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Ich will dir die Geschichte erzählen, und du kannst sie aufschreiben. Vielleicht willst du sie nachher aus meiner russischen in deine deutsche Sprache übersetzen und drucken lassen. Es wird ja vieles gedruckt, was nicht wahr ist. Diese Geschichte ist wahr, so wahr ich der Sanitäter Iwan bin, der seinen Dienst tat im großen Kriege wie andere Sanitäter auch, zu jener Zeit, da der Zar uns regierte und die Menschen noch an Gott glaubten. Ich will aber darüber nichts sagen, wie damals die Zeiten waren und wie sie heute sind. Denn wenn ich erst davon anfange, so komme ich damit nicht so bald an ein Ende, und so käme ich auch nicht dazu, dir die Geschichte zu erzählen, die du hören willst, von Semion, dem Mörder, und Barbara, der Schwester der Barmherzigkeit, wie sie bei uns genannt wurden, diese Wohltäterinnen der Verwundeten und Leidenden. – Also die Schwester Barbara – aber nein, nicht mit ihr soll meine Geschichte beginnen, denn man fängt ja auch beim Essen nicht mit der süßen Speise an, sondern mit dem Gesalzenen, und darum fange ich mit Semion an.

Ich war nicht recht einverstanden damit, dass man ihn zu uns ins Kriegslazarett gebracht hatte. Wenn man mich gefragt hätte – aber wer fragt schon einen Sanitäter nach seinem Einverständnis? Da ist der Chefarzt, da sind die anderen Ärzte, da ist der Feldscher, und schließlich sind da auch noch die Schwestern. Und alle sind sie dem Sanitäter übergeordnet, sogar die Schwestern. Da ist es das beste, man hält den Mund und tut, was befohlen wird. Ich will ja auch nachträglich nichts mehr dagegen sagen, aber damals dachte ich wohl: Der gehört nicht hierher. Er war nicht Soldat. Er hatte nicht, wie die anderen, die bei uns lagen, für Zar und Vaterland gekämpft, und darum war er auch nicht in der Schlacht verwundet worden, sondern in einem Kampf ganz anderer Art, wie er auch im Frieden vorkommt. Ach, wann ist schon wirklicher Friede zwischen den Menschen! – Ein Verbrecher war er, ein ganz gemeiner Räuber und Mörder. Und solch einen hatte man zu uns gebracht! Es ist eine Schande, dachte ich. Wenn er bei seiner Festnahme Widerstand geleistet hat und angeschossen worden ist, war's da nicht einfacher gewesen, ihn auf der Stelle sterben zu lassen oder ihm, wenn schon die eine Kugel nicht ausreichte, gleich eine zweite zu geben? Aber die Polizei, die ja immer so viel Umstände macht mit jedem Halunken, wollte, dass der Mann noch allerlei Aussagen machen sollte über das, was er begangen hatte, und vielleicht auch über seine Verbrechergenossen, wenn er welche gehabt hat. Also man wollte ihn zum Reden bringen, und weil er nicht hatte reden können, mit dem Schuss durch die Brust, und weil man im Gefängnishospital, wohin er eigentlich gehört hätte, auf solche Falle nicht eingerichtet war, darum hatte man ihn zu uns gebracht und zu den Ärzten gesagt: »Macht ihn so weit heil, da& er noch reden kann. Denn reden muss er, ehe wir ihn hängen.« – So lag der Fall.

Die Ärzte, nun, die nahmen sich seiner an wie jedes anderen Verwundeten auch. Ein Arzt ist ja kein Richter. Er fragt den Kranken nicht nach seinen Sünden, sondern nach seinen Leiden, ob auch die Sünden und die Leiden oft in einem Zusammenhang miteinander stehen mögen. Was sie mit ihm gemacht haben, das kann ich dir so genau nicht sagen, denn ich war nicht dabei. Sie haben ihn auf den Operationstisch gelegt, narkotisiert und geschnitten. Aber sie haben wohl nicht viel geschnitten, vielleicht nur die Kugel herausgenommen und nachgesehen, was die angerichtet hat. Das war ja nun schlimm genug. Denn außer der Lunge hatte auch die Speiseröhre ein Loch, wo sie es nicht haben soll. Die Ärzte haben denn auch bald mit der Hand abgewinkt, so wie man abwinkt, wenn man damit sagen will, dass da nichts Rechtes mehr zu machen ist. Vielleicht auch haben sie keine Lust gehabt, ihre ganze ärztliche Kunst an einen Mann zu wenden, der sein Leben, wenn sie es ihm retteten, doch an die Richter hingeben musste. Denn gehängt wäre er worden, das steht fest.

Wir hatten ihn, der von der Narkose noch nicht erwacht war, in den Saal zu den »Schweren« gebracht, wo noch das eine Bett frei war. Fünfundzwanzig lagen schon darin. Semion war der sechsundzwanzigste. Man hatte uns eingeschärft, der Mann dürfe, wenn er erwacht, keinerlei Nahrung bekommen, weder feste noch flüssige. Denn das würde seinen schnellen Tod zur Folge haben, und er sollte ja noch leben, um seine Aussagen vor der Polizei zu machen.

Das erste, was er sprach, als er das Bewusstsein wiedererlangte, war: »Gebt mir zu trinken!« Ich ging zu ihm hin und sagte ihm, dass er nicht trinken dürfe.

»Wer hat es verboten?« fragte er.

»Die Ärzte.«

»Hol sie der Teufel!«

Obwohl ich ärgerlich war über den Mann und über die Umstände, die man mit ihm machte, redete ich ihm doch gütlich zu, indem ich ihm klarzumachen versuchte, es läge ja nicht an mir, sondern an der Vorschrift. Er solle nur nicht ans Trinken denken, dann verginge der Durst. Still solle er liegen und zufrieden sein, dann würde noch alles gut werden. Wie man so zu den Kranken spricht, auch zu den Schweren und auch zu denen, wo man weiß, dass da nichts mehr gut werden kann. Er wollte aber auf mich nicht hören und wiederholte immerzu nur dieselben Worte: »Gebt mir zu trinken!«

Es wurde mir langweilig, das zu hören, weil ich ihm seinen Wunsch doch nicht erfüllen konnte. Also schimpfte ich einmal kräftig heraus, so wie man ausspuckt, und wandte mich wieder den anderen Betten zu. Es hatten auch schon etliche von den Kranken nach mir gerufen. Der eine brauchte dies und der andere das. Man hat, das kannst du mir glauben, genug zu tun, wenn man allein fünfundzwanzig Schwere betreuen soll. An den Fronten hatte es große Schlachten gegeben gegen die Deutschen. Die Hospitäler waren voll, und es fehlte an Pflegepersonal.

»Gebt mir zu trinken!«

Ich tat, als hörte ich es nicht, indem ich mir am Ofen zu schaffen machte. Es war ein hübscher Ofen, schwarz, mit Blech verkleidet, dick, rund und hoch bis zur Decke. Er heizte sich gut und wärmte tüchtig. Das war auch nötig, denn der Winter war streng. Es war an jenem Tag der Himmel klar, und die Sonne schien auf den Schnee. Aber der Frost nahm zu. Das konnte man an den Eisblumen sehen, die an den Fensterscheiben wuchsen. Sie wuchsen so dicht, dass man von der Straße draußen nicht viel sah. Da musste ich also noch Holz nachlegen. Zuweilen murrte ich wohl, dass ich als Sanitäter, weil doch das Pflegepersonal so knapp war, auch noch für den Ofen zu sorgen hatte. Aber, offen gestanden, ich beschäftigte mich lieber mit ihm als mit den Kranken. So ein Ofen, der klagt nicht, der schimpft nicht, und man braucht ihn nicht zu bedauern. Er frisst sein Birkenholz und ist zufrieden. Aber wann ist schon jemals ein Mensch zufrieden?

»Gebt mir zu trinken!«

Ach dieser Semion! Ich konnte mich nun nicht länger so stellen, als hörte ich nichts, und darum schimpfte ich stark, wie man eben so schimpft, wenn man sich einem Menschen anders nicht verständlich machen kann. Dabei spürte ich, dass die Verwundeten mir recht gaben und sich über mein Schimpfen freuten.

Das mochte nun auch Semion gespürt haben. Er wandte den Kopf, nach der einen und nach der anderen Seite. Seine Nachbarn sah er sich an. – »Wer seid ihr?« fragte er. Sie mochten ihm keine Antwort geben, und so sah er sich weiter um in dem Raum. Natürlich, er konnte das gewiss nicht sofort begreifen, was das alles sei und wo er sich befinde. Er betrachtete sich die einzelnen Uniformstücke, die da in seiner Nähe umherlagen, und die Täfelchen über den Betten. Ob er sie zu lesen verstand, weiß ich nicht. – »Wer seid ihr?« wiederholte er noch einmal. Es gab ihm keiner eine Antwort. – »Warum antwortet ihr nicht?« fragte er. Sie schwiegen. Die hier lagen, sie hatten alle ihre Leiden, jeder das seine. Sie hatten jeder etwas von ihrem Leibe hergegeben, der eine einen Fuß, der andere eine Hand. Es war auch ein Blinder dabei und ein Tauber, und einer war lahm im Kreuz und ein anderer verdreht im Kopf. Aber eben durch ihre Verluste hatten sie sich einen Gewinn erkauft. Der war nicht gering. Für sie war der Krieg zu Ende, sie brauchten in keine Schlacht mehr. Was man von ihnen verlangte, das hatten sie geleistet. Mehr konnten auch der Zar und das Vaterland nicht von ihnen fordern. Und wenn es Gott gefallen hatte, ihnen in all den Gefahren des Leibes das Leben zu lassen, nun, so wollten sie jetzt von Gott auch den Frieden für die Seele. – Aber der Mann im Bett Nummer sechsundzwanzig war wie der Unfriede selbst. Es lässt sich nicht sagen, woher das kam, dass eine solche Wirkung von ihm ausging. Schon als wir ihn hereintrugen, den Bewusstlosen, wurde es spürbar, dass die Verwundeten ihn nicht als ihresgleichen betrachteten. War es, dass sie sich in ihrer Soldatenehre gekränkt fühlten dadurch, dass man einen Verbrecher zu ihnen gelegt hatte?

Aber wenn es das war, so war es doch nicht das allein. Es ging etwas aus von ihm – ich kann es nicht anders sagen – wie eine große Feindschaft.

Kranke fühlen ja feiner als Gesunde, und ich, der ich ja immer mit den Kranken zu tun hatte, mochte wohl etwas von ihrer Feinfühligkeit abbekommen haben. Es hatte sich auf mich übertragen, dass dieser Mann unser aller Feind war. Seit er da war, war wieder Krieg.

»Ach ihr Schufte«, sagte Semion und ließ den Kopf ins Kissen zurücksinken.

Auf seine Frage hatten sie nicht geantwortet. Da er sie beschimpfte, blieben sie ihm die Antwort nicht schuldig. Was soll ich dir die Worte alle nennen, die sie zu ihm sprachen? Die russische Sprache ist, wie du weißt, eine reiche Sprache. Du fändest in deiner deutschen Sprache vielleicht gar nicht so kräftige Sprüche, wie die Russen sie haben, wenn sie einander beschimpfen. Sie beschimpften ihn also, und er schwieg eine Weile. Und dann sagte er: »Was wisst ihr denn, wer ich bin? Aber ich weiß, wer ihr seid. Mörder seid ihr. Alle Menschen sind Schufte, aber ihr seid Mörder.«

Darüber wurde mir nun der ganze Saal sehr unruhig, also dass ich meine Stimme erheben musste, um Ruhe zu gebieten. Zu Semion aber ging ich hin, stellte mich vor sein Bett und sagte: »Du Hundesohn, wenn du mir jetzt nicht still bist, dann ...«, und weil ich noch vom Heizen her die Ofenkrücke in der Hand hielt, drohte ich ihm damit.

Da richtete er sich im Bette so weit auf, dass die Decke von seiner verwundeten Brust zurückschlug und man sehen konnte, wie er aus seiner Wunde durch den Verband hindurch geblutet hatte. Er ballte die Faust gegen mich. »Warte!« sagte er, »warte! Wenn ich erst gesund bin! Jetzt kannst du mich schlagen, denn ich bin noch schwach. Aber wenn ich erst wieder gesund bin, dann werde ich dich zerdrücken wie eine Laus.« Und er löste die Faust, um mir mit beiden Daumen zu zeigen, wie er mich, Nagel auf Nagel, zerdrücken wollte.

Darüber lachten einige, und das machte mich böse. »Haltet die Mäuler, ihr Teufelskinder!« rief ich. Zu Semion aber sagte ich: »Weißt du denn überhaupt, wo du bist und warum du hier liegen darfst? Bloß weil es nicht lohnt, für dich allein, du Miststück, das Gefängnishospital zu heizen, darum hat man dich hierher gebracht, ins Kriegslazarett, und hat dich unter die ehrlichen Soldaten gelegt, zu denen du gar nicht gehörst. Die haben für den Zaren und das Vater land gekämpft und sind in der Schlacht verwundet worden. Und du, wofür hast du gekämpft? Die haben ihre Wunden vom Feinde empfangen, und das ist eine Ehre. Aber du hast deine Kugel von einem Polizisten bekommen und das ist keine Ehre, sondern eine Schande.« Ich muss wohl sagen, dass es mir eine Freude war, so zu ihm zu reden, denn ich hasste ihn und wusste, dass ich ihm wehe tat mit meinen Worten, weher als mit Schimpfworten und Drohungen. Ich wollte ihm noch mehr sagen, dass er, wenn er selber ein Mörder war, der einzige hier wäre und keinen Kameraden hatte unter uns, weder unter den Kranken noch unter den Gesunden. Aber da brüllte er so laut auf, dass ich mich wundern musste, wie er, der so schwach war, seine Stimme so stark machen konnte, trotz des Schusses durch die Brust. »Ich töte dich!« rief er. »Sieben habe ich umgebracht, und ich bereue es nicht. Und du wirst der achte sein!« Er sah mich dabei an mit einer solchen Wut, dass ich erschrak und unwillkürlich einen Schritt von seinem Bette zurücktrat, obwohl ich noch die Ofenkrücke in der Hand hatte und er auch viel zu schwach war, um mich anzugreifen. Weil ich aber für alle sprach und mich nicht ängstlich zeigen durfte, auch einen großen Zorn auf ihn hatte, darum machte ich den Schritt wieder vorwärts und hob die Ofenkrücke, als wollte ich ihm damit einen Schlag auf den Kopf versetzen. Vielleicht hätte ich ihn wirklich geschlagen, was eine große Sünde gewesen wäre. Aber da stand auf einmal Schwester Barbara vor mir und sah mich an, und da sank mir der Arm mit der Ofenkrücke herab, und ich schämte mich. Ich weiß es nicht – war sie schon vor einer Weile hereingekommen und ich hatte sie nicht bemerkt, oder kam sie grad in dem Augenblick, als ich Semion schlagen wollte? Sie stand mir gegenüber an der anderen Seite des Bettes. Übrigens glaube ich nicht, dass ich ihn geschlagen hätte. Es wäre wohl bei der Drohung geblieben.

Ja, nun möchte ich dir wohl die Schwester Barbara beschreiben. Aber wer kann einen lebendigen Menschen mit Worten so beschreiben, dass daraus etwas würde wie ein Bild? Es ist schade, dass ich keine Photographie von ihr besitze. Ich würde dir die Photographie zeigen, und du würdest dann alles viel besser verstehen, was ich dir von ihr erzähle. Sie war noch nicht lange bei uns, und immer am Nachmittage hatte sie ihren Dienst bei den Schweren. Sehr oft kam auch der Doktor, der Chefarzt, zu uns herein, wenn Schwester Barbara ihren Dienst hatte. Sie war wohl, wie man so sagt, aus gutem Hause und hatte eine feine Erziehung genossen. Man sieht es den Wangen und dem Munde eines Menschen an, mit was für einer Art Nahrung er aufgewachsen ist, ob mit grober oder feiner, was für Worte man ihn zu sprechen gelehrt hat, ob gröbere oder feinere, und den Händen sieht man es an, an was für eine Art von Arbeit der Mensch sich gewöhnt hat, ob an grobe, an feine oder an gar keine. Schwester Barbaras Hände waren sicherlich nicht an grobe Arbeit gewöhnt. Trotzdem hat sie überall zugegriffen, hat sich vor nichts gescheut, es anzufassen, und hat sich von nichts abgewandt, weil es ihr zu eklig gewesen wäre, hinzusehen. Und Ekelhaftes, nun, davon, das kannst du dir denken, gibt es genug in einem Saal mit Schweren. Die Schlimmsten waren die Bauchschüsse. Aber ich will dir das nicht beschreiben. Gottlob, dass auch für mich diese Zeit vorüber ist. Und Schwester Barbara – möge sie noch am Leben sein und es ihr wohl ergehen! – wird auch zufrieden sein, wenn sie nicht mehr am Nachmittage ihren Dienst bei den Schweren hat.

Also da stand sie mir gegenüber an der anderen Seite des Bettes, und ich schämte mich, dass ich einen so armseligen Menschen wie den Semion so hatte hassen können. Wir sind alle armselige Menschen und brauchen alle Gottes Barmherzigkeit. Darum sollen wir Mitleid miteinander haben und mehr nach den Leiden des anderen fragen, wie es die Ärzte tun, und weniger nach seinen Sünden, wie die Richter. Gott ist unser aller Richter. Sei Gott uns gnädig! Amen.

Schwester Barbara trat an Semion heran, legte ihm die Hände an seine Schultern und drückte ihn auf das Kissen zurück. Er stöhnte auf. Aber ich glaube nicht, dass sie ihm wehe getan hat. Es war wohl nur, dass er spüren musste, wie schwach er war, da ein Weib stärker war als er. – »Was willst du?« fragte sie ihn. »Trinken«, antwortete Semion.

»Trinken darfst du nicht«, sagte Schwester Barbara. »Du weißt es, und nun sei still!«

»Siehst du«, sagte ich zu Semion, »da hörst du es. Auf mich hast du nicht hören wollen. Aber wenn die Schwester Barbara es dir sagt, dann wirst du es ihr wohl glauben, dass wir dir das Trinken vorenthalten nicht aus Böswilligkeit, sondern weil es dir schaden würde. Du sollst gesund werden.«

»Was kann denn mir noch schaden«, antwortete Semion. »Und was nützt es mir, wenn ich gesund werde? Sieben habe ich umgebracht, und ich bereue es nicht. Man wird mich hängen, und darum will ich auch nicht gesund werden. Gebt mir zu trinken!«

Schwester Barbara und ich gingen beide von seinem Bette fort und zu den anderen Kranken. Ich gab mir rechte Mühe, geduldig mit ihnen zu sein, ihre Leiden zu lindern und jedem seinen Wunsch zu erfüllen, soweit es in meiner Macht stand. Denn ich wollte der Schwester Barbara gefallen. Ich liebte sie. Aber wenn ich dir sage, dass ich sie liebte, dann musst du das so verstehen, als wenn du zu mir sagen würdest: »Ich liebe das gute Wetter, den Sonnenschein und eine milde Luft. Ich liebe die singenden Vögel und die blühenden Blumen. Ich liebe ein Kind, weil es fröhlich, und einen alten Mann, weil er weise ist. Ich liebe alles, was mich gut und glücklich macht.« So musst du das verstehen, und du siehst, ich habe hier nicht vom Schnaps gesprochen und solchen Sachen, die wir ja auch lieben, aber anders. Sondern so, wie du vielleicht von einem Engel reden würdest, wenn du ihm im Leben begegnet wärest. Damit aber will ich nun nicht gesagt haben, dass die Schwester Barbara ein Engel war. Denn welches Weib ist ein Engel!? Es ist doch zum mindesten jedes zugleich ein Teufel. Und so wird wohl auch die Schwester Barbara – Gott erbarme sich über sie! – ihren Teufel im Leibe gehabt haben. Aber von dem kriegten wir damals nichts zu sehen oder zu spüren. Sie kehrte ihn gegen uns nicht heraus, ihren Teufel, sondern verbarg ihn gut und das können schon nicht alle Weiber, und ging umher zwischen uns wie ein Engel in Menschengestalt, und wir verehrten sie alle wie eine Heilige. Sie war, ich sagte es dir schon, noch nicht lange bei uns und blieb auch nicht lange. Ich habe seitdem nie mehr etwas von ihr gehört. Vielleicht hat sie einen Deutschen geheiratet, denn sie war ja selber eine Deutsche. Möge Gott ihr Zufriedenheit gegeben haben! Amen!

Wie wir so weitergegangen waren von einem zum anderen, die Reihen der Betten entlang, und sie jedem eine Hilfe erwiesen hatte oder wenigstens eine Freundlichkeit, da rief Semion auf einmal wieder, und er schrie es, wie ein Tier schreit: »Gebt mir zu trinken!«

Ich sagte zu der Schwester, dass wir ihn nun weiter nicht beachten wollten, denn die freundlichen wie die unfreundlichen Worte seien doch gleicherweise an ihm verloren. Aber da fingen die anderen Kranken an, wieder unruhig zu werden, und einige riefen, er sei ihnen unerträglich mit seinem Geschrei, wir sollten ihn hinausschaffen, damit wieder Ruhe würde. Sonst, drohten sie, wollten sie aus ihren Betten steigen und zu ihm hingehen und ihn verprügeln.

Da antwortete Semion: »Ihr mich verprügeln? Ja, kommt nur her, ihr Elenden, ihr Krüppel! Noch habe ich Kraft in meinen Händen und kann euch erwürgen. Sieben habe ich umgebracht, ich bereue es nicht. Euch alle werde ich umbringen.«

Da wollte ich ihm nun wieder antworten und überlegte mir die Worte, wie ich sie wählen könnte, dass sie kräftig genug wären und doch Schwester Barbaras Ohr nicht beleidigten. Aber da machte sie mir ein Zeichen, dass ich den Mund halten sollte, und da hielt ich ihn. Ich sah an ihrem Gesicht, dass sie über etwas nachdachte. Sie ging zu ihm hin. Ich wunderte mich, wie sie den Mut hatte, so nah zu ihm hinzugehen, dass er sie hätte packen können mit seinen Händen. Ich sagte mir: »Gehst du an einen tollen Hund heran, so nimm wenigstens einen Knüppel zur Hand.« Und so nahm ich auch wieder die Ofenkrücke auf, die ich an ihren Platz zurückgelegt hatte. Semion aber streckte sich im Bette aus, und die Decke, die blaukarierte, zog er sich bis zum Halse hinauf, dass man von ihm nur das Gesicht sah. Ach, wie soll ich dir Semions Gesicht beschreiben? Wie ein verwilderter Garten war es. Vielleicht war dieser Garten einmal schön und sauber gewesen, mit zierlichen Pflanzen darin und nützlichen, und mit Wegen zwischen den Beeten, fein mit Kies bestreut. So hatte der große Gärtner, der die Welt geschaffen hat, den Garten angelegt, angenehm, darin spazieren zu gehen zur Abendstunde oder in der Morgenkühle. Aber wo das Kraut wächst, da wächst auch das Unkraut, und das Unkraut, das hatte in diesem Garten niemand gejätet. Da hatte das Unkraut alles andere überwuchert, die zierlichen Gewächse und die nützlichen, und auch über die Wege war es gewachsen, dass alles eine Wildnis geworden war, ein finsterer Garten, darinnen niemand mehr sich gerne aufgehalten hätte, weder bei Tage noch bei Nacht. So war Semions Gesicht. - Sie sah ihn lange an und er sah sie an. – »Gib mir zu trinken!« sagte er, aber das klang schon anders, nicht mehr wie eine Forderung, sondern wie eine Bitte.

»Ich darf nicht«, antwortete sie.

Semion wandte sich ab. Es schien, dass er sich mit dem ganzen Körper wegwenden wollte von ihr. Aber da war er zu schwach dazu, und so wandte er nur den Kopf auf die Seite. Er zog auch das Laken übers Gesicht. Man sah von ihm nur noch das Haar, wirres Haar, von Schweiß verklebt. Man hatte vergessen, es ihm zu scheren, wie es sonst die Vorschrift bei uns war, der Sauberkeit wegen. Es konnte einem wohl all des Elends jammern, das sich da unter der blaukarierten Decke verbarg. »Geht von mir weg«, schien dieses Elend zu sagen.

Schwester Barbara aber stand da und überlegte. »Höre«, sagte sie zu Semion. »Ich werde zum Chefarzt gehen und mit ihm sprechen. Vielleicht erlaubt er es. Bis ich zurückkomme, musst du ganz still liegen und ruhig sein. Darfst auch nicht mehr rufen. Versprichst du mir das?«

Semion hatte die Decke zurückgeschlagen und sah die Schwester böse an. – »Geh!« sagte er. Er mochte es vielleicht nur für eine List von ihr halten, damit er Ruhe gäbe. Sie ging. Ich blieb bei ihm. Er sah unverwandt nach der Tür, durch welche die Schwester hinausgegangen war. Ganz dunkel war sein Gesicht. Nur das Weiße der seitwärts gewandten Augen funkelte unter den Brauen, und zwischen den lechzend verzogenen Lippen schimmerten bleich seine Zähne, wie Totengebein, wenn man ein Grab öffnet. Und dann schloss sich der Mund, und es schlössen sich die Augen, und in dem verschlossenen Gesicht sammelte sich etwas, das war wie die Finsternis der Welt, ehe Gott das Licht schuf. Ich habe in meinem Leben nichts so Finsteres gesehen wie das Gesicht des Semion, da er auf die Rückkehr der Schwester Barbara wartete. Und es kam mich auch wieder ein großer Jammer an, mit ihm und mit mir selbst. – Wie einsam ist der Mensch, dachte ich. Einsam sind wir in unseren Leiden und warten immer, dass jemand komme, sie zu lindern. – Ich hatte Mitleid mit ihm und mit mir.

Schwester Barbara kam zurück. Nun weiß ich nicht, was sie mit dem Arzt gesprochen und was er ihr gesagt hat. Vielleicht hat er gesagt: »Stirbt er, so stirbt er, und stirbt er nicht, so wird er gehängt. Es ist doch alles gleich.« Vielleicht auch hat er nur mit der Hand abgewinkt zum Zeichen, dass wir mit Semion machen dürften, was wir wollten. Sie beugte sich über ihn und fragte ihn: »Was willst du trinken?«

Ich habe noch nie in eines Menschen Gesicht eine solche Veränderung gesehen wie jetzt in Semions Gesicht, als er die Frage hörte und langsam begriff, was sie bedeutete. Er durfte zu trinken bekommen, und nicht nur das: Er wurde gefragt, was er zu trinken wünsche. Es wurde hell in seinem Gesicht, wie wenn eine Tür aufgeht zu einem dunklen Keller, dass ein Lichtstrahl hineindringt. Aber es war nur ein Augenblick, dann schloss sich die Tür, und das Gesicht wurde wieder dunkel.

»Ach«, sagte er, »das, was ich möchte, das gibst du mir ja doch nicht.«

»Warum denn nicht, wenn ich's beschaffen kann?« antwortete sie.

»Brauselimonade«, sagte Semion. Und wie er das ganz leise sagte, da sah ich, dass er lächelte. Es war erschreckend, Semion lächeln zu sehen.

»Rote oder grüne?« fragte Schwester Barbara.

»Grüne«, antwortete Semion.

Ich fand das unbescheiden von ihm. Konnte er sich nicht mit Wasser zufrieden geben? Oder meinetwegen mit Tee ? Warum nicht Tee ? Den tranken wir doch alle. – »Was der Mensch sich einbildet«, sagte ich zu Schwester Barbara. »Mörder – und will feine Sachen haben, wie ein Baron.«

Aber Schwester Barbara holte aus der Tasche ihrer Schürze einen kleinen Geldbeutel hervor, entnahm ihm einen halben Rubel und gab mir den. – »Geh«, sagte sie zu mir. »Kauf davon eine Flasche grüne Limonade. Was übrigbleibt von dem Gelde, kannst du behalten.«

Ich freute mich über den halben Rubel. Brauselimonade kostet ja nicht viel. Man bekommt sie auf den Jahrmärkten und in den Seltersbuden. Es prickelt und schmeckt süß. Ich mache mir nichts daraus. Aber das mag nun daher kommen, dass ich sie als Kind nicht getrunken habe. Denn was man als Kind gegessen oder getrunken hat, das behält seinen Wohlgeschmack, als sei es aus den Früchten gemacht die im Paradiese wuchsen. So ist ja der Mensch, dass er sich gerne an seine Kindheit erinnern lässt. Was nachher kommt, nun ja, wir wissen es alle, dass die Erde kein Paradies ist. Und möchten alle dahin zurück. So erkläre ich es mir, dass Semion sich nicht begnügen wollte mit Wasser oder Tee, sondern Brauselimonade haben wollte, und nicht die rote, sondern die grüne. Nun, die konnte er ja bekommen, wenn Schwester Barbara das Geld dafür hergab und für mich auch noch ein Trinkgeld übrigblieb. Übrigens hätte ich für Schwester Barbara alles getan, auch ohne Trinkgeld. Ich beeilte mich nicht sonderlich auf meinem Gang. Die frische Luft tat mir wohl nach all den Gerüchen des Krankensaals. Ich hatte, du weißt es, keinen leichten Dienst, und es war mir im Magen oft recht flau zumute. So freute ich mich, dass Schwester Barbara mich nach der Limonade geschickt hatte. Es war eine Erfrischung für mich. Die Luft war kalt. Der Schnee knirschte unter meinen Stiefeln. Man hat mir nachher erzählt, wie Semion auf meine Rückkehr gewartet hat. Jedesmal, wenn die Tür ging, hat er hingeschaut, ob ich es wäre. Und in seinem Gesicht hat immer der Ausdruck gewechselt, Erwartung und Misstrauen, Hoffnung und Angst vor der Enttäuschung, Segen und Fluch, Hell und Dunkel. Als ich zurückkam, saß Schwester Barbara auf seinem Bette, am Fußende, ihm zugewandt, so dass sie miteinander sprechen konnten. Was sie gesprochen haben in der Zeit, da ich fort war, weiß ich nicht. Vielleicht auch haben sie geschwiegen und nur einander angesehen. Ich muss mich wundern, wie sie so ruhig in sein wildes Gesicht sehen konnte.

Sie nahm mir die Flasche aus der Hand. Die war verschlossen, so wie man Selterswasser verschließt. Es zischt, wenn man sie aufmacht. Semion sah die Flasche und hörte das Zischen. Bis jetzt schien er noch daran gezweifelt zu haben, ob ich auch das Richtige gebracht hätte.

Aber am' Zischen muss er wohl gemerkt haben, dass es das Richtige war. Es war die grüne Limonade, die er sich gewünscht hatte.

Schwester Barbara nahm vom Tischchen, das an seinem Bette stand, ein Glas und füllte es. Das Geräusch des Eingießens, das Perlen, das Prickeln, das leise Schäumen – Semion merkte genau auf alles, dann streckte er gierig die Hand danach aus.

Schwester Barbara stützte ihn mit der einen Hand zwischen den Schultern, mit der anderen hielt sie das Glas, so half sie ihm trinken. Aber mit dem Trinken ging es nicht so leicht. Semion schluckte und verschluckte sich. Er musste absetzen, um zu husten. Dann trank er weiter, noch einen Schluck, noch einen. Dann winkte er mit der Hand, es sei nun genug. Im Glase blieb ein grüner Rest.

So, nun hatte er getrunken. Alle Kranken im Saal hatten es gesehen. Es war ganz still geworden, als sei nun wieder Friede nach dem Kriege.

Wie aber Semion so friedlich dalag, als schliefe er – die Decke hatte sich wieder zurückgeschoben –, da bemerkte ich etwas, davor ich erschrak, und sicherlich hat Schwester Barbara es auch bemerkt: Auf dem weißen Verbände, der ihm die Brust umschloss, waren neue Flecken hervorgetreten, nicht mehr von der Farbe des Blutes, nicht rote, sondern andere, von der Farbe der Limonade, hellgrüne. Die mit so viel Anstrengung geschluckte Flüssigkeit war nur zum Teil in sein dürstendes Innere gelangt. Zum Teil war sie – ausgelaufen. Die Speiseröhre war ja durchschossen.

Semion bemerkte es nicht, wie die Binde um seine Brust sich verfärbt hatte. Er deutete mit der Hand, man solle das Glas und die Flasche auf seinem Tischchen stehenlassen. Das war nun seines, es gehörte ihm.

Schwester Barbara rückte ihm das Kissen zu recht und zog ihm die Decke über die Brust hinauf. Dann setzte sie sich wieder auf den Rand des Bettes. Er sah sie an und schien über etwas nachzudenken. Der Arzt – erst hatte er das Trinken verboten, und dann hatte er es erlaubt. Das war es wohl, worüber Semion nachdachte. – »Wie steht es mit mir?« wird er sich gefragt haben.

Es wäre nun, sollte man meinen, für uns der rechte Augenblick gewesen, die Polizei zu benachrichtigen. Wenn sie irgendwelche Aussagen von dem Manne haben wollte, dann musste sie sich beeilen. In diesem Augenblicke war er vernehmungsfähig. Wer konnte wissen, wie lange er es noch sein würde. Ich sah ihn mir an und gab ihm keine lange Frist mehr. Aber es hat wohl niemand daran gedacht, die Polizei zu benachrichtigen. Mochte sie sich ihre Auskünfte von einem anderen holen. Unseren Semion hätten wir ihr nicht wieder ausgeliefert. Der starb bei uns. Das stand bei mir schon fest. Und in Ruhe sollte er sterben, das auch!

Ich ging ein wenig abseits, doch nicht so weit, dass ich nicht hätte hören können, was Semion und Schwester Barbara miteinander sprachen. Es rief auch keiner nach mir. Ich stand am Fenster und sah durch die Eisblumen hinaus auf die Straße. Undeutlich sah ich Menschen vorübergehen. Die Sonne war nah am Untergang. Der Schnee auf den Dächern leuchtete.

»Muss ich jetzt sterben?« fragte Semion.

»Wir wissen es nicht«, antwortete die Schwester Barbara.

»Ich glaube doch, du weißt es«, sagte er.

»Hast du noch einen Wunsch?« fragte sie.

Darauf antwortete er nun nicht, sondern fragte: »Bist du ein Engel oder ein Mensch?«

»Du siehst, dass ich ein Mensch bin. Erkennst du nicht die Schwesterntracht? Engel haben

Flügel.«

»Aber warum bist du so gut zu mir?«

»Weil ich sehe, dass du leidest.«

Sie schwiegen eine Weile. Dann sagte er: »Ich will nicht sterben.«

»Warum nicht?«

»Weil ich in die Hölle komme.«

»Ich glaube nicht, dass du in die Hölle kommst.«

»Wohin denn sonst?«

»Ins Paradies.«

»Was sprichst du für eine Narrheit! Wie soll denn ich ins Paradies kommen? Sieben habe ich umgebracht.«

»Gott ist barmherzig.«

»Ich glaube es wohl, dass Gott barmherzig ist gegen die guten Menschen und gegen die, die wenig gesündigt haben. Ein wenig Sünde, die vergibt er wohl. Aber die sieben Morde – und die sind nicht das einzige.«

»Wer wenig gesündigt hat, für den braucht Gott wenig Barmherzigkeit zu haben. Wer viel gesündigt hat, für den braucht Gott viel Barmherzigkeit, und er hat sie. Gott hat Barmherzigkeit für jeden, soviel jeder nötig hat. Ich glaube, dass Gott für dich sehr viel Barmherzigkeit hat.«

»Aber ich bin ein schlechter Mensch.«

»Vor den Menschen bist du ein schlechter Mensch. Aber wir sprechen jetzt von Gott. Das ist nicht dasselbe. Vielleicht bist du vor Gott nicht schlechter als andere, nicht schlechter als die Verwundeten hier, nicht schlechter als ich. Vor Gott, verstehst du.«

»Was sprichst du«, rief Semion erregt. »Ich nicht schlechter als du? Willst du Gott erzürnen mit deinen unsinnigen Reden? Ist denn Gott blind? Sieh dich an und sieh mich an! Wie könnte Gott, der uns beide sieht, meinen, ich sei kein schlechterer Mensch als du? Nein, ich verstehe dich nicht.«

»Glaube nur an die Barmherzigkeit«, antwortete sie.

Es fiel mir ein, dass die Wäsche noch gezählt werden musste und dass auch der Reis für das Abendessen noch nicht zugewogen war. Beides hatte Schwester Barbara zu besorgen. Darum ging ich hin zu ihr und erinnerte sie an das, was getan werden musste. Sie sah nach der Uhr, die an der Wand hing, und zögerte, ob sie gehen sollte oder nicht.

Aber Semion hielt sie fest. – »Geh nicht fort«, bat er. »Es ist hell geworden, seitdem du gekommen bist. Wenn du fortgehst, wird es wieder dunkel werden.«

Schwester Barbara gab mir die nötigen Weisungen und die Schlüssel und blieb bei Semion. Ich ging. Draußen traf ich Ilja, das war der andere Sanitäter. Er kam zu meiner Ablösung. Ich sagte ihm, er könne eine Stunde später kommen, gab ihm die Schlüssel und bat ihn, zu besorgen, was mir aufgetragen war. So bin ich nicht lange draußen gewesen.

Ich machte mir, als ich zurückkam, am Ofen zu schaffen, obwohl es gar nicht nötig gewesen wäre, noch mehr Birkenholz in ihn hineinzustopfen. Er war schon heiß genug. An den Fenstern begannen sogar die Eisblumen aufzutauen, so warm war es im Saal. Aber ich konnte vom Ofen aus hören, was die beiden sprachen. Es war eine ruhige Stunde. So ruhig war es im Saal der Schweren schon lange nicht gewesen. Es war, als hörten sie alle zu. Aber vielleicht auch schliefen die meisten.

»Bist du Mutter?« fragte Semion.

»Nein«, antwortete Schwester Barbara. »Ich habe noch kein Kind gehabt.«

»Das sehe ich wohl«, sagte Semion. »Du bist ja auch noch sehr jung. Aber wie kannst du dann, wenn du nicht Mutter bist, so gut zu mir sein? Nur meine Mutter ist so gut zu mir gewesen. Es ist schon lange her.«

Er lag mit geschlossenen Augen. Sie hielt seine Hand in der ihren, seine grobe dunkle Hand in ihrer feinen weißen. Ich sah, wie sie den Kopf über seine Hand beugte.

»Du weinst«, sagte er, ohne die Augen aufzumachen. »Weinst du um mich? Das hat noch kein Mensch getan. Doch, meine Mutter, die hat geweint um mich, einmal, nein, zweimal. Das erste Mal, da war ich noch klein. Krank war ich. Und nachher brachte sie mir grüne Limonade. Das zweite Mal, da war ich schon groß, als ich fortging von Hause. Da hat sie auch wieder geweint um mich. Es war das letzte Mal, dass ich sie weinen sah. Denn ich bin nach Hause nicht zurückgekehrt. Wenn ich nach Hause zurückkehren könnte!«

Ich sah wieder, dass er lächelte. Aber das Lächeln verging. »Es schmerzt«, sagte er. Er hustete, musste aufgerichtet werden, spie. Ich kam der Schwester Barbara zu Hilfe. Er spie viel, Blut und Schaum. Und der Verband hatte sich von neuem rot gefärbt. Da war kein Grün mehr zu sehen. Rot war alles. – »Es macht nichts«, sagte er, »es macht nichts.« Aber plötzlich erschien auf seinem Gesicht die Angst. Ich habe viele Menschen sterben gesehen, aber keinen in solcher Angst. Da fing er an zu schreien, und seine Schreie wurden zu Schimpfworten und Flüchen. Schimpfworte und Flüche, zeitlebens so oft gebrauchte, so gewohnte, dass sie ihm wie von selber über die Zunge rollten und über die Lippen sprangen, wechselten ab mit Anrufungen Gottes und Gebeten, die sich verwirrten und nicht zu Ende kamen.

»Bete mit mir!« ächzte er.

Ich weiß nicht, woher Schwester Barbara unsere Gebete kannte. Denn sie war ja nicht von unserer, der rechtgläubigen Kirche. Aber es muss wohl eine Erleuchtung über sie gekommen sein. Oder war sie öfters in unserer Kirche gewesen und hatte sich die Gebete gemerkt? Das Vaterunser konnte sie ganz und von anderen Gebeten Anfänge und Stücke. Und zwischendurch sprach sie immer das Herr, erbarme dich, Herr, erbarme dich, wie wir es sprechen.

Es wurde im Saal wie in der Kirche. Und viele beteten mit. Beim Beten freilich, da gab es auch den Unterschied nicht mehr zwischen Soldat und Verbrecher. Vor Gott sind alle Menschen gleich. Amen. »Ist hier kein Kreuz?« fragte Semion. Er suchte mit den Augen an den nackten Wänden. Das Heiligenbild hing so, dass er es nicht sehen konnte, und es wäre schwierig gewesen, ihn mit dem Gesicht dahin umzudrehen. – »Ich möchte ein Kreuz in den Händen halten«, sagte er. Er tastete an seinem Halse, griff unter den Verband. – »Nein«, sagte er. »Ich habe es verloren. Meine Mutter hatte es mir gegeben, als ich von Hause fortging. Aber ich habe es schon lange nicht mehr und weiß nicht einmal, wann ich es verloren habe.« Schwester Barbara trug an dünner Kette um den Hals ein kleines silbernes Kreuzlein. Solche Kreuzlein trugen die meisten von uns. Sie löste die Kette und legte ihm das Kreuz in die Hand. Er hielt es, die eine Hand von der anderen umschlossen. So muss man es halten, wenn man stirbt. Aber das Sterben wurde ihm immer noch nicht leicht. Es waren wohl gewaltige Kräfte, die um ihn rangen. Der Tod ist stark. Aber das Leben in Semion war auch stark. Nun, zuletzt ist eben doch der Tod immer der Stärkere. »Kannst du singen?« fragte Semion.

Ja, Schwester Barbara konnte singen. Manchmal, wenn ein Mensch singt, dann ist es so, als sei der Mensch ein Instrument, auf dem Gott spielt. Es geht durch den singenden Menschen etwas hindurch, der Atem Gottes. Das ist eine große Gnade. Die wirkt auch manchmal ohne Gesang. Das sind die glücklichen Menschen, durch die die Gnade Gottes hindurchgeht, wie ein Atem. So hörten wir sie singen. Und es war in dem Saal kein anderer Laut als nur der Klang ihrer Stimme. – »Schlaf, mein wunderschönes Kindchen« kennst du das Lied? Die Kosakenmütter singen es ihren Kindern. Es ist ein Wiegenlied. – »Schlaf, mein wunderschönes Kindchen.«

Aber Semion schlief noch nicht ein. Er hatte ihr noch etwas zu sagen. – »Wenn ich im Paradiese bin«, sagte er, »wenn ich im Paradiese bin, dann werde ich dir deinen Platz bereiten. Ich werde früher dort sein als du, und du wirst nachkommen, das weiß ich. Und wenn du ins Paradies kommst, dann wirst du deinen Platz schon bereitet finden, du Lichte.«

»Du Lichte«, so sagte er zu ihr, und danach sprach er nicht mehr. Und niemand sprach. Semion starb. Die Sonne war auch schon untergegangen, und die Eisblumen hatten sich wieder zusammengezogen an den Fensterscheiben. Es war dämmerig geworden im Raum.

Schwester Barbara entzündete eine Kerze und stellte sie auf den kleinen Tisch, der am Bette stand, neben die Flasche und das Glas. In beiden war noch ein Rest. Er schimmerte grün im Lichte der Kerze. Und wir sahen Semion, wie er so still dalag, in seinem Frieden, und sein Gesicht, das war so rein, wie das Gesicht eines Heiligen. Der Garten Gottes war auf seinem Gesicht.

Ilja kam zu meiner Ablösung, und ich ging hinaus, den Doktor hereinzurufen, weil das ja so die Vorschrift war, dass zuletzt noch der Doktor kommt und den Tod feststellt.

*

 

Die Erzählung berichtet eine Begebenheit aus einem russischen Etappenlazarett in Dorpat aus dem Kriege 1914 - 1918.

 


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