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Und da fällt mir das »ist« mit Centnerschwere auf's Herz. Wenn man von einer Zeit spricht, die man einmal so ganz und so willig, so glückselig in sich aufgenommen hat, wie ich die damalige, da passirt es wohl, daß sie auch jetzt uns wieder fortreißt, und uns daran denken und davon reden läßt, als sei alles noch wirklich, lebendig und gegenwärtig, was längst vorüber ist. Ja, so sah ich eben das Damals vor mir und so sah ich auch sie, die zauberhaft lieblich darin lebte und webte. Nun bin ich freilich bereits wieder hell wach, nun weiß ich wohl, was war und was ist, nun fühl' ich es tief, wie übel solch' ein Träumen, wie herb das darauf folgende Erwachen ist.

Aber ich will euch meine Geschichte weiter erzählen.

Das alles ging also den Winter über so fort und ich wüßte davon nichts zu berichten. Dergleichen erlebt mancher einmal. Für ihn und in der Gegenwart ist es schön, beglückend und süß, für Andere und in der Vergangenheit erscheint es ziemlich gewöhnlich, sehr einfach, sehr unbedeutend. Das geht oft so im Leben. – Genug, uns entfloß ein Tag wie der andere in Jubel und Lust; keine äußere Störung, keine innerliche Ungehörigkeit unterbrach diesen einzigen Genuß. So kam der zwei und zwanzigste April heran, an dem ich abreisen mußte. Abends, den zwanzigsten, war ich in jener freundlichen Familie, von der ich vorhin gesprochen, auf Antoinetten's Verlobung mit einem angenehmen Mann, den ich ihr und dem ich sie herzlich gönnte. Sie leben, schon lange verheirathet, zufrieden und glücklich, und ich zähle sie zu meinen besten Freunden.

Meine kleine Freundin wußte, daß und wann ich reisen wollte, aber sie war und blieb wunderlich gefaßt. Noch am Tage vorher sagte sie zu mir: »Hör', Franz, – ich sehe dich nun heut Abend nicht mehr; da mußt du mir versprechen, morgen Nachmittag recht zeitig zu kommen. Da haben wir doch noch viele gute Stunden vor uns. Willst du?« – »Gewiß, Lisette, zweifelst du daran?« fragte ich und zog sie auf meinen Schooß. – »Nein doch! Aber ich wollt' es doch von dir hören!« sprach sie lächelnd und strich mir mit der Hand über's Gesicht und sprang auf und lustig zu ihrer Arbeit.

Als ich nun am ein und zwanzigsten, – am folgenden Tage ging morgens fünf Uhr bereits die Post, – Nachmittags gegen vier Uhr alles gepackt und in Ordnung gebracht hatte, was sich in Jahresfrist um und an uns zu hängen pflegt, und zu ihr kam, fand ich sie noch immer wie gewöhnlich, lustig und beweglich, und sie blieb auch so. Nur bisweilen stand sie einen Augenblick wie sinnend, sah auf mich, sah sich um, als sei etwas hinter ihr, was sie erschrecke, fuhr dann aber wieder desto lebhafter auf und umher.

Endlich gegen acht Uhr, als sie die Lampe angezündet hatte und das Abendbrot zusammenkramte, ließ sie plötzlich alles stehn und liegen, trat zu mir und hastig sprach sie: »Franz!« – Ich fuhr unwillkürlich jäh auf, denn meine Augen waren träumerisch ihrem Treiben gefolgt, und ihr Wesen war so eigenthümlich starr, ihre Stimme so seltsam rauh, daß ich beinah erschrack. »Franz,« sagte sie nochmals, »hast du daheim noch irgend etwas zu thun?« – »Nein,« versetzte ich. – »Sind deine Sachen alle bereits zur Post?« – »Ja.« – »Geh' nach Haus und nimm Abschied von deinen Wirthsleuten, geh' zur Post und bestell', daß du hier auf der Ecke einsteigen willst.« – »Lisette!« rief ich. – »Franz!« Und ihre Stimme klang fast drohend, obgleich sie sich zu mir gebeugt hatte, die Hände auf meine Schulter gelegt, und nur flüsterte: »Wir bleiben zusammen heute Nacht. Du kannst schlafen dort im Lehnstuhl. Schlafe! Ich will dich aber sehn bis du gehst. Lieber Franz! Thust du's? Bitte, bitte!«

Schweigend ging ich, wie sie es wollte, und kehrte nach schneller Besorgung meiner letzten Angelegenheiten bald zurück. Sie war jetzt wieder – aber wie lustig! und drängte mich zum Essen. »Denn ich weiß, es schmeckt dir hier bei mir doch gut!« sagte sie. – »Ja,« meinte die Alte, die auch dabei war, »wo werden Sie morgen Abend um diese Zeit essen, Herr Franz? Das ist schon näher zu den lieben Eltern und viel weit von hier.«

Da schlug sie die kleine Schürze vor's Gesicht, sprang auf, stampfte gleichsam unwillig mit dem Fuß auf den Boden und schluchzte krampfhaft. Das war doch recht gut, denn diese unnatürliche Fassung des jungen Wesens ängstigte mich; ich wußte ja, daß und wie sie für mich fühlte. Aber fünf Minuten darauf lachte sie bereits wieder. So ging es fort bis zehn Uhr, wo die Alte uns nach herzlichem Abschied verließ.

Lisette hatte ihr hinausgeleuchtet; als sie zurück kam, setzte sie die Lampe auf den Tisch und trat zu mir. »Bitte, bitte!« sagte sie, »nun setz' dich dort in den Lehnstuhl, recht nah am Ofen, recht bequem, und schlafe. Hörst du, Lieber? Du bedarfst dessen.« – »Und du, Lisette?« fragte ich und faßte ihre heißen Hände und zog sie leise zu mir. Auf ihren Wangen brannte ein fieberhaftes, scharfgezeichnetes Roth, welches ich niemals früher an ihr bemerkt hatte, und ihre Augen lagen krankhaft tief und leuchteten seltsam. – »Ich?« versetzte sie mit leichtwegwerfendem Tone und einem schwachen Versuch zu lächeln, – »o ich! Ich setze mich hier und arbeite, denn ich habe noch zu thun, und ich seh' dich an zuweilen. Ich habe kein Recht an dich!« fuhr sie immer eifriger fort. »Du hast mich nie getäuscht und hast mir nie was vorgelogen. Ich hab' kein einziges Recht. Und wenn du fort bist, bist du fort, ewig! Und ich sehe dich nie wieder, nie! Und du hast mich lieb, das weiß ich, du hast mich lieb. Aber weg mußt du doch, wir müssen auseinander, o Franz. Und du bleibst nur noch so kurze, kurze Zeit. Und kein Recht hab' ich. Aber ich will dich sehn, Franz, siehst du, dich sehn will ich! Denn ich habe dich lieb, du, – ich habe dich sehr lieb, – weißt du! Und ich will dich sehn, Franz, o nur sehn, sehn!« Und damit fällt sie mir um den Hals und legt ihre Stirn gegen die meine und sieht mir in die Augen, so tief, so heiß, so lange, und läßt das Köpfchen auf meine Brust sinken und bricht in leidenschaftliches Weinen aus. Dann fährt sie wieder auf und faßt meinen Kopf zwischen ihre glühenden Hände und bedeckt mich unter gramvollen Thränen mit kummervollen Küssen, mit schluchzendem Stammeln, mit herzzerreißender Zärtlichkeit.

Und ich? Meint ihr, daß ich das alles still und starr hingenommen, daß ich kalt und gefaßt geblieben sei? O, ich war auch jung, ich war auch heiß, ich war auch traurig. Sie mußte von mir und ich mußte von ihr. Wir theilten gleich. Es dauerte wohl eine geraume Zeit, bis sich das alles in uns stillte und einigermaßen ordnete.

Das war denn der Anfang der Nacht, die nun selbst begann. Aber das war eine Nacht! Und lebt' ich tausend Jahr, diese Nacht vergeß' ich nie und nimmer. Und Gott gebe mir, was er will, Leid und Freude, Gram und Lust, Kummer und Glück, Unglück und Segen, – ich will nicht murren und nicht wanken, ich bin der Mann dazu, alles das zu tragen. Aber eine solche Nacht geb' er mir nicht wieder. Ich bin nicht feig, allein, das waren Stunden, die den Körper ohnmächtig machen und Geist und Seele aus ihren Fugen gehen lassen.

Da stürzt sie hin, da stürzen ihre Thränen, da schluchzt und stammelt sie, wird still, kalt, wie ohnmächtig, wie todt, – da schnellt sie wieder empor, da eilt sie zu mir daher, da umklammert sie mich, starrt mir wie wahnsinnig in's Gesicht, in die Augen. »Bist du auch noch da? Franz, bist du's wirklich und wahrhaftig? O Gott! O Gott! Kommt der Wagen schon? Ist es denn möglich? O Franz, lieber, lieber, lieber Franz! Ich lasse dich nicht!« Dann wieder, von mir überredet, legt sie sich auf's Bett, um zu ruhen, zu schlafen. Aber der Schlaf kommt nicht, die Ruh' ist weit fort, alle Rast ist unmöglich; sie will mich sehn, mich halten, mich berühren. Sie springt auf, sie wandert unermüdlich durch's Zimmer, sie umfaßt mich, sie zieht mich mit, sie sinkt mir halb todt in die Arme. Aber mit krampfhafter Energie reißt sie sich empor, denn wir haben nicht eine Minute der knappen Zeit zu verlieren. Wir haben uns ja noch so viel, so viel zu sagen, wir scheiden ja für's ganze Leben. »Schreiben sollst du mir nicht!« sagt sie. – »Hörst du? Nicht schreiben. Wenn ich deine Buchstaben sehen müßte und dein Papier, darauf hat deine Hand gelegen, – und du sprichst zu mir und bist doch so Himmel – himmelfern – o Franz, dann weint' ich mir die Augen aus und das Herz bräche mir mitten auseinander.« Und damit weint sie laut auf, schluchzt und stammelt, und mit einemmal spricht sie wieder von andern Dingen und ein hastiges, tolles Lachen verdrängt den Schmerz auf einen Moment.

Ich wollte wohl stark und kräftig sein, aber das alles brach meine Kraft. Als sie wieder einen Augenblick ruhte, ließ ich mich in den Lehnstuhl fallen, schlug die Hände vor's Gesicht und weinte bitterlich und erstickte schier an meinem Schluchzen, da sie es nicht hören sollte. Aber sie hörte es doch, sie stürzte vom Lager zu mir her, sie riß mir die Hände weg, sie hielt sie und stürzte vor mir in die Knie. »Franz,« sagte sie, »um Gottes Barmherzigkeit willen, hör' auf zu weinen und faß dich! Wenn das auch noch kommt, ist's mit mir aus. Wenn ich mich nicht mehr an dir aufrecht erhalten, mich nicht mehr auf dich stützen kann, werd' ich wahnsinnig. Hörst du?« – »Ich kann und kann nicht!« rief ich. »Es ist zu viel! Ich kann mich nicht mehr halten, wenn ich dich so sehe, wenn ich so bald von dir muß!« – »Franz!« sprach sie wieder, mit jenem seltsamen, heiseren Ton, – »ich seh' das ein! Aber du darfst nicht so sein. Nein, nein! Ich versprech' dir, liebster Franz, ich will jetzt auch ganz ruhig, ganz vernünftig, ganz still werden. Du wirst sehn. Die Lisette ist ja ein gutes, gehorsames, lustiges Kind. Nicht wahr? Das hast du mir so oft gesagt.« Und da fing sie von diesem und dem an zu reden, was ihr gerade in den Sinn kam, band mir noch ein kleines Bouquet zusammen als Andenken, setzte sich mir auf den Schooß und legte das Köpfchen still an meine Brust. Und ihre Hände zitterten und zuweilen durchbebte sie solch' ein Schauer, daß ihre Zähne hörbar aufeinander schlugen.

Wie lange das währte, weiß ich nicht. Aber als es zu dämmern begann, als der Vogel am Fenster, von all' dem Lärm munter gemacht, einige Töne hören ließ, da fuhr sie auf und stand wie gebannt. »Hörst du das, Franz? Er singt dir sein Abschiedslied. Ja Vogel, singe du nur. Er geht nun doch und du siehst dich umsonst nach ihm um. Er hat dir Futter gegeben und dich gebadet, mit dir gespielt. Er ist weg und du siehst ihn nicht. O wie einsam, einsam, einsam! Ja es wird schon hell, schon hell! Und er muß weg, der Franz! Und wir sind allein, Hans, allein! Weißt du das auch?« Und da fällt sie mir wieder um den Hals, umklammert mich wieder mit unsäglichen Thränen, mit gramvoller Zärtlichkeit.

So ging es fort, immerzu, die ganze, lange und doch so kurze Nacht. Und es ward hell. Und der Postwagen kam, er hielt auf der Ecke, das Horn mahnte und rief. Und wie ich hineingekommen, weiß ich nicht. Nur ein herzzerreißender Schrei hallte noch in meinen Ohren und wie durch einen Nebel sah ich die Alte um das ohnmächtige Kind beschäftigt.

Das war die letzte Nacht. Ich konnte ihr nichts versprechen, ich hatte ihr nichts zu halten. Schreiben sollte ich nicht. Erkundigen wollte ich mich auch nicht, denn sie hatte recht, es war mit dem einmaligen Abschied schon übergenug.

Als ich zwei Jahre später meine Sehnsucht nicht länger unterdrücken konnte und hinüberreiste, mit dem Entschlusse, sie wiederzusehen, entstehe auch daraus was da wolle, wohnten in dem kleinen Hause andere, fremde Leute; die Alte war todt, von der Kleinen wußten sie nichts. Die Besitzerin des Blumenladens sagte mir endlich, die Lisette sei brustkrank geworden, wie das bei dem Geschäft öfters passire; darauf sei sie nach L. zurückgekehrt. In L. war der Traubenwirth gestorben und seine Frau, die das Geschäft fortsetzte, erzählte: die Kleine sei schwindsüchtig zurückgekommen, habe viel an mich gedacht, mir, wenn ich jemals wiederkäme, ihre Bibel vermacht, in der sie viel gelesen, und im vorigen Herbste habe sie ein seliges Ende genommen.

Auf dem kleinen Kirchhof, nahe an der Kapelle und fast in einer Laube von Epheuranken, die von dem alten Gemäuer lustig herabnicken, steht eine weiß angestrichene, hölzerne Tafel mit eingeschnittenen, sauber vergoldeten Buchstaben äußerst zierlich. Und es heißt darauf: »Hier ruht der sterbliche Leib der Jungfrau Lisette Josephine H., geboren den 13. Mai 1824, gestorben den 19. October 1843. Gott nehme ihre Seele in seinen Frieden.« Und auf der Rückseite der schöne Spruch aus der Offenbarung Johannis, den sie selber sich ausgewählt hat: »Fürchte dich vor der keinem, das du leiden wirst. Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.«

So bin ich denn still wieder weggegangen.

Von ihr hab' ich ihre Bibel, wo fast Seite für Seite irgend ein Vers mit einem Nagelstrich bezeichnet ist. Von ihr hab' ich noch ein kleines Bouquet von Rosen und Reseda, das sie mir einmal zum Andenken an den Anfang unserer Bekanntschaft lachend zusammenstellte. Das andere aus der Abschiedsnacht hab' ich damals dort bei ihr liegen lassen. Und dann hab' ich von ihr die Erinnerung, die unauslöschlich ist. Und wenn ich die Blumen vor mir habe, seh' ich an den Stengeln noch immer ihre Hände, die so zierlich damit umgingen, und in den feinen Rosenblättern liegt ihr liebes, liebes Köpfchen so traulich, so innig geschmiegt. Und ich betrachte das oft und still, und die alte Zeit zieht schweigsam, klar und deutlich an mir vorüber.

Das ist nun die Geschichte, die so ganz einfach ist und die ich doch niemals los werden kann. Ja, ja, Lisette! Ich habe dich herzinnig geliebt, so sehr, so gar sehr! Grüße dich Gott, du mein süßes Kind, tausendmal! Mit dir begann und endete ein gutes Stück meines Lebens, und es liegt bei dir, und mir fehlt es ewig und überall.

Grüße dich Gott, Lisette!


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