig, als ob sie sich fürchteten. Doch begriffen sie selbst nicht, warum sie so erschraken. Und wenn einer von diesen später ihr noch einmal begegnete, so erkannte er sie nicht, ward auch von ihrer Schönheit nicht mehr ergriffen, sondern ging gleichgültig vorüber.

Es geschah in dieser Zeit, das ein junger Graf, der von diesen Dingen nichts wusste, weil er fern von der Stadt auf seinem Schlosse Hocheppan sass, vom Rosengartengebirge herabkam, wo er auf Gemsen gejagt hatte, und durch einen Zufall auf jenen Felsen gerieth, der das krystallene Haus trug. Doch er konnte es nicht sehen, obgleich es auf freiem Rasen unter dem Walde stand.

Er hätte sehr gern schon ein Obdach gehabt, denn er hatte sich den Fuss ein wenig verstaucht und konnte schlecht gehen; auch war es strenge Winterszeit, und es liess sich ein Frost spüren, denn die Sonne war im Sinken. Vergebens spähte er umher; er verwunderte sich nur im Stillen, dass hier mitten in der Einöde eine Pinie und eine Cypresse bei einander wuchsen, wie sie sonst 58 gern vor den Häusern stehen; doch war nichts weiter zu entdecken.

Da erhob sich auf einmal, wie er gerade gegen die Sonne stand, dicht vor ihm ein ungeheures Blitzen und Funkeln wie von tausend Diamanten, dass er geblendet und erschrocken die Augen zumachte. Als er sie wieder aufthat, war Alles verschwunden, denn die Sonne war nun untergegangen.

Indem hörte er ein feines Knarren wie von einer Thür, und urplötzlich stand vor ihm eine freundliche Alte, als wäre sie gerade aus dem Erdboden gewachsen, und lud ihn ein, näher zu treten und sich's in ihrem Hause wohl sein zu lassen.

Verwundert starrte er sie an; doch als sie einige Schritte rückwärts that, folgte er ihr nach und fand sich auf einmal in einem herrlichen Saale, dessen fensterlose Wände in einem zarten bläulichen Lichte wunderbar schimmerten und mit den reizendsten und mannigfachsten Zeichnungen verziert waren, die genau wie lauter riesenhafte Eisblumen aussahen. Die Decke trug ein klar durchsichtiger Pfeiler, der doch einen so feurigen Glanz ausstrahlte, als ob eine grosse blaue 59 Flamme darin verborgen wäre; von ihrer Wölbung hingen unzählige spitze, blinkende Zapfen hernieder von hundertfältiger Gestalt und Grösse, dass es eine Lust und ein Wunder zu sehen war.

Die Tische und Stühle und alle sonstigen Geräthe waren gleichfalls von Krystall oder welcher Stoff es sonst sein mochte, und waren darunter auch zwei mächtige gläserne Fässer, das eine mit rothem, das andere mit weissem Weine gefüllt, und dazwischen ein drittes, das entweder leer war oder gefüllt mit einer ganz durchsichtigen Flüssigkeit. Auf diesem mittleren Fasse stand eine gleich farblose Flasche, die sehr sonderbar gestaltet war: sie sah aus wie ein grosser Eiszapfen, geringelt und spitzig, nur mit der scharfen Spitze nach oben. Davor standen drei Gläser von der gleichen Form, an Grösse untereinander verschieden.

Indessen der junge Graf, welcher Altamar hiess, all diese seltsamen Dinge mit Erstaunen überschaute, nöthigte ihn die Alte sehr freundlich zum Sitzen und brachte ihm mit der grössten Behendigkeit allerlei gute Sachen, Gebratenes und Gekochtes. Er ass 60 mit gutem Hunger und trank auch von dem Wein, den sie ihm aus den Fässern zapfte, abwechselnd rothen und weissen.

Unter diese Mahlzeit betrachtete er sich die Alte neugierig, die ihn so trefflich empfing und bediente: und er fand auch ihr Antlitz, so welk und verschrumpelt es war, doch überaus angenehm: sie hatte zumal gar so kluge und gütige Augen, an denen er ein herzinniges Wohlgefallen fand.

Als er nun satt war, hätte er sie gern ein bisschen ausgefragt über all ihre Wunderdinge: allein da übermannte ihn alsbald eine so gewaltige Müdigkeit, dass er sich des Schlafes kaum noch zu erwehren vermochte.

Als sie das bemerkte, deutete sie sogleich mit freundlicher Stille auf ein Bett, das plötzlich dicht neben ihm stand, obgleich er es vorher da nicht gesehen hatte, räumte schnell ab und liess ihn allein in dem Saale.

Die Bettstelle war durchsichtig und blank wie alles Andere; die Decken waren aus einem weichen, feinen, körnigen Stoffe, der täuschend frischgefallenem Schnee glich, und umhüllten ihn bald mit der behaglichsten 61 Wärme, also dass er einschlief, kaum dass er sich gelegt hatte.

Der Morgen dämmerte eben, als er wieder erwachte. Sobald er ein wenig zu Sinnen kam, vernahm er um sich her ein sehr starkes Rauschen, am meisten von den Fässern herüber, als ob ein Wassersturz dahinter hervorbräche oder der Wein darinnen noch einmal heftig zu gären begönne.

Indem er nun schärfer dorthin spähte und sich still wunderte, fingen die Gefässe auf dem durchsichtigen Fasse an sich leise zu bewegen gleich silberhellen, züngelnden Flammen, ja, die drei Gläser vollführten ganz deutlich einen ruhigen und lautlosen Tanz um die seltsame Flasche.

Ueber diesem unheimlichen Treiben ward er erst vollkommen munter; er erhob sich von seinem Lager, und sobald er damit fertig war, war dieses verschwunden.

Da schritt er still forschend in dem Saale umher und machte sich seine Gedanken. Es kamen aber auch andere Gedanken, die er sich nicht machen wollte und die doch da waren: das waren die Gedanken, die ihn all die letzten Zeiten geplagt hatten. Und die 62 fingen plötzlich an, ihn sehr zu vergewaltigen, wie gewöhnlich des Morgens, wenn er recht bei frischen Kräften war.

Und er setzte sich nieder und stützte schwermüthig den Kopf auf die Hände.

Darüber kam die alte Zauberin wieder herein, brachte ein Morgensüppchen und fragte ihn, was ihm wäre, dass er so trübselig dreinschaue.

»Ach Gott,« seufzte Graf Altamar, »ich soll eine Frau nehmen und kann keine finden, die ich gern möchte. Aber mein Vater will es und alle meine Verwandten; und wenn ich jetzt in drei Tagen noch keine gewählt habe, verliere ich mein Schloss und mein Erbe und muss alles meinem Vetter abtreten, der gern jede heirathet, die man ihm anbietet, und wenn sie ein Mondkalb wäre. Da bin ich anders; ich kann mich nicht entschliessen.«

»Du scheinst mir aber allzu wählerisch zu sein,« versetzte die alte Similde, »es ist auch wahrlich kein Mangel an schönen und stattlichen Edelfräulein oder Prinzessinnen im Eisack- und Etschlande.«

»Das nicht,« sagte der Graf, »aber es ist 63 damit so ein eigen Ding. Ich sehe ihrer manche recht gern und gönne ihr alles Gute; aber mit dem Heirathen mag ich es nicht wagen.«

»Das macht,« sagte die Zauberin, »dass ihr Männer alle gar zu sehr auf die Schönheit aus seid, die doch trügerisch ist. Darum wählt ihr so lange.«

»Daran mag etwas Wahres sein,« gab Altamar zurück, »aber doch trifft es für mich nicht ganz zu. Ich kenne mehr als eine, die ist ein solcher Ausbund von Schönheit, dass es mir fast zu viel ist: und dennoch kann ich mir kein rechtes Herz zu ihr fassen und mag sie nicht zur Frau nehmen.«

»Ja, wie soll die denn aussehen, die dich zufrieden stellen könnte?« fragte Frau Similde.

Er besann sich eine Weile und blickte unterdessen der Alten ins Gesicht,

»Sieh,« sagte er endlich ernsthaft, »wenn Du eine Enkelin hättest, und die hätte Deine Augen und sonst etwas von Dir: die würde ich nehmen, ohne weiter zu fragen bloss auf dein gutes Gesicht hin.«

Als er dies sagte und dabei ganz ehrlich 64 aussah, ward sie sehr aufmerksam und blickte ihm eine Weile still prüfend in die Augen. Darauf sagte sie gelassen:

»Da könnte vielleicht Rath werden. Eine Enkelin habe ich: und schön ist sie wie nur eine. Sie ist freilich nicht so ohne Weiteres zu haben, sondern wer sie gewinnen will, muss sich zuvor einer Prüfung unterziehen, die bisher noch keiner bestanden hat. Aber was Du eben gesagt hast, gibt mir einige Hoffnung, dass Du sie bestehen könntest.«

Der junge Graf that einen herzhaften Seufzer.

»Aber ist sie auch ebenbürtig?« fragte er etwas schüchtern. »Sonst verliere ich mein Erbe.«

Da lächelte die Alte und sprach mit ruhiger Würde:

»Unser Ahnherr ist König Laurin, der den Rosengarten hatte hier in diesen Bergen. Von seinen Künsten ist viel auf uns gekommen und auch von seinen Schätzen; denn Dietrich von Bern hat sich sehr geirrt, wenn er glaubte, die ihm alle genommen zu haben.«

»Aber Laurin war ein Zwergkönig,« 65 wandte Altamar ein, »und Du hast eine gute menschliche Gestalt.«

»Das kommt von unserer Ahnfrau Similde, die ein sterbliches Weib war, die Schwester Dietleibs,« erklärte die Zauberin. »Von ihr haben wir das menschliche Ansehen. Von Laurin aber haben wir ein anderes Erbe, das wir antreten können, wenn wir wollen: das ist ewige Jugend. Wir bleiben immer jung und schön, wenn wir wieder einen Zwerg heirathen; nehmen wir jedoch einen Menschen, so müssen wir altern wie andere Frauen. Wir ziehen aber dennoch zumeist einen Menschen vor. Meine Enkelin am allermeisten; nur hat sie noch keinen gefunden, der ihrer sich würdig gezeigt und die Prüfung bestanden hätte. Und doch haben schon sehr viele der Edelsten des Landes um sie geworben.«

»Das ist doch seltsam,« sprach Altamar verwundert, »ich habe nie davon reden hören.«

»Wer soll davon reden?« erwiderte die Alte, »die um sie warben, haben es alle wieder vergessen.«

»Wie ist das möglich?« fragte der Graf 66 ungläubig, »wenn man ein Mädchen lieb gehabt hat, wie kann man das jemals vergessen?«

Ehe Frau Similde noch antworten konnte, vernahm man auf einmal ein Poltern und Stampfen, und ein junger Herr kam hereingetrampelt, der sich sehr aufgeregt gebärdete und erbärmlich aussah. Sein Gesicht war ganz blau gefroren, die feine Kleidung mit Eis überzogen, die Hände mit Frostbeulen bedeckt, und er zitterte kläglich. Er ging aber der Alten sogleich mit einem argen Schelten und Schmähen zu Leibe.

»Hexenpack!« schrie er, »ich will nichts mehr von euch wissen, und für alle weiteren Proben danke ich schönstens! Gefunden habe ich das Mädchen, und fast hätte es mich bethört. Aber zum Glück ist eure Teufelskunst doch an meinem Scharfblick gescheitert. Meinen Augen ist offenbar geworden, was Dein reizendes Enkelchen in Wirklichkeit ist: eine garstige alte Vettel ist es wie Du selber. Aber warte nur, jetzt sollen sie in der Stadt von Dir hören! Am Feuer sollst Du braten, wie Du mich halb hast erfrieren lassen aus nichtsnutziger Bosheit!«

67 Diese bösen Reden hörte die Zauberin mit grosser Seelenruhe an; ja, sie lächelte dazu leise.

»Armer Herr,« sagte sie freundlich, »Du bist wirklich stark durchgefroren. Komm, ich will Dir ein Schlückchen zur Erwärmung kredenzen.«

Damit that sie einen Griff nach der sonderbaren Flasche oben auf der Tonne, nahm die herunter und das mittelgrosse der drei Gläser und füllte dieses mit einem klaren, weit duftenden Getränk bis zum Rande. Das reichte sie dem zornigen Jünglinge zum Trinken. Der sträubte sich heftig; doch der köstliche Duft wie von hundert Pfirsichen stieg ihm lockend in die Nase, und wider seinen Willen musste er doch zugreifen und das Gläschen leeren.

Und sobald das geschehen war, wurde er ganz ruhig; er strich sich nur etliche Mal mit der Hand über die Stirn, als ob er sich vergebens auf etwas besänne. Dann betrachtete er verwundert sein übereistes Wamms und die erfrorenen Hände und sagte friedfertig:

»Es ist grimmig kalt draussen in dem 68 dicken Nebel. Hier ist es hübsch warm. Aber ich muss nach Hause, mich umzukleiden. Ich danke freundlichst für gute Bewirthung.«

Und mit artigem Grusse war er zum Hause hinaus.

»Das ist aber wunderlich!« rief Altamar verblüfft.

Die Zauberin lachte ganz leise.

»So kommen die zurück, die die Probe nicht bestanden haben,« sagte sie achselzuckend, »sonst geschieht ihnen kein Uebles. Und nun hat er's vergessen für alle Zeiten.«

»Kommt das von diesem Tranke?« fragte er ein wenig scheu.

»Ja,« antwortete sie heiter, »wer dies Glas voll davon trinkt, der verliert die Erinnerung an Alles, was kurz zuvor ihm am Herzen lag. Und das ist gut für diese Leute, denn sie könnten sich und anderen sonst Unheil stiften.«

»Und was hat es mit dem grossen Glase für eine Bewandtniss?« fragte er beklommen.

»Wer das austrinkt, der vergisst die ganze Welt,« versetzte sie still und feierlich, »und wer das thun darf, dem ist am wohlsten.«

»Und was ist's mit dem dritten, dem 69 kleinsten Glase?« forschte er weiter mit einem leisen Grauen.

»Das muss der leeren, der sich dieser Prüfung unterziehen will,« erklärte die Zauberin, »davon wird ihm etwas wunderlich und irrhaft im Kopfe. Doch das ist nöthig, und Schaden hat er davon keinen.«

»Und worin besteht die Prüfung, die so überaus schwer scheint?« fragte der junge Graf.

»Sie ist so leicht, dass jedes Kind sie bestehen könnte,« versetzte Frau Similde, »nur von ausgewachsenen Männern hat's noch keiner zu Stande gebracht. Worin sie besteht, das kannst Du nicht erfahren, ehe Du mitten darin bist und gewonnen oder verloren hast. Zureden will ich Dir nicht, denn Frostbeulen drohen Dir immer, wenn Du nicht ans Ziel kommst.«

»Darauf wollt' ich's gern wagen,« versicherte er lächelnd, »aber welches ist dieses Ziel? Und wo finde ich Deine Enkelin?«

»Wenn ich Dir das sagen wollte,« entgegnete die Alte, »so würdest Du sie im ganzen Leben nicht finden. In die Irre gehen musst Du, das ist die erste Hauptsache, 70 und dazu dient dieser Trank. Das Irren allein führt zum Schauen und Erkennen.«

»Aber irgend eine Richtung müsste ich doch wissen,« meinte er etwas kleinlaut, »und irgend ein Merkmal ihrer Person; ich könnte doch leicht an eine Falsche gerathen.«

»Das ist keineswegs zu befürchten,« sagte sie bestimmt, »hoch oben im Felsengebirge, wo sie zur Zeit wohnt, gibt es keine anderen Mädchen.«

»Oben im Gebirge?« fragte er erstaunt, »jetzt mitten im Winter?«

»Ja,« bestätigte sie ruhig, »da oben ist die Sommerwiese, und die musst Du eben suchen. Einst war dort Laurin's Rosengarten; doch den haben die Helden zerstört, nur die Wiese ist noch da. Die ist grün und sonnig das ganze Jahr hindurch und am schönsten im Winter. Dann blühen die Pfirsichbäume und die jungen Veilchen in aller Pracht. Und die junge Similde selbst hat Augen wie Veilchen und Wangen wie Pfirsichblüthen.«

Bei diesem Bescheide ward der junge Graf Altamar auf einmal ganz tiefsinnig und versank in ein Träumen.

»Auf so einer Wiese war ich einmal in 71 meiner Kindheit,« erzählte er endlich leise und mehr nur flüsternd, »ich hatte mich verirrt und kam so zufällig dahin. Und da fand ich ein kleines Mädchen, noch viel jünger als ich, das spielte auf der Wiese und schenkte mir Blumen. Und dieses Kind erschien mir so holdselig und lieblich, wie ich nie in der Welt wieder etwas gesehen habe; es war wie Pfirsichblüthen und Veilchen. Und eben darum, weil ich es niemals vergessen habe, will mir kein anderes Mädchen so recht von Herzen gefallen bis auf den heutigen Tag. Die Wiese habe ich nachher immer wieder gesucht, viele Jahre hindurch, mit aller Mühe und Qual, aber ich konnte ihre Spur niemals wiederfinden.«

Bei diesen seinen Worten ward die alte Similde abermals sehr aufmerksam und zeigte eine grosse Freude in ihren klugen Augen.

»So trinke Dir das Räuschchen aus meinem Glase,« rieth sie sehr eifrig, »vielleicht dass Du sie irrend zum anderen Male findest. Es gibt nur eine solche Wiese in unserem Gebirge. Und dort wohnt die junge Similde bei meiner Grossmutter.«

Was? » rief Graf Altamar mit grossem 72 Erstaunen, »du hast noch eine Grossmutter? Die kann aber wahrhaftig die Jüngste nicht mehr sein.«

»Sie ist gerade hundert Jahre alt,« beschied ihn Frau Similde, »und seit Kurzem recht hinfällig trotz der guten Luft des Berges. Sie will aber noch wissen, was aus unserer Kleinen wird, ehe sie Abschied nimmt. Du musst nämlich wissen, sterben können wir nicht wie sonst die Menschen, weil wir vom Stamme der Zwerge sind, sondern wir hutzeln nur immer mehr ein und schrumpfen zusammen, bis wir zuletzt des Lebens satt werden und von dem Tranke der Vergessenheit trinken, der die Welt uns entschwinden lässt. Den trinken wir dann gern, denn er führt zum Frieden. – Doch wie ist es mit Dir? Hast Du jetzt Lust zu dem Irrtrank aus diesem anderen Glase?«

Sie füllte das kleinste der drei Gläser und reichte es ihm dar.

Der junge Graf entgegnete kein Wort mehr, sondern nahm es schweigend und leerte es mit einem freudigen Zuge bis auf den Grund.

Und allsogleich empfand er im Kopfe 73 einen sehr anmuthigen Schwindel, ein Wirren und Schwirren von allerhand feurigen und sehnsuchtsvollen Gedanken, am allermeisten aber ein mächtiges Drängen hinaus auf die Wanderschaft.

Kaum mochte er sich noch die Zeit nehmen zu einem hastigen Abschiedsgrusse, und schon fand er sich im Freien und eilte den Berg hinab in das wilde Eggenthal, dessen felsige Enge damals noch nicht einmal durch einen Fusspfad erschlossen war.

So musste er sich selbst seinen Weg an dem tosenden Wildwasser hin über Steingeröll und durch wirres Gestrüpp suchen: aber wunderbar, es schien, als ob eine Strasse sich ihm fortwährend von selbst baue, so sicher schritt er dahin; immer neue Lücken öffneten sich durch das dichteste Gebüsch zu einem sauberen Schlängelpfade, und die Steine fügten sich so wunderlich bequem unter seine Füsse, dass er an kein Springen noch Klettern noch Ausweichen zu denken hatte, sondern gemächlich dahinfuhr wie in den Gassen der Stadt Bozen.

So kam er schnell vorwärts und sah die riesigen Felsen, die das Thal bedrängen, einen 74 nach dem anderen hinter sich zurückbleiben, bis er auf einmal bewundernd stillstand vor einem prächtigen Wasserfalle, der in hohem Schwunge von einer Bergwand herniederwallte. Es war aber in dieser Winterszeit ein besonderes Ding um dies springende Wasser: es war ringsum eingehüllt wie in einen gläsernen Panzer von glitzerndem Eise. Dieses Eis aber ruhte nicht still und gleichmässig wie auf einem ebenen Teiche, sondern war aufgelöst und zerfasert in unzählbare Zacken und Nadeln und Wellen und Wölbungen, dass es in all seiner Starrheit von einem inneren rastlosen und sprudelnden Leben gewaltsam bewegt zu sein schien und immer fest hangend wie eine geschmiedete Brücke doch immer mit furchtbarer Wucht schien in den Abgrund zu stürzen. Von einem Gepolter zerbrechender Eismassen aber war nichts zu vernehmen, es herrschte vielmehr eine wundersame Ruhe wie sonst nie in so grosser Nähe eines stürzenden Gewässers.

Wie nun der einsame Wanderer benommen in diese blinkende Wirrniss hineinstaunte, bemerkte er endlich, dass hinter der 75 gläsernen Hülle das Wasser dennoch wie sonst in unablässiger Bewegung wallte und niederrann, nur nicht wie sonst in ungebändigter Wildheit sprühend und spritzend, sondern in still gerundetem Strome zur Tiefe schwebte wie eine Säule flüssigen Silbers in einem krystallenen Rohre. Und es war wie ein Wunder zu sehen, dass also das Lebendige in Stille dahinfloss, das Erstarrte hingegen mit tausend abenteuerlichen Gestalten und Linien den Blick zuckend verwirrte, als hüpften tanzende Kobolde daran auf und nieder.

Und wie nun die helle Mittagssonne gleissend über das Eisgezack fiel, da war es dem Wanderer bisweilen, als sähe er aus dem rinnenden Silberstrom freundlich etwas Lichtes herausschimmern wie eine aufgeschlossene Rose oder ein Sträusschen von Pfirsichblüthen und mit leiser Regung ihm winken und locken. Doch wenn er es ins Auge fassen wollte, war es immer wieder verschwunden und zerstoben in irrlichternden Goldfunken.

Er konnte sich aber gar nicht sattsehen an dem reizenden Zauberspiel und wäre am 76 allerliebsten davor stehen geblieben bis zur sinkenden Nacht; all der gierige Wanderdrang war von ihm gewichen wie ein vergessener Traum. Jedoch ermahnte er sich selbst, es sei Zeit, weiterzuziehen auf seiner Suche, und er dürfe nicht thatlos säumen in solcher Wildniss. Also machte er sich los und pilgerte weiter. Und kaum war er unterwegs, so ergriff ihn auch wieder die Hast des Wanderns.

Und wieder ebnete sich ihm der Pfad, und er drang schnell vorwärts von Felsen zu Felsen. Allein noch nicht lange war er so hinausgeschritten, als ihm auf einmal die Gegend bekannt vorkam: die Felsen zu beiden Seiten waren ebendieselben oder doch genau ähnlich denen, die er im Anfang durchzogen hatte. Davon überlief ihn ein Schauder wie ein leises Frösteln, und er schritt noch eiliger aus. Doch soweit er vordrang durch die Enge des Thales, es blieb immer an dem, dass er bestimmt vermeinte, dies alles zuvor schon einmal gesehen zu haben. Und das Grauen in ihm ward stärker.

Und jetzt auf einmal stand er in aller 78 Wahrheit wieder vor dem Wasserfalle und konnte nicht zweifeln, dass es eben der nämliche war. Doch sobald er ihn erkannte, fiel seltsamer Weise alles Grauen von ihm ab, und er weilte wieder freudig in staunender Betrachtung. Und auf einmal sah er deutlich, wie der Rosenschein im Innern der wallenden Wassersäule sich vor seinen Augen gestaltete zu einem festen Gebilde gleich einer riesigen Pfirsichblüthe, die sich eben aufthun wollte: und dieser liebe und lockende Anblick gab ihm neue Hoffnung und eine Mahnung zugleich, dass er weitergehen solle, um dennoch zuletzt im Suchen und Irren sein Heil zu finden.

Doch bald nachdem er aufgebrochen war, ward es ihm zur Gewissheit, dass es ganz derselbe Weg war, den er jetzt zum dritten Male ging. Von neuer Angst getrieben jagte er vorwärts und spähte qualvoll nach einem Ausweg aus diesem unheimlichen Ringe. Doch nirgends vermochte er auch nur einen Spalt in der Steinmauer oder eine eingerissene Schlucht zu entdecken; in geschlossener Enge ging es vorwärts und immer nur vorwärts. Und ehe er sich's versah, stand er 79 zum dritten Mal vor dem gefrorenen Wasserfalle.

Da musste er wohl merken, dass es der Irrtrank war, der ihn so ziellos im Kreise herumtrieb.

Er wollte nun ganz in Verzweiflung fallen, denn er bedachte, dass nach so vielen Stunden des Wanderns der Abend heranrücken müsse und ihm keine Rettung davon bleibe, entweder in solcher nächtlichen Einöde elend zu erfrieren oder im Dunkel in den Wildbach zu stürzen.

Wie er nun zagend nach der Sonne hinaufsah, welche späte Stunde es sein möge, da entdeckte er mit einem halbfreudigen Grausen, sie stand noch immer genau an derselben hohen Mittagsstelle wie zu der Zeit, da er zum ersten Male an den Wasserfall gelangte.

Dieses neue Wunder lähmte ihn ganz und nahm ihm allen Muth und alle Kraft zu weiterem Wandern. Er lehnte sich müde wider einen moosbewachsenen Stein und blickte recht trostlos in das gleichförmige Hinströmen des eingeschlossenen Wassers und das krause Wirrsal jener Eiszackengebilde.

80 Da merkte er auf einmal, wie diese Gebilde nun wahrhaft lebendig wurden, sich aufreckten, zerdehnten und schnell in die Höhe wuchsen, auch überall um sich griffen wie mit Wurzeln und Zweigen; und ehe er sich recht besinnen konnte, war ein prächtiger Wald von beschneiten Tannen und anderen Bäumen und Sträuchern daraus geworden. Er sah aber nicht bloss, was über dem Erdboden ist, das Geäst und die Stämme, sondern auch das ganze Gefaser des Wurzelwerks in der Tiefe konnte er übersehen und darunter das ewige Sickern und Quellen und Rinnen der lebendigen Wasser, die es tränkend ernähren.

Und die Sonne schien freundlicher und wärmer über diesen Wald, und ein milder Regen tropfte aus einer huschenden Wolke leise darüber: und siehe, der Schnee schmolz hurtig hinweg, und die Zweige setzten Knospen an, und der Boden ergrünte von frischen Gräsern und Moosen, und die Knospen erschlossen sich zu lichten Blüthen und Blättern. Das hatte gewiss nicht länger gedauert als eine Minute, so war der herrlichste Frühling aufgeblüht und vollendet.

81 Und immer üppiger wucherten die Kräuter empor, und immer neue Blumen sprossen auf und entfalteten sich in schwindelnder Eile, und aber nach einer Minute vielleicht war der Sommer auf seiner Höhe. Und dann entblätterten die Rosen, und die Beeren und Früchte schwollen und reiften, die Gräser schüttelten ihre Samen zur Erde, und überall im Moose lagen Eicheln und Bucheckern. Und ebenso schnell färbten die Blätter sich gelblich und roth und sanken zu Boden, die Tannen standen schwärzer, bis jählings wieder der erste Schnee fiel und Alles mit der weissen Decke umhüllte.

Der Jahresring war geschlossen und öffnete sich abermals: ein neuer Frühling rauschte über den Waldeshang.

Jetzt aber erblickte der Wanderer plötzlich in der schönsten Mitte ein Pfirsichbäumcheu mit einer so dichten Fülle der röthlichen Blüthen, dass es fast einer einzigen voll aufgethanen Rose vergleichbar ward. Und indessen die anderen Bäume alle nach wenigen Sekunden ihre Blüthenblättchen auf die Erde streuten und in geisterschnellem Wuchse die Früchte zu zeitigen begannen, 82 blieb dies eine Rosenleuchten beständig; und als er ganz genau hinsah, ward er deutlich gewahr, dass vielmehr ein liebreizendes Mädchen dort hergeschritten kam und ihm nun so nahe war, dass er ihre Züge aufs beste erkennen konnte. Und er sah, dass sie über den blüthenrosigen Wangen zwei Augen hatte wie Sammet von der Farbe der Veilchen und ganz voll herzlicher Liebe und Güte. Und er erkannte sie wohl: es war jenes Kind, das er einst auf der Zauberwiese gesehen hatte und das nun zu einer herrlichen Jungfrau geworden war.

Die Schöne wandelte zwischen den Bäumen und Blumen mehr schwebend umher, doch ganz ohne Hast, so dass er sie immerfort in aller Musse betrachten konnte. Und als in etlichen Minuten der Winter neu hereinbrach, ward ein prächtiges Schloss sichtbar, in dessen behaglichstes Gemach sie sich zurückzog und in der Nähe des grünen Kachelofens zum Spinnen sich niederliess. Es war aber so seltsam mit diesem Schlosse bestellt, dass man durch die dicken Steinmauern ganz frei hindurchblicken konnte, als wären sie durchweg aus dem feinsten 84 Glase. Aber noch viel seltsamer wollte es den Zuschauer bedünken, dass er mit aller Sicherheit sein eigenes Grafenschloss Hocheppan erkannte, wie es von aussen zu sehen war, und auch im Innern Alles genau so, wie er es eingerichtet hatte, nur dass noch ein sanfter Hauch von feinerem Behagen sich darüber gebreitet hatte.

Bei solchem Anblick wollte sich das Herz ihm im Leibe umdrehen vor lauter Wonne und besonders vor Sehnsucht, der reizenden Spinnerin zur Seite seinen Platz am Ofen zu nehmen. Doch sobald er sich anschickte, ihr näher zu eilen, und ein Schrittchen nach vorwärts that, stiess er mit dem Kopfe und danach auch mit den tastenden Händen wider etwas Hartes und ausnehmend Kaltes, und obgleich er mit den Augen kein Hemmniss entdecken konnte, fühlte er es doch nur zu deutlich und mühte sich umsonst, es zu durchdringen oder von sich zu schieben. Wie er aber mit den Händen einige Zeit gegendrängte, wurden diese ganz starr und überströmt von rinnenden Wassertropfen. Da konnte er nicht mehr zweifeln, dass er hier von einer starken Schicht wunderklaren 85 Eises gleichsam ummauert war, die sich wie eine Glocke rund um ihn und über ihm wölbte.

Obgleich er sich also gefangen sah, war sein Schreck doch nicht so heftig, denn er hoffte auf das eilige Nahen des neuen Sommers. Diese Hoffnung trog ihn: der Frühling kam, doch die Eisglocke wollte nicht schmelzen.

Gleichwohl ergab er sich in sein Loos mit etlicher Gelassenheit; ihn tröstete sehr der liebliche Anblick, den er immerfort geniessen konnte. Er sah die Holdselige im Sommer wandeln und im Winter spinnend sich wärmen und konnte sein Auge nicht sättigen an den Freuden solches Schauens.

Und so ging ihm eine Stunde vorüber und wohl fast ihrer zwei; die Jahreszeiten wechselten zwanzig Mal und vielleicht noch ein paar Mal mehr: und immer blieb die Schöne in all dem Wechsel seinen Blicken unverwandelt.

Doch da auf einmal merkte er mit einem leisen Schrecken, dass irgend etwas Neues vorgehen müsse in dem lieben Antlitz. Und als er erst aufmerksam geworden, spürte er's 86 mit jedem Jahreszeitenumlauf, der ein paar Minuten dauerte, feiner und feiner: zuerst etliche ganz leichte Strichelchen wie zarte Schatten in der weissen Stirnhaut, dann ein leises Erschlaffen der Mundwinkel, zwei schärfere Falten von den Nasenflügeln herunter; dann ein weisses Haar in der blonden Fülle und noch eins und noch eins, und wieder ein Dutzend und wieder ein Hundert; und so ging das immer fort von Minute zu Minute; immer tiefer die Runzeln und immer grauer das Haar, immer gebeugter der Rücken, immer welker das Antlitz: und noch nicht sehr viel mehr als wieder eine Stunde war darüber vergangen, da sass eine stille Greisin müde tretend hinter dem Ofen am Spinnrad.

Aber doch war eins ganz unverwandelt an dieser armen Alten geblieben: das waren die schönen, sammtenen, veilchenblauen Augen mit ihrer Liebe und Innigkeit. Und als sie die jetzt einmal aufhob und mit leiser Güte herüberblickte und doch auch zugleich fast mit einer stillen, herzlichen Schalkheit, da überwallte den Wanderer abermals eine herzinnige Sehnsucht, zu ihr zu eilen und einen 87 liebevollen Kuss auf die treufreundliche Stirn und die mühsamen Hände zu drücken.

Und unvermerkt that er wieder einen Schritt, ohne des Kopfstosses zu denken: und siehe da, er vermochte frei auszuschreiten, die Eiswand war zerschmolzen oder in die klaren Lüfte verdunstet, und eh er recht begriff, wie, sass er wohlig im Lehnstuhl an den wärmehauchenden Kacheln, und die trauliche Greisin stand leicht über ihn gebeugt mit einer Fliegenklatsche in der Hand und sprach mit einem behäbigen Blicke ihrer guten blauen Augen:

»Heut' hast Du ein prächtiges Mittagsschläfchen gethan, Alter.«

Als er das hörte, und zumal das Wörtchen: Alter, da war's ihm, als ob ihn ein kaltes Sturzbad begösse.

Und wirklich, als er aufstand, spürte er mit aller leiblichen Fühlsamkeit auf Händen und Gesicht ein eisiges Wassersprühen: und schleunigst erkannte er, dass der Eispanzer des Wasserfalles in der Mitte geborsten war und aus dem Risse hellspritzende Strahlen herüberzischten.

Eilig wich er zurück und schüttelte sich 88 frostig. Aber er schüttelte auch den Kopf vor grosser Verwunderung, gleichermassen, dass er solche Dinge gesehen hatte, und dass er so plötzlich sie nicht mehr sah.

Als ihm aber alles Umblicken und Forschen zu gar nichts mehr half, da machte er sich ziemlich verdrossen abermals auf den Weg. Dass die Sonne immer noch ihre Mittagshöhe einhielt, wunderte ihn wenig mehr.

Kaum hatte er nunmehr eine ganz kurze Strecke um den nächsten Felsvorsprung zurückgelegt, als er vor sich eine völlig verwandelte Gegend erblickte: ein breiteres Waldthal erstreckte sich sanft aufwärts, von tiefbeschneiten Waldbergen umkränzt, und an dessen Ende erhoben sich die gewaltigen Zacken des eisschimmernden Hochgebirgs.

Nicht lange hatte er so ausgeschaut, da kam ein Nebel von jenen Höhen geflossen, legte sich über die Wälder und quoll tiefer herab und umhüllte ihn selbst, dass er kaum noch wenige Schritte vor sich den Erdboden erkennen konnte und sonst gar nichts in aller Runde.

Er schritt aber tapfer darauf los, als wenn 89 er geführt würde, und voll freudiger Hoffnung, nicht mehr wie zuvor in verworrener Unrast.

Und nun war's ihm auf einmal, als hörte er Jemanden neben sich oder hinter sich gehen mit einem leichten, lockeren Schritte, wie er jungen Mädchen wohl eigen zu sein pflegt. Aber soviel er auch umblickte, er bekam in dem Nebel keine Seele zu sehen.

Da stiess er plötzlich wieder gegen etwas Hartes, das wie Eis sich anfühlte. Doch es wich gleich von ihm zurück, und als er aufblickte, fand er sich in dem krystallenen Saale der Zauberin, den er Morgens verlassen hatte, und jetzt blinkte die goldene Abendsonne von drüben herein, dass die Wände schimmerten wie von lauterem Golde.

Kaum hatte er sich von seinem Staunen erholt, als auch die alte Similde hereintrat und ihn freudig begrüsste.

»Hab ich's doch recht geahnt!« rief sie ihm entgegen, »Du kommst zurück ohne Frostschaden.«

»Das wohl,« entgegnete er niedergeschlagen, »aber die Wiese habe ich nicht gefunden.«

90 »Das geht auch nicht an,« erklärte sie ihm, »die Sommerwiese ist nur für Kinder und uralte Greise, andere Leute finden sie niemals. Und sogar meine Enkelin hat sie heute verlassen, weil sie soeben die Kinderschuhe ausgezogen hat, und mit anderen Schuhen kann man darauf nicht schreiten.«

»Das ist etwas anderes,« sagte Graf Altamar, »aber eine Prüfung, wie ich sollte, habe ich auch nicht bestanden.«

»Ei freilich hast Du sie bestanden,« fiel die Alte schnell ein, »und mit allen Ehren! Und Du warst der Erste. Schon Viele haben die Jungfrau in dem Zaubereise gesehen, und Alle entbrannten von heftigem Verlangen, wie sie jung und schön war. Als sie aber alt wurde vor ihren Augen und die Jugendpracht verwelkte, da kehrten sie die Blicke unwillig von ihr ab und vergassen der Liebe. Darum mussten sie so lange unter der Eisglocke sitzen mit ihrem kalten Herzen, bis sie halb erfroren waren. Du allein warst anders und hast die Prüfung bestanden. Und die junge Similde kann nun hereinkommen.«

Da that sich eine Thür auf, und die Liebliche trat ein. Als sie den fremden 91 Jüngling erblickte, erröthete sie holdselig wie eine Pfirsichblüthe, schlug die Hände zusammen und rief ganz laut in ihrer Ueberraschung:

»Grossmutter, das ist der Mann, den ich in dem Zaubereise gesehen habe, als ich dran vorüberkam. Er ist aber, Gott sei Dank, wieder jung geworden.«

»Dann sieh zu, wie Du mit ihm fertig wirst,« sagte die Alte.

Die junge Similde aber erschrak über ihre eigenen Worte und schlug die Augen verschüchtert zur Erde. Da fasste Graf Altamar sie in seine Arme und gab ihr einen Kuss; und sie liess sich das gefallen und hob die veilchenblauen Augen still und herzlich zu ihm auf.

»Du sollst meine Gräfin werden und keine Andere auf der Welt,« sprach er glückselig und küsste sie noch einmal.

Die Grossmutter aber nahm nunmehr die sonderbare Flasche von der Tonne herunter, nebst dem grössten der drei Gläser und sagte gelassen:

»Ich will nun hinaufgehen zur Urahne und ihr den Trank der Vergessenheit bringen. Sie wird ihn jetzt trinken wollen und der 92 Welt vergessen. Und wer das kann, dem ist am wohlsten.«

Also schritt sie hinaus, und die beiden blieben allein mit einander in der schimmernden Halle. Und sie vergassen auch beide die ganze Welt, und es war ihnen am allerwohlsten. 93

 

 


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