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Im Walde meiner Heimat wuchsen die Bäume so, als habe Gott selber sie gepflanzt. Gott pflanzt Bäume nicht in Reihen. Gott zählt sie nicht. Gott rechnet nicht aus, wieviel Festmeter Holz in siebzig oder achtzig Jahren nutzbar werden. Gott pflanzt nicht zum Verkauf. Gott öffnet die Hand und streut, da geht Kraut auf und Unkraut.

Nuss ist das Unkraut des Waldes. Der Mensch kommt hinzu und sieht die Gewächse im Kampf miteinander ums Licht. Der wuchernde Nussstrauch erstickt die jungen Fichten und Kiefern. Der Mensch haut den Nussstrauch heraus, die jungen Fichten und Kiefern freuen sich des gewonnenen Lichts. Aber der Nussstrauch ist zähe. Aus Stumpf und Wurzeln schlägt er von neuem aus. Und der Knabe kennt die Stellen, an denen der Strauch im eigenen dichten Gedränge die längsten, schlankesten, geradesten Schösslinge trieb. Hier sucht und schneidet er sich seine Angelruten. Niemand wird es ihm verwehren, niemand Rechenschaft von ihm fordern. Er mag sich seine Angelruten schneiden, wo er sie findet. Denn der Wald, den Gott gesät hat, gehört ja dem Vater des Knaben. Der Vater, der ist hier der Herr. Und darum geht der Knabe durch den Wald wie durch ein Königreich, in dem er Prinz ist.

Es ist ein Königreich voll unermesslicher Reichtümer. Wer zählt die Schätze, wer weiß, wo verborgenen zutage treten? Im Frühling blühen an den bekannten Plätzen die Leberblümchen, Himmelschlüssel, Anemonen. Die Erdbeere blüht und wird im Sommer zur köstlichen Fruchtgediehen sein. Die Himbeere blüht, die Blaubeere, die Strickbeere. Der Waldboden blüht von lauter Versprechen.

Aber der früheste war doch immer der Haselnussstrauch. Seine Blüte ist so bescheidener Art, dass Erfahrung dazu gehört, sie zu bemerken. Donne scheint durch den noch blattlosen Strauch, der seine langen Kätzchen stäuben lässt. Da glüht es an den Zweigen wie kleines purpurnes Juwel. Die Sonne der ersten warmen Tage treibt den Strauch zum Blühen. Aber noch kommen die kalten Nächte. Und nur, wenn die kleine purpurne Blüte nicht erfriert, gibt es im Herbst die Nüsse.

Nüsse sammeln, das ist auch so wie reich werden. Die Hand spielt mit dem rundlichen, klappernden Gut in der Tasche wie mit Geld. Der Knabe kommt aus dem Walde nach Hause als reicher Mann.

*

Ich weiß nicht, was ich suchte. Schnitt ich mir Angelruten? Sammelte ich Nüsse? Ging ich durch den Wald ohne bestimmten Zweck und darum grad besonders aufgeschlossen und bereit für das Unerwartete? Jagdinstinkte waren in mir, dem Nachfahr vieler Jäger, sicherlich längst schon wach. Mit meiner hohen Knabenstimme konnte ich die Rufe vieler Tiere nachahmen. Ich lockte die Taube, den Bussard, und sie antworteten mir. Ich kannte viele Tiere. Und als vornehmsten galten mir natürlich die jagdbaren. Ihnen zu begegnen war immer ein Glück, zumal es kein häufiges war. Denn in dem Teil des Waldes, der an den Park grenzte, hielt nicht viel Wild sich auf. Doch es kam vor, dass aus dem Busch ein Haselhuhn aufschwirrte oder ein Hase über die Lichtung hoppelte. Ich wusste, dass es noch anderes, größeres, edleres Wild gab. Da hingen zu Hause die Rehgehörne. Und eine Elchschaufel wurde immer dazu verwandt, die Tür zur Veranda offenzuhalten, dass der Wind sie nicht zuschlüge. Und dann waren da noch im Schrank die Jagdbücher mit ihren Bildern, und bei Tisch die Jäger mit ihren Erzählungen.

Es war an der Stelle, wo die alten herrlichen Kiefern standen, die Ahnherren der jüngeren Waldgeneration. Auch Birken wuchsen hier und alte Eichen. Und Nuss, mein geliebter Nuss!

Ich war wohl eine Weile stillgestanden haben. Leise sein im Walde - wer es nicht ist, der sieht nichts, hört nichts. Ich muss sehr leise gewesen sein, da ich die Schritte schon von weitem hörte. Laub raschelte. War es ein Mensch oder ein Tier? - Zwischen dem Unkraut des Waldes trat es hervor, das Reh.

Warum wusste ich gleich, dass es ein Reh ist? Erinnerte ich mich an Bilder von Rehen? Dachte ich an die toten Rehe in der Küche? (Aber ein totes Tier ist so furchtbar anders als ein lebendes!) Jedenfalls muss die Vorstellung »Reh« in mir schon deutlich und einigermaßen zutreffend gewesen sein, dass ich sofort erkannte: ein Reh!

Es kam näher. Es schritt auf mich zu, es hob den Kopf und sah mich an. Ich habe gewiss den Atem angehalten, ich habe mich nicht gerührt. Das Reh hat mich eine Weile angesehen, dann hat es erkannt: Mensch! - und ist geflüchtet.

Ich lief nach Hause. Aufgeregt erzählte ich: »Ich habe ein Reh gesehen.« Der Vater musste es hören, die Mutter, die Schwestern. Und ich beschrieb genau die Stelle. Aber wer kann das Wunderbare anderen mitteilen? Ein Reh, und an der Stelle, das war an sich noch nicht so wunderbar. Nur für mich war es wunderbar, denn es war eine erste Begegnung.

*

Solche ersten Begegnungen können sehr verschiedener Art sein. Ich könnte aus meinem Leben manches Beispiel nennen: von ersten Reisen, vom Anschauen berühmter Kunstwerke, vom Bekanntwerden mit Menschen, von denen man vorher schon viel gehört hat. Ich meine also nicht diese allerersten Begegnungen, bei denen und ein völlig Unbekanntes fremd entgegentritt, nicht jene ersten Erfahrungen des Kindes, das noch von nichts weiß. Sondern jene Begegnungen meine ich, die, erwartet oder überraschend, uns ohne Zögern das Ding sofort beim richtigen Namen nennen lassen, da wir schon ein Bild davon in uns trugen. Und solche Begegnung ist immer von einem großen Staunen und einem kleinen Schrecken begleitet. - Wie?! Ist das Ding so einfach, so natürlich, so wie von selbst verständlich? Und doch in seinem Grund und Wesen, ob wir es auch mit allen unseren Sinnen aufnehmen, so ganz tief rätselhaft und unbegreiflich? - »Ich habe ein Rehgesehen.« - Wenn das schon so wunderbar war und wenn das schon sich nicht mitteilen ließ - das Wunderbare daran, - wie aufgeregt müsste der Knabe erst sein, der nach Hause gelaufen käme, um zu erzählen: »Ich habe Gott gesehen!«


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