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Der Gong rief schon das zweitemal zum Lunch. Aber von den Hunderten der Wintergäste des Grand Hotels St. Moritz, für die in dem Riesenspeisesaal gedeckt war, fand sich erst ein kleiner Teil ein. Unpünktlichkeit schien hier Gesetz. Man erlebte jeden Vormittag wieder den unbegreiflichen Sommer überm Schnee, man sonnte sich, man lief Schlittschuh oder Ski. Der Lift, der unermüdlich sämtliche Stockwerke bis zum Hotel-Eisplatz hinabglitt, brachte noch mit jeder Fahrt ein Dutzend erhitzter Eisläufer herauf. Und in allen Sprachen schwatzend zogen die Pärchen, die von den Rodelbahnen kamen, durch das von vier Pagen bediente Glasportal des Windfangs. In dem Wandelgang, der in halber Höhe an der Hotelhalle entlang lief, entledigten sich die Ankömmlinge der hohen Überschuhe und der Bergstöcke. Durch die mächtigen Spiegelscheiben grüßte die von der Sonne übergossene Schneelandschaft des Piz Rosatsch herein. In der Halle wurden Verabredungen für den Nachmittag getroffen, man überflog noch rasch die neuesten Bekanntmachungen des Bobrennklubs und der Vergnügungsausschüsse, man umdrängte den Postschalter.

Drinnen im Speisesaal, in den schmalen Gängen zwischen den blumengeschmückten Tischen, harrten die Kellner. Unruhig trat der Oberkellner in die Tür. Mit Verbeugungen, leicht abgetönt zwischen Wohlwollen und Ehrfurcht, empfing er die Ankömmlinge.

»Er zählt die Häupter seiner Lieben –!« sagte im Vorübergehen Baron Kamerlander, der Wiener, zu Fräulein de Steeg, die noch auf der Hallentreppe Ausschau nach dem Portal hielt.

Sie nickte. »Unerhörte Bummelei. – Ich möchte hier nicht Hausfrau sein.«

»Also bitt' schön, folgen S' meinem guten Beispiel: an die Arbeit!«

Er war schon weitergegangen. Andere Gäste begrüßten sie dann. Zuletzt der junge Berliner Flieger mit den lustigen Haselnußaugen.

»Zu nett, wie Sie hier Parade abhalten«, sagte er.

Sie neckte sich immer mit ihm. »Nicht Parade – ich bilde Spalier.«

»Das kann ich ja gar nicht annehmen.« Er blieb stehen.

»Nein, im Ernst: Sie erwarten die Gnädigste noch zum Lunch von der Bobfahrt zurück? Jetzt kommt aber kein Zug aus Preda.«

»Da – eben fährt doch das Bahnauto vor!« Sie tat ein paar Schritte zur Glastür.

»Vom Ostende-Expreß. Aber der hält zwischen Chur und St. Moritz überhaupt nicht.«

»Gehen Sie, gehen Sie, Herr von Genzmer, Ihr Frühstück wartet.«

»Ich hungere gern noch ein bißchen, wenn ich mit Ihnen plaudern darf. Sie wollen durchaus nicht glauben, was für ein rasend netter Mensch ich bin.«

»Gut. Ich will meiner Freundin berichten, daß Sie sich sogar in ihrer Abwesenheit Mühe gegeben haben, nett zu sein. Sind Sie nun zufrieden?«

»Hm. ›Sogar in ihrer Abwesenheit‹. So jung, so hübsch – und so impertinent sind Sie.«

Nun lachten sie beide. Er nickte ihr kameradschaftlich zu und suchte drinnen im Speisesaal sein Tischchen auf.

Die mit dem Ostende-Expreß eingetroffenen neuen Gäste füllten den Gang zwischen den Fahrstühlen und den Hotelbüros. Mit ihren städtischen Gehpelzen und weißen Gesichtern stachen sie drollig gegen die sportmäßig gekleideten, von der Sonne verbrannten Winterkurgäste ab. Der Hoteldirektor, die langflatternden Zimmerlisten in der Hand, war von seinen Sekretären und den Hausdienern mehrerer Stockwerke umgeben.

Die aufgeregte Hast einiger Berliner und die kühlgemessene Ruhe des Schweizers belustigten die junge Holländerin. Sie wollte dem Getümmel eben den Rücken wenden, als sie die Stimme eines Landsmannes hörte, die ihr bekannt vorkam. Es war ein mächtiger Baß. Jetzt sah sie auch dessen Besitzer, einen etwas untersetzten, äußerst lebhaften Herrn. Er mochte ein halbes Jahrhundert auf den Schultern haben, trug es aber sehr elastisch. Ob sein Haar weißblond oder silberweiß war, konnte man nicht recht unterscheiden; es war ringsum mit der Maschine geschoren; der Wirbel zeigte blanken Mondschein. Den Quadratschädel mit dem dicken Hals, das bartlose Gesicht mit den buschigen Augenbrauen und der etwas vorgeschobenen Austernschluckerlippe vergaß man so leicht nicht. Er war Jan van Jonckbloet, der Teeplantagenbesitzer. »Der Inder« war er immer genannt worden, wenn er zu Besuch nach Groningen kam.

»Oh, God –!« brummte er nun plötzlich, riß seine farblosen, vergnügten Schweinsäuglein auf und kam ein paar Schritt auf die schlanke junge Dame zu. Sie hatte einen langen Seidenschal, der in zarten gelblichen Tönen abschattiert war, über ihr kurzröckiges Sportkleid geworfen. Ihr volles, dunkelblondes, etwas krauses Haar schimmerte in der Sonne. Mit ihren übermütigen Augen, die leicht ins Grünliche spielten, musterte sie den behäbigen Lebemann überlegen.

»Das ist doch Willemintje de Steeg, wie?« Er blieb zögernd stehen. »Oder ... Ich hätte mich frikassieren lassen ...«

Nun lachte sie und hob ihre Stupsnase noch ein bißchen höher. »Unnötig, Onkel Jan. Und es wäre ja ein Verbrechen an der Mitwelt, wenn ich's dazu kommen ließe.«

»Kleines Rackerchen. Schau an, schau an. Na, du hast dich ja nett entwickelt. Weißt du noch, wie ich euch in Groningen besuchte? Warte mal – das ist schon sechs Jahre her, wie?«

»Sogar sieben, Onkel Jan.«

»Unerhört, wie die Zeit vergeht. Ein magerer kleiner Hering warst du da. Sag' mal, Willemintje, wie ist das: haben wir uns das letztemal nicht umarmt und geküßt?«

»Ja. Ich denke noch mit Entsetzen daran.«

»Ich nicht. Lecker siehst du aus. Kind, was bist du hübsch geworden! Wie geht es dir? Was treibst du eigentlich? Wie kommst du hierher?«

»Verlangst du eine erschöpfende Lebensbeschreibung?«

»Natürlich. Und alle Sünden mußt du mir beichten.«

»Das wäre zu zeitraubend. Ich muß zum Lunch – habe einen Bärenhunger – drei Stunden war ich auf dem Eise.«

»Hunger hab' ich natürlich auch. Nimm mich doch gleich mit, Willemintje, ich brauche noch nicht fünf Minuten zum Ablegen. Bist du allein hier? Sag'. Oder hast du dich angeschlossen?«

Das spöttisch überlegene Lächeln wich nicht aus ihrer Miene. »Für heute bin ich zufällig allein. Gut, ich lasse also ein Gedeck für dich auflegen, und du kommst an meinen Tisch.« Sie zeigte nach dem Saal. »Drinnen gleich rechts am zweiten Fenster.«

»Im Nu bin ich zurück. Heda, Liftboy, drittes Stockwerk, Nr. 327 ... Au revoir, Kind, au revoir!«

Die junge Dame sah ihn in den Fahrstuhl eintreten. Als sie sich dem Speisesaal zuwandte, blitzte ein schalkhaftes Lächeln aus ihren lustigen, grünlich schimmernden Augen.

»Da ist eben ein Bekannter angekommen, Zimmer Nr. 327«, sagte sie zum Oberkellner, »bringen Sie ihn fürs Frühstück auf dem Platz meiner Freundin unter.«

»Sehr wohl. Fräulein Englhofer kommt nicht zum Lunch?«

»Nein, jetzt wohl nicht mehr.« Im ganzen Saal war nun kaum ein Sessel mehr unbesetzt. Das Bild der schmausenden Gesellschaft wirkte überaus fröhlich: in der breit hereinflutenden Sonne lauter rotverbrannte Gesichter, Herren, Damen und Kinder in bunter Weste oder sonstwie sportmäßig gekleidet.

Auf dem Weg zum Fernster wurde Willemintje da und dort von Bekannten begrüßt. Herr von Genzmer, dessen Tisch dicht bei dem ihren stand, neckte sie: er habe gesehen, was für eine neue Errungenschaft sie soeben da draußen gemacht habe.

Sie schnitt eine geheimnisvolle Grimasse. »Steinreicher Onkel aus Indien!«

Er kniff ein Auge zusammen. »Erbonkel?«

Kopfschüttelnd lachte sie. »Er hat mich vor einigen Jahren leider verstoßen.«

»Der Barbar! Richtig verstoßen? Mit unfrankiertem Fluch?«

Sie hatte Platz genommen und lehnte sich ein wenig zurück, über die Schulter halblaut weitersprechend, nun mit etwas ernsterem Beiklang: »Sie wissen es doch, Genzmer.«

»Ach – wahrhaftig – der ist es? Ihr ›Inder‹?«

»Das Gedeck ist für Nr. 327«, erwiderte sie auf eine Frage des Kellners.

»Was – und der darf an Ihren Tisch?«

»Er scheint ganz vergessen zu haben, wie wir miteinander stehen. Aber – meinen Spaß will ich jetzt haben.«

»Ich werde aufpassen wie ein Schießhund.«

»Nützt Ihnen nichts. Ich erteile ihm die Nasenstüber in unserer lieben Muttersprache.«

»Schade.«

Sie setzte sich zurecht und überflog die Speisekarte. Als Mynheer van Jonckbloet erschien, winkte sie ihm zu.

»Das nenne ich Glück. Komme an – und taumle gleich selig in die Arme einer so allerliebsten jungen Nichte. – Kellner, Sie haben doch Champagner auf Eis, wie?« – Die Bestellung machte er in deutscher Sprache, darauf fuhr er holländisch fort: »Natürlich müssen wir das Erlebnis feiern, Willemintje.«

»Das ist aber keine sportgemäße Lebensweise, Onkel Jan: Wein am Tage.«

»Ich fange ja erst an mit der Lebensweise. In Indien kennt man natürlich keinen Wintersport. Riesig amüsant, das Leben hier. Aber nun sage, was treibst du, wo hausest du für gewöhnlich – und wie kommst du hierher?«

»Ich mach' es wie du, Onkel Jan. Ich amüsiere mich so durchs Leben.«

»Kleiner Racker. Na, erzähle, erzähle.«

»Wo anfangen?«

»Na, wo es spannend wird.«

»Also – seitdem ich mich amüsiere?«

»Ja, bravo, seitdem du dich amüsierst. Du bist ja ein köstliches kleines Gewächs, Willemintje.«

»Seit rund zwei Jahren amüsiere ich mich. Die mageren Jahre vorher soll ich lieber überspringen, Onkel Jan?«

Es lag etwas in Blick und Ton, das ihn leicht zu beunruhigen begann.

»Wenn du dich nicht gern erinnerst, Willemintje –«

»Ich weiß nicht, ob d u dich gern daran erinnerst, Onkel Jan. Denn ich war doch damals mutterseelenallein in die Welt hinausgezogen, um zu arbeiten, mein Brot zu verdienen, ein Kind von sechzehn Jahren. Ja, bloß um nicht Frau Snyders zu werden.«

Unbehaglich sah er sich um. »Alte Geschichten. Ich entsinne mich. Ein rechter Trotzkopf bist du gewesen damals.«

»Bin ich noch.«

»Hier, Willemintje« – er ließ vom Kellner, der den Champagner brachte, einschenken und reichte ihr den Kelch – »erst unser Wiedersehen begießen. Damals lebte dein Bruder Jimmy noch. Schade, daß alles so kam. Du warst also schließlich ganz auseinander mit ihm?«

»Gewiß. Mit ihm – mit euch allen. Mit dir doch auch.«

»Barmherziger! Mit mir? Ich war doch so weit da draußen!«

»Ich hab' dir damals in meiner Verzweiflung einen recht dummen Bettelbrief geschrieben. Was mußt du über mich gelacht haben. Über den mageren kleinen Hering.«

Er war puterrot. »Gelacht, wieso gelacht? Aber stell' dir einmal vor: da kommt plötzlich die Post – da hinten in Indien – und bringt dir zwei Briefe aus Groningen – von einem gesetzten, ruhigen Mann und von seiner Schwester, einem halbflüggen Ding. Da gibt man natürlich dem gesetzten, ruhigen Mann recht. Oder etwa nicht?«

Sie schüttelte die trüben Gedanken ab und stieß leicht mit ihm an. »Nun, du siehst, ich bin auch so nicht umgekommen.«

Er merkte, daß hinter der überlegenen Siegermiene seiner Nichte noch irgendein Wurfgeschoß seiner harrte. »Ich bin überglücklich, daß dir's jetzt gut geht. Nach Jimmys Tod schwieg jede Verbindung. Wirklich schade ... Nimmst du nichts von der köstlichen Pastete? Siehst du, die dumme alte Geschichte hat dir den Appetit verdorben. Mir übrigens auch. – Danke.« Er ließ den Gang vorübergehen, trank aber rasch hintereinander ein paar Glas Champagner. »Aber noch eins, Willemintje. Als ich das letztemal in Europa war – Berlin, Köln und daheim – da wollt' ich deine Adresse haben. Aber Frau de Katers sagte« – er dämpfte seine Stimme – »du wärst Tanzlehrerin oder Masseurin oder so etwas geworden. Irgendwo in Schweden. Das glaubt' ich natürlich nicht. Mädel wie du – aus dieser Familie.«

»Ja, Onkel Jan, wenn du mir in meinen bösen Tagen begegnet wärst – jetzt vor drei, vier oder fünf Jahren – dann hättest du dich sicher nicht an meinen Tisch gesetzt. Denn bevor ich Tanzlehrerin wurde, war ich doch Austragmädchen in einem Putzgeschäft ...«

Er sah sich fast entsetzt um. »Hör' auf. Das ist ja zum Jammern. Das wußt' ich doch nicht.«

»Wirklich nicht? Ich schrieb dir's aber, Onkel Jan. Als es mir so ganz, ganz, ganz miserabel ging.«

»Ich schwöre dir ...«

Lachend wehrte sie ab und trank ihm zu. »Prosit, Onkel Jan. Nur nicht gleich schwören ... Na ja. Also die Tanzschule ging hernach auch nicht. Da wurde ich Eislauflehrerin im Haag. Und im Sommer fuhr ich als Stewardesse auf der Red Star-Linie.«

»Hör' auf, Kind, du schwindelst ... Wie kämst du sonst jetzt in die Lage ...«

»Auf dem Kanal hab' ich dann mein Glück gemacht.«

Nun riß er die Augen auf. »Willemintje – du bist am Ende verheiratet?«

»Bewahre. Aber es hat sich jemand liebevoll meiner angenommen. Eigentlich der erste und einzige Mensch seit Mutters Tod. Mein einziger, ehrlicher Freund.«

»So. Hm. Und wer – wer ist dieser Jemand?«

»Mein Freund?« Sie sah ihn mit lustig blitzenden Augen an. »Ein entzückender Bursch. Jung, verteufelt hübsch, reich, liebenswürdig, immer bei Laune, beim Sport unter den Allerersten ...«

»Ja, hör' mal, das ist ja sehr nett, gewiß, aber ... Er hat sich deiner angenommen, sagst du. Angenommen. Hm. Aber wie hat er sich deiner angenommen, dein Freund?«

»In Liebe.« Sie konnte kaum mehr an sich halten. »Wir reisten zusammen. In einer eigenen, wunderhübschen Jacht. Einen ganzen Sommer lang. Großes, schönes, seetüchtiges Boot mit Kuttersegelung. Erst kreuzten wir bei Schottland, dann bei Norwegen. Dort kenterten wir, das Boot wurde verkauft, wir blieben bis Weihnachten in Oslo und trieben Wintersport. Darauf ging's zum Frühjahr nach Paris, nach San Sebastian, nach Pau – und seit Mitte Dezember amüsieren wir uns hier in St. Moritz.«

»Großartig.« Er hatte immer rascher getrunken. Die Flasche war leer. Erhitzt fächelte er sich mit der Serviette zu. »Ein Rackerchen bist du, Willemintje, ein Rackerchen. Und hier im Hotel – da nimmt niemand Anstoß?«

»Wieso Anstoß, woran?« fragte sie mit unschuldigem Augenaufschlag. »Wir haben das entzückendste Appartement im ganzen Hotel. Drei Zimmer, Balkon, Loggia, Bad, Kamin. So heimisch, sag' ich dir. Du mußt dir's einmal ansehn.«

»Wenn ich euch – hm – in eurem jungen Glück nicht störe. Dein Freund ist heute auswärts?«

»Auf einer Bobfahrt zwischen Preda und Bergün. – Du machst aber so ein seltsam verkniffenes Gesicht, Onkel Jan. Freut's dich denn nicht, daß mir's so gut geht?«

»Natürlich freut's mich. Überhaupt, wenn du dachtest, ich wäre nicht vorurteilsfrei – vielleicht wegen der Sache mit Jimmy damals ... Man lebt nur einmal. Wenn der infame Snyders dir verhaßt war ... Du hast ganz recht gehabt.« Er tätschelte wohlgefällig ihren Arm, der warm und prall in der feinen Wolle steckte. »Ich genieße mein Leben ja auch. Nach jeder Richtung. Auf meinem letzten Europabummel – der Fasching in Köln! Und erst Berlin! Berlin bei Nacht! Grundsätze – sind Unfug.«

»Du bist ein großartiger Mensch, Onkel Jan. Da kommen Zigarren. Wir nehmen den Kaffee draußen in der Halle. Bring Zigaretten für mich mit.« Sie erhob sich; beim Hinausgehen grüßte sie lächelnd dahin und dorthin.

Mynheer van Jonckbloet folgte mit rotem Kopf. Das war ja ein Teufelsmädchen, die Kleine. Und wundervoll gewachsen war sie. Er ließ sich ihr gegenüber in einen Klubsessel fallen und sah ihr zu, wie sie, im Schaukelstuhl sich wiegend, ihre Zigarette rauchte. Unter dem kurzen Sportrock gewahrte er ihre schlanken und doch vollen Formen.

»Worüber sinnst du, Onkel Jan?«

»Ich? Es wäre wahrhaftig schade gewesen, sagt' ich eben zu mir, wenn so eine herrliche Gottesgabe, wie du's bist, in Groningen hätte verkümmern müssen.«

»Nicht wahr? Tausendmal besser, ich amüsiere mich.«

Er lachte. »Ausgezeichnet.« Wieder tätschelte er ihren Arm. »Nein, wenn ich mir so den edeln Jimmy vorstelle, den langweiligen Philister, der dich armes Ding durchaus dem verdammten Snyders verkuppeln wollte –! Überhaupt die ganze liebe Verwandtschaft in Groningen –!«

»Und in Indien.«

»Ei, Willemintje. Ich tat ja bloß so mit. Siehst du, ich stand mit der Gesellschaft in tausend Geschäftsverbindungen.«

»Mich haben sie immer in Furcht vor dir gehalten. Vor deinen strengen Grundsätzen.«

Er lachte. »Hab' ich nie gehabt; nie!« Er war vom rasch getrunkenen Champagner erhitzt. Die abenteuerliche Begegnung hatte ihm eingeheizt. Nun ließ er sich vom Kellner zum Kaffee noch einen Chartreuse einschenken, den er mit kurzem Schwung hinuntergoß. »Du hättest mich sehen sollen, Kleine, wenn ich 'mal losgelassen war. Auf Reisen. Tolles Leben hab' ich da angegeben. Das glaubst du wohl gar nicht?«

»Ach erzähle, Onkel Jan.«

Er schmunzelte in Erinnerungen. »Übrigens – wann kommt dein Freund zurück, he?«

Willemintje warf den Zigarettenrest in die Aschenschale und erhob sich. »Im Verlauf des Nachmittags. Komm später aufs Eis, dann mache ich dich bekannt.«

»Du willst schon gehen?«

»Ich muß noch üben. Am Dienstag ist hier Kunstlauf. Da laufe ich mit.«

Etwas schwerfällig erhob er sich. »Also werde ich auspacken und ein kurzes Schläfchen tun ...«

In diesem Augenblick wandten sich Dutzende von Köpfen der Treppe zu, wo eine Gruppe von Sportsleuten erschien: drei Herren und eine Dame. Die Herren trugen alle schräg über der Brust auf einem blauen Seidenband die in Gold gestickte Aufschrift: »Soleil«. Mehrere Gäste erhoben sich lebhaft, gingen auf die Gruppe zu, die junge Dame war im Nu umringt, in verschiedenen Sprachen redete man auf sie ein. Das junge Mädchen schien eine sportliche Berühmtheit. Er war überrascht von der hübschen Erscheinung. Sie strich sich soeben den seidegefütterten Baschlik aus der Stirn, so daß er in den Nacken fiel. Dadurch ward das braune, leicht zerzauste, ins Rostrote spielende Haar sichtbar. Dunkle, fast schwarze Augen blickten aus dem winterfrischen Gesicht. Beim Lachen sah man die ziemlich großen, festen Zähne. Ein Bild strahlender Gesundheit. Jetzt ging ein helles Leuchten über ihre Züge. Sie entwand sich den sie umdrängenden Herren, kam eilig die Treppe herab und stürmte auf Willemintje zu.

»Man hat mich als Gast mitfahren lassen. Mächtig viel Schnee hatten wir!« rief sie mit einer warmen, vollen Altstimme. »O Willemintje, das nächste Mal mußt du als Gast auch mit!«

»Gottlob, daß du heil zurück bist, Lore!«

»Wir haben auf jeder Fahrt ein paarmal umgeworfen. Aber gelacht haben wir, nein, was haben wir gelacht –!« Die Bobfahrerin brach ab und blickte leicht fragend den fremden Herrn an, der an Willemintjes Seite getreten war.

»Mein Onkel Jan van Jonckbloet«, stellte die Holländerin vor, aus deren grünlich schimmernden Augen jetzt tausend lustige kleine Teufel guckten. »Und das ist Lore Englhofer, lieber Onkel Jan – Mein einziger Freund, du weißt.«

Jonckbloet machte ein ungeheuer verdutztes Gesicht. »Wieso? Ich dachte doch ...« Er ward noch etwas röter. »Du hast mich also – zum besten gehabt?«

»Eine kleine Probe wollte ich anstellen, Onkel Jan. Wenigstens weiß ich jetzt, wie ich's hätte anfangen müssen, um mir in eurem Sinne durchs Leben zu helfen.«

Er fand kaum Worte. Seine Blamage war riesengroß. »Du bist ja – ein ganz – ein ganz ungeheuerlicher Kobold!«

Willemintje hatte ihren Arm um den Nacken ihrer Freundin gelegt. Ruckweise von Lachen unterbrochen, erklärte sie ihr in ein paar Sätzen das groteske Mißverständnis.

Nun lachte auch Lore Englhofer. So herzlich, so hell, so erschüttert, daß Jonckbloet überhaupt nicht mehr zu Worte kam.

Die Mannschaft des »Soleil« war Lore Englhofer gefolgt. Andere Gäste schlossen sich der Gruppe an. Im Nu war sie wieder umringt. Man wollte wissen, worüber sie lachte.

»Wenn Sie's ausplaudern, reise ich noch in dieser Stunde ab!« warf Jonckbloet hastig ein.

»Nein, du sollst bleiben, Onkel Jan«, sagte Willemintje und klopfte ihm auf die Schulter. »Ich hoffe, von jetzt an werden wir uns ganz gut verstehen.«

Es wurde über die Bobfahrt gesprochen, in fünf, sechs Gruppen wollte man Einzelheiten über die Kurven und Schneewälle erfahren; denn Schneemangel und Tauwetter hatten die Benutzung der Strecke für Sportzwecke seit Weihnachten nicht mehr ermöglicht. Auch der Baron Kamerlander und Herr v. Genzmer, die zu Lore Englhofers Verehrern gehörten, hatten sich eingefunden.

Jonckbloet konnte sich unbemerkt zu der breiten Treppe zurückziehen, die von der Halle zum Erdgeschoß emporführte. Auf der obersten Stufe wandte er sich noch einmal um, fast etwas scheu, und fing einen übermütigen Gruß seiner Nichte auf.

Er erwiderte ihn – aber es kochte dabei in ihm.

*

Als Jonckbloet nach kurzem, schwerem Nachmittagsschlaf ans Fenster trat, ging die Sonne schon unter. Es war knapp vier Uhr vorbei. Unten auf den Eisplätzen hinter dem Hotel herrschte noch eifrige Tätigkeit. Er erkannte unter den Läufern auch seine Nichte und deren Freundin. Sie tanzten geradezu vorbildlich miteinander, und es hatte sich ein großer Kreis von Zuschauern gebildet.

Wer mochte sie nur sein, diese Freundin? Wie war Willemintje, das Groninger Aschenputtel, ihre Gesellschafterin geworden? Wenn die Angaben stimmten, mußte das Fräulein sehr reich sein. Eine Jacht bloß für eine Sommerfahrt zu kaufen – das konnte sich der erstbeste Guldenmillionär nicht leisten. Nun – gleichgültig. Er wollte allen unnötigen Begegnungen ausweichen. Zum heutigen Diner gedachte er verspätet zu erscheinen, so daß er dann im Restaurant speisen mußte. In der Bar würde er abends schon Anschluß finden und Näheres über diese rotblonde Fee erfahren.

Als er, vom Hausdiener und von den beiden Zimmermädchen unterstützt, den Inhalt seiner Riesenkoffer in den Schränken des Vorraumes und seines Zimmers untergebracht und leidlich Ordnung geschaffen hatte, war es Zeit, sich in den Frack zu werfen.

Das Bild der Speisesäle bot den denkbar stärksten Gegensatz zu dem vom Mittag. Aus den kurzröckigen Sportgirls hatten sich elegante Ladies entpuppt.

Während Jonckbloet durch den langen Gang schritt, hörte er – unsicher fragend – seinen Namen nennen. Ein Herr im Smoking trat zögernd auf ihn zu. Er hatte einen dunkeln, amerikanisch geschnittenen Schnurrbart eine schmale Nase und trug ein Einglas.

Eine Sekunde lang schwirrte durch des Holländers Gedächtnis die Erinnerung an ein buntes Fest, an eine tolle, lustige Gesellschaft – er sah Auslandstrachten, Sektzelte, aus Teppichen errichtet – er sah eine reizende kleine Zerline neben sich, die er zwischen einzelnen Zügen aus dem Sektkelch toll küßte, und einen Beduinen im weißen Burnus mit einem amerikanischen Schnurrbart und einem Einglas, das er immer wieder verlor ...

»Herr von Jungblut – aus Indien – stimmt's?« fragte der im Smoking jetzt etwas sicherer.

»Its my name. Yes, Sir. Jonckbloet. Aber mein miserables Namengedächtnis ... Es war auf irgendeinem Fest in Berlin -«

»Auf dem Diplomatenball. Vor zwei Jahren. Im Zoo. ›Eine Nacht in Venedig.‹ Sie hatten da einen allerliebsten kleinen Anhang ...«

Jonckbloet schmunzelte. »Es war jedenfalls eines der lustigsten Feste, die ich je mitgemacht habe.«

»Wir hatten uns im Zelt der Gräfin Schlettwitz zusammengefunden. Die tanzte doch so großartig, wissen Sie noch? Auf einem winzigen Tisch.«

Mehr und mehr taute Jonckbloet auf. »Straf' mich der und jener, es war eine himmlische Nacht. Aber nun tun Sie mir die Liebe an, und sagen Sie mir Ihren Namen.«

»Mein Name ist Mayn. Dr. jur. Mayn. Und darf ich nach Ihrer reizenden Begleiterin von damals fragen?«

»Meine kleine Zerline? Ja, die ist mir bald darauf abhanden gekommen. Aber ich trug's mit Humor ...«

Ein Page riß vor ihnen die breite Glastür auf, die zum Restaurant führte, und meldete dem Berliner: »Herr Baron Kamerlander läßt bitten, nicht auf ihn zu warten. Er mußte ins Kulm-Hotel.«

»Danke. – Wir speisen sonst drüben am gleichen Tisch im großen Saal. Wollen Sie bei mir Platz nehmen?«

»Gern. – Ist das der bekannte Wiener Herrenreiter, der Baron Kamerlander?«

»Ist er. Riesig netter Kerl übrigens. Wir haben uns rasch angebiedert. Er wird Ihnen auch gefallen.«

Dr. jur. Mayn trat etwas lauter und selbstbewußter auf, als Jonckbloet es liebte. Aber er war immerhin froh, Gesellschaft gefunden zu haben. Sie bekamen ein gemütliches Tischchen, auf dem eine frisch gefüllte Blumenschale stand – eine Leistung, 1860 Meter hoch im Monat Januar –, einigten sich auf eine Flasche »Knallkümmel«, wie Mayn sich ausdrückte, und stiegen dann wieder in die Erinnerungen an jene Ballnacht zurück, die für den Holländer den Glanzpunkt seiner letzten Europafahrt bedeutete: Die prächtigen Gewänder der Damen – an vielen war reichlich Stoff gespart –, die zahlreichen Musikkapellen – junge Künstler, die die Riesenleinwand der Säle mit Darstellungen von Venedig bemalt und zum Fest ihre lebenslustigen kleinen Freundinnen mitgebracht hatten, es war ein sinnverwirrendes Durcheinander gewesen ...

»Übrigens treffen Sie hier noch einen Bekannten aus dem Kreis von damals«, sagte Mayn, sich mit Kennerblick von der Vorspeisenplatte bedienend. »Ein Doktor Groll.«

»Groll? Hm. Das war der Blonde, Ausgelassene im Tropenanzug, den die Schlangendame immer ›Axel‹ nannte?«

Es blitzte überrascht auf in Mayns Augen. Dann ging ein Lächeln über seine Züge. »Sehen Sie, ich hatte ganz vergessen, daß Sie die hübsche Frau Gerti ›Schlangendame‹ getauft hatten.«

»Sie war eine der wenigen, die im Ballkleid gekommen war. Eine kostbare Flitterrobe, elektrisch blau, rückwärts wahnsinnig tief ausgeschnitten. Nicht?«

»Ja, sie kam aus einer Gesellschaft, wollte nur ein Viertelstündchen zugucken – aber da geriet sie in unseren Kreis und blieb bis zum Morgen. Axel Groll machte ihr auf Leben und Tod den Hof.«

»Das taten die andern auch, die andern auch!« warf Jonckbloet lachend ein. »Eine rassige Person. Ich entsinne mich noch, wie sie der kleinen Gräfin beistand!«

»Als sie in der Zeltecke auf den Tisch stieg und tanzte? Mit den beiden langen Schals?«

»Wir begleiteten sie schließlich noch bis zum Wagen, früh um sechs, die Schlangendame und ihren Freund.«

Mayn war geradezu aufgeregt. »Da waren Sie noch dabei?«

»Ein dicker, putziger, kleiner Herr im Matrosenanzug führte doch noch ein ganzes Theater auf. Rief: ›Hoch lebe das junge Paar!‹ – und ein Schutzmann kam.«

»Gott, was ist hernach darüber geredet worden. Sie lebte nicht eben in glücklicher Ehe, die schöne Frau Gertie –«

»Die Schlangendame?«

»Ja. Reizende Person. Überhaupt ... Na ja, und ihr Mann war damals auf Reisen.«

»Oh, sie hatte sogar einen Mann?«

»Doktor Selle. Riesiger Arbeiter, erstklassiger Geschäftsmann. Besaß 'ne große chemische Fabrik. Das Hauptgeld hatte er mit 'nem Ernährungsmittel oder so einem Zeug gemacht. Er hinterließ ein rundes Milliönchen.«

»Hinterließ?«

»Ja, vor ein paar Monaten ist er gestorben. Ganz urplötzlich.«

»Woran?«

»Selbstmord.« Mayn trank, während er sprach, in kleinen Zügen aus seinem Sektglas, behielt dabei aber die Miene seines Gegenübers unausgesetzt im Auge. »Groll ging als Hausfreund und als Arzt bei Selles aus und ein. Er hat Frau Gerties Mann auch in dessen letzten Tagen behandelt. Ja. – Ich hab' ihn seitdem gar nicht mehr gesprochen, den Doktor.«

Jonckbloet war zerstreut. Mehr als diese Berliner, von denen der Jurist ihm da erzählte, beschäftigte ihn die Freundin seiner Nichte Willemintje. Dieser Herr Mayn schien ihm das lebende Adreßbuch; über alle Welt wußte er ja Bescheid. Vorsichtig tastend tat Jonckbloet ein paar Fragen, ohne seine Beziehungen verraten zu wollen.

Aber der Berliner verfügte über ein scharfes Ahnungsvermögen. »Fräulein de Steeg ist die Freundin von Fräulein Englhofer. Sie ist Holländerin – Sie sind Holländer. Da werde ich mich also hüten, mir die Zunge zu verbrennen.«

»Vorzüglich. Also spielen wir mit offenen Karten. Willemintje de Steeg ist meine Nichte. Zufällig hab' ich sie vorhin getroffen. Sie hat's faustdick hinter den Ohren. Hab' ich recht?«

»Haben Sie. Aber ihre Freundin, Fräulein Lore – das dürfen Sie übrigens ruhig mal anbringen – ist nach meiner unmaßgeblichen Meinung die größte Kostbarkeit, die in Mitteleuropa überhaupt zu finden ist.«

»Hm. Perle in Gold gefaßt, wie?«

»Auch das.« Mayn verteilte den Rest der Flasche brüderlich. Er war jetzt wieder zutraulich, dabei fast etwas schwärmerisch. »Ich bin natürlich verliebt in das reizende Geschöpf. Es ist hoffnungslos, denn es gibt ja in diesem ganzen Hotel mit seinen vierhundert Zimmern keinen einzigen Junggesellen, der die Schwärmerei nicht mitmachte. Aber kann man für sein Herz? Es ist eine Affenschande. Zum Wohle.«

Nun fühlte sich Jonckbloet wieder als der Überlegene. »Also sind Sie doch nicht die richtige Auskunftsstelle. Sie färben mir zu rosig. Ich möchte eher wissen, wie man den verflixten Mädels eins auf die Nase geben kann.«

»Herr –?!«

»Ich bin sonst ein gutmütiger Waisenknabe. Wahrhaftig. Aber heute ist der Berserker in mir erwacht.« Er schüttete den Rest seines Kelches hastig hinunter. »Die kleine de Steeg nämlich – die ist als Kind von sechzehn Jahren von Hause durchgegangen. Ja. Aus Groningen. Es war ein Skandal. Als Tanzlehrerin ist sie dann durch die Welt gezogen. Ja. Schließlich war sie Stewardesse. Und nimmt sich nun hier einen Ton heraus, mir gegenüber, na –! So ein Mädel zählt doch einfach nicht mehr mit, wie?«

»Zählt sehr mit, Herr van Jonckbloet. Fräulein de Steeg ist bei ihrer Freundin alles: Hofdame, Vizemama, Vertraute, Anstandswauwau. Baron Kamerlander sagt: Torhüter ihres Herzens. Wer Willemintje schief ansehn wollte – der hätt's mit Lore verschüttet.«

Der Holländer lachte kurz auf. »Und ihr junges Volk tanzt also alle nach ihrer Pfeife?«

Mayn seufzte. »Wenigstens so lange, bis Fräulein Englhofer ihre Wahl getroffen hat. – Kommen Sie jetzt, Herr van Jonckbloet. Drüben im Tanzsaal ist gewiß längst schon der Wettbewerb an der Arbeit.« Der Berliner hatte sich erhoben, klappte ein wenig zusammen und sagte: »Mahlzeit!«

Etwas erschrocken sah Jonckbloet ihn an. »Wie beliebt –?«

Mayn erklärte dem Holländer die Berliner Sitte, nach Tisch »Mahlzeit« zu sagen. Der konnte sich darüber nicht gleich beruhigen, er traute ihm überhaupt nicht so recht und nahm sich vor, allmählich wieder eine größere Distanz herzustellen.

*

Aus dem großen Saal waren schon sämtliche Tische entfernt, die Stühle an den Wänden aufgereiht, oben in der Säulenhalle spielte das Tanzorchester, eine Mauer von befrackten Herren schnitt den Eingang zum Tanzsaal ab. Die beiden stellten sich mit auf und sahen dem Treiben zu. Es wurde flott getanzt, die Hitze und die Enge waren schon fast unerträglich.

Ein überschlanker Herr wand sich eilig durch die Menge.

»Der Baron Kamerlander!« sagte Mayn. Er begann darauf mit anderen Herren in der Nachbarschaft eine Unterhaltung, zum Teil in grausamem Englisch.

Baron Kamerlander hatte mit Fräulein Englhofer getanzt. Sie paßten vorzüglich zueinander und fielen durch ihr gutes Tanzen auf.

Mayn ging auf die Stelle zu, wo Fräulein de Steeg stand, und wohin wenige Minuten später Fräulein Englhofer von dem Wiener Baron zurückgeführt wurde.

»Du bist zerstreut, Lore, was ist dir?« fragte Willemintje halblaut.

»Bin ich das?« Sie schüttelte sofort den Kopf. »Heiß ist mir.«

»Tanzen auf 1860 Meter über dem Meeresspiegel ist vielleicht der anstrengendste Wintersport!« sagte Dr. Mayn. Er hatte sich inzwischen sämtlichen Herren der Gruppe, die er noch nicht kannte, vorgestellt.

»Eine Limonade?« fragte Genzmer dienstbeflissen die junge Dame und schoß sofort auf das weißgedeckte Bufett zu, wo den Tänzern und Tänzerinnen Erfrischungen gereicht wurden. Es war dies ein stark umlagerter Platz: ein paar köpfereiche Familien, durchweg wohlgenährte Erscheinungen, schienen hier noch eine ganze Mahlzeit nehmen zu wollen.

Lore Englhofer hatte dem Flieger gedankt und folgte Arm in Arm mit ihrer Freundin. Die andern schlossen sich im Zuge an. Es wirkte wie ein Gefolge.

Ein neuer Tanz setzte ein, ein englischer Walzer. Lore Englhofer sah sich zu gleicher Zeit von mehreren Bewerbern umringt – Mayn war auch darunter –, sie faltete aber lächelnd die Hände und bat für dies eine Mal um Schonung.

»Lassen Sie uns jetzt noch ein bißchen schwatzen, bitte, bitte!« sagte sie herzlich, legte ihre Hand wieder in Willemintjes Arm und blieb mit ihr zwischen den Säulen der Halle stehen.

Die Herren begannen eine Unterhaltung miteinander, ziemlich gezwungen und abwartend. Keiner traute hier dem andern. Sie beobachteten das schmucke Paar fortgesetzt. Irgend eine Meinungsverschiedenheit schien zwischen den Freundinnen zu bestehen. Man sah Willemintje abwehrend lachen. Es war, als ob Lore Englhofer immer wieder mit einer Bitte in sie drängte, wie ein ungestümes Kind. Ganz allmählich schien sich ihre Freundin dann erweichen zu lassen. Ein paarmal wanderten ihre Blicke über die Gruppe des »Gefolges« – und Mayn merkte, daß zwischen ihnen sein Name genannt wurde. Unwillkürlich zog er seine Weste straff und klemmte darauf das Einglas wieder ein, das er häufig verlor.

Den nächsten Tanz mit Fräulein Lore erhaschte Genzmer, der junge Flieger mit den lustigen Haselnußaugen. Ein Neuling der Gruppe versuchte Willemintje zum Tanz zu holen, bekam aber einen Korb.

Plötzlich stand die Holländerin neben Dr. jur. Mayn. »Sie kennen doch das ganze Hotel, Herr Mayn«, sagte sie lächelnd, »bitte, geben Sie mir einmal Auskunft.«

Mayn war geschmeichelt: Willemintje hatte ihren Arm leicht in den seinen geschoben und machte mit ihm einen Rundgang.

»Aber Sie müssen nicht wieder Unsinn anstellen, Herr Mayn. Man weiß ja nie, was ist Scherz bei Ihnen, was Ernst.«

»Ernst ist meine Huldigung für Sie, Fräulein de Steeg.«

»Neulich haben Sie mir eine Liebeserklärung für meine Freundin gemacht.«

»Sie verehre ich – für Fräulein Englhofer bin ich in Liebe entbrannt.«

»Ja, Sie lodern.« Sie hatte seinen Arm losgelassen und wandte sich halb dem Saaleingang zu. »Bitte, sehn Sie einmal nach rechts. Dort ist ein Herr, hellblond, das Haar glatt mit der Maschine geschoren, etwas links von dem schwarzbärtigen Portugiesen, der gestern auf dem Eise gestürzt ist ... Kennen Sie den Herrn?«

»Aber gewiß. Das ist ein Herr aus Holland. Er heißt Jan van Jonckbloet und ist Ihr Onkel.«

Sofort schmollte sie. »Ach, den meine ich doch nicht. Woher wissen Sie überhaupt –?«

»Juristischer Scharfblick.«

»Also: der zweite Herr rechts neben Jonckbloet. Ein charakteristisches Gesicht: der trotzige Mund, die stahlblauen Augen und dunklen Augenbrauen.«

»Sie haben ihn ja schon ausreichend studiert.«

»Wir sehen ihn Tag für Tag bei den Mahlzeiten. Sein Platz ist unserem Tische schräg gegenüber. Wissen Sie, wer es ist?«

»Gewiß. Ein Doktor Axel Groll aus Berlin, seines Zeichens Arzt. Sein alter Herr war der Geheimrat Groll, der das große Sanatorium in der Fasanenstraße gegründet hat. Bombensicheres Geschäft, da ja heutzutage der dritte Mensch sanatoriumsreif ist.«

»Sind alle Berliner so mokant wie Sie? – Aber fahren Sie fort im Text.«

»Ich bin zu Ende. Nur noch ein ganz bescheidener Hinweis. Herr Doktor Groll – ist leider schon in festen Händen.« Er klemmte sein Glas wieder ein.

Willemintje machte ein hochmütiges Gesicht. »Sind Sie mit dem Herrn persönlich bekannt?«

»Ja. Wir haben gemeinsam ein paar Dummheiten gemacht.«

»Der Mann sieht mir nicht so aus, als ob er Dummheiten machte.«

Mayn lachte. »Er verstellt sich. Sie sind ein jung unschuldig Blut, Fräulein Willemintje.«

»Ich hab' Ihnen schon gestern gesagt, daß ich meinen Vornamen von Ihnen nicht gern höre.«

»Willemintje klingt so drollig. Aber ich gehorche natürlich. Nun, und warum halten Sie den Doktor für besser als mich?«

»Weil Sie ihn offenbar nicht leiden können.«

»Das ist nadelspitz – aber sehr geistreich ausgedrückt.« Sie waren wieder am alten Platz angelangt, und Willemintje entließ ihn mit einem kurzen Nicken.

*

Der Tanzsaal hatte jetzt ein verändertes Aussehen. Der Tanzeifer ließ nach, auch die Mehrzahl der Zuschauer verlief sich. Die Herren, die nicht tanzten, suchten die Bar auf oder fanden sich in der Halle auf den bequemen Sofas, Klubsesseln oder Schaukelstühlen, bei Whisky und Soda, bei einer Zigarre oder Zigarette zusammen.

Lore Englhofer hatte mit ihrer Freundin die Einladung eines amerikanischen Ehepaares angenommen, an dessen Tafel Platz zu nehmen, die im Vorraum der Halle, am Durchgang zum großen Saal, aufgestellt war. Mr. Biddle war ein großer Sportsmann. Zu einer rechten Unterhaltung kam es aber nicht, immer wieder wurde sie in den Tanzsaal geholt. Da entwand sie sich einmal am Schlusse eines Walzers geschickt ihrem Tänzer, dem jungen Flieger, tauschte noch flink durch die Tür einen Blick mit Willemintje, die draußen die schwerhörige Mrs. Biddle zu unterhalten suchte, und schritt auf einen Herrn zu, der neben dem Saaleingang stand. Es war Dr. med. Axel Groll.

In sich versunken sah der junge Arzt über das Gewühl hin. Er schien so mit seinen Gedanken beschäftigt, daß er die Fremde gar nicht gewahrte – oder doch nicht annahm, daß ihre Annäherung ihm galt.

Erschrocken blickte er auf, als sie ihn ansprach.

»Wenigstens begrüßen muß ich Sie. Sie fragen: ob Sie sich meiner entsinnen?«

Er hatte ein junges Gesicht mit energischen Zügen, jedenfalls wirkte es jetzt jung, fast knabenhaft, als er so in einem Anflug von Trotz sie musterte. Sie erinnerte ihn daran, daß ihr Vater mehrere Monate im Sanatorium des Geheimrats Groll zugebracht hatte.

»Sie waren damals noch Student – oder junger Assistent. Aber Ihr Vater, der Geheimrat, brachte Sie öfters zum Krankenbesuch mit.«

Er entsann sich des Falles erst, als er den Namen hörte. Englhofer – das war der berühmte Ingenieur, der die gewaltigen Brücken in Schottland und Amerika gebaut hatte. Aus seinem Ausdruck wich das Mißtrauen. Er bat sie um Entschuldigung, daß ihm die Begegnung nicht sogleich eingefallen war.

»Es liegen ja fünf Jahre dazwischen«, sagte sie. »Es war in der Zeit, wo Sie den Neubau hatten.«

»Ja. Genau fünf Jahre. Im Frühjahr wurde dann das neue Sanatorium eröffnet.«

»Sie waren damit beide stark in Anspruch genommen damals. Aber Ihr Vater opferte uns trotzdem viel Zeit. Er hatte eine so warme, herzliche Zuneigung für meinen armen Kranken, daß ich es ihm nie vergessen werde. Leider war ja nichts mehr zu retten; Papa hatte sich aufgebraucht in seiner rastlosen Arbeit. Aber sehr verändert haben Sie sich. Meine Freundin mußte darum vorhin erst einen Herrn nach Ihnen fragen. Ich war meiner Sache gar nicht sicher.«

Er war bisher nur mit dem jungen Mr. Biddle zusammengetroffen, beim Skilauf; den kannte er von dem Freiburger Wintersemester her. Lore Englhofer nannte ihm ihren Gewährsmann. Es war ihr dabei so, als ob ihn die Erinnerung an den Berliner verstimmte.

Da ein neuer Tanz begann, hatten sie den Platz räumen müssen. Unwillkürlich war Lore ein paar Schritte weit auf den Tisch von Mrs. Biddle zugegangen. Die Blicke der ganzen Gruppe verfolgten sie auf Schritt und Tritt. Und zweifellos hatte Mayn seinen Namen nennen hören – denn er lehnte sich weit in seinen Klubsessel zurück, um von ihrer Unterhaltung etwas aufzufangen.

»Was für eine schwere Zeit muß das für Sie gewesen sein, gnädiges Fräulein! Und er fügte hinzu, da sie nur stumm nickte: »Ich habe es damals wohl noch nicht so ermessen können. Da hatt' ich meinen alten Herrn noch - »

Sie hatte die Stirn gesenkt. »Ja, sehen Sie, so wie Sie damals an ihm hingen – so war es zwischen mir und meinem Vater. Mein Stolz auf seinen Namen, auf seine Erfolge. Und die hundert großen Aufgaben, die seiner noch harrten. Er hatte mich überall mit hingenommen. Mutter hatte er früh verloren. Da war ich verwachsen mit allem. Und wußte nun seit der ersten Untersuchung: hart da draußen vor der Tür steht der Tod – jeden Augenblick kann er die Klinke niederdrücken. Ich wehrte mich, ich rang innerlich in kindischem Trotz, erwartete noch immer ein Wunder, ich wollte Vater nicht hergeben, das Schicksal hatte noch kein Recht an ihn ...«

»Hoffentlich hat die Zeit Ihren Schmerz gelindert, gnädiges Fräulein –«

Ein kurzes Schweigen trat ein. Er wollte sich nun mit leichtem Gruß zurückziehen. Aber sie hielt ihn mit einer unwillkürlichen Bewegung ihres Kopfes zurück. »In allen Krankenzimmern wurde viel über Sie gesprochen. Besonders die Oberin sang Ihr Loblied. Mit zweiundzwanzig Jahren Assistent – und mit welchem Feuereifer Sie bei Ihrem Beruf wären.«

»Die erste jubelnde Begeisterung. Die verflüchtigt sich dann ja allmählich. Mit den Jahren und mit der Erfahrung. Ich sah gar zu bald die Grenzen unserer Kunst.«

»Sie haben das Sanatorium seitdem ganz allein geleitet?« fragte sie nach einer Pause.

»Nein. Als Chefarzt hab' ich einen alten Studienfreund meines Vaters eingesetzt. Für die Leitung fühlte ich mich nicht erfahren genug. Und jetzt – will ich mich erst im Leben umsehn.«

Sie nickte. »Das ist wohl der wichtigste Teil des Studiums für einen Arzt.«

»Das ernsteste Buch für jeden Menschen.«

»Da sind wir ja unversehens an ein schweres Thema geraten«, sagte sie.

»Ja, gnädiges Fräulein, fast zu ernst für einen Tanzabend. Wieder wollte er abbrechen, und abermals zwang ihn ihr Blick, ihr Rede zu stehen. Er fragte sie dann: »Haben Sie in Großstädten gelebt, gnädiges Fräulein, oder auf dem Lande?«

»Nach meines Vaters Tod immer auf Reisen. Um die Welt zu sehen, um Sprachen, Kunst, Sport zu treiben. Um die Welt kennenzulernen – und die Menschen.«

»So, die haben Sie nun kennengelernt, die Menschen?«

Sie lächelte. »Viele.«

»Und Sie sind noch nicht lebensüberdrüssig?«

»Das ist ja eine Lästerung. Sie als Arzt sprechen so – der der Menschheit Heil bringen sollte?«

»Ich sagte Ihnen ja: das Thema taugt nicht für einen Tanzabend. Verzeihen Sie. Ich bin ein bißchen weltfremd geworden und dadurch ungeschickt. Er sagte es mit einem unsicheren, fast hilflosen Lächeln, das ihm sofort wieder ihre Sympathie errang.

Sie gab ihm zum Abschied die Hand. »Vielleicht treffe ich Sie einmal draußen irgendwo im Schnee und in der Sonne. Treiben Sie denn überhaupt Sport?«

»Gewiß. Von frühster Jugend auf.«

»Und da lieben Sie das Leben nicht?«

»Vor fünf Jahren, als ich so alt war wie Sie – so wunderbar jung ...«

Sie lachte ihn aus. »Ach – Sie uralter Mann!« Über ihre burschikose Entgleisung leicht erschrocken, wandte sie sich zum Gehn. »Ich glaube wirklich, ich werde mich das nächste Mal arg mit Ihnen zanken.«

Sie ging. Und Baron Kamerlander erwischte sie. Er wollte es nicht gelten lassen, daß sie schon tanzmüde sei. »Überhaupt haben S' jetzt eine ganze halbe Stunde körperlich ausgeruht, Gnädigste.«

»Aber nicht geistig.«

Er sah sie drollig beteuernd an. »Schauen Sie, das könnten S' nun wieder so gut bei mir.«

»Strengen Sie sich mal ruhig ein bißchen an, und sagen Sie was Geistreiches.«

»Abends um elfe. Wann ein Tanz gespielt wird und wann's einen in allen Nerven prickelt. Gehen Sie – das wär' bei mir ja komisch.«

Nun lachte sie. Ihre Freundin Willemintje kam gerade auf sie zu, und in der angeschlagenen Tonart ging die Neckerei weiter, auch hernach, als Kamerlanders Nebenbuhler sich einstellten.

Der Kehraus war drinnen noch nicht gespielt, als Lore das Zeichen zum Aufbruch gab. Wie jeden Abend entwickelte sich zum Abschied der stille Wettkampf unter ihren Anbetern. Der eine brachte den weichen indischen Schal, der andere ihr goldenes Täschchen, das sie achtlos auf dem Tisch hatte liegenlassen; Kamerlander wußte es so einzurichten, daß er an ihre linke Seite kam, während sie die Halle durchmaßen, und stützte ihren Arm mit leichter Vertraulichkeit beim Treppensteigen. Genzmer begleitete sie rechts, und Mayn, der sich irgendwie betätigen wollte, ohne Gelegenheit zu finden, trat ihr in seinen Eifer zweimal auf den Schal.

Als sie mit Willemintje in den Lift einstieg, harrten draußen fünf, sechs Herren, von denen jeder einen Händedruck, wenigstens ein besonderes Nicken erhoffte. Sie machte den Abschied aber im allgemeinen ab.

»First Floor – premir ètage!« meldete der Liftboy, öffnete die Eisentür und fügte in seinem schweizerischen Dialekt treuherzig hinzu: »Gut' Nacht, die Damen!«

Sie wohnten im Mittelteil des gewaltigen Hauses. Von einem besonderen Flur, der mit dem langen Gang in gleicher Richtung lief, öffneten sich der behaglich eingerichtete Salon und die beiden Schlafzimmer. Die Kammer für die Jungfer und das Badezimmer lagen Tür an Tür mit Lores Zimmer.

In dem gemeinsamen Salon befand sich ein Kamin. Lore liebte es, wenn sie sich von der Jungfer das Abendkleid abnehmen und das Haar zur Nacht hatte zurechtmachen lassen, in ihrem Kimono noch ein Viertelstündchen am Kamin zu verplaudern. Ein paar Holzscheite waren schon immer aufgeschichtet.

»Allzu liebenswürdig war er eben nicht, dein junger Doktor«, meinte Willemintje neckend.

»Weißt du«, sagte Lore, ihren Schaukelstuhl in Bewegung setzend, »ein paar Sekunden lang war mir's so eigen, während ich mit ihm sprach .– ich hörte immerzu eine Melodie, immerzu. Ich sann und sann, konnte aber nicht darauf kommen, woher sie stammte. Das machte mich auch so ungeschickt, siehst du. Ich weiß nun gar nicht, wie er die ganze Sache aufgefaßt haben mag.«

»Aha – Du bereust schon.«

»O nein! Du, das ist nicht so der übliche Kurmacher.«

»Kamerlander fand ihn steif und blasiert.«

»Nun ja – Kamerlander der hat seinen Esprit in den Tanzbeinen.«

»Und der arme kleine Genzmer war natürlich todunglücklich. ›Wieder ein Wettbewerber mehr!‹ hat er zu der alten Exzellenz Feldern gesagt.«

»Feldern, das ist die alte Dame mit dem Schnurrbart und den hageren Schultern?«

»Ja, eine lieblose Erscheinung. Übrigens sagte sie über Genzmer – ich weiß nicht, ob es nur eine Bosheit war –, er stecke so tief in Schulden, daß ihn nichts als eine rasche, reiche Heirat retten könnte.«

»Der Ärmste.«

»Die Ärmste.«

»Da sind wir ja wieder bei deinem Lieblingsgedanken. Lore lachte. »Ach, Willemintje – wie aus dir doch immer gleich das Gouvernantchen herausguckt. Und reingefallen bist du obendrein. Die Dame mit dem Schnurrbart hat geflunkert. Der arme kleine Genzmer ist nämlich der reichste Junge von ganz Lübeck.«

»So, nun bin ich ganz still.«

»Kannst du ja gar nicht.«

Aber es herrschte nun wirklich ein Weilchen Schweigen.

»Sag mal«, fing Lore dann wieder an, »und wie ist nun eigentlich Mayn mit ihm bekannt? Woher kennen sie sich? Verkehren sie schon lange in Berlin miteinander? Hier hat man sie doch nie zusammen gesehn?«

»Mayn – und Genzmer?« fragte Willemintje mit verstohlenem Schalk.

»Ich spreche doch von Groll.«

»Nein – darüber sag' ich keine Silbe. Du hast mich zu schwer gekränkt.«

»Aber Liebling – denkst du denn, ich merk' es nicht gleich, wenn du da so nebenbei eine Warnung anbringst?« Lore setzte ihren Schaukelstuhl immer stärker in Bewegung.

»Die Warnung stammt nicht von mir. Ich bekam von Herrn Mayn eine Gebrauchsanweisung mit – wie bei einer Medizin: Vorsicht! Nicht schütteln!«

»Steht er bei Herrn Mayn etwa auch im Verdacht, ein Mitgiftjäger zu sein?«

»Nein. Weißt du, nachträglich hat mich's noch so geärgert, daß wir uns gerade an Mayn gewandt haben. So etwas Hämisches liegt in dem ganzen Manne.«

»Hm. Er hat Froschfinger. Ich fühl's immer noch eine ganze Weile hinterher, wenn ich ihm mal die Hand gegeben habe.« Sie strich mit beiden Handflächen unwillkürlich über die weiche Seide ihres Kimonos.

»Nun, und was hat er über Groll zu sagen gewußt?«

»Doktor Groll sei leider schon in festen Händen.«

»So. Was heißt das?«

»Er ist verlobt – oder verliebt – vielleicht verheiratet – glücklich oder unglücklich, je nachdem.«

Lore hatte im Schaukeln innegehalten. »Meinst du?« Ein paar Sekunden starrte sie in das flackernde Feuer, dann erhob sie sich mit einem Ruck und sagte ärgerlich: »Aber danach hast du ihn doch gewiß gar nicht gefragt –?«

»Nein.«

»Wie kommt er dann dazu? Das ist ja – ungezogen.« Sie blieb hinter Willemintjes Stuhl stehen. »Übrigens glaube ich nicht, daß Groll verheiratet ist. Einen Ring trägt er nicht.«

»Oh, das hast du gesehen?«

»Willemintje, bei jedem Herrn ist dein erster Blick der auf den Ringfinger.«

»Meiner – ja. Aber du streitest es doch immer ab.«

»Was du mich heute ärgerst, Willemintje!« Sie ging wieder weiter. »Eine seltsame Wandlung hat er durchgemacht seit damals. Er muß sehr Schweres erlebt haben«, sagte sie nachdenklich. »Was in diesen Augen drinsteht... Er ist mir doch ganz fremd, nicht wahr? Und trotzdem ...«

»Am besten, wir drehen morgen im Speisesaal den Tisch ein bißchen weiter herum, Lore, damit du ihn nicht immerzu angucken mußt.«

»Ach du! – Er beschäftigt mich, warum soll ich das nicht zugeben? Mitleid hab' ich mit ihm. Siehst du, alles ist hier so festlich, so strahlend, so sonnig, du triffst nur helle Mienen, hörst nur lustige Worte – den Leutchen hier ist der ganze Winter ein einziger Ball –, und da sitzt einer immer allein im Hintergrund, mit ernsten, schweren Augen, und wenn er in den Tanzsaal tritt, mit dem festen Wunsch, sein Leid zu vergessen, sich aufzuheitern, ist's ihm nicht möglich ...« Immer versonnener war ihr Ton geworden. Es war, als lauschte sie nach innen. Und leise begann sie eine schwermütige Melodie zu summen.

»Was singst du da, ist das nicht ein russisches Lied?« fragte Willemintje.

Lore schloß die Augen und summte die Melodie etwas bestimmter. Dann fand sie auch die Textworte. »Im wogenden Tanze, beim Feste, wo lärmender Jubel so laut, da hab' ich dich träumend und sinnend, geheimnisvoll blickend erschaut ...«

Sie hatte eine weiche, klare Altstimme. Mit ihrem hellen Sopran nahm Willemintje leise die Melodie auf, nachdem Lore geschlossen. Nun entsann sie sich. »Oh, das haben wir damals von der Finnländerin in Stockholm gehört, nicht? Und es ist von Tschaikowsky.«

»Ja.« Lore atmete auf. »Das war's, was mich heut immerzu verfolgt hat. Ich bin ordentlich erlöst, daß ich's gefunden habe.«

Willemintje erhob sich lächelnd. »Also können wir jetzt schlafen gehn?«

»Ach, du armes Baby, dir fallen ja schon wieder die Augen zu.«

»Ich hab' heut sechs Stunden auf dem Eisplatz geübt.« »Und morgen früh sollen wir schon um halb elf Uhr auf der Ober-Alpina sein. Prüfung im Skikursus! Da heißt's jetzt rasch ins Bett.«

Während sie sich entkleideten, unterhielten sie sich noch durch die offenen Türen. Willemintje stellte fest, daß ihr Onkel Jan sie den ganzen Abend über geschnitten hatte. »Aber denk nur, mit Herrn Mayn hat er Freundschaft geschlossen, und die wollen beide tatsächlich auch zum Skikursus hinauf. Was sagst du? Das kann bunt da oben werden.«

»Bisher soll's vormittags ganz leer gewesen sein. Bloß ein paar Herren hätten geübt.«

»Ja. Auch Groll.«

Im Nachtgewand kam Lore durch den Salon zu ihr. »Groll? So? Wer sagt dir das?«

»Von wem soll ich's wissen? Von Mayn! Dem Alleswisser! Gute Nacht!« Willemintje lag schon im Bett, schaltete das Licht aus und sah Lore nach, die, von dem roten Schein der Kaminglut umflossen, nach ihrem Schlafzimmer zurückkehrte. Sie hörte das Knipsen des Lichtschalters, das leichte Rauschen der Bettdecke und dann ein ganz leises, zartes, summendes Singen.

Lore wiederholte die melancholische Melodie. Dann ein zweites Mal, aber noch leiser. Und dann nur ein paar Takte.

*

Axel Groll war schon seit Wochen unterwegs. Seitdem er Berlin verlassen hatte, war er unstet und in seinen Entschlüssen sprunghaft. Zuerst hatte er in Bozen haltgemacht. Aber die neugierige Gesellschaft, der er da in die Hände fiel, vertrieb ihn bald wieder. Auch in Venedig hielt er's nicht lange aus; hier geriet er in ein fürchterliches Regenwetter. Darauf suchte er an der Riviera ein Stückchen blauen Himmels zu erhaschen – doch in Nizza sah er die kümmerlichen Palmen acht Tage hindurch im Schnee. Da packte ihn die Sehnsucht nach dem richtigen Winter. Er benutzte die Bahn bis Chiavenna, nahm dort einen Schlitten und fuhr ins Bergell. Im Paßhotel von Maloja übernachtete er. Am andern Morgen mietete er sich im Grandhotel von St. Moritz ein. Der Zufall war ihm günstig; er bekam ein Zimmer, dessen Fenster nach Süden gingen. Morgens, kurz nach zehn Uhr, blitzte drüben links, neben dem gewaltigen Schneekegel jenseits vom See, ein Lichtpunkt auf, gleich darauf stand das Tal zwischen Silvaplana und Campfèr im strahlenden Sonnenlicht, die breite goldene Flut rollte näher und näher, erfaßte den Rundbau des neuen Segantini-Museums und die ersten Häuser des Dorfes, übergoß die im Schnee schlafende Sommerstadt, das Stahlbad, erreichte die majestätischen Winterhotelkasten, das Palasthotel, oben den Kulm – und endlich auch die hellgelbe Stirnseite des siebenstöckigen Grandhotels. Die Sonne drang Zug um Zug in alle vierhundert Fenster und weckte die letzten Langschläfer. Tiefblau der Himmel, bläulichweiß die zackigen Alpenhäupter, nirgends ein Wölkchen, die Nachtkälte löste sich über dem Talgrund in weißliche Dunstschleier; die weite, weiße Schneelandschaft, in der nur die freigeschaufelte Rennbahn unten auf der gleichmäßig verschneiten ebenen Fläche die Umrisse des darunter liegenden dick vereisten Sees verriet, war in Sonnenlicht gebadet.

Bisher hatte Axel Groll alle hellen Sonnenstunden vor und nach dem Lunch dem Skisport gewidmet, den er schon als Student von München und Freiburg aus eifrig betrieben. Solange er draußen in der leichten, dünnen Luft den Körper ausarbeitete, vergaß er alles, was ihn sonst bedrängte.

Aber unheimlich waren ihm die stillen Nachtstunden. Er schlief schlecht, obwohl er sich am Tage Mühe gab, sich ehrlich zu ermüden. Unter den Hotelgästen sah er ein paar flüchtige Bekannte aus Berlin, vermied aber jede Begegnung mit ihnen.

Dann tauchte plötzlich der Berliner Jurist auf: Dr. Theodor Mayn.

Es war ihm gräßlich, gerade jetzt auf diesen Mann zu stoßen.

Die Begegnung mit der fremden jungen Dame hatte ihn veranlaßt, mehr aus sich herauszugehen. Wegen ihrer Frische und Natürlichkeit war sie ihm aufgefallen.

In der Nacht nach dieser Begegnung saß Axel Groll noch lange in Gedanken versunken am Schreibtisch. Er hatte die letzten Briefe seines Stiefbruders noch nicht beantwortet. Fred war Diplomingenieur und stand im Dienst einer holländischen Firma. Er lebte auf Java. Das Verhältnis zwischen ihm und Fred war stets gut gewesen, auch als tiefe Schatten das Einvernehmen zwischen Fred und seinem Stiefvater trübten. Vor zwei Jahren war er zu längerem Urlaub nach Deutschland gekommen. In dem Winter erneuerten sie die alte Freundschaft, nun beide Mann geworden.

Mehrmals hatte Axel an den Bruder zu schreiben begonnen. Aber immer wieder zerriß er die Blätter. Es war ihm unmöglich, dem klugen, tiefblickenden Manne, der da in der Einsamkeit im Fernen Osten saß und jedes Wort ernst nachprüfte, sein auffällig langes Schweigen mit ein paar leeren Worten von Überbürdung mit Berufspflichten und gesellschaftlichen Abhaltungen zu erklären. Er mußte ihm eingestehen: daß er ihm nicht hatte schreiben wollen.

*

»... weil ich mir über mich selbst nicht klar war, weil ich seit Monaten mit mir und meinem Schicksal ringe. Liebster Fred – Du wirst mich fragen, warum ich mich Dir in meiner Not denn nicht längst anvertraut habe. Du wirst mich auszanken, wirst mir Vertrauensmangel vorwerfen. Aber Du würdest erstaunt sein, mir jetzt zu begegnen, mich in diesem Seelenzustand zu sehen.

Erlaß mir alle Beschönigungen. Du warst an jenem unseligen Abend mit dabei, wo der törichte Flirt die verhängnisvolle Wendung nahm. Er bedeutete damals für mich nicht mehr als eine Laune – oder nenn's eine Wallung. Von Stund an aber zerrte er mich weiter, gegen meinen Willen, von einer Unwahrheit zur andern; schließlich verstrickte er mich in eine ungeheuerliche Lage.

Du entsinnst Dich der Frau Gertie S., die spätabends auf dem Diplomatenball in unserm Kreis erschien. Ihr Kleid fiel Dir auf. Sie trug ein seltsam schimmerndes, tief ausgeschnittenes Ballkleid. Ein Herr, den wir in der Loge des holländischen Generalkonsuls kennengelernt hatten, nannte sie die ›Schlangendame‹, worüber Du lachtest. Ich war in übermütiger Karnevalsstimmung – selbst Du ernster, einsilbiger Mensch bist ja in jener Nacht einmal aufgetaut –, und ich machte Frau Gertie den Hof. Das tat eigentlich jeder Herr, der bei ihr verkehrte, mehr oder weniger. Denn sie legte es darauf an, ihrem Mann zum Trotz, glaube ich. Doktor Selle galt für einen nüchternen Arbeitsmenschen. Kinder waren nicht vorhanden. Frau Gertie war jung, temperamentvoll, nicht gerade auffallend hübsch, aber pikant, gefall- und genußsüchtig. Längere Geschäftsreisen hielten ihren Mann, der sie mit seiner Eifersucht maßlos plagte, öfters fern, und in dieser Zeit wagte sie's, auf eigene Faust Zerstreuung zu suchen. Zunächst ganz schüchtern. Sie verabredete mit ein paar Bekannten, ein Theater zu besuchen. Dann fand sich, ganz von ungefähr, ein Kreis zusammen – ich gehörte mehrmals auch dazu –, der sie nach der Vorstellung beschwatzte, noch in einer netten Weinstube mit zu speisen. Wir mußten uns alle verpflichten, ihrem Mann nach dessen Rückkehr nichts zu verraten. Die kleine Heimlichkeit gefiel uns. Sie erfuhr manchmal dadurch Steigerungen, daß Frau Gertie da oder dort ganz unvermutet Verwandte auftauchen sah, vor denen sie sich nicht zeigen durfte. Der Vetter von Doktor Selle, ein Bankier Selle, die Witwe seines verstorbenen Bruders, Frau Erika, die sich mit einem Rittmeister a. D. von Troost wieder verheiratet hatte: sie alle wollten über die lebenslustige Strohwitwe strenge Aufsicht führen.

Einmal ging mir ihr Wagemut aber fast zu weit. Ein mit seinem Frauchen durchreisender blutjunger Vetter zweiten, dritten Grades war da aufgetaucht. Ich traf sie alle drei, als ich spätabends die Untergrundbahn verließ, auf dem Heimweg von einem Krankenbesuch. Sie kamen aus einer neuen Revue, der Vetter wollte ihr noch ›Berlin bei Nacht‹ zeigen, wollte durchaus nicht dulden, daß sie in das Auto einstieg, das sie schon herbeigerufen hatte, um nach Hause zu fahren. Es gab ein lustiges Hin und Her – und ich mischte mich ein, schlug mich natürlich sogleich auf die Seite der ›Unsoliden‹, und Frau Gertie zog mit. Erst später erfuhr ich, daß die junge Dame, die der Vetter bei sich hatte, nicht seine Frau, sondern nur seine Freundin war. Er sagte Frau Gertie zum Abschied, sie habe das Zeug zur ›grande cocotte‹. Und Frau Gertie faßte es als übermütige Bewunderung auf.

Gerade in die Zeit einer neuen Geschäftsreise ihres Mannes fiel der Diplomatenball. Sie gaben am Vorabend von Selles Abreise ein kleines Diner, zu dem ich auch eingeladen war. Unter Tränen der Wut sagte mir da Frau Gertie kurz vor meinem Aufbruch: ein heimliches Auskneifen sei diesmal unmöglich, denn auf den vielbesprochenen Abend habe ihre Schwägerin, Frau Erika von Troost, die Feier ihres Geburtstages verlegt mit Diner und Hausball. ›Natürlich werd' ich von dort durch das Hausmädchen abgeholt – wie ein Backfisch!‹ sagte sie. Sie war untröstlich. Und ich redete ihr übermütig zu: ›Also bringen Sie fein artig Ihr Hausmädchen heim, legen Sie's zu Bett – und dann kommen Sie noch auf unser Fest. So spät es sein mag, es wird himmlisch sein.‹

Und sie kam.

Du hast sie gesehen – es lag in jener Nacht etwas Bacchantisches in ihr ... Und wie wir da im Kreise auf den Teppichen saßen und dem herausfordernden Tanz der kleinen Gräfin zusahen, entzündete sich unser Blut: ich küßte sie, sie ließ es geschehen und erwiderte meine Küsse ... Sie hatte unter dem Jubel der Herren angefangen, mit der kleinen Gräfin zu wetteifern: sie tanzte ein Solo. Man klatschte ihr rasend Beifall zu. Es war ein Schleiertanz, aus Erinnerungen an Opern und allerhand Varietekünste zusammengestellt. Sie sah berückend aus. Besonders, als sie die langen Schleier fallen ließ. Die nackten Arme, die tiefen Ausschnitte hinten und vorn, das blasse Gesicht, das einer schillernden Schlangenhaut gleichende knappe Gewand, die nackten Schultern, von denen die schmalen Bänder immer wieder herabsanken, der bacchantische Ausdruck des halbgeöffneten Mundes und der grauen, langbewimperten, etwas verschleierten Augen ... Aber als sie sich noch immer steigerte, da machte ich ein Ende. Denn nun gab es für mich nur die eine Erklärung: der Champagner! Sie lachte mich aus. ›Du bist eifersüchtig, Axel! Hüte dich, so zu sein wie mein Mann! Denn dann müßt' ich dich hassen!‹ Und hernach, draußen, als ich sie in ihren Pelz hüllte, sagte sie: ›Ich hab' keinen Schwips. Ich hab' kaum zwei Glas getrunken. Denkst du, nur der Champagner kann mich berauschen? Ein heißes Wort berauscht mich viel mehr!‹ Sie hatte den Pelzmantel geöffnet, die Arme erhoben und hielt die Hände im Nacken verschränkt. Ich riß sie an mich und küßte sie. Man war uns aber gefolgt – und hatte es gesehen. Wir wurden zum Wagen geleitet. ›Hoch lebe das junge Paar!‹ rief irgendein Übermütiger, als wir abfuhren. Die Fahrt dauerte nur wenige Minuten. Erschöpft hatte sich Gertie zurückgelehnt und summte mit geschlossenen Lippen – dann ließ sie ihren Kopf gegen meine Schulter sinken. ›Warum bist du so ernst geworden, Axel? Küsse mich doch.‹ Ich küßte sie – aber der Rausch war verflogen. Gertie war von meiner Kühle enttäuscht. Ich hätte ihr in den paar Minuten das Abenteuerlichste vorschlagen können – keine Sorge um den kommenden Tag focht sie an, keine Furcht vor dem Gatten, vor dem Skandal. Ich sollte ihr Mund an Mund sagen, daß ich sie liebte, wahnsinnig liebte; sie klammerte sich an mich, weinte zuletzt, als der Wagen vor ihrem Hause hielt. ›Bleib hier unten stehen, Axel‹, sagte sie flüsternd, nun doch ein wenig ängstlich. ›Das zweite Fenster rechts von der Ecke ist das von meinem Zimmer. Daneben liegt das Schlafzimmer. Wenn ich unentdeckt zu Bett komme, öffne ich einen Fensterspalt. Dann weißt du ...‹ Ich spielte draußen den artigen Begleiter; aber sie hatte jede Scheu verloren, umfaßte mich und küßte mich auf den Mund. Dann verschwand sie. Ich lohnte den Mann ab, wanderte den Kurfürstendamm weiter, querte ihn und wandte mich nach dem Eckhaus um. Aber ein plötzlicher Schreck machte mein Herz stillstehen: das ganze zweite Stockwerk, das Selles bewohnten, war strahlend erleuchtet! Es war für mich kein Zweifel: ihr Mann war vorzeitig von der Reise heimgekehrt, vielleicht schon in einem gewissen Argwohn, hatte die Wohnung leer gefunden und gewartet. Ich sah nach der Uhr: es war schon sechs.

Am Tage hielt mich der Dienst im Sanatorium fast ohne Pause fest. Ich sah Dich erst abends nach zehn Uhr. So kam's, daß Du abreistest, ohne daß ich Dich in die Sache eingeweiht hatte.

Wirklich ernst wurde sie erst jetzt.

Am Ende der Woche kam Gertie in meine Sprechstunde. Sie sah schlecht aus, verweint, war ängstlich, abgehetzt, wie ausgewechselt. Es war Tatsache: ihr Mann hatte sie oben in der Tür empfangen. Wie er sie gestraft, darüber sagte sie damals nichts. Sie biß die Zähne in die Lippen vor ohnmächtiger Wut. Aber noch Monate später sah ich auf ihrem Nacken einmal, zufällig, als sie sich beim Klavierspiel vorbeugte, einen roten Striemen. Er hatte sie geschlagen. Ihre härteste Strafe aber war die: er hielt sie wie eine Gefangene. ›Ich habe dich nicht verraten, Axel‹, sagte sie zu mir, ›der Verdacht ist auf Edu gefallen.‹ Edu – das war der liebenswürdige Vetter, der ihr mit seiner feschen Freundin zusammen ›Berlin bei Nacht‹ gezeigt hatte. ›Was jetzt auch kommen mag – schweig, Axel, leugne alles, sonst geht mir's jämmerlich, ich war ja kein Mensch vor Angst!‹ Sie blieb nur zwei Minuten – dann jagte sie aufgeregt, zerfahren davon.

In der Arbeit vergaß ich die häßliche Geschichte fast. Die Festwut des Winters flaute dann bald ab. Da kam zu meiner unangenehmen Überraschung plötzlich ein vorgedrucktes Kärtchen: Doktor Hans Selle und Frau beehrten sich, mich zu bitten. Natürlich stand sofort für mich fest, daß ich ablehnte. Aber die Absage war noch nicht geschrieben, da drang schon Gertie bei mir ein. Sie war auf Besorgungen mit ihrem Mann, er glaubte sie in einem Geschäft neben dem Sanatorium. ›Axel – endlich seh' ich dich – wie ich mich nach dir gesehnt hab‹! Sie war außer sich, als ich ihr sagte, daß ich nicht kommen könnte. ›Dann schöpft er Verdacht – Axel, Liebling, Einziger, tu mir das nicht an!‹ Es war der wahre Kampf. Ich wollte sie von mir abschütteln – in ihrer fast krankhaften Überreizung sank sie plötzlich um, wie in einer Ohnmacht. Ich riß sie empor. Als ich sie zu sich gebracht hatte, weinte sie wie ein Kind und küßte meine Hand. ›Hab' mich lieb, Axel verlaß mich nicht, du bist das einzige Wesen auf der ganzen Welt, das gut zu mir war; ich werde so gepeinigt; arm wie ich bin, kann ja nicht von ihm gehn, er ließe mich ja umkommen, aber du treibst mich nicht ins Verderben' gelt, du nicht ...‹ Als sie ging, hatte ich ihr geschworen, für den Abend zuzusagen.

Es war aber wenig Ehre dabei. Ich kam mir an jenem Abend ganz erbärmlich vor. Doktor Selle hatte wirklich nicht den geringsten Argwohn gegen mich. Ich war mit Zorn gegen ihn gekommen. Doch er entwaffnete mich. Was für ein kluger, bedeutender Mensch er im Grunde war! Es war ein Genuß, mit ihm zu sprechen. Woher der Mann inmitten seiner fabelhaften Geschäftstätigkeit nur die Zeit nahm, sich noch mit all diesen ernsten Dingen zu beschäftigen. Übrigens liebte er klassische Musik. Eine Künstlerin von großem Ruf spielte ein Stück von Brahms auf der Violine. Gertie begleitete. Sie machte ihre Sache ganz gut. Aber ich konnte plötzlich nicht mehr folgen. War es denkbar, daß dieser überlegene, geistvolle Mann sein Weib schlug? Mißgestimmt, innerlich ganz aus dem Gleichgewicht gebracht, verließ ich das Haus.

Im Sommer erhielt ich dann Selles Besuch im Sanatorium. Er hatte noch nie einen Arzt gehabt, sagte er lächelnd, seine Frau auch nicht. Er brauchte jetzt nur rasch ein Mittel gegen einen kleinen rheumatischen Anfall. Aber es war eine ausgesprochene Neuralgie. Das sagte ich ihm, er nahm meine Verordnung, und von da an ließ er mich öfter rufen.

Wie ich über diese ganze Zeit hinweggefunden habe, weiß ich nicht mehr. Immer wollte ich's zum Bruch kommen lassen. Aber einmal, als ich ihren Mann besuchen mußte, lief sie mir auf der Treppe entgegen. ›Du liebst mich nicht mehr!‹ sagte sie zitternd vor Aufregung. Da erwiderte ich ihr: ›Nein. Ich habe nur Unruhe und Ärger durch dich.‹ Sie hielt mich fest, klammerte sich wieder an mich und bettelte: ›Sei doch gut zu mir. Du kannst alles von mir fordern. Sage ein Wort – und ich verlasse sein Haus. Ich komme zu dir. Dann gehöre ich nur dir. Axel, ach, stoß mich nicht von dir.‹ Es war Gertie zuzutrauen, daß sie plötzlich einmal – aus Haß gegen ihren Mann, aus Trotz gegen meine ablehnende Kühle – ihrem Mann alles sagte. Vielleicht noch übertrieb, nur um ihn um so grausamer zu treffen.

Die Kopfneuralgie peinigte Selle oft stark. Er hatte gerade damals große geschäftliche Umwälzungen. In die Fabrik waren neue, bedeutende Gelder aufgenommen worden; sein Vetter, Bankier Selle, auch seine Schwester, die Frau von Troost, hatten sie bei ihm untergebracht. Zuweilen gab ich ihm winzige Dosen Morphium, weil seine Schlaflosigkeit ihn am meisten störte. Er arbeitete zu angestrengt. Gertie hatte in jener Zeit kein leichtes Leben. Sie beklagte sich bitter bei mir. Ihre Jugend gehe hin, sie führe ein Gefangnendasein, komme nicht mehr in die Welt. Einmal, ein einziges Mal wolle sie wieder lustig und ausgelassen sein. Ich müsse etwas erfinden, um ihr die Erlaubnis zu verschaffen, von Hause fortzukommen. Auf mich habe ihr Mann ja nie einen Verdacht geworfen, also könnte ich's wagen. Ich sollte ihm vorschlagen, sie einmal zu ihrer Zerstreuung ins Theater zu schicken. Wir ein Kind bettelte sie. ›Weißt du, dann wählen wir ein Stück, das recht lange dauert – aber wir gehen zusammen auf ein Kostümfest, ich schicke alles vorher in deine Wohnung.‹ Bei jeder Begegnung drang sie so in mich.

Eines Abends gegen acht Uhr wurde ich ans Telephon gerufen. Gertie wollte mich sprechen. ›Ich zieh' mich eben um, um ins Opernhaus zu fahren. Aber an der Ecke der Kantstraße lasse ich den Wagen halten. Wirf dich rasch in den Frack. Nach der Vorstellung essen wir irgendwo. Liebster, ich werde dir gefallen. Ein großartiges neues Kleid. Erdbeerfarben, tief ausgeschnitten. Werden wir noch eine Loge bekommen?‹ Ich war äußerst erschrocken. ›Ich kann heute nicht abkommen, ich habe Dienst.‹ ›Bis wann?‹ ›Die ganze Nacht.‹ Sie brach kurz ab. Und eine halbe Stunde darauf brachte mir ein Bote ein Briefchen. ›Ich stehe vor Deiner Tür in durchbrochenen Strümpfen. Vorläufig hält mein Pelzmantel noch warm, aber laß nicht frieren Deine arme zitternde G.‹ Im Nu war ich nun angezogen und verhandelte mit Doktor Breitenfeld, der bereit war, bis Mitternacht zu bleiben. Gertie stand übrigens nicht auf der Straße, sondern saß in einem Auto.

Die Festfolge des Abends war die neue Revue, darauf Essen im Esplanade. Es war Sonnabend – viel Leben dort. Woher ich den Mut hatte, mich hier mit ihr zu zeigen, noch dazu an einem der vorderen Tische neben der Freitreppe, der Musik gegenüber, weiß ich nicht. Sie hatte mich nun doch wieder berauscht. ›Ich bin glücklich, Axel‹, sagte sie zu mir, ›ich bilde mir ein, wir sind auf der Hochzeitsreise.‹ Und einmal beugte sie sich ein wenig zu mir herüber – und küßte meinen Frackärmel. Es war schon halb zwölf Uhr. Um Mitternacht begann mein Dienst. Und wenn an ihrem Opernbesuch festgehalten werden sollte – man gab die ›Meistersinger‹ –, so mußten wir nun aufbrechen. Sie war sogleich einverstanden. Wie stolz sie den rassigen Kopf erhob, als sie in ihrem wundervollen Kleid die Marmortreppe zur Halle hinabschritt. Hunderte von bewundernden Blicken hielten ihr Bild fest – und sie fühlte das. Als wir im Wagen saßen, entwickelte sie einen abenteuerlichen Plan. Sie wollte sich zu Hause dem Mädchen zeigen, das sie erwartete, sich umkleiden und wieder herunterkommen. Ihr Mann hatte sich von ihr das Schlafmittel geben lassen, weil ihn die Neuralgie plagte; so hatte sie noch ein paar Stunden Zeit. ›Du mußt mit mir ins Kabarett.‹ Sie war außer sich, weinte und trotzte wie noch nie, als ich auf ihren Vorschlag nicht einging. Und ich merkte: es war kein Einfall, sondern sie hatte den Plan ausgeheckt, mich erst wieder zu berauschen, um dann zu erreichen, was sie wollte. Ihre aufgeregte Art, über mich zu herrschen, war mir nachgerade so lästig, daß ich auf dieser Fahrt einen festen Entschluß faßte. Ich wollte am andern Morgen Doktor Selle im Fabrikkontor aufsuchen, ihm eine Beichte ablegen und mich ihm zur Verfügung stellen: besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende! Als sie vor ihrem Hause den Wagen verließ, begleitete ich sie nicht. Mit einem Fuß auf dem Trittbrett bleibend, sagte sie: ›Wenn du Punkt ein Uhr da drüben an der Ecke stehst, Axel, dann seh' ich dich von oben und komme!‹ Ich blieb fest. ›Es ist Wahnsinn‹, sagte ich. Nun warf sie den Wagenschlag zu. ›Trotzkopf!‹ stieß sie aus, zitternd vor Wut.

Am andern Morgen um zehn Uhr fuhr ich in Selles Fabrik. Ich hatte die ganze Nacht mit mir gerungen. Wie jämmerlich ich mir vorkam, kann ich Dir nicht schildern. Aber als ich mich im Privatkontor melden lassen wollte, hieß es: der Chef sei noch nicht da. ›Telephonieren Sie, bitte, wann er hier zu sprechen sein wird.‹ ›Wir haben schon vorhin der Post wegen angefragt, aber da hieß es, der Herr schlafe noch.‹ Ich fuhr also wieder davon. Kaum war ich im Sanatorium angelangt, als ich von Gertie ans Telephon gerufen wurde: ihr Mann habe sich heute früh nicht gemeldet, nun sei sie endlich in sein Zimmer gegangen. Aber er liege in einer ohnmachtähnlichen Betäubung, sei nicht aufzuwecken. Ob ich nicht hinkommen möchte.

Fünfzehn Minuten später – stand ich an einem Totenbett.

Liebster Fred, was ich in den paar Augenblicken durchgemacht habe – ich kann Dir's kaum schildern.

Gertie stand bleich und hilflos da und zitterte, als ich sie entsetzt anfuhr: ›Weißt du, was das ist? Eine Morphiumvergiftung!‹

Zu retten war nichts mehr. Er hatte schon seit Stunden kein Leben mehr. Ich öffnete schließlich die Pulsadern.

Und dann die Untersuchung über die Umstände, unter denen er zu der starken Dosis gekommen war.

Die Medizinflasche und das Wasserglas lagen zerschlagen auf dem Boden. Der Mann mußte den ganzen Inhalt der Flasche auf einmal zu sich genommen haben.

Selbstmord.

Die Hausangestellten wurden benachrichtigt. Gertie weinte immerzu leise vor sich hin. Die Mädchen nahmen sich ihrer an, führten sie in ihr Schlafzimmer, die Jungfer benachrichtigte die Verwandten. Sie sagte am Telephon: der Herr habe sich schon gestern abend schlecht gefühlt, darum frühzeitig zu Bett gelegt, niemand habe ihn heute wecken wollen; und als die gnädige Frau endlich um halb elf Uhr in sein Zimmer gegangen sei, weil ihr doch angst wurde, da habe er ganz friedlich dagelegen – schon stundenlang tot. Eben habe der Arzt festgestellt: Selbstmord.

Bankier Selle, der Vetter des Verstorbenen, befand sich auf einer Geschäftsreise nach New York. Die Vertretung des Hauses übernahm also der Rittmeister von Troost. Ein prunkvolles Begräbnis folgte. In der Kapelle wurde die junge Witwe wieder ohnmächtig. Mir war es, als müßte noch etwas Ungeheuerliches geschehen. Irgendeiner mußte am offenen Grabe der Witwe die Anklage ins Gesicht schleudern: ›Du bist ihm untreu gewesen! Du hast ihn umgebracht!‹

Und wochenlang danach klang mir die Stimme dieses fremden Anklägers im Ohr. Gertie sah ich zum Glück nicht. Frau Erika von Troost hatte sie zu sich auf ihr neuerstandenes Rittergut genommen.

Zweimal schrieb mir Gertie lange Briefe. Ihr Besuch sollte bis zum Frühjahr dauern, aber plötzlich tauchte sie in Berlin auf. Von der Bahn aus kam sie in meine Sprechstunde; sie hätte es nicht länger ausgehalten, sie brauche mich, sie könne ohne mich nicht leben.

Da sagte ich ihr, welchen Entschluß ich bei jenem letzten Zusammensein mit ihr gefaßt hatte, um der ewigen Lüge ledig zu werden. Aber in Gerties Miene tauchte ein trotziger Ausdruck auf. ›Nun bist du die Lüge ja los – ich bin frei.‹

›Für mich nicht, Gertie. Du hast mir das Blut aufgepeitscht – aber geliebt hab' ich dich nie. Und jetzt ziehe ich einen festen Strich zwischen uns. Ich will keine Gemeinschaft mit dir.‹

Sie sah mich lange ganz starr an. Dann sagte sie: ›Ich habe dir alles geopfert. Du weißt, weshalb sich mein Mann umgebracht hat? Ich wollte zu dir. Und seitdem gehöre ich dir. Du kannst mich jetzt nicht so abschütteln, wie du denkst.‹

Ich stellte ihr nun kurz und schroff meine Bedingungen: ich forderte, daß sie die nächsten Monate so zurückgezogen lebte, wie die Sitte es forderte, daß sie meine Wohnung, mein Sprechzimmer nicht wieder betrat. ›Nach Hause gehe ich nicht‹, sagte sie kühl, ›den Hausangestellten ist gekündigt, ich habe genug Gefangenschaft durchgemacht.‹ ›Dann gehe auf Reisen.‹ ›Jetzt im Winter? Wohin?‹ ›Du sehntest dich ja immer nach Paris.‹ ›Wenn du mitkommst.‹ Sie wollte meine Hände erfassen, aber ich wich zurück. Nun setzte sie sich hin und weinte. ›Wie behandelst du mich nur!‹

Nach endloser Verhandlung willigte sie dann ein, mir zu gehorchen. Sie wollte eine Pensionsfreundin in Genf besuchen.

So hatte ich denn eine Weile Ruhe.

Aber sie kam unvermutet wieder, mietete sich in einer vornehmen Pension des Westens ein und erklärte mir: die geschäftlichen Verhandlungen wegen des Verkaufs der Fabrik erforderten ihre Anwesenheit.

Eines Morgens besuchte mich Bankier Selle unter irgendeinem Vorwand. Ich merkte bald er wollte aushorchen, wie ich mit Gertie stand. In der Verwandtschaft schien allerlei von den paar törichten Fahrten bekanntgeworden zu sein, die wir zusammen ausgeführt hatten. Die ganze Art Selles war so herausfordernd, daß ich fast die Haltung verlor. Hinterher wurde mir erst klar, was Selles Verwandtschaft so erboste: Gertie, die arm ins Haus gekommen war, hatte die Riesenerbschaft ganz allein bekommen!

Einmal begegnete ich dem jungen Juristen, der damals auf dem Ball im Zoo mit in unserm Zelt gesessen hat. Ein flüchtiges Wort der Erinnerung daran, gewiß ganz harmlos hingeworfen, traf mich, als ob ich vor Gericht geschleppt werden sollte.

Ich vernachlässigte den Dienst. Ich sah ein, so ging es nicht weiter. Und eines Tages sprach ich mit dem Geheimrat: ich müsse ausspannen, müsse auch die geschäftlichen Sorgen auf andere Schultern abwälzen. So wurden wir handelseins. Gertie sagte ich, daß ich zur Wiederherstellung meiner Gesundheit eine größere Reise, vielleicht eine Seefahrt antreten wollte. ›Du fliehst vor mir!‹ rief sie. ›Ich fliehe vor meinem Gewissen! Ein Toter liegt zwischen uns!‹ erwiderte ich. Sie hielt sich die Ohren zu. ›Fahre, gut, ich will dir Zeit lassen. Nur das eine sag' ich dir: mach mich nicht eifersüchtig. Ich hungere schon lange. Ich hungere, Axel!‹

Und so verließ ich Berlin.

Nun weißt Du, weshalb ich Dir in dieser ganzen Zeit nicht schrieb, nicht einmal Deine Fragen über meine Pläne, mein äußeres Ergehen beantworten konnte. Ich wußte ja selbst nicht, was das Schicksal mit mir anfangen wird.

Hier in der Sonne glaubte ich den ärgsten Druck schon überwunden zu haben. Ich sah neue Menschen. Nichts erinnerte mich an Berlin und den Kreis, dem ich entflohen bin. Aber nun tauchen Gestalten auf, die eine Brücke zur Vergangenheit schlagen. Schatten, dunkle Schatten werfen sie über das helle Bild.

Ich schreibe Dir von hier aus wieder, sobald ich Zeit und Sammlung und innere Ruhe gewonnen habe, um mich kürzer fassen zu können als heute. Bis dahin behalte in gutem Andenken

Deinen Bruder Axel.«

*

Später als sonst verließ Axel Groll das Hotel. Beim Pförtner, der in einem großen Lagerraum an der Nordseite des mächtigen Gebäudes Rodelschlitten und Schneeschuhe aufbewahrte, nahm er seine Ausrüstungsstücke in Empfang. Obwohl das Thermometer neben dem Eingang noch immer zwölf Grad unter dem Gefrierpunkt anzeigte, empfand er keine Kälte. Wenigstens nicht auf der vom Sonnenlicht übergossenen Straße, die durch das Dorf nach Campfèr führt. Den beim Segantini-Museum emporführenden steilen Serpentinenweg zur Ober-Alpina nahm er in ruhigem Schritt, die Ski auf den linken Schulter tragend, in der Rechten die Stöcke. Als er die Höhe erreicht hatte, legte er die Ski an, und in langen Zügen ging es dann vorwärts.

Das Übungsfeld, das sich rings um das Schweizerhaus auf der Kuppe der Ober-Alpina hinzog, war stark besucht. Die Sonne blendete gewaltig. Axel Groll mußte seine rauchgraue Schneebrille aufsetzen, um Ausschau zu halten. In verschiedenen Gruppen verteilten sich die Skiläufer über das Feld. Man hörte in der klaren, den Schall tragenden Luft das Lachen und Rufen schon weither. Am Westabhang, in einer Gesellschaft von Engländern, befanden sich mehrere Damen, die ihre ersten Versuche im Skilauf anzustellen schienen.

Ein Durcheinander von Armen, Beinen, Stöcken und hilflos in die Luft ragenden Ski krabbelte sich dann allmählich aus dem Schnee heraus.

Eine putzige Figur gab ein etwas angejahrter Herr ab, der sich dem von einem Engadiner Skilehrer abgehaltenen Kursus angeschlossen hatte. Soeben hatte er im Schnee seine Mütze und seine Schneebrille verloren, aber er versuchte den Start immer von neuem wieder. Sein weißblondes, dünnes Haar mit der weißen Glatze gab einen lustigen Gegensatz zu dem von der Anstrengung dunkelroten Gesicht. Nach jedem Sturz in den Schnee sah man seine kurzen Beine verzweifelt mit den langen Ski durch die Luft krebsen. Der Lehrer, der sich in seinem knappen, dunkeln Anzug scharf gegen die Schneelandschaft abzeichnete, sauste heran, hielt mit einem kurzen Schwung dicht neben der »Unfallstelle« und half dem Neuling heraus.

»Oh, God –!« stöhnte der dabei, »das ist härtere Arbeit, als ich dachte!«

Jeder fand hier für seine unfreiwilligen Purzelbäume ein dankbares Publikum. Der Holländer hatte Humor genug, sich hineinzufinden. Aber dem lachenden jungen Ding, das an einer Startkanzel neben dem Schweizerhaus stand, drohte er in komischem Zorn: »Du bist schuld, Willemintje! Du hinderst mich mit ausgesuchter Tücke!«

»Im Gegenteil, Onkel Jan. Ich dirigiere dich bei jeder Abfahrt mit einem segnenden Blick.«

»Das kann ich mir vorstellen.« Er zeigte auf sie und sagte halb geheimnisvoll, halb aufgebracht zu dem Engadiner: »Mal' occhio!«

Darüber wurde nun in der ganzen Gruppe hell gelacht.

»Herr Mayn, Herr Mayn, nun sind Sie wieder daran!« rief die junge Holländerin in lustigem Ton.

Der Berliner Jurist war schon von oben bis unten mit festklebendem Schnee bepflastert. »Ich bin doch kein Kautschukmensch!« rief er scheinbar entrüstet. »Wenn ich andauernd meine Beine verwechsle, so gibt es schließlich einen heillosen Wirrwarr!«

Der Engadiner bezeichnete den vorgeschritteneren Schülern eine besonders lange Strecke mit verschiedenen Hebungen und Senkungen, die in einem einzigen Zuge genommen werden mußte und einen gewissen Mut verlangte. Hüben und drüben von der schluchtartig durch Schneeüberhänge hinabführenden Bahn bildeten neugierige Zuschauer aus allen Gruppen Spalier.

»Achtung!« klang von oben Willemintjes Ruf über die weite Fläche.

Gleich darauf startete der Lehrer. Er sauste mit Eisenbahngeschwindigkeit die ganze erste Halde hinab, die sich gegen einen Abgrund senkte, benutzte aber rechtzeitig einen kleinen Schneewall, der in der Bahn lag, um mit neuem Schwung eine andere Richtung zu nehmen, stieß sich zum zweiten Male ab, schoß über die nächste Hebung hinweg, führte in der Luft eine kurze Linkswendung aus und stand dann wie aus der Pistole geschossen fest und aufrecht im Schnee, das Gesicht den oben harrenden Zuschauern zugekehrt. Grüßend winkte er ihnen zu.

Allgemeines »Bravo!« folgte.

»Aufgepaßt!« rief da eine lustig erregte Frauenstimme hoch oben vom Schweizerhaus her.

Alles wich zur Seite – alle Blicke hefteten sich an die schlanke Mädchengestalt, die neben der Holländerin auf der Startkanzel erschienen war.

Dr. Groll, der inzwischen oben bei dem Schweizerhaus angelangt war, erkannte Lore Englhofer.

Den ganzen Abhang, eine Strecke von drei-, vierhundert Meter, nahm sie in genau demselben Bogen, wie zuvor der Engadiner; wie Puder stäubte der Schnee nach beiden Seiten. Kaum ein paar Meter von dem Engadiner entfernt hob sich die leichte Gestalt, den Schwung einer kleinen Erhöhung benutzend, in die Luft, führte die Wendung aus – und hielt in kerzengerader Haltung. Lachend winkte sie ihrer Freundin zu, die oben den Start beherrschte.

Wieder gab's lebhaften Beifall. Auch von den anderen Gruppen waren neue Zuschauer herübergekommen.

»Platz für Mister Biddle!« rief Willemintje den Skiläufern zu, die noch rasch die Bahn kreuzten, um die grelle Sonne in den Rücken zu bekommen.

Der junge Amerikaner prüfte ein paar Sekunden lang die Strecke mit ruhigem Blick, dann stieß er sich ab. In guter Haltung fuhr er durch die erste Senkung. Aber noch bevor er an die gefährliche Biegung kam, geriet er durch eine ungeschickte Bewegung ins Schwanken. Er hob beide Arme in die Luft, schlug plötzlich um und flog kopfüber in den Schnee.

Von den Skiläufern an der Abfahrtstelle schien nun vorläufig keiner den Mut zu haben, dem Amerikaner zu folgen.

Willemintje machte es diebischen Spaß, die Zagenden zu necken. »Nur keine Angst! Da ist schon ein Bein von Mister Biddle zu sehen – da das andere! – An die Arbeit, meine Herren!«

Der lange, dürre Baron Kamerlander, der in seinem knapp sitzenden Sportanzug an all die Bilder erinnerte, die von ihm als Herrenreiter in den Wochenschriften zu sehen waren, zuckte die Achsel. »Wenn Sie's glücklich macht, Gnädigste, dann werd' ich nicht so ungalant sein, mich auszuschließen. Aber ein ehrlicher Jagdgalopp ist mir offen gestanden lieber!«

»Und Sie, Herr von Genzmer?«

Dem jungen Flieger ließ es natürlich auch keine Ruhe. »Die kleine Wetterhexe mit ihren grünen Nixenaugen soll sich doch nicht lustig machen dürfen!«

Der Holländer stimmte dröhnend in das Lachen ein. »Hörst du, Willemintje? Eine Wetterhexe bist du, und grüne Nixenaugen hast du!«

Sie hob sich auf ihren Ski auf und nieder und machte gegen Jonckbloet den Ansatz zu einer Langennase.

Der Abhang war in der Tat so steil, besonders in der ersten Hälfte, daß es für Anfänger fast ausgeschlossen schien, die Prüfung zu bestehen. Kamerlander und Genzmer unterhandelten noch.

Axel Groll, der die Strecke täglich genommen hatte, wurde nun doch vom Sportfieber miterfaßt. »Es handelt sich nur darum, die erste kleine Kanzel dort unten ganz scharf im rechten Winkel zu schneiden«, sagte er, auf den kleinen Schneewall dicht vor der Absturzstelle von Mr. Biddle zeigend.

»In der Theorie«, sagte Genzmer. »Sie glauben nicht, wieviel Ratschlägen ich schon gefolgt bin, an den letzten Nachmittagen, aber ich kam immer nur zwanzig Meter weit, dann flog ich kopfheister.

Kamerlander ärgerte sich, von dem jungen Arzt gute Lehren annehmen zu sollen. »Gehen S'! Wann Sie den kleinen Knick da im rechten Winkel schneiden – nachher landen S' mit Gottes Hilfe in den Fichten beim Kulmhotel.«

»Ausgeschlossen!« sagte Groll.

»Aber ich bitt' Sie, ich hab' doch vorhin genau zugeschaut, wie der Engadiner da den Bogen nimmt: rechte Schulter zurück, ein bissel in die Hocke – und sofort wieder Kinn hoch!«

»Ganz falsch, ganz falsch!« mischte sich Willemintje eifrig ein. »Sie kommen nur drüberweg, wenn Sie im rechten Winkel darauf zuhalten!«

»Das heißt also, die Nase dem Abgrund zukehren«, sagte Mayn; »nein, wer sein Köppchen für einen edleren Gegenstand hält, der dankt!«

»Meine Herren«, sagte der Holländer mit rotem Kopf, »Sie werden doch der kleinen Wetterhexe nicht den Gefallen tun, das Genick zu brechen?«

Die Umstehenden lachten, soweit sie die Sprache verstanden, über die unausgesetzten Neckereien. Alle aber waren sportlich stark interessiert. Wie gewaltig die Strecke war, die es zu durchmessen galt, konnte man dem Umstand entnehmen, daß Lore Englhofer und ihr Lehrer zur Rückkehr fast eine halbe Stunde gebraucht hatten. Etwas atemlos langten sie eben an.

»Jegerl nein – jetzt hab' ich das Gesichterschneiden satt!« sagte Kamerlander voll ungeduldigen Eifers. »Und ich riskier's auf meine eigene Methode!«

Er glitt bis an den Abhang heran und stieß sich ab. Dreißig, vierzig Meter flog er in kerzengerader Richtung zu Tal. Kurz vor dem Bogen, der um die Berglehne zu beschreiben war, nahm er die rechte Schulter zurück – und lag in derselben Sekunde schon im Schnee, zweimal um die eigene Achse gewirbelt. Nur die mageren Beine mit den Ski und die Spitze des Stocks ragten heraus.

»Es war seine eigene Methode«, sagte Mayn, »aber sie war falsch.«

Genzmer war jetzt vom Ehrgeiz derart gestachelt, daß er entschlossen zum Start vorrutschte.

»Halt!« schrie Willemintje. »Genzmer, was fällt Ihnen ein, wollen Sie Ihren Vordermann überfahren?«

Kamerlander hatte sich da unten immer noch nicht herausgewickelt. Unter Prusten und Schütteln, denn der Schnee war ihm in Mund, Augen, Ohren und Nase gekommen, gab er auf die verschiedenen Fragen, die an ihn gerichtet wurden, Auskunft. Er betastete sich, beklopfte sich. »Danke der gütigen Nachfrag', es fehlt nichts. – Ich mach' Ihnen gleich Platz, Genzmer. Halten S' mehr links. Da drüben ist der Schnee vielleicht noch ein bissel weicher ...« Er war fest überzeugt, daß Genzmer über die schwierige Stelle ebensowenig hinwegkam.

Und er behielt recht.

Nur sah sich die Sache bei Genzmer etwas gefährlicher an. Der junge Mann hatte zu weit nach links gehalten, flog sofort aus der Bahn und rollte direkt auf den Abhang zu.

Ein Aufschrei unter den Zuschauern erklang.

»Genzmer!« Willemintje beugte sich hastig über die Startkanzel und sah ihm nach. Ein paar Sekunden lang schien ihr Antlitz wie verzerrt – Lore Englhofer bemerkte das wohl –, aber sogleich huschte wieder ein Lächeln über ihre Züge. »Es behielt ihn nicht!« meldete sie in lustigem Tone. »Das Spiel kann weitergehn.«

Inzwischen hatte der Engadiner Axel Groll bemerkt, mit dem er schon mehrere größere Fahrten ausgeführt hatte, und sprach mit ihm über die Führung der Strecke. So kam es auch zwischen Groll und Lore Englhofer zur Begrüßung. Sie war überrascht von dem neuen Eindruck, den sie von ihm empfing. In seinem derben Anzug, barhäuptig, sonnenverbrannt, mit dem glattgeschorenen Kopf, sah er so forsch und unbekümmert aus wie der erste beste amerikanische Sportsmann. Aus den dunklen Wimpern blitzten jetzt auch die stahlblauen Augen winterfrisch und sportfreudig sie an.

»Sie haben die Strecke gut genommen«, sagte er.

»So eine Talfahrt kommt wohl gleich nach dem Fliegen. Wundervoll ist es.«

Willemintje duldete keine Unterhaltung. »Wir sind nicht zum Vergnügen hier, sondern zur Arbeit! Bahn frei! Wer ist der nächste?«

Der Start blieb leer.

»Jetzt kommt also dein Meisterstück, Willemintje«, sagte Jonckbloet schmunzelnd. »Nun, ich bin ja ein frommer Christ und wünsche allen meinen lieben Nächsten das Beste ... Aber wenn der liebe Gott mal ein gutes Werk tun wollte und dein vorlautes Plappermäulchen so recht tüchtig voll Schnee stopfte –«

»Und die Ohren auch, Onkel Jan!«

»– es wäre mir eine großartige Genugtuung!«

»Halt!« rief der Engadiner, als die junge Holländerin zur Abfahrtstelle herüberrutschte. »Wenn Sie den Schluß machen wollen – noch eine Nummer vor Ihnen!«

Willemintje bemerkte, daß Groll sich anschickte, neben dem Skilehrer an den Start zu treten.

»Jetzt – auf den rechten Winkel bin ich am meisten gespannt«, sagte Kamerlander zu seinem Schicksalsgenossen.

Axel Groll und der Skilehrer traten mit etwa fünf Meter Zwischenraum am Start oben an.

»Wollen die denn beide –?!« fragten einige Zuschauer.

Der Engadiner zählte ruhig bis drei. Dann stießen sie ab und schossen blitzschnell – im gleichen Abstand voneinander bleibend – den ersten Abhang hinunter. Bis zum letzten Augenblick hielten sie rechtwinklig auf den langgezogenen Schneewall zu, der sich dicht vor dem südwestlichen Abhang hinzog. Es sah aus, als müßten sie beide kopfüber ins Wesenlose. Aber der Ruck, den sie sich in derselben Sekunde gaben, brachte sie glatt in eine breitere Rinne. Zweimal, dreimal entschwanden sie den Augen der oben Versammelten, die ihnen voll Spannung nachblickten. Sie durchsausten ein paar Schneemulden, benutzten aber den Schwung immer wieder für die nächste Steigung. Ein kurzer, jauchzender Aufschrei des Engadiners durchschnitt die Luft – und im selben Augenblick sah man die beiden Gestalten in die Hocke sinken, wieder emporschnellen – in der Luft die Wendung ausführen – und dann wie angewurzelt im Schnee stehen.

Alle Skiläufer klatschten.

»Es sah gut aus«, sagte Jonckbloet zu dem neben ihm stehenden Berliner Juristen.

»Hm, sie hatten sich wohl verabredet«, meinte der trocken.

»Wochenlang geübt, wollen Sie sagen!« rief Willemintje eifrig. Der Schneid, mit dem diese Paarfahrt ausgeführt war, ließ ihr keine Ruhe. »Lore – was meinst du?« fragte sie eifrig, die Hand nach ihr ausstreckend.

»Wir zwei?«

Der Sporteifer hatte ihnen beiden das Blut in die Wangen getrieben. Wie sie so in ihren flotten Sportkostümen, barhäuptig und sonnenverbrannt nebeneinander standen, boten sie ein reizendes Bild. Die Tracht verjüngte: wie Backfische sahen sie aus. Lore warf einen prüfenden Blick über den ersten Abhang, wich zwei Schritt weiter nach links und bezeichnete ihrer Freundin die Punkte, auf die sie zuhalten mußten.

Inzwischen hatte Jonckbloet den Standplatz eingenommen, den seine Nichte kurz zuvor verlassen, er pflanzte sich dort breitbeinig auf und rief den beiden Damen im behäbig gelassenen Tone eines englischen Starters zu: »You are ready?«

»Yes we are!« klang's lustig zurück.

»Go on!«

Und die leichten Gestalten glitten über den Schnee hinunter, huschten über die erste Welle hinweg, als ob sie Flügel hätten, kamen mühelos in die neue Richtung – und durch die Mulden und über die Böschungen des weiten Geländes hielten sie die Richtung der Skispuren ihrer Vorderleute genau inne.

»Bravo! Bravo!« riefen die Zuschauer.

Jetzt hatten sie noch knapp hundert Meter bis zu der Stelle, wo das Paar vorhin mit dem Telemarkschwung die Fahrt beschlossen hatte. Sie verschwanden in der Senkung, und man hörte den hellen Juchzer der Holländerin, in den ihre Freundin sofort – um eine Terz tiefer – einstimmte. Nun schossen sie empor. Wie Taubenflattern, so sah sich ihr Emporschnellen aus der Hocke, ihre Wendung hoch in der Luft und ihr Niedertauchen an.

Sie standen.

»Großartig!« Auf der ganzen Kuppe des Skifeldes wurde Beifall geklatscht.

Auch Axel Groll und der Engadiner hatten von ihrem Standplatz unten am Waldsaum aus die sicher und in schöner Haltung ausgeführte Talfahrt mit großer Bewunderung verfolgt. Sie setzten sich sogleich in Bewegung, um zu den Damen zu gelangen.

Lore Englhofer strahlte. »Das müssen wir gleich noch einmal machen!« rief sie. »Ist noch Zeit vor dem Lunch?«

»Das wohl«, sagte Willemintje etwas gepreßt, »aber ich glaube, ich lasse es lieber ... Mein rechter Fuß tut mir weh ...« Sie wollte den Ski anheben, stieß aber sofort einen kleinen Aufschrei aus und krümmte sich vor Schmerz.

»Was hast du, Kind?«

»Stehenbleiben! Stehenbleiben!« rief der Engadiner. So rasch er konnte, näherte er sich ihr. Aber als er die Bindung seiner Ski löste und in den Schnee sprang, sank er sofort bis an den Magen ein. Mühsam arbeitete er sich die letzten Schritte bis zu ihr hin.

Willemintje biß die Zähne aufeinander. Immer wieder beugte sie sich, als ob sie den Schmerz dadurch gewaltsam unterdrücken könnte.

Von der anderen Seite kam Lore heran, vorsichtig, um mit den Ski nicht anzustoßen. »Mädel, du machst mir ja angst!«

»Der Fuß, der rechte ...« Sie brach aufstöhnend ab. Der Engadiner löste behutsam die Bindung beider Ski. Nun zeigte sich's, daß der rechte Ski beim Niederspringen sich festgeklemmt hatte: mit der Spitze war er zwischen Steine geraten, die hier unter einer nur dünnen Schneeschicht lagen. »Es ist der Fußweg, der nach Campfèr hinunterführt«, sagte er. »So – nun können Sie wieder auftreten.«

Willemintje machte einen Versuch, stieß aber einen kurzen Schmerzensschrei aus und hielt den Fuß in der Schwebe.

Der Engadiner rief Groll zu, der sich inzwischen von den Ski befreit hatte: »Am besten, die Dame versucht sich zu legen. Rücken Sie rasch alle sechs Ski nebeneinander. – Ja, so recht. Mit kurzen Abständen.«

Als endlich auf dem Schnee eine Fläche geschaffen war, auf der man sie niederlassen konnte, schloß sie erschöpft die Augen.

»Sie wird ohnmächtig!« schrie Lore entsetzt.

»Der Schmerz. Ja. Es ist eine böse Stelle.« Axel Groll kauerte im Schnee neben der lautlos Daliegenden. Er hatte seine Handschuhe weggeworfen. Rasch löste er der Verunglückten die Wickelgamasche. »Wollen Sie mir Ihre Jacke geben?« fragte er dabei Lore Englhofer.

»Der Herr ist Arzt«, erklärte der Engadiner.

»Ich weiß«, sagte Lore. Sie hatte ihre Jacke heruntergerissen, formte daraus eine Unterlage und schob sie unter Willemintjes Fuß.

Die vom Schnee naß gewordenen und schwer zu lösenden Schnürsenkel schnitt Groll rasch mit dem Messer auf. Lore kniete auf der anderen Seite und löste das Strumpfband. Ihre Freundin rührte sich nicht. Erst als der Arzt ihren nackten Fuß in der Hand hielt und damit vorsichtig kaum sichtbare Bewegungen ausführte, hob sie den Kopf und stöhnte.

»Aber – das ist ja – unerträglich!«

»Noch eine Sekunde. – Das tut weh? – Das auch?«

»Unerträglich!« preßte sie bei jeder Bewegung hervor.

»Knöchelbruch«, sagte Groll halblaut.

»Mein armes Willemintje!,« rief Lore und tätschelte die Hand ihrer Freundin, die vor Schmerz in die Luft griff.

»Ich mache einen Notverband, gnädiges Fräulein, damit wir Sie hinuntertragen können.«

Ganz fassungslos sah ihn die Holländerin an. »Ich werde nicht laufen können? Aber das große Rennen –!«

»Regen Sie sich nicht auf. Das ist alles spätere Sorge.«

Lore und der Engadiner waren ihm behilflich, so gut es ging. Er hatte ein Taschentuch im reinen Schnee gewälzt, legte es als Umschlag um den Knöchel und benutzte dann die Wickelgamasche als Bandage. Kunstvoll schlang er sie von der Sohle über den Spann und in regelmäßigen Windungen um das Gelenk bis über die Wade hinauf. Inzwischen weitete Lore den Strumpf auf, den Groll darauf behutsam über den Notverband zog.

Der wütendste Schmerz schien sich gelegt zu haben. Willemintje sagte, schon wieder mit dem Versuch eines Lächelns: »Glück im Unglück. Ich danke Ihnen vielmals, Herr Doktor.«

In regellosen Trupps trafen jetzt die ersten Zuschauer von oben ein. Genzmer und Kamerlander hatten sofort gemerkt, daß ein Unfall geschehen war, als der Gehilfe des Skilehrers so eilig zu Tal schoß.

Der Engadiner verhandelte mit dem Lehrgehilfen in seiner italienischen Mundart. Der fuhr darauf die ganze nähere Umgebung ab, überall mit dem Stock die Tiefe des Schnees abmessend. Etwa zehn Meter weit von der Unfallstelle zeigte sich eine Biegung im Fußweg. Hier lag der Schnee hinter der Mauer kaum einen Fuß hoch.

»Wir bringen sie am besten dahin«, sagte der Skilehrer. »Da kann sie liegen, bis wir eine Tragbahre hier oben haben!«

Alle wollten helfen, aber die beiden Engadiner duldeten nicht, daß sonst jemand Hand anlegte. Auch Groll überließ den beiden die Arbeit, als er sah, wie behutsam und sachgemäß sie zu Werke gingen.

Nun gab es ein Fragen und Bedauern in der ganzen Gesellschaft. Genzmer, Kamerlander und die anderen Herren der Gruppe erklärten diese Paarfahrt für ein ganz unsinniges Wagnis. Nur Mr. Biddle meinte, bei jedem Match im Kunstlauf würde sie den Damen die Meisterschaft eingetragen haben. Dampfend von der Anstrengung – denn sie waren auf dem eilig zurückgelegten Wege immer wieder in den tiefen Schnee gestürzt und hatten sich nur mühsam herausarbeiten können – langten jetzt auch Jonckbloet und Mayn an. Der Holländer schalt seine Nichte in gutmütig brummendem Tone aus. Mayn wandte sich scharf gegen den Skilehrer: derartige halsbrecherische Kunststückchen müßten eigentlich von der Kurverwaltung verboten werden.

Lore Englhofer nahm den Engadiner und damit Axel Groll, gegen den sich die Vorwürfe ebenso richteten, in ihrer bestimmten Art in Schutz. »Daß das Kunststückchen halsbrecherisch war, das wußte ich ganz genau. Wenn jemand ein Vorwurf treffen kann, so habe ich ihn verdient.«

»Ach Lore«, wandte Willemintje ein, »wenn nicht der dumme Zufall uns den Streich gespielt hätte, würden wir die Abfahrt bei nächster Gelegenheit noch einmal versuchen.« Sie hatte sich ungeschickt gerührt und biß sich vor Schmerz in die Lippe. Dann zwang sie sich zu einem Lächeln und sagte: »Schön – war es doch!«

Eins wiederholte dem andern, was sie gesagt hatte. Es gab der Mehrzahl der Gesellschaft den frohen Mut zurück. Man hörte jetzt den Glockenschlag vom Turm der Dorfkirche durch die klare Mittagsluft. Es war Zeit, zum Lunch aufzubrechen.

Bei Willemintje blieben außer Lore und dem Arzt nur die Herren zurück, die mit in der Gruppe des Engadiners geübt hatten. Jonckbloet hielt es für seine Pflicht, der Verunglückten Gesellschaft zu leisten.

Der Skilehrer und sein Gehilfe waren mit Mr. Biddle auf dem kürzesten Wege ins Dorf abgefahren, um die Überführung der Verunglückten einzuleiten.

Lore wollte nicht dulden, daß die Herren hier so lange aushielten. »Es kann ja Stunden dauern!« stellte sie ihnen vor.

Mayn war dagegen der Ansicht, die Einheimischen würden unter allen Umständen dafür sorgen, daß die Überführung vor sich ging, während die Gäste sich in den Hotels beim Lunch befänden. »Solch ein Unfall wird hier so geräuschlos wie möglich behandelt.«

»Schließen Sie sich der geräuschlosen Behandlung an, Herr Mayn«, bat Willemintje mit einem matten Lächeln, »es wäre mir peinlich, wenn über mein Ungeschick viel gesprochen würde.«

»Geben S' sich bloß keinen falschen Hoffnungen hin, Gnädigste: Ihr Unfall bildet heut beim Lunch das angenehm gruselnde Tafelgespräch in allen Hotels«, sagte Kamerlander. »Wetten?«

»Und bis zum Diner haben Sie nicht nur einen, sondern alle beide Knöchel gebrochen«, ergänzte Mayn, »vorausgesetzt, daß bis dahin nicht ein mehrfacher Schädelbruch daraus geworden ist.«

»Sie sind ja äußerst freigebig«, sagte Genzmer, wie immer etwas gereizt gegen den Berliner Juristen.

Lore ertrug diese Reden nicht. Leise bat sie den Arzt, dafür zu sorgen, daß ihre Freundin jetzt Ruhe bekäme. Er nahm die Herren also abseits und besprach sich mit ihnen. Aber keiner wollte weichen. Vor allem wollte keiner ihm weichen.

»Es könnte doch immerhin möglich sein, daß hernach bei der Überführung noch ein Beistand nötig wird«, meinte Genzmer. »Das läßt sich jetzt noch gar nicht übersehen.«

»Um einen Ritterdienst möchte ich die Herren bitten«, sagte Lore, da sie die abwartende Haltung der Herren bemerkte. Diensteifrig kamen sie alle näher. »Ich brauche einen Schluck Wein für die Kleine.«

Sie maßen sofort die Entfernung nach beiden Seiten ab: man hatte ebenso weit hinauf zum Schweizerhaus wie hinunter zum Dorf.

»Ich schlag' einen Wettlauf vor«, sagte Kamerlander.

Genzmer hatte schon wieder die Ski angelegt. Er entschied sich dafür, die verlangte Stärkung aus dem Schweizerhaus zu holen. Auch Kamerlander. Mayn überlegte schlau: es sei weniger anstrengend, zunächst den Weg bergab zu wählen. Vielleicht trafen hernach Umstände ein, die eine Rückkehr überflüssig machten. Jonckbloet erriet seine Politik und schloß sich ihm an.

So blieb denn Axel Groll allein bei den Damen als Wache zurück. Lore atmete erleichtert auf.

»Sie Ärmster«, sagte sie hernach mit einem Anflug ihrer alten Laune, »Sie kommen als Arzt gewiß niemals zu rechten Ferien.«

Auf ihren Ton eingehend, sagte er: »Mit meiner eigentlichen Praxis hat die Sache nichts zu tun, denn mein Fach bilden ja Nervenleiden, und sie ist – hoffentlich – auch für den Chirurgen gar kein besonders interessanter Fall.«

»Hörst du, Willemintje? Du bist gar kein besonders interessanter Fall.«

»Ich stifte für drei Skikämpfe Ehrenbecher, wenn Sie recht behalten, Herr Doktor«, sagte Willemintje, sich zu einem Lächeln zwingend.

»Also wetten wir!« Lore hatte das Bestreben, die Leidende über die Wartezeit hinwegzubringen, Axel Groll verstand sie und unterstützte sie.

Die Verunglückte empfand augenblicklich fast keinen Schmerz; das Geplauder brachte sie darüber hinweg. Sie hatte sogar Freude an dem Landschaftsbild, zu dessen Genuß sie in ihrem Sporteifer den ganzen Morgen über nicht gekommen war.

Die Sonne stand gerade über ihnen. Sie wirkte so stark, daß Axel Groll seine Mütze aus der Tasche ziehen und aufsetzen mußte. Der Himmel hatte eine Böcklinsche Bläue. Eine feierliche Stille herrschte über dem weiten Schneegebiet.

»Wunderbar – diese Stimmung hier oben!« sagte Lore.

Willemintje hatte ihren Kopf gegen die vom Schnee befreite Mauer zurückgelehnt. Mit einem Anflug von Schwermut erwiderte sie: »Und aus all der Schönheit verjagt mich der einzige dumme Stoß gegen die paar dummen Steine! Ich werde nun vielleicht wochenlang liegen und die Zimmerdecke anstarren müssen! – Ist's nicht so?«

Axel Groll beschwichtigte sie: in zehn bis vierzehn Tagen könnte sie gewiß schon wieder in die Sonne, wenigstens würde sie im Schlitten ausfahren dürfen.

Heimlich verfolgte Lore dabei seine Miene. Sie wollte ergründen, ob das nur für die Leidende ein Trost sein sollte. Er begegnete ihrem Blick. Über Willemintjes Kopf hinweg verständigten sie sich so.

»Und bis du die Sonne draußen aufsuchen darfst, kommt sie ja zu dir«, tröstete Lore eifrig. »Du wirst dich auf unserm Balkon sonnen.«

»Man könnte Sie beneiden«, sagte Axel Groll. »In der Sonne liegen, ruhen, nachdenken, sich sammeln, sich hätscheln lassen – kann man's besser wünschen?«

»Ja – Spott hat man auch noch!« sagte Willemintje in drolliger Entrüstung.

»Ich meine es in allem Ernst. So ein bißchen krank sein – das ist riesig gesund.«

»Für den Hotelwirt, zugegeben, und für den Doktor und den Apotheker.«

»Am gesündesten ist's für den Kranken selber. Wahrhaftig, ich denke mir das himmlisch: so zu liegen und zu sinnen, von der Welt für ein Weilchen losgelöst, zu keiner Tätigkeit verpflichtet sein, nicht einmal zu einer Nervenarbeit. Sie sind allen Trubel los – und viele, viele Stunden, die sonst in der Unrast genußlos in die Unendlichkeit gerollt sind, die werden Ihnen nun vom Schicksal geschenkt. Die Uhr steht ein Weilchen still – ist das nicht hübsch in unserer raschlebigen Zeit?«

»Wie Sie das sagen, klingt es sehr poetisch«, meinte Lore lächelnd. »Merkst du nicht schon, daß Doktor Groll ein guter Arzt ist, Willemintje?«

Sie nickte. »Ich wittere den Nervenarzt. Aber wenn ich nur nicht so abscheulich gesunde Nerven hatte. Wie Stricke. Brutal gesund bin ich. Und darum verweigere ich den Gehorsam.«

»Den wird sich Ihr Arzt schon verschaffen«, sagte Axel Groll. »Welchen soll ich übrigens benachrichtigen?«

Rasch wechselte Lore einen Blick mit ihrer Freundin.

»Sie selbst darf ich nicht haben?« fragte Willemintje zögernd.

»Es ist nicht mein Fach.«

»Aber – wenn wir recht herzlich bitten?« sagte Lore.

»Sie setzen mich in einige Verlegenheit, meine Damen. Die ansässigen Ärzte haben doch ein gewisses Anrecht.«

»Nein – offen gestanden – es wäre mir ganz gräßlich, jetzt einen fremden Arzt nehmen zu müssen«, sagte Willemintje.

»Es freut mich, daß ich Ihnen nicht mehr fremd bin.«

»Nein – nach Ihrer ganzen Art ... Und meine Freundin kennt Sie ja schon lange.«

Nun kam Lore wieder auf das Berliner Sanatorium zu sprechen. Sie fragte ihn, wie lange er hier zu bleiben gedächte, denn er sei gewiß nur schwer von dort abkömmlich.

Allgemach war der versonnene, verträumte Zug wieder aus seinem Antlitz gewichen. Er schwieg eine Weile. Dann sagte er, mit einer Art Trotz seine Gedankenkette abreißend: »Ich habe meine Verpflichtungen dort gelöst. Ganz und gar. Ob ich meine Tätigkeit in Berlin überhaupt wieder aufnehme, ist fraglich.«

Überrascht sah ihn Lore an. »Das ist ja aber ein sehr einschneidender Entschluß. – Und was gedenken Sie jetzt zu tun?«

Er atmete tief auf. »Die Sonne genießen. – Und in den Zwischenpausen kann ich ja Fräulein de Steegs Knöchelbruch behandeln.«

Man hörte schon seit einiger Zeit das Schürfen von Ski, dazwischen Rufen.

Kamerlander und Genzmer kamen vom Schweizerhaus zurück. Jeder von ihnen brachte eine Flasche und ein paar Gläser; sie hatten große Mühe, das Gleichgewicht zu bewahren, und mußten immer wieder bremsen, um nicht mitsamt Flasche und Gläsern einen Purzelbaum in den Schnee zu schießen.

Schließlich blieb Genzmer Sieger.

Er hoffte auf huldvollen Dank, sah sich aber enttäuscht. Kaum, daß Willemintje Kenntnis von seiner Ankunft nahm.

Sie hatte den Kopf zurückgelehnt und betrachtete gedankenvoll das wieder sehr ernst gewordene Antlitz des junger Arztes. Und dann schweifte ihr Blick zu ihrer Freundin. Ein tieferes Verständnis hatte sich da seltsam rasch angebahnt. Indem sie den gramvollen Zug beobachtete, der sich beim Schweigen um Axel Grolls Mund legte, meldete sich eine seltsame Angst in ihr. Etwas Unheimliches haftete ihm jetzt an. Entging das Lore?

»Was ist dir mit einmal, Liebling?« fragte Lore.

»Mich friert.« Sie nahm das Glas Wein, das Genzmer ihr reichte, und trank es fast leer.

»Es sind nun doch die Nerven, gnädiges Fräulein«, sagte Axel Groll. »Der Schreck und der Schmerz. – Aber ich höre da schon einen Schlitten. Drüben auf dem Weg von Campfèr. Das sind gewiß unsere Leute.«

»Gottlob.«

Mit großer Geschicklichkeit besorgte die mit dem Schlitten heraufgekommene kleine Hilfsmannschaft die Überführung der Verunglückten durch den Schnee. Langsam ging das Gefährt zu Tal, und Lore Englhofer schloß sich ihm an, umgeben von ihrem »Gefolge«.

Als sie unten anlangten, war die Lunchzeit vorbei. Die Gäste verließen gerade die Hotels, um die Bobbahn und die Rodelbahnen aufzusuchen. Die verschiedenen Trupps, an denen man vorbeikam, blieben stehen. Flüchtige Hotelbekanntschaften erkundigten sich teilnehmend nach der Art des Unfalls.

Einige Damen, für die Fräulein Englhofer einen Gegenstand fortgesetzter Aufmerksamkeit bot, stellten fest, daß sich ihr »Gefolge« seit dem Tanzabend um ein Mitglied bereichert hatte. Und man suchte in Erfahrung zu bringen, wer dieser Fremde war.

*

An diesem Abend wurde auch in der Bar nach der neuen Erscheinung gefragt. Jonckbloet war da an einen Tisch mit bunter Gesellschaft geraten. Er musterte die beiden Damen, die sich inmitten der Runde befanden, mit einigem Schmunzeln. Sie waren auffällig, aber kostbar gekleidet. »Eine Baronin Soundso aus Finnland!« sagte sein Nachbar, als er sich nach der erkundigte, die die Unterhaltung führte. Die Herren tauschten dabei einen Blick – und Jonckbloet war sofort im klaren. Mit den Berliner Verhältnissen war die finnische Baronin überraschend gut vertraut. Je weiter der Abend vorschritt, desto ungestörter wurden gemeinsame Berliner Bekanntschaften durchgehechelt. Jonckbloet staunte über den ungeschminkten Ton. Über den neuesten Zuwachs von Fräulein Englhofers »Gefolge« wurden allerlei Geschichtchen erzählt. Seine heimliche Verbindung mit der blonden Frau Gertie Selle sei bekannt gewesen. Der hatte sie hier, der dort zusammen gesehen, während der Gatte auf Reisen war. Man sprach auch über den Selbstmord von Frau Gerties Mann und die Wut der Verwandten, daß Frau Gertie nun unangefochten die lustige Witwe und die lachende Erbin spielen sollte, während sie leer ausgingen. Die finnische Baronin rauchte eine Zigarette nach der andern. Auf ihren sonst ziemlich bleichen Wangen hatten sich dunkelrote Flecken gebildet. Sie ließ sich vom Mixer das dritte Glas eisgekühlten schwedischen Punsch reichen und sagte spöttisch: »Wenn sich das Sportgirl einbildet, daß sie sich den auch noch für ihren Triumphschlitten anbändigen kann, dann ist sie auf dem Irrweg.«

»Aber er geht tapfer ins Zeug, der junge Herr!« warf Jonckbloet ein.

»Das tut er bloß so auffällig, um den Verdacht abzulenken.«

»Welchen Verdacht?«

Die Finnländerin hob das Glas und saugte am Strohhalm. Dann rauchte sie schweigend weiter.

Einer sah den andern an. Der und jener zwinkerte mit den Augen. Jonckbloet wußte bald genug; wenigstens glaubte er aus den halben Andeutungen, die im Verlaufe des Gesprächs fielen, den Zusammenhang erraten zu können.

Er brannte darauf, bei seinem Pflichtbesuch, den er seiner ans Lager gefesselten Nichte anderntags abstatten mußte, seine allerneueste Wissenschaft anzubringen.

Von zwölf Uhr an bis zum Lunch hatte Lores Jungfer unausgesetzt Besuch anzumelden. Damen und Herren kamen mit Blumen, die sie in dem dicht neben dem Hotel befindlichen Laden zu Liebhaberpreisen erstanden hatten. Für Willemintje war die Couch aus Lores Schlafzimmer auf den Balkon gerückt worden. An Eislauf war für diesen Winter natürlich nicht mehr zu denken. Der Leidenden war das bisher verheimlicht worden: Lore ging jedem Besuch ins Vorzimmer entgegen und sagte es ihm. Aber Willemintje merkte den frommen Betrug bald.

Als Jonckbloet, mit einem Riesenstrauß weißer Nelken ausgerüstet, auf den Balkon trat und sein Sprüchlein aufsagte – da lachte sie ihn aus. »Ich bin in meinen Lehr- und Wanderjahren auch einmal Pflegerin im Schiffslazarett gewesen, Onkel Jan, und weiß Bescheid. Drei Wochen Liegen bedingt drei weitere Wochen, um erst wieder richtig laufen zu lernen. Aber still davon vor meiner Freundin. Es macht ihr Freude, mich zu täuschen.«

Seltsames Völkchen! dachte Jonckbloet bei sich.

Wenn Willemintje den Kopf nach rechts wandte, konnte sie zwischen den kurzen Säulen, die das Balkongeländer trugen, die Eisplätze vom Grandhotel und vom Palasthotel übersehen, weiter unten auch den dick beschneiten See, auf dem seit heute früh große Trupps Arbeiter damit beschäftigt waren, eine Rennbahn frei zu schaufeln. Ein riesiges Oval von mehreren Kilometern war schon durch Pfähle auf dem Eise festgesteckt. Auf den Eisplätzen der Hotels bewegten sich Hunderte von Gästen nach dem gefälligen Rhythmus des Walzers, den die Hauskapelle spielte.

Auch Axel Groll befand sich unter den Läufern. Er hatte heute, um seiner Patientin nahe zu sein, keinen Skilauf unternommen.

Lore stand an der Brüstung und verständigte sich mit ihm durch eine Art Zeichensprache. Sie mußte dabei, der grellen Mittagssonne halber, mit einer Hand die Augen schützen.

»Groll empfiehlt dir dringend, dich nicht zu rühren, Willemintje!« Und sie nickte dem Läufer da unten wieder lebhaft zu, zum Zeichen, daß die Kranke Gehorsam gelobte.

So ward nun der junge Arzt der Mittelpunkt der Unterhaltung. Lore ließ einfließen, daß sie ihn schon vor Jahren gesehen hatte. »Es hatte mir doch keine Ruhe gelassen, festzustellen, ob er wirklich der Sohn des alten Geheimrats ist. Zu sehr verändert kam er mir vor ...« Sie unterbrach sich: »Was hast du, Willemintje?«

»Gar nichts, Liebling. Onkel Jan setzt nur solch pfiffige Miene auf. Die ärgert mich. Sooft von Doktor Groll die Rede ist.«

»Es ist kein Durchschnittsmensch«, sagte Lore ruhig. Sie hatte sich so gesetzt, daß sie durch das Balkongeländer den ganzen Eisplatz im Auge behalten konnte.

»Du hast also gestern abend noch so fabelhafte Bekanntschaften in der Bar gemacht, Onkel Jan?« fragte Willemintje.

Jonckbloet verdrehte die Augen und küßte seine Fingerspitzen. »Eine finnische Baronin – ganz köstliche Erscheinung. Sie hat ein paar Winter hindurch ganz Berlin unsicher gemacht und kennt fast sämtliche Romane, die sich da unter den Kronleuchtern und in den Dämmernischen abgespielt haben.«

»Ich danke – die möchte ich nicht alle kennen«, sagte Willemintje.

»Hm. Den vom Doktor Groll – den hat sie uns natürlich auch zum besten gegeben.«

Beide Damen blickten auf.

Er tat, als merkte er's nicht. »Ja, es war riesig anregend. Wir saßen so bis gegen ein Uhr.«

»So sage doch, Onkel Jan – um was für einen Roman handelt sich's da?«

»Ei, ich denke, du möchtest die Geschichten gar nicht kennenlernen?« Es war ihm eine Genugtuung, sie beide ein Weilchen zappeln zu lassen. Zug um Zug rückte er dann näher. Schließlich nannte er auch den Namen Selle.

Lore hatte ihr Gesicht abgewandt. Aber Willemintje bemerkte, daß aus ihren Wangen alles Blut gewichen war.

»Weißt du, Onkel Jan«, sagte Willemintje fast geringschätzig, »die Kneipgesellschaften der Herren sind in ihrer Klatschsucht vielleicht noch gefährlicher als die berüchtigten Kaffeeschlachten der alten Tanten.«

»Den richtigen Zündstoff hat gestern abend kein Herr geboten; den verdankten wir der edlen Weiblichkeit.«

»Sie muß schon sehr edel sein, diese Weiblichkeit. – Nein, ich bitte dich, wie kann man ein solches Gerede anregend finden. Vielleicht ist kein Wort davon wahr.«

Er schmunzelte. »Bitte, ich hatte ja das Pärchen in Berlin zufällig selbst gesehen. Auf dem Diplomatenball. Tja. Ich hab' dir davon doch erzählt. Nicht? Das war eine tolle Sache. Ganz tolle Sache.«

Lore hatte sich erhoben. Sie preßte die Lippen aufeinander. Willemintje sah, wie es in ihr arbeitete. Aber Jonckbloet war einmal im Zuge und gefiel sich in seiner Rolle.

»Sie ist schon ein Teufel, die famose Frau Gertie. Ihr Herr Gemahl möcht' ich nicht gewesen sein. Und daß der Ärmste sich gerade den Hausfreund seiner Frau zum Hausarzt ausgesucht hat ... Na, die Unvorsichtigkeit hat sich ja gerächt.«

»Onkel Jan – was redest du da zusammen!« Willemintje hatte sich hastig aufgerichtet; ein jäher Schmerz erinnerte sie aber an ihre Verletzung.

Lore haßte diesen behäbigen, boshaften Menschen. Und doch zwang er sie in seinen Bann. »Das klingt ja so, Mynheer van Jonckbloet, als ob Ihre Freundin aus der Bar andeuten wollte: Herr Groll habe als Arzt – er habe – zusammen mit ... Nein, man kann das gar nicht ausdenken!«

Noch immer behielt Jonckbloet die Maske des überlegenen Plauderers bei. »Was wollen Sie, meine Damen, der Mann starb seiner Frau eben sehr gelegen. Wenn die Schlangendame dabei nur nicht so unverschämt viel geerbt hätte. Sehen Sie, das ist den übrigen Hinterbliebenen das Verletzendste. Und darum verfolgen sie jetzt die Sache.«

»Sie verfolgen – welche Sache?«

Ein Weilchen schwieg Jonckbloet. Das pfiffige Schmunzeln wich aber nicht von seinem Antlitz. »Haben Sie nicht bemerkt, daß hier im Hotel ein gewisser Herr Mayn sich auffallend viel um den jungen Seelenfreund der lustigen Witwe kümmert?«

»Der Berliner?«

»Die Baronin sagt, er sei einer der gerissensten Juristen. Wahrscheinlich hätten ihn die Verwandten von Selle dem Flüchtling nachgeschickt, meint die Baronin. – Ei, da läutet's schon zum Lunch, ich muß noch meine Briefe erledigen. – Leben Sie wohl, meine Damen. Und Vorsicht, Willemintje, mit deinen zarten Fesseln. Es wäre ja ein Jammer, wenn dein junonisches Gleichmaß gestört bliebe. Au revoir, meine Damen, au revoir.«

Willemintje hatte beide Hände unter die Pelzdecke gesteckt. Er machte aber gar nicht erst den Versuch, ihr zum Abschied die Rechte zu bieten. Schmunzelnd erhob er sich, sichtlich befriedigt von seinem Erfolg, und verließ mit gemütlich-überlegenem Zunicken den Balkon.

Sie blieben schweigend zurück.

Sein Schritt verhallte im Zimmer, im Vorzimmer. Schwach hörte man noch das Zuklappen der Flurtür.

Lore hatte sich gegen die Balkonwand gelehnt. Sie war wie gelähmt. Ihre Freundin streckte die Hand nach ihr aus. »Denk doch nicht mehr daran, Lore! Das darf man in seinem Hirn erst gar nicht aufkommen lassen! Das ist ja so ungeheuerlich! – Und mit welcher Freude er das alles vorgebracht hat, mit welchem Behagen! – Oh, pfui!« Sie schüttelte sich. Dabei rührte sich ihr Fuß – und der scharfe Schmerz veranlaßte sie, die Zähne zusammenzubeißen.

»Er kommt mir nicht mehr über die Schwelle«, sagte Lore tonlos. – »Nicht mehr über die Schwelle!« Und dann bedeckte sie Stirn und Augen mit den Händen. Als könnte sie damit die häßlichen Bilder von sich bannen, die ihre Phantasie aufpeitschten.

*

Das Schwarze Brett des Bobklubs, das im Grand- Hotel rechts neben den Fahrstühlen hing, war dicht umlagert: die umfangreichen Schneearbeiten waren beendigt, heute wurde auch der obere Teil der Bobbahn für die Mitglieder freigegeben. Das war für viele ein aufsehenerregendes Ereignis. Gleich nach dem Lunch stapfte alles zum Kulmhotel und von da zum Start.

Axel Groll hatte schon als Student den Bobsport ausgeübt. Der junge Mr. Biddle war in jenem Halbjahr Gasthörer an der Breisgauer Hochschule, tauchte in der dortigen aber nur selten auf, desto häufiger bei allen Wintersportübungen, in denen er bald als unerreichter Meister galt.

Beim Skilauf auf der Ober-Alpina hatten sie ihre Bekanntschaft erneuert. Es war da aber nur zu ein paar flüchtigen Worten gekommen. Auf dem Eisplatz fuhr nun Mr. Biddle an Axel Groll heran und sagte formlos und geradezu, wie es seine Art war: »Wenn Sie wollen eintreten in die Mannschaft vom Bob ›Soleil‹, dann Sie müssen sich melden sogleich im Klub. Start ist zwei Uhr dreißig.«

Axel Groll war erfreut, daß der alte Bekannte sich seiner annehmen wollte. »Wer ist Führer, Mr. Biddle?«

»Ich. Bisher wir haben gehabt eine crew immer wechselnd. Das ist nun unmöglich. Die Bahn ist schwer. Jetzt wir müssen haben eine crew, die trainiert alle Tage. Vier Gentlemen.«

»Sind die Herren alle einverstanden?«

»Gestern wir haben ausgelost die crew. Sie sind gekommen dazu, und Sie haben bestanden das Examen. Aber Sie müssen sich entscheiden sofort. Kommen Sie, denn ich will Sie einschreiben in die Liste.«

Im ersten Augenblick vermutete Axel Groll noch, die Aufforderung sei von Fräulein Englhofer veranlaßt, die ihm für sein Einspringen als Arzt eine Aufmerksamkeit erweisen wollte. Hernach erst merkte er, daß es Mr. Biddle bloß darauf ankam, rasch Ersatz für Mayn, den Berliner, zu finden. Dem Bobsport gehörte seine ganze Schwärmerei, also nahm er ohne Umstände an.

Mr. Biddle nickte. »All right. Dann ich übertrage Ihnen das Amt des Bremsers.«

Nach dem des Führers war dies Amt das wichtigste innerhalb der Bobmannschaft. Den zweiten und dritten Platz auf dem Schlitten hatte der Amerikaner Kamerlander und Genzmer zugedacht.

In der an den Eisplatz stoßenden Vorhalle wechselten sie die Schlittschuhstiefel, dann fuhren sie mit dem Aufzug zum Erdgeschoß des Hotels empor.

»Ich habe freilich noch wenig Fühlung mit den anderen Herren«, sagte Axel Groll unterwegs.

Biddle meinte überlegen, Kamerlander und Genzmer seien beide »very good fellows« und wer sich nicht füge, den könne er in der crew nicht brauchen.

So zahlte Axel Groll im Büro des Klubs seinen Mitgliedsbeitrag, und Biddle trug seinen Namen in die Liste ein.

Seiner neuen sportlichen Verpflichtung eingedenk, erhob sich Axel Groll noch vor Schluß des Lunch, um zuerst seine Patientin zu besuchen, bevor er das Hotel verließ.

Der Tisch von Lore Englhofer und ihrer Freundin war heute leer geblieben. Der Anblick der fröhlichen jungen Damen hatte ihm ordentlich gefehlt. Er traf oben Willemintje allein ...

War es die festliche Wirkung der Sonne, die über der wunderbaren Schneelandschaft lag und den Balkon und das schmucke Zimmer überflutete, war es der Umstand, daß Lore Englhofers herzliche Art, ihre Frische und Natürlichkeit ihn aus der trüben Vergangenheit in die lebhafte Sportstimmung gerissen hatte: wie er so mit seinen stahlblauen Augen, braungebrannt, aufrecht, ein fröhliches Lächeln auf den Lippen, an Willemintjes Lager trat, schien er ihr ganz verwandelt.

Willemintje hatte in ernsten Gedanken gelegen. Er gab sich Mühe, sie aufzuheitern, aber sie blieb verschlossen. Während er mit dem Wegpacken des Umschlags beschäftigt war, berichtete er auch von Mr. Biddles Einladung. Willemintje war bestürzt; sie lauschte nach dem offenen Fenster des Nebenzimmers. Lore weilte noch in ihrem Zimmer.

Sprechen konnte Willemintje zunächst überhaupt nicht. Axel Groll hatte begonnen, das gebrochene Glied leicht zu massieren. Er führte das ungemein vorsichtig und geschickt aus, doch die Patientin verging fast vor Angst. Grolls gutmütiger Zuspruch während der Arbeit, schon seine Stimme, war indes so beruhigend, sein Ton so herzlich, dabei seine Hand so geschickt, daß Willemintje allmählich wieder Zutrauen fand. Und doch wollte sie den inneren Widerstand noch nicht aufgeben. Unentschlossen lauschte sie nach dem Nebenzimmer.

»Sie haben noch etwas auf dem Herzen, gnädiges Fräulein?« fragte er, ihre Hand festhaltend. »Einen Wunsch, einen Befehl?« Er lächelte. »Oder einen Stoßseufzer? Manchmal empfindet man's als seelische Befreiung, wenn man bloß ›Himmeldonnerwetter‹ sagen darf.«

»Nein, ich – ich bin mir selber nicht klar – ich möchte nicht, daß meine Freundin ...«

Axel Groll setzte sich noch einmal zu ihr. »Sie möchten nicht, daß Ihre Freundin erfährt, was Sie jetzt ausstehen. Damit sie sich nicht ängstigt. Ja, ist es das?«

»Nein, nein ... Wie kommen Sie auf so etwas?«

»Es liegt ja nicht fern. Bei Menschen, die einander gut sind. Da muß der Arzt oft ein bißchen Komödie mitspielen.«

»Auf meine Freundin müssen Sie das nicht anwenden.«

»Allerdings – wehleidig ist Fräulein Englhofer nicht. Das sah ich gleich oben auf der Alpina. Man merkt das väterliche Blut.« Er sann ein paar Augenblicke vor sich hin. – »Ist nicht auch die große Thaw-Riverbridge in Schottland von Englhofer gebaut? Über die fuhr ich einmal mit der Bahn. Und ein paar Wochen später kam ich mit dem Dampfer darunter durch. Diese gewaltigen Pfeiler, diese Spannungen. Überwältigend, atemberaubend –, dabei ein ganz neuer Schönheitsbegriff. Das Werk wurde dann Vorbild für andere Mammutbrücken. Er war nicht nur ein genialer Ingenieur – auch ein großer Mensch muß er gewesen sein. Es tut mir jetzt leid, daß ich ihm damals nicht nähergekommen bin. Haben Sie ihn eigentlich noch gekannt?«

»Ich? Nein. Damals – mein Gott – damals steckte ich ja noch so tief im Elend.«

»Im Elend?«

»Wissen Sie denn nicht? Hat es Ihnen keiner der Herren gesagt?«

»Ich hab' mit Fremden hier noch kaum ein paar Worte gewechselt.«

»Ich war als sechzehnjähriges Ding von Hause fortgelaufen, mußte mir mein Brot selbst verdienen, schließlich war ich Stewardesse – da lernt' ich Lore Englhofer kennen. Die schützte mich, rettete mich. Sie machte ihre Freundin, ihre Vertraute aus mir. – Sehen Sie, und darum will ich sie jetzt schützen ... Es soll nichts an sie heran, was nicht rein und edel und wahrhaft ist ...« Sie brach ab und schluckte. Sie fühlte, daß ihre Nerven überreizt waren. Unzufrieden mit sich, legte sie den Kopf zurück und schloß die Augen.

Er hatte die Hand auf ihre Stirn gelegt; in der anderen hielt er ihre Rechte, die noch leise zuckte. Gutmütig, herzlich sprach er ihr zu. Wie man ein Kind beschwichtigte. Und auch als er gegangen war, wirkte der beruhigende Klang seiner Stimme auf ihre Nerven.

Endlich rührte sich's im Zimmer. Lore kam auf den Balkon heraus. Sie hatte den größten Teil der Unterredung mit angehört. Und auch sie war von ihm bezwungen.

»Seltsam«, sagte sie, tief aufatmend.

Sie stand ein Weilchen in der Sonne am Geländer, den Kopf aufstützend, und blickte in die helle Schneelandschaft hinaus. Unten auf den Eisplätzen befand sich im Augenblick kein einziger Läufer. Mit Schaufeln und Besen fegten die Arbeiter, die über ihre Stiefel dicke Lumpen gewickelt hatten, die Bahn glatt. Tiefe Stille herrschte.

Willemintje hatte die Augen geschlossen. »Seine Stimme ist gut«, sagte sie, weich gestimmt. »Ich wollte mich zuerst wehren – aber dieser Stimme muß man folgen.«

Lore nickte. »So einfach und sachlich spricht er. Und doch überzeugend.«

»Warum soll man nicht lieber seinem Gefühl trauen? Dieser Klatsch dürfte einen doch nicht verwirren.«

»Du hast recht, Willemintje. – Es liegt Herz in seiner Stimme.«

So waren sie denn einig: Doktor Groll sollte mitstarten.

»Gerade Onkel Jan zum Trotz«, sagte Willemintje.

Als Lore den Lift verließ, sah sie Mr. Biddle etwas abseits im Gespräch mit dem Berliner Juristen stehen. Das heißt: er selbst sprach nicht, er hatte die kurze Holzpfeife zwischen den Zähnen, paffte dicke Wolken daraus und hörte gönnerhaft von oben her zu. Mayn sprach englisch mit ihm. Offenbar wollte er ihn zur Rede stellen wegen seiner Nichtaufnahme in die Bobmannschaft. Aber Mr. Biddle sah ihn stumpf an und verstand ihn nicht. Mayn knöpfte endlich straff seine Sportjacke zu und wandte sich von ihm ab.

Aus allen Hotels strömten dichte Scharen von Schaulustigen zum Start der Bobs und zu den Kurven der Schneebahn, die den ganzen Gebirgshang vom Kulmhotel bis tief hinab zum Dorfe Celerina umzog.

Am gefährlichsten Punkt, wo die mit Schnellzugsgeschwindigkeit herabsausenden Schlitten von einer steil abfallenden Geraden in einer mächtigen Kurve in die entgegengesetzte Richtung geschleudert wurden, hatte man eine große Tribüne auf dem haushohen Eiswall errichtet. Nach jeder Fahrt wurde den Tribünenbesuchern durch den Lautsprecher die Sekundenzahl zugerufen, die der Schlitten gebraucht hatte. Die kürzesten Ziffern hatten bisher ein paar Engländer vorgelegt. Der großen Zahl der Startenden wegen konnte jeder einzelne Bob die Strecke im Verlauf eines Übungstages nur zwei-, höchstens dreimal befahren.

Am Start ging es sehr still zu, obgleich Hunderte die Abfahrt beobachteten. Vor den startenden Schlitten wurde ein Faden gelegt, der mit der Stoppuhr in Verbindung stand. Durchreißen des Fadens legte die Zeit des Starts fest.

Da Lore Englhofer die Eigentümerin des Bobschlittens war, fuhr sie gelegentlich als »Gast« der Mannschaft mit. Diese Fahrt wurde sportlich nicht gewertet.

In der Reihenfolge der Schlitten hatte »Soleil« den fünften Platz. Der vierte Bob war kaum um die nächste Ecke entschwunden, als Mr. Biddle seiner crew schon stumm das Zeichen gab. »Soleil« wog über fünf Zentner. Die Mannschaft mußte das eiserne Gestell mit gemeinsamer Kraft in die Bahn schleppen. Dann nahm man flugs Platz, im Reitsitz, einer dicht hinter dem andern. Vorn ans Steuer, das wie ein Autosteuer gehandhabt wurde, setzte sich Mr. Biddle. Zum Aufstellen der Füße diente ein schmaler eiserner Rand, der den Kufen entlang lief, die »Wasserleitung«. Die Bremse bestand aus einer Art Rahmen mit scharfen Eisenspitzen. Mr. Biddle gab noch einmal seine Anweisungen. Unten auf der letzten Geraden vor dem Dorfe Celerina, wo das Gefälle der Bahn aufhörte, rief der Führer: »One, two, bob!« Auf »bob!« schnellte die Mannschaft mit dem Oberkörper nach vorn, um durch diesen Ruck die Fahrt zu beschleunigen.

Das Zeichen »Bahn frei!« war gegeben. Mr. Biddle rückte bis an den Rand vor. »Ready?« fragte er. »Okay!« klang's zurück. Gemessen kam sein Kommando: »Go on!«

Die Insassen des Schlittens legten sich vornüber, das Fahrzeug glitt auf die schiefe Ebene. »left – right!« rief der Führer noch bei den ersten Kurven. Dann folgte die Mannschaft selbständig seinem Beispiel.

Man sah im Zutalsausen die Schneewälle links und rechts an der Bahn bald weiß, bald golden flimmern, sah unter den beschneiten Waldstücken bei den Schleifen tiefblaue Schatten. Die Gesichter der an den Kurven stehenden Zuschauer sah man hoch über sich nur wie einen hellen Streifen – man konnte niemand erkennen –, sah da und dort auch nur bunte Jacken, wehende Schleier – hörte Zurufe, jäh abgerissen. Man merkte kaum die Schwankungen des abwärtsrennenden Schlittens. Die Luft, die man zerschnitt, war eisig. Aber man fühlte keine Kälte, sondern nur die Spannung am Kinn, an den Ohren. Ein paarmal öffnete sich nach einer neuen Biegung der Blick über das breite Tal von Celerina und Samaden. Da – jetzt ... nun wieder! Eben noch sah man den Turm von Cresta – dann ging's durch einen dunklen Wald, wo der Schneeboden eine tiefblaue Färbung hatte –, und wieder blitzte gleich darauf weit unten die sonnenbeglänzte Schneelandschaft auf ... Und da war man schon im Tal und sauste auf die Eisenbahnbrücke zu. Eine Sekunde lang hatte man die Empfindung, man müsse mit dem Kopf dagegen anrennen. Dann jagte der Schlitten darunter weg, und man merkte, daß sich der Brückenbogen gut zehn Meter hoch über der Bahn wölbte. Alles legte sich weit zurück. Man sah in das italienische Blau des Himmels. Links und rechts Beifall, Zurufe ... Darauf das Kommando des Führers: »One, two! –« Und auf »bob!« schnellte die ganze Mannschaft wie das Glied einer Maschine vorwärts. Noch zweimal, dreimal das Kommando. Dann merkte man im Stilliegen das Langsamwerden der Fahrt. Man merkte es daran, daß der scharfe Luftdruck gegen das Gesicht aufhörte. Das Ziel lag schon um ein paar hundert Meter zurück.

Sobald der Bobschlitten hielt, sprangen Arbeiter heran, die Mannschaft saß ab, und das Eisengestell wurde mit großer Geschwindigkeit über die Böschung geschleppt. Auf der Landstraße hielten die Gespanne, die die Schlitten wieder den Berg hinanzogen. Sie brauchten dafür die fünfundzwanzigfache Zeit, die das Rennen gedauert hatte.

»Bahn frei!« klang es wieder über das Schneefeld.

Mr. Biddle war nicht zufrieden mit dem Ergebnis und verabredete mit Axel Groll, auf der nächsten Fahrt vor zwei weniger gefährlichen Kurven die Bremse überhaupt nicht in Tätigkeit zu setzen. Indem er seine rauchgraue Brille abnahm, die er während der Fahrt zum Schutz gegen das Blenden der Sonne und den starken Luftdruck trug, sagte er halblaut zu Axel Groll: »Aber davon Sie müssen schweigen zuvor, sonst unsere crew könnte sein unsicher.«

»Ausgeschlossen, Mr. Biddle. Ihre Mannschaft ist gut zusammengesetzt!«

In fröhlichem Gespräch machten sie sich auf den Rückmarsch.

Indem sie hinter dem Gespann mit ihrem Bobschlitten den halbstündigen Weg bergauf zurücklegten, sahen sie sich von den Spaziergängern und Zuschauern fast verehrungsvoll gemustert.

Mr. Biddle holte nach der letzten Fahrt seine kurze Pfeife aus der Tasche, setzte sie in Brand und tat ein paar Züge. Dabei gab er noch eine kurze Unterweisung. Die Mannschaft hörte andachtsvoll zu. Mr. Biddle war mit dem Bob so verwachsen, daß er auch die kleinste Veränderung in der Belastung merkte.

Mit viel Laune äußerten sie sich auf dem Weitermarsch über die Ermahnungen wie über die Rügen. Nur eine Stimme herrschte: man freute sich schon unbändig auf den folgenden Tag.

... Eine ununterbrochene Sonnenzeit setzte nun ein. Von der Sekunde an, da der erste grelle Lichtblitz über dem Alpenkamm jenseits vom See die Landschaft entzündete, die Schneeflächen mit Milliarden Brillanten zu übersäen schien, bis zu den wunderbaren Sonnenuntergängen, da im Talkessel fern über Maloja das rote Feuer glühte, trübte kein Wölkchen die tiefblaue Glocke, die über der Hochgebirgslandschaft hing.

Und für Axel Groll bestand ebenso wie für die übrige Mannschaft vom Bob »Soleil« diese Winterferienzeit nur noch aus einer Reihe von sonnigen Festen. Die Bobfahrten bildeten natürlich das Hauptereignis. Aber auch die gemeinsamen Skiübungen auf der Ober-Alpina wurden wieder aufgenommen. Manchmal verabredete man ein Stelldichein auf dem Eisplatz. Hier glänzte Lore Englhofer, im Kunstlauf war sie Willemintjes beste Schülerin gewesen. Mr. Biddles Leistungen auf dem Eise traten weit hinter die auf der Bobbahn zurück. Der Baron Kamerlander dagegen war ihm im Schlittschuhsport überlegen. Als Skiläufer wieder hatte Axel Groll die Führung. Es herrschte gute Kameradschaft zwischen ihnen.

Lore Englhofer war gleichmäßig freundlich zu allen. Aber ein Näherkommen oder Nähertretenlassen vermied sie. Da sie die Mahlzeiten nicht im Speisesaal, sondern oben in ihrer Wohnung nahm, solange die Folgen des Unfalls ihre Freundin ans Lager fesselten, so beschränkten sich die Begegnungen auf die Sportstunden.

Genzmer hatte Willemintje gleich zu Anfang Blumen gebracht und hielt nun daran fest, sich alle zwei, drei Tage nach der Patientin zu erkundigen. Manchmal wurde er vorgelassen, dann auch zum Tee dabehalten. Gegen Kamerlander schwieg er von dieser Bevorzugung. Auch als der einmal in komischem Zorn sagte: »Wissen S', unser Freund Groll – der ist ja ganz gut zu leiden, ich mag ihn gern. Aber daß der Halodri das unverdiente Glück hat, Arzt zu sein, und daß er Tag für Tag da oben den Wohltäter der Menschheit spielen darf, das ist doch eine schreiende Ungerechtigkeit! Was hat so ein hinterlistiger Pflasterschmierer noch abends um halb neun Uhr Tee bei unsern Damen zu trinken? Das ist – eine unerhörte Gemütsverrohung ist das, so die Gelegenheit wahrzunehmen. Etwa nicht?«

Der Flieger konnte in diese Entrüstung nicht so voll einstimmen. Daß der Mitbewerber von der medizinischen Fakultät sie alle geschlagen zu haben schien, fürchtete er freilich nach den letzten Besuchen »droben« stark. Willemintje fragte gar zu lebhaft nach dem Berliner, wollte erschreckend viel wissen über ihn –, das waren verdächtige Zeichen! Übrigens leistete Genzmer herzlich schlechte Dienste als »Erkundungstrupp gegen den Feind«. Die einzigen Gäste, die den Berliner Arzt von früher kannten – außer Biddle –, waren Herr Theo Mayn und Mynheer van Jonckbloet. Beide waren Genzmer ein Greuel. Und er vermied schon deshalb die Annäherung an sie, weil sie sich jeden Abend in der Bar mit der anrüchigen finnischen Baronin Molin zusammensetzten. Die Dame wechselte wohl Namen, Titel und Nationalität immer nach dem letzten Liebhaber. Er hatte sie früher einmal als Strohwitwe eines bayrischen Standesherrn kennengelernt, der angeblich in Indien Elefanten jagte. Das war ihm denn doch zu operettenhaft vorgekommen. Wenn er sich abends noch auf einen Whisky mit Soda in der gemütlichen Bar einfand, die mit ihren eingebauten Nischen, Spielecken und Trinklauben der Schenke eines modernen Ozeanriesen glich, dann wich er vorsichtig der Gelegenheit aus, die finnische Baronin erkennen zu müssen.

Ein wundervoller, gottgeschenkter Sonnentag brach an. Während man in dem behaglich geheizten Frühstückszimmer der Ostfront saß, erschien die Sonne neben dem Piz Rosatsch. Sie wanderte jeden Morgen um ein Stückchen weiter nach dem Piz Muraigl. Es war erst zehn Uhr. Man hatte nun volle sechs Stunden Sommer vor sich.

Neuerdings fand sich die crew gewöhnlich in den Vormittagsstunden auf dem Eisplatz hinter dem Hotel zusammen.

Heute hatte Kamerlander seinen unternehmenden Tag. Er wollte eine »Tailingparty« vorschlagen und ließ sich gleich nach dem ersten Frühstück bei Fräulein Englhofer melden.

»Es ist Arztbesuch, der Herr Baron möchten sich noch ein Augenblickchen gedulden«, berichtete die Zofe.

Das »Augenblickchen« währte eine geschlagene Viertelstunde. Kamerlander stelzte auf seinen spindeldürren Beinen, die die stete Verwunderung aller Hotelangestellten erregten, über den teppichbelegten Flur. In mählich sich steigerndem Zeitmaß. Innerlich wütend, daß er warten mußte, während Herr Groll sich drinnen Liebkind machte.

Endlich wurde er vorgelassen.

Die Couch, auf der Willemintje lag, stand noch mitten im Salon, aber die Balkontür und die Fenster waren geöffnet, die Sonne flutete voll herein. Und Sonne, eitel Sonne herrschte im ganzen Raum. Die Damen lachten, lachten, lachten ... Der Medizinmann schien seinen Vorsprung wirklich in unerhörter Weise auszunutzen.

»Sie leben – Sie genießen!« sagte Kamerlander zu der Patientin, rundum schauend. »Das ist ja abenteuerlich gemütlich hier. Und das nennen Sie Kranksein? – Gnädigste verstellen sich! – Wo ich vor drei Jahren mit der Goldfuchsstute gestürzt war, da haben mir die Unmenschen im Lazarett eine Nordlichtkammer, das Gesangbuch und Rizinus gegeben. – Tja, man braucht nur so ein lieber goldiger Fratz zu sein wie das gnädige Fräulein, und flugs wird das Schicksal parteiisch.«

Willemintje war bester Laune, denn sie durfte in wenigen Tagen ausfahren.

Sie saßen noch plaudernd beisammen, als die Jungfer eintrat und Herrn von Genzmer meldete.

Der Flieger war sprachlos, als er den Baron Kamerlander hier sitzen sah. Der Wiener war nicht weniger überrascht. Genzmer hatte zudem einen tiefen Griff in den Beutel getan und brachte wundervolle Nelken.

Willemintje drohte ihm mit dem Finger. »Genzmer, Sie Verschwender! Na, geben Sie acht, schon Ihrer teuren Blumen wegen melde ich mich morgen gesund.«

Es platzte ihm heraus: »Länger hätt' ich Ihr Kranksein auch gar nicht ausgehalten!«

Darauf lachten alle so stürmisch, daß er sich wehren wollte, er kam aber nicht mehr zu Wort.

So im scherzhaften Geplänkel ward dann Kamerlanders Vorschlag angenommen, eine »Tailingparty« nach Belvoir zu machen.

Aber als Lore hörte, daß man davon erst kurz vor Dunkelwerden zurückkommen könnte, erklärte sie sofort: »So lang' laß ich dich nicht allein, Willemintje!«

Nun ging es an ein eifriges Bearbeiten. Willemintje beteiligte sich daran am lebhaftesten.

»Aber der Doktor kann dann doch auch erst abends zurück sein –!« gab Lore zu bedenken.

»Von heut an wird ja nur noch einmal massiert – nachmittags soll ich schon im Liegen turnen.«

Die beiden Herren fanden es ganz in der Ordnung, daß der Medizinmann seine Besuche nun endlich einschränkte. Willemintje beobachtete belustigt die eifersüchtigen Blicke, die sie dem Arzt zuwarfen.

Unter fröhlichen Ermahnungen an die Zurückbleibende zogen sie schließlich ab. Lore Englhofer, die sich bis zur letzten Sekunde sträubte, ward geradezu entführt.

In der Sonne, auf der Landstraße nach Pontresina, ging's dann in der lustigen Stimmung weiter. Mr. Biddle und ein paar Landsleute von ihm, junge Herren und junge Damen, hatten sich der Gesellschaft angeschlossen. Im Schlitten selbst hatte niemand Platz genommen, er diente bloß zur Aufnahme der Pelze, Jacken und Kodaks. Der Schlitten zog ein langes Tau als Schweif hinter sich her; daran wurden paarweise die kleinen Rodelschlitten der Ausflügler befestigt. Die Reihenfolge war durchs Los bestimmt worden. Kamerlander hatte das Glück, Lores Nachbar zu sein. Vom Augenblick an, da die Gesellschaft Platz genommen hatte, wurde jede Störung des Betriebs zum Anlaß allgemeiner Heiterkeit. Und es geschah schon auf dem steilen Weg durchs Dorf mehrmals, daß einer der Rodler aus der Reihe geschleudert wurde, wodurch dann der ganze Troß in Verwirrung geriet. Man mußte sich eng an seinen Nachbar anklammern, durfte die Schlittenschnur, die über Kreuz gefaßt wurde, keine Sekunde freigeben, sonst lag man unfehlbar im Schnee. Als es die Serpentinen nach Celerina hinunterging, bildeten die Wendepunkte der Landstraße die Anfechtung besonders der letzten Paare. Unter ihnen befand sich eine blutjunge Amerikanerin, deren ängstliches Aufkreischen in unglaublich hohem Ton stets ansteckend auf die Nachbarn wirkte.

Vom Schreien, Rufen, Kreischen, Lachen, von der Anstrengung des Festhaltens, nicht zuletzt von der brennenden Sonne, war es allen Teilnehmern der lustigen Fahrt so heiß geworden, daß sie bei der Ankunft in Belvoir Mütze und Handschuhe von sich warfen. Die Mehrzahl entledigte sich auch der Jacke und blieb im Pullover. Das kleine Wirtshaus war in einem windgeschützten Bergkessel so an die Felswand hingebaut, daß es die Sonnenstrahlen auffing. Im Wintergarten lag der Schnee zwar ziemlich hoch, er taute aber gegen Mittag: die Nächte brachten hier eine Kälte von zwanzig Grad, die sonnigen Mittagsstunden ebensoviel Wärme. Der Lunch sollte im Freien eingenommen werden, mitten im Schnee, so war es hier im Winter üblich. Da die dicke Wirtin aber nur eine einzige Küchenhilfe hatte, beeilte sich die ganze Gesellschaft, ihr beim Decken der langen Tafel zu helfen, mit solch planloser Geschäftigkeit, daß ein unentwirrbares Durcheinander entstand.

Lore Englhofer konnte schließlich vor Lachen nicht mehr mithalten. Besonders Kamerlanders Ausgelassenheit, der die dicke Wirtin, sobald sie böse wurde, immer unter allgemeinem Jubel umarmte, um sie zu beschwichtigen, wirkte so grotesk, daß ihr die Tränen in die Augen traten.

»Was sind wir kindisch, nein, was sind wir kindisch!« rief sie lachend aus und ließ sich erschöpft auf die nächste Bank im Schnee sinken.

Zum erstenmal war auch Axel Groll aus sich herausgegangen.

Lore freute sich über ihn. Und Axel Groll empfand die zarte Beziehung zu ihr wie ein Bad der Seele.

Als die Gesellschaft die Rodelschlitten holte, um auf der Rodelbahn zu üben, schlenderten sie nebeneinander durch den Schnee, ihre kleinen Schlitten hinter sich herziehend. Er sagte ihr, daß er im Schwarzwald zum letztenmal gerodelt hatte als Student. Sie freute sich, daß er den Schwarzwald kannte. Ihr Vater stammte aus Höhenschwand. Auf dem Bauerngut der Großeltern war sie als Kind mit ihrer Mutter oft zu Besuch gewesen, wenn der Beruf ihren Vater in fremde Länder hinausgeführt hatte. Ihre ganze Liebe gehörte dem Stückchen Heimat. Im Jahre ihres Mündigwerdens hatte ein Industrieller, der dort eine Papiermühle errichten wollte, ihr eine hohe Summe für einen Teil des Grundstücks geboten, aber sie hatte es doch nicht verkauft. »Das Bauernhaus mit dem Riesendach steht noch immer genau so, wie zur Zeit, als der Großvater Englhofer zur Welt kam. Mutter mochte es nicht recht. Das war ihr alles zu wuchtig, zu schwer, zu bäurisch. Aber ich hatte schon immer eine große Freude daran. Die himmlischen Wintertage in der Sonne, wenn wir Kinder auf unsern kleinen Schlitten die Dorfstraße hinuntersausten, die kann ich nicht vergessen. Und als ich aus der Pension kam und trotz Französisch und Englisch wieder das Schwarzwälder ›Bauremädle‹ sein wollte, da war Mutter ganz entsetzt!«

Zum erstenmal sprach sie zu ihm von ihrer Mutter. Aus mancherlei, was sie sagte, gewann er das Urteil, daß die zarte, ängstliche Frau zu ihrem unerschrockenen Manne nicht so recht gepaßt hatte.

»Sie war nicht schwindelfrei – sie litt unter Vaters Beruf. Immer war sie voll banger Ahnungen. Schon die Vorstellung von der unermeßlichen Höhe der Brücke, die Vater über den Thaw-River in Schottland zu schlagen hatte, machte ihr Angst. Und dann bekam sie eiskalte Finger. – Sie dürfte mich jetzt nicht auf der Bobbahn sehn.«

Mit lustigem Hallo glitten die ersten Rodelschlitten die Bahn hinunter. Sie war stark vereist, die Fahrt ging daher sehr flott. Das Ende der Bahn lief wieder bergauf. Es bildete bald den Ehrgeiz aller Rodler und Rodlerinnen, mit so starkem Schwung unten anzukommen, daß der Schlitten ohne weiteres die jenseitige Böschung nahm. Um das zu erreichen, durfte man während der Fahrt nicht mit den Absätzen bremsen. Natürlich forderte der lustige Sport sehr bald auch Opfer. Bei den Kurven wurden mehrere Fahrer mitsamt ihren Schlitten über die vereiste Böschung in den meterhohen Schnee geschleudert. Das erhöhte die allgemeine Lustigkeit.

»Wenn doch nur Willemintje mit dabei wäre!« sagte Lore.

Das Vergnügen erhielt Punkt ein Uhr eine Unterbrechung, denn Kamerlander, der sich eine weiße Kochmütze aufgesetzt hatte, rief vom Wirtsgarten her zum Lunch. Nun gab es einen allgemeinen Wettlauf. Noch atemlos nahm man Platz. Kamerlander zerlegte am Kopf der Tafel die saftig gebratenen Hühner mit bewundernswerter Kunst und teilte jedem Gast seinen Anteil zu. Man aß mit großem Appetit und trank dazu einen leichten italienischen Landwein. Die wunderbare Schneelandschaft, die sie rings umgab, die dünne Luft, in der sich's so leicht atmete, die Möglichkeit, barhäuptig im Freien zu speisen – im Februar! –, der ungezwungene Ton, alles wirkte zusammen, die Stimmung zu steigern; schließlich wurde jedes leichte Scherzwort stürmisch belacht, jedes kleine Mißverständnis, das durch das Sprachengemisch entstand.

Die einen tranken nach dem Lunch noch einen abenteuerlich schlechten Kaffee, die andern nahmen sofort wieder mit großer Begeisterung den Rodelsport auf.

Lore unterhielt sich prächtig. Sie konnte so herzlich lachen. Es war ein wahrer Genuß, das Leben zu sehen, das von ihr ausging. Axel Groll fand: so ein kerndeutscher Zug lag in dem jungen Ding. Er konnte sich jetzt gut vorstellen, daß Lore Englhofers Großeltern Schwarzwälder Bauern gewesen waren. Von denen mochte sie den Sinn für behäbigen Humor geerbt haben. Er wandte den Blick nicht mehr von ihr. Eben jetzt nahm sie da unten die Böschung. Wie sie auf der jenseitigen Höhe darauf im Schlitten sitzenblieb, die Arme um die Knie schlingend und ins Weite schauend, bot sie ein allerliebstes Bild. Ihr rötliches Haar, die dunklen Augen, die schlanke Gestalt, sogar die Sommersprossen, die festen, frostgewöhnten, ziemlich großen Hände – alles war charakteristisch für sie, mußte so und konnte nicht anders sein.

Bei der Mehrzahl der Ausflügler meldete sich nach der Mahlzeit und unter dem Einfluß der Wärme und des Weins eine gewisse Ermüdung. Die Rodelbahn war augenblicklich ganz leer. Genzmer, Kamerlander und die Amerikaner machten droben vor dem Wirtshaus unausgesetzt Gruppenaufnahmen. Das Lachen scholl über das ganze Tal.

Axel Groll rückte seinen Rodelschlitten auf die Bahn, nahm Platz und stieß sich ab. Gleich darauf durchsauste er die Senkung und kam in vollem Schwung auf die jenseitige Höhe. Zwei Schritt weit neben Lore Englhofer hielt sein Fahrzeug.

Sie hatte sich nicht gerührt. Aber als sie ihn jetzt neben sich sah, nickte sie ihm zu. Das Landschaftsbild, das sie hier umgab, sprach zu ihr. Irgendeine Ähnlichkeit beschäftigte sie dabei. Man konnte von hier aus das Schloßhotel von Pontresina sehen, nach der andern Seite reichte der Blick noch weit über Celerina hinaus. Auf der Landstraße im Tal klingelten zahlreiche Schlitten. Es war die Stunde, wo die Nachmittagsausflüge nach Muraigl und nach der Gletschergrotte von Morteratsch begannen. Über dem Schnee trug ihnen die stille, dünne Luft von weither den Schall einzelner Stimmen von Skiläufern zu, dazwischen immer wieder die Lachsalven der Gruppe vor dem Wirtshaus, wenn eine neue Photoaufnahme durch irgendeinen Spaßvogel gestört wurde.

»Das ist nett, daß Sie gekommen sind«, sagte Lore. »Hier kann man sich wieder einmal besinnen. Wir sind ja alle von der Sonne wie berauscht.«

»Die hab' ich so lang' gesucht, die Sonne. Sie berauscht vielleicht. Ja. Aber es folgt keine Ernüchterung. Sie heilt.«

Sie hatte leichthin gesprochen. Sein Ton war ernster. Sie hatte sich in den Schnee gleiten lassen und lehnte den Ellbogen auf ihren Schlitten, den Kopf in die Hand stützend. Nachdenklich beobachtete sie ihn.

»Erinnern Sie sich noch an den ersten Abend? Im Hotel drüben? Wie Sie da verbittert waren?«

Er nickte. »Besser, ich erinnere mich nicht mehr daran. Ich hab' ja wieder Lebensmut gefaßt hier in der Sonne. Und ich hab' ein solches Dankgefühl in der Brust. Wie ein Genesender. Das Licht ist heller – die Welt ist schöner.«

Nach einer Pause sagte sie: »Die Sonne hat uns jetzt aber auch verwöhnt. Es können Schneetage kommen. Werden Sie dann gleich wieder die Welt anklagen?«

Er hatte sich zur Seite gelegt, den Kopf aufstützend, gleich ihr. Lange sah er sie an. Sie hielt seinen Blick aus.

»Ich würde die Sonne jetzt auch unterm Schneehimmel fühlen«, sagte er ein wenig leiser. »Sie scheint mir ja so voll und warm ins Herz. Tag für Tag, Stunde für Stunde. Denn meine Sonne – sind Sie mir geworden.«

Es blieb darauf ein Weilchen still zwischen ihnen. Sie hatte ihm noch ein paar Sekunden lang offen ins Auge gesehen, dann den Blick gesenkt. Der Klang seiner Stimme schien noch in der stillen, klaren Luft zu zittern; es war, als lauschte sie ihm; oder als prüfte sie ihn in der Erinnerung ...

... Jäh wurde die Stimmung zerrissen.

Kamerlander hatte bei aller Geschäftigkeit, die ihn zum Mittelpunkt der Gruppe droben im Wirtsgarten machte, doch sehr rasch das Paar vermißt. Ein Schreck teilte sich seinen Zügen mit, als er die Sachlage übersah. »Hallo – die Ausreißer! Schauen S' bloß, Genzmer!«

Im Nu hatte er seinen Schlitten bei der Schnur und lief auf die Rodelbahn zu. Er ahmte dabei den Rechtsgalopp eines wild ausschlagenden Pferdes nach. Das belustigte die jungen Amerikanerinnen wieder sehr, und sie folgten ihm lachend mit ihren Schlitten. In toller Fahrt sauste eins hinter dem andern die ganze Rodelbahn hinunter, es wurde kaum mehr gewartet, bis der Vordermann um die nächste Biegung herumgekommen war. Genzmer nahm eine der jungen Damen, die in der Eile ihren Schlitten nicht fand, auf dem seinigen mit. Zunächst gefiel ihm die Sache. Er mußte sich bäuchlings mit gespreizten Beinen auf das Gefährt legen, und hinter ihm nahm die Amerikanerin Platz, die ihre Füße zwischen seinen Armen nach vorn durchschob. In reißender Fahrt jagte der doppelt beschwerte Schlitten die Bahn hinunter. Aber da Genzmer mit dem Kopf nach vorn und mit dem Gesicht nach unten lag, steuerte er unsicher – und im Augenblick, als sie das Ende der Bahn erreichten, schlugen sie um. Der Schlitten glitt allein weiter, und in zärtlicher Umschlingung sauste das Paar über die Böschung in den Schnee. Ihre Versuche, emporzukommen, scheiterten, weil sie einander in der Verwirrung nicht losließen.

»Wo ist mein Fotoapparat? Ein Königreich für einen Fotoapparat!« rief Kamerlander, außer sich vor Schadenfreude.

Lore hatte sich verdutzt umgewandt. Sie wußte gar nicht, woher mit einemmal die Menge Menschen kam. »Was können Sie einen erschrecken!« stieß sie aus. Und mit einer gewissen drolligen Gereiztheit faßte sie in den Schnee, formte flüchtig einen Schneeball und warf ihn nach dem Wiener.

Kamerlander bückte sich rasch. »Fehlg'schossen! – Übrigens: Sie wollt' ich ja gar nit fotografieren, Gnädigste. So fein sich das stimmungsvolle Grüppchen dafür geeignet hätt'!«

Das Lachen der anderen über die Entgleisten, die sich einzeln aus dem Schnee herausfanden, übertönte, was Lore ihm erwiderte. Man sah aber, daß sie ihm eine Faust machte, darauf einen neuen Schneeball formte und nach ihm warf. Da er sich abermals rasch bückte, traf das Geschoß Mr. Biddle, der der strampelnden Landsmännin beigesprungen war. Der hielt seinen alten Studiengenossen für den Angreifer und gab das Geschoß sofort zurück.

Das war das Zeichen zu einer allgemeinen Schlacht. Axel Groll und seine Nachbarin wurden von drei Seiten mit einem Hagel von Schneebällen überschüttet. Sie wehrten sich eifrig, solange es ging, dann wandten sie den Angreifern den Rücken und preßten die Hände vors Gesicht. Die ganze Anhöhe war in eine weiße, stäubende Schneewolke eingehüllt. Dazu das Lachen, das Kreischen, das Necken, Herausfordern ...

Als Axel Groll und Lore wieder zu Atem kamen, richteten sie ihren Angriff in rascher Verständigung bloß gegen Kamerlander, die Damen folgten ihrem Beispiel – und der lange, dürre Mensch konnte sich schließlich nicht mehr retten.

»Hands up! Hands up!« rief der ganze Chor jubelnd. Nun sank er im tiefen Schnee in die Knie und spielte den Besiegten in so komischer Übertreibung, daß alles, was er sagte, in dem einmütigen, hellen, schallenden Gelächter unterging.

Das lustige Bild der Völkerschlacht im Schnee und in der Sonne, das Lachen und das Rufen der hellen Mädchenstimmen hatte Zuschauer angelockt. Schneeschuhläufer, andere Rodelgesellschaften, auch die Insassen mehrerer Schlitten, die von Pontresina zurückkamen und in Belvoir Rast machten, waren auf dem im Schnee festgetretenen Fußweg herzugelaufen.

»Oh, God!« klang's über die Bahn. »Da ist wohl gar mein wackeres Willemintje! Schon wieder in Aktion, he?«

Jonckbloet war's. Er steckte in einem Sportanzug aus gelbem Leder. Dazu trug er einen Strohhut.

Bis auf die Rufweite hatte er sich Lore genähert, und sie mußte ihm Auskunft über Willemintjes Ergehen geben. Jonckbloet berichtete dann unaufgefordert, daß er mit Theo Mayn und andern Herrschaften aus dem Grandhotel nach Tisch eine Schlittenfahrt nach dem Morteratschgletscher unternommen habe.

Angehörige seiner Gesellschaft hatten sich inzwischen hinzugesellt. Soeben erklomm Mayn in Begleitung einer jungen Dame die Schneeschanze und grüßte.

Lore neigte nur flüchtig den Kopf. Indem sie sich dann an ihrem Schlitten zu schaffen machte, wobei sie sich niederbeugen mußte, fragte sie ihren Nachbar halblaut: »Ist das die Finnländerin?«

Axel Groll wandte den Kopf. Im selben Augenblick aber zuckte er zusammen.

Zwischen Jonckbloet und dem Berliner tauchte ein schlankes Figürchen auf. Die Dame hatte bernsteingelbes Haar, lange, dunkle Wimpern, dunkle, ein wenig nachgezogene Augenbrauen, graue, etwas verschleierte Augen. Ein überraschtes Lächeln spielte um die rotgefärbten Lippen.

»Doktor Groll – nein, ist es möglich, Sie hier?« Und mit lebhaften Schritten kam sie auf Axel Groll zu, einen Händedruck mit ihm tauschend.

Aber er blieb eisig.

Sie verlor den Faden keineswegs. Erzählte, daß sie erst heute aus Berlin eingetroffen sei, sofort Bekannte in St. Moritz getroffen und den himmlischen Tag gleich zu einer Schlittenfahrt benutzt habe.

»Nun – und Sie? Sie haben sich hier schon völlig eingelebt? ... Wir müssen leider gleich weiter. Nun, ich sehe Sie ja dann im Hotel ... Auf Wiedersehen, lieber Freund!«

Kaum ein Wort hatte er gesprochen.

Die Gruppe entfernte sich. Man hörte die helle, etwas gezwungen fröhliche Stimme noch eine ganze Weile.

Mr. Biddle verhandelte gerade mit den andern Herren über die Zeit der Heimfahrt. Die Damen, die keine Jungfer mithatten, waren für ihre Abendtoilette abhängig vom Hotelfriseur und von seinen Gehilfen. Man hätte spätestens um vier Uhr von hier aufbrechen sollen. Den letzten Rest der Fahrt legte man dann sowieso in der Dunkelheit zurück. Jetzt war es schon viertel nach vier.

»Wir haben ja Mondschein!« meinte Kamerlander. Er hatte jetzt den Holländer als Zielscheibe ausersehen, der neben der fremden jungen Dame soeben vor dem Wirtsgarten den Schlitten vom Grandhotel bestieg.

Lore stand stumm. Es hatte sich ihr ein eiserner Ring um die Brust gelegt. Im Augenblick, da der Schlitten droben abfuhr, wandte sich die Fremde wieder um. Der mädchenhaften Gestalt, der backfischmäßigen Kleidung nach brauchte sie nicht über achtzehn Jahre zu zählen. Aber diese seltsamen grauen Augen, diese verschleierten, verschleiernden Augen –! Lore strich ihre Hände an dem rauhen Stoff ihres Kleides ab, als ob sie etwas Häßliches berührt hätte. Sie wußte: diese ist es!

»Wir müssen anspannen lassen!« rief Genzmer dem Arzt zu. »Wollen wir bezahlen?«

»Gewiß. Ja.« Axel Groll faßte nach der Schnur seines Schlittens.

Lore sah ihm ins Auge. Ganz fremd erschien er ihr wieder. Der finstere Zug stand wieder fest eingegraben um seinen Mund.

»Das war Frau Selle aus Berlin?« fragte sie, so ruhig ihr's möglich war.

Axel Groll bejahte. »Sie – kennen sie?«

»Bewahre.« Stolz den Kopf zurückwerfend sagte sie: »Ich will sie auch nicht kennenlernen.«

»Es wird Zeit, meine Herrschaften«, drängte Kamerlander, »keine Müdigkeit vorg'schützt!«

Lore nickte. »Ja – da geht auch schon die Sonne unter!«

Axel Groll fühlte ein Grauen an sich herankriechen. Tagelang hatte er nun kaum mehr an Gertie gedacht. Heute überhaupt nicht. Wie sein böser Geist war sie vor ihm aufgetaucht – gerade in dieser Stunde.

*

Noch immer harrte der für Java bestimmte Brief in der verschlossenen Schreibmappe seiner Absendung.

Als Axel Groll die dünnen Überseebriefbogen ein paar Tage nach der Niederschrift wieder zur Hand genommen und noch einmal durchblättert hatte, war er mit seiner Herzensbeichte nicht mehr einverstanden; denn inzwischen hatte der Verkehr mit den beiden jungen Damen auf ihn eingewirkt, hatte die fröhliche, tapfere, herzliche Art Lore Englhofers ihn wieder dem Licht, der Hoffnung zugeführt.

Die Schlußzeilen waren noch in düsterer Stimmung niedergeschrieben. Nun erschien es ihm unehrlich, die Blätter so in die Welt hinausgehen zu lassen. Ihm lachte ja wieder die Sonne!

So vergrößerte sich abermals die Wartefrist für den im fernen Osten auf Nachricht harrenden Fred.

Und dann entschloß er sich, ihm gleich noch über die Begebenheiten der letzten beiden Wochen zu berichten, ihm von dem »Sportgirl« zu erzählen, mit dem er Freundschaft geschlossen hatte.

Aber auch das Bild Lore Englhofers veränderte sich von Tag zu Tag. Längst schien sie ihm mehr als ein »Sportgirl«. Das war ein ganzer Charakter, das war ein Mensch mit einem großen Herzen.

Und sie schritt als echtes, rechtes Sonntagskind durchs Leben.

Jugend, Charme, Bildung, Geld und Tapferkeit ermöglichten ihr eine Stellung an der Spitze jeder Gesellschaft. Sie brauchte nur die Hand auszustrecken, und an jedem Finger zappelte ein Verehrer. Jede Klasse war vertreten. Auch wenn sie Wert darauf legte, Wäsche mit eingestickten Kronen zu tragen, so hatte sie freie Wahl in der Anzahl der Zacken dieser Kronen.

Aber jede Eitelkeit fehlte ihr. Stolz war sie auf den guten Klang, den ihr Vatersname in der Welt der Gebildeten errungen hatte. Dieser Adel gab ihrem Gefühl die größte Stärkung. Und vielleicht lag ein gewisser Eigensinn in der Genugtuung, mit der sie immer wieder auf die bäuerlichen Großeltern hinwies. Erst wenn man sie wirklich kannte, dann konnte man auch verstehen, wie sie dazu gekommen war, sich gerade Willemintje, die arme Schiffbrüchige, zur Freundin zu wählen. Lediglich dem Gefühl war sie gefolgt. Lore verstand es gar nicht, als der Baron Kamerlander einmal kameradschaftlich warnend einfließen ließ: sie vergebe sich etwas in den Augen der Welt, so wie die Welt nun einmal beschaffen sei, wenn man überall davon spreche, eine ehemalige Stewardesse sei ihre Vertraute. »Lieber Freund«, erwiderte sie ihm, »die Augen der Welt sind mir oft genug ein Rätsel – warum soll ich ihnen nicht auch einmal ein Rätsel sein?« Kamerlander hütete sich, ein zweites Mal darauf zurückzukommen. Aber von dieser kurzen Aussprache rührte der »Knacks«, den seine Beziehung zu der reichen Erbin erlitten hatte. Lore stellte ihn seitdem in die zweite Reihe. Er merkte es.

Je näher Axel Groll sie kennengelernt hatte, desto tiefer war seine Sympathie für sie geworden. Ihre Seele war wie ein Alpensee. Nein, das war nicht das rechte Bild. Die Sonne hatte er hier in St. Moritz gesucht. Nun hatte er sie gefunden. Dies junge Ding war sie ihm geworden.

... Aber im Augenblick, da er den Mut fand, es ihr zu sagen, fuhr das Schicksal dazwischen.

Gertie hatte in Belvoir Lore Englhofer nur mit einem einzigen Blick gemessen. Aber Axel Groll hatte den Blick aufgefangen und die Kriegserklärung wohl erkannt, die darin lag.

Während des Diners vermied er es, Ausschau nach dem neuen Hotelgast zu halten. Er wollte nicht wissen, wo Gerties Platz war. Doch noch vor Schluß der Mahlzeit kam sie an seinem Tisch vorüber. So nah, daß er sie bemerken und grüßen mußte. Liebenswürdig, gnädig lächelnd nickte sie ihm zu. Sie ging Arm in Arm mit einer älteren, ziemlich stattlichen Dame, die Groll schon vor Tisch in der Gesellschaft des Berliners gesehen hatte. Mayn, Jonckbloet und ein dritter Herr folgten. Sie schienen an gemeinsamer Tafel zu speisen. Da der Oberkellner gerade an Grolls Tisch stand, fragte er ihn leise nach den beiden Fremden. Es war ein Bankdirektor Vogel und dessen Gattin aus Berlin. Groll entsann sich, daß die Witwe von Dr. Selles Bruder, die in zweiter Ehe den ehemaligen Rittmeister von Troost geheiratet hatte, eine geborene Vogel war. Daher also die Beziehungen.

Mayn und der Bankdirektor gaben sich wie alte Freunde.

Jonckbloets Schweinsäuglein blickten pfiffig und vergnügt in die Welt – offenbar wegen des neuesten Zuwachses, den die Tischgesellschaft gefunden hatte. Die Schlangendame –! Was war das für ein entzückendes Persönchen!

Indem sie den langen Speisesaal durchmaßen, stieß Jonckbloet den Berliner vertraulich mit dem Ellbogen an und schnalzte leicht mit der Zunge, dabei wies er mit dem runden Kinn flüchtig auf die vor ihnen schreitende junge Witwe. Frau Gertie ging schwarz gekleidet, hatte aber einen im Rücken fast unmöglich tiefen Ausschnitt. Nur schmale schwarze Samtbänder, die mit Jett besetzt waren, hielten das Kleid über den Achseln. Auch der Halsschmuck bestand aus schwarzem Jett. Das bernsteingelbe Haar wirkte dazu herausfordernd.

Axel Groll hatte ihr nachgesehen. Er war dabei ein inneres Zittern nicht losgeworden.

Draußen im Belvoir, in ihrem knappen, kniefreien Sportrock hatte sie wie ein Backfisch gewirkt. Das schwarze Spitzenkleid dagegen hob und streckte ihre geschmeidige Gestalt: sie war nun ganz Weltdame, und niemand hätte die kindlich-junge Rodlerin vom heutigen Nachmittag in ihr vermutet. Sie hielt sich stolz aufrecht, würdigte die tafelnden Gäste, deren Neugierde sie wohl genau fühlte, keiner Beachtung. Erst in der Tür wandte sie sich um und warf zwischen den roten Köpfen der drei Tischgenossen, die ihr folgten, einen Blick nach dem Saale zurück.

Und dieser Blick traf sicher wie der Pfeil eines Meisterschützen sein Ziel: das bleich und erregt ihr zugewandte Antlitz von Axel Groll.

Das Hotelorchester setzte in der Halle mit einem Stück aus der »Bohéme« ein. Der Speisesaal leerte sich nun rasch. Alle Gäste suchten sich möglichst bequeme Plätze zu sichern. Die Herren gaben sich, in die Klubsessel versenkt, dem Genuß ihrer englischen Pfeife hin, die meisten Damen rauchten Zigaretten, die Kellner brachten den Mokka, klappten kleine Spieltische auf, englische, deutsche und französische Zeitungen wurden auseinandergefaltet, an einigen Tischen tauchte auch verschämt eine Handarbeit auf – wer nicht spielte oder las, der schwatzte. Und kein Tisch in der riesigen Säulenhalle, an dem es nicht einen oder mehrere Flirts gegeben hätte. Frau Vogel saß breit und behäbig auf dem roten Sofa an einer der Säulen. Ihr war St. Moritz nichts Neues, sie war Stammgast hier und gab ihrer Begleiterin Erklärungen zu ihrem Empfang. Aber die beiden Herren, die ihre Klubsessel rechts und links an Frau Gerties Schaukelstuhl herangezogen hatten, ließen ihr nicht lange das Wort. Sowohl Jonckbloet als Mayn versuchten die Unterhaltung mit der jungen Witwe an sich zu reißen. Noch immer bildete sie den Mittelpunkt. Alle Nachzügler richteten ihren Weg durch die Halle so ein, daß sie dicht an ihrem Tisch vorüberkamen, um sie aus der Nähe betrachten zu können. Die Damen studierten ihre Haarfarbe, ihren eigenartigen Jettschmuck, der die elfenbeinfarbene Haut so vorteilhaft hob, und die wundervollen echten Spitzen ihrer Robe – die Herren begnügten sich mit dem Ausschnitt. Im Schaukelstuhl wippte sie sich leicht vor und zurück; die Seidenbeine hatte sie übereinandergeschlagen.

Axel Groll gewahrte sie, als er den Speisesaal verließ. Natürlich erwartete sie, daß er an ihren Tisch herankommen würde. Er traute sich aber nicht die Kraft zu, das Spiel, das diese Begegnung vor so und so vielen Zeugen verlangte, durchzuführen. Er konnte ihr nicht die alltäglichen Höflichkeiten sagen, die banalen Bemerkungen über Reise, Befinden, Sport und Wetterverhältnisse. Es zwang ihn eher, ihr voller Verzweiflung ins Gesicht zu rufen: »Warum verfolgst du mich? Laß mir endlich, endlich meinen Frieden!«

Auf der Freitreppe, die aus der Halle zum Erdgeschoß emporführte, stand der Baron Kamerlander im Gespräch mit Mr. Biddle. Vom Vorstand des Klubs hatte Mr. Biddle die Nachricht, daß morgen auf der Bobbahn allerlei notwendig gewordene Schneebauten vorgenommen werden müßten; es könnten keine Übungsfahrten stattfinden.

»Also nutzen wir den freien Tag aus und fahren wir halt nach Muotas Muraigl hinauf«, sagte der Wiener. »Wollen S' mitkommen, Doktor? Fräulein Englhofer hat mir den ehrenvollen Auftrag erteilt, bei Ihnen anzufragen. Was hiermit g'schieht.«

Axel Groll hatte nur ein Bedenken gegen diese Fahrt; daß Fräulein de Steeg in ihn dringen würde, sie mitkommen zu lassen, und er hielt dies für verfrüht.

»Aber ich bitt' Sie, Verehrtester, das ist doch gar keine große G'schicht'. Wir fahren im Schlitten bis zur Station – dann die paar Schritt bis zum Waggon der Zahnradbahn. Es ist schon allerliebst da droben; wissen S', man hat die Sonn' noch einhalb Stündl länger als da herunten.«

Axel Groll schlug vor, die Entscheidung vom Befinden des Fräuleins abhängig zu machen.

Genzmer gesellte sich hinzu, und die beiden Herren begleiteten ihn in dem langen Hotelgang; unermüdlich wanderten sie da mit ihm auf und nieder. Er merkte wohl: sie wachten eifersüchtig darüber, daß er nicht etwa nach oben im Salon der beiden Damen vorsprach. Aber er war gar nicht in der Stimmung dazu.

Erst als es so spät geworden war, daß sein Besuch droben nicht mehr gefürchtet zu werden brauchte, verabschiedeten sie sich von ihm, um noch die Bar aufzusuchen.

Als Axel dann in seinem Zimmer am Fenster stand und in die stille Schneelandschaft hinaussah, die der Mond zauberhaft bestrahlte, packte ihn wieder die Verzweiflung. Es blieb ihm kein anderer Ausweg: er mußte St. Moritz verlassen, damit er sich nicht gezwungen sah, mit Gertie zu verhandeln.

Er klingelte, um seinen großen Koffer hereinschaffen zu lassen, der draußen im Flur stand. Er entsann sich, daß sein Kursbuch darin lag. Als er dem grünbeschürzten Manne seinen Auftrag erteilte, kam gerade Mynheer van Jonckbloet vom Lift her und hielt ein paar Augenblicke an der Tür des Nebenzimmers. Sie waren Nachbarn. Ohne seine Pfeife aus den Zähnen zu lassen, fragte er den jungen Arzt: »Sie reisen schon? Ich dachte, Sie machen das Rennen mit dem Bob ›Soleil‹ mit?«

»Ich weiß nicht. Möglich. Guten Abend, Herr –« Er hatte keine Neigung eine Unterhaltung zwischen Tür und Angel anzuknüpfen. Jonckbloet war ihm von Anfang an unausstehlich gewesen. Ihn reizte immer wieder die gemachte Jovialität Jonckbloets.

Als er wieder in seinem Zimmer war, hörte er durch die dünne Wand den Holländer vor sich hin summen – die Melodie des Tanzes, den das Hotelorchester fast allabendlich unten in der Halle spielte. Jonckbloet schien irgend etwas zu suchen, denn es klapperten verschiedene Schubfächer – nun fiel ein Gegenstand – das Trällern brach ab, der Dicke brummte, stöhnte –, er schien sich zu bücken und das Gefallene aufzulesen Endlich stapfte er wieder der Tür zu, ließ sie hinter sich ins Schloß fallen und begab sich weitersummend zum Lift zurück.

»Natürlich erfährt Gertie nun in den nächsten zwei Minuten, daß ich mir den Koffer habe hereinschaffen lassen«, sagte er zu sich, während er am Schreibtisch im Kursbuch blätterte.

Und der Trotz bäumte sich in ihm auf, daß er vor ihr die Flucht ergreifen sollte.

Vor diesem Weib, das ihm nichts war als eine Last. Eine Last, die er abschütteln konnte, wenn er nur ernstlich wollte.

Und an Lore dachte er.

Es war ja erst ein leiser, zarter Beginn zwischen ihnen – aber Abschiednehmen hieß jetzt: Verlieren auf immer! Als er am andern Morgen der Patientin seinen Besuch machte, hatte er sich wieder völlig in der Gewalt. Er wollte es auf den Kampf mit Gertie ankommen lassen.

Willemintje hatte schon ihre ersten Gehversuche gemacht, sie fühlte sich vom langen Liegen noch matt, bettelte aber inständig um die Erlaubnis, die Fahrt nach dem berühmten Aussichtspunkt, der noch um ein paar hundert Meter höher lag als St. Moritz, mitmachen zu dürfen.

Die Sonne war heute noch nicht zum Vorschein gekommen. Zum erstenmal seit Wochen war der Himmel bedeckt. Lore war auf den Balkon getreten, um Ausschau zu halten. Eine leichte, weißlich-graue Dunstschicht lagerte über Tal und Höhen. Der Piz Morteratsch steckte in dicken Schneewolken.

»Richtiges Pech haben wir«, sagte Lore. »Arme Willemintje, es wird heut überhaupt nichts werden mit unserer Fahrt – ganz eisig kommt's da von Maloja her, und das ist die Wetterecke.«

Axel war ihr gefolgt. »Es riecht in der Luft nach Schnee«, meinte er.

»Das ist von euch beiden die abscheulichste Verschwörung gegen mich!« rief die Holländerin drollig entrüstet. Sie saß in einem Sessel am Kamin und ließ den Fuß auf einem Bänkchen ruhen. »Da drüben ist es schon ganz hell, die Sonne beißt sich sicher noch durch. Doktor Groll, ich war doch immer so schrecklich folgsam – das liegt sonst gar nicht in meinem Charakter ...«

»Nein, wahrhaftig nicht!« fiel Lore lachend ein. Aber sie vereinigte dann ihre Bitten mit denen der Freundin. »Erlauben Sie's wenigstens im Prinzip, damit unser Kind endlich einmal seinen Willen hat.«

»Abgemacht«, sagte Axel.

»Heute sind Sie goldig, Doktor«, sagte Willemintje, »und jetzt ist's gar keine Frage für mich, daß das Wetter gut wird. Ich habe die besten Beziehungen zu den Leutchen da droben.«

Aber der Schneehimmel wurde im Verlauf des Vormittags immer schwerer. Die Herren der Bobmannschaft machten sich ein Gewerbe daraus, in halbstündigen Zwischenpausen heraufzukommen und über den Barometerstand zu berichten. Lore verzichtete heute auf ihr Schlittschuhlaufen, um ihrer Freundin Gesellschaft zu leisten. Daß an eine Aussicht droben auf Muotas Muraigl nicht mehr zu denken war, stand für sie jetzt fest. Man sah sonst vom Balkon aus die scharfe Spur der Drahtseilbahn, das Stationsgebäude und das Hotel mit bloßem Auge. Heute waren die Umrisse nur mit dem Fernglas wahrzunehmen. Es lag ein dünner Schleier davor, eine bewegliche Nebelschicht, die noch hin und her zog, aber zur Stunde, als die Glocke zum Lunch rief, sich droben festsetzte.

So einigte sich die Bobmannschaft dahin, nachmittags nur einen kleinen Spaziergang vorzunehmen. Nach dem Hahnensee wollte man pilgern. Sporttüchtige Leute wie die Mannschaft des »Soleil« legten den allerdings ziemlich steil ansteigenden Fußpfad in einer guten Stunde zurück.

Axel war spät zu Tisch gekommen, aber als er sah, daß Mr. Biddle, Kamerlander und Genzmer den Speisesaal verließen, folgte er ihnen, ohne seine Mahlzeit zu beenden. In die Richtung, in der er Gerties Platz wußte, hatte er keinen Blick geworfen.

Der Aufbruch mußte dann noch verschoben werden. Lore hatte von ihrem Frankfurter Bankier eine geschäftliche Anfrage bekommen, deren Beantwortung sie erst mit Willemintje, »ihrem Finanzgenie«, wie sie sagte, durchsprechen mußte.

Zwischen dem Postschalter und dem Hotelausgang warteten die Herren. Sie waren alle für den Marsch gut ausgerüstet, steckten im Pullover, in Kniehose, Gamaschen und derben Bergstiefeln und trugen den mit einer Eisenspitze versehenen Bergstock. Axel Groll beteiligte sich am Gespräch der drei Genossen; seine Unruhe, endlich fortzukommen, fiel ihnen aber auf.

Der größte Teil der Gäste aus dem Speisesaal und dem Restaurant kam jetzt hier vorbei. Es wurde noch der und jener begrüßt. Auch Mayn, der eine Zeitlang geschmollt hatte, kam heran und fragte, was die Herrschaften bei dem wenig einladenden Wetter zu unternehmen gedächten. Kamerlander gab in gleichgültigem Ton Auskunft. »Warten wir lieber draußen, meine Herren«, sagte er dann, um den ihm lästigen Frager loszuwerden.

In diesem Augenblick kam Lore Englhofer an, gab ihre Depesche auf und meldete sich in drollig-strammem Ton zur Stelle, die Rechte an die Sportmütze legend.

Es fehlte die Sonne. So recht zur Geltung kam die Landschaft heute nicht. Mehrmals blieben sie auf dem Wege zum Bad St. Moritz, von dem aus der Aufstieg stattfinden mußte, stehen und überlegten, ob sie nicht lieber ihre Ski holen und hier auf dem Schneefeld üben sollten. Kamerlander wäre mehr dafür gewesen, auf dem Village-Run zu rodeln. Er hatte festgestellt, daß er in den paar Wochen Wintersport noch unter sein übliches Renngewicht heruntergekommen war. »Noch mehr anzustrengen brauch' ich mich also nicht!«

Über dem Schwatzen und Überlegen waren sie nur langsam vorwärts gekommen. Mehrere Trupps, die das gleiche Ziel haben mochten, hatten sie schon überholt. Als sie jenseits vom Stahlbad den schmalen Fußpfad erreicht hatten, der in kurzen, steilen Zickzacklinien emporführte, befand sich nur noch eine einzige Gruppe Ausflügler hinter ihnen. Man sah sie nicht, hörte bloß die Stimmen.

Die »Mannschaft« hatte anfangs einen flotten Schritt angeschlagen. Mr. Biddle ging voran. Bergauf sprach er nie eine Silbe. Um so aufgelegter zeigte sich Kamerlander. Genzmer mußte schließlich den Wettbewerb aufgeben: der Wiener war von Lores Seite heute nicht wegzubringen. Die lustige Stimme Kamerlanders beherrschte den ganzen Waldabhang.

Unterwegs veränderten sich mehrmals die Abstände. Kamerlander hatte seinen wilden Tag, er machte Lore Englhofer den Hof in einer Art, daß Genzmer ihm schon Othelloblicke zuwarf. Lore ließ sich's anfangs gefallen – dann suchte sie den Wiener durch immer raschere Schritte außer Atem zu bringen. Es war ein wahrer Wettlauf daraus geworden. Man hörte sie schon hoch oben an der Bergwand. Und dazwischen immer wieder Lores schließlich ganz erschöpftes Lachen.

Genzmer wollte den Unfug nicht mitmachen. Er war gekränkt. An einzelnen Bänken, die für die Wintergäste schneefrei gehalten wurden, blieb er stehen, um die Aussicht anzusehen. Aber es lag keine Stimmung darüber, die Flächen waren hart und kalt, weil die Sonne fehlte.

Die fremde Gesellschaft kam ihnen schon dicht auf die Fersen.

»Es scheinen Herrschaften aus unserm Hotel zu sein«, sagte Genzmer zu seinem Vordermann, als der an einer Wegkehre einmal rastete.

Axel lauschte immer der lustigen, herzlichen Stimme von Lore, lauschte ihrem Lachen, das von oben herabklang.

Aber plötzlich blieb Genzmer stehen, beugte sich ein wenig über den Abhang, um die folgende Gruppe ins Auge zu fassen, und raunte dann halblaut dem Arzt zu: »Haben Sie gesehen? Was sagen Sie dazu?« Er war ordentlich empört.

»Wozu?« fragte Axel.

»Das ist doch wieder der unausstehliche ›schöne Theo‹, der uns da nachgetappt kommt.«

Sofort blieb Axel stehen.

»Theo Mayn, der dicke Holländer, das nicht minder schöne Ehepaar aus Berlin und die allerneueste Errungenschaft des Hotels.« Genzmer schlug mit seinem Bergstock einen kleinen Schneeüberhang ab, so daß er stäubend die Bergwand hinunterrollte. »Eine Aufdringlichkeit – schauderhaft!«

Im Weitersteigen strengte sich Axel an, irgend etwas von dem, was die da unten sprachen, zu verstehen. Es war nur der Klang der Stimmen zu unterscheiden. Doch unverkennbar hörte er die von Gertie heraus.

»Übrigens können wir heilfroh sein, daß wir den Herrn Mayn nicht in unsere Bobmannschaft aufgenommen haben«, fuhr Genzmer fort. »Dieser Edelknabe ist nämlich durchaus nicht als harmloser Wintergast hier oben in St. Moritz, sondern als eine Art Geheimpolizist.«

Axel blieb wieder stehen. »Als Geheimpolizist?«

»Tatsächlich. – Angenehme Vorstellung, was? – Ich saß da gestern abend noch in der Bar: Kamerlander war dabei. Am Nebentisch die Molin. Die sogenannte Baronin. Wissen Sie, die immer die schwedischen Pünsche nippelt –«

»Ich bin noch gar nicht in der Bar gewesen.«

»Müssen Sie kennenlernen. Unbedingt höchst lehrreich dort. Die Molin könnte mich ja nun auch nicht mehr locken. Aber der Holländer – wissen Sie, der Onkel von Fräulein Willemintje –, der scheint richtig auf sie hereingefallen zu sein. Wie das Balg das anfängt. Reden kann sie ja wie ein Wasserfall. Eine böse Zunge. Auf den schönen Theo ist sie geladen. Weiß der Kuckuck, was sie mit dem gehabt hat. Ich wollte ja absichtlich nicht hin hören – aber eine ganze Mord- und Totschlagsgeschichte hat sie da aufgerührt.«

»So. Die Molin. Hm. Und dabei – hat sie Mayns Namen genannt?«

»Sie wisse ganz genau, der ›schöne Theo‹ sei bloß hergeschickt, um Material zu sammeln. Die Sache werde noch die Staatsanwaltschaft beschäftigen. Wie finden Sie das? Das ist doch sonst nicht das Geschäft von richtigen Juristen: Personen beobachten, wie? Material sammeln – was heißt das? Personen beobachten – in unserm Hotel?«

»Natürlich. – Wenn mir der dicke Holländer mal wieder in die Quere kommt, hol' ich ihn aus.«

In dieser Sekunde stieß Kamerlander droben einen Juchzer aus. Man hörte ein mehrfaches Echo. Und dann rief Lore: »Land! Land!«

Bei der nächsten Wegbiegung sahen sie zwischen den Tannen das hölzerne Waldhaus, ihr Ziel. Nun beschleunigten sie alle den Schritt. Als sie das Gebäude erreichten, blieben sie im Schnee auf dem kleinen Vorplatz stehen. Kamerlander erklärte im Tone eines Ausrufers die Gegend, von der man der schwer herabhängenden Wolken wegen herzlich wenig sah.

Lore fiel es auf, daß Groll sehr still dabei blieb. Aber als sie hernach das kleine Wirtshaus betraten, wußte sie sogleich den Grund: der eine Tisch am Fenster war von einer Gesellschaft eingenommen, in der sich Jonckbloet, Mayn und die neu angekommene Berlinerin befanden.

Sie mußten fast Schulter an Schulter mit ihnen Platz nehmen, und Mayn versuchte, das Gespräch allgemein zu machen. Hätte nicht Genzmer schon Tee bestellt – Lore wäre am liebsten sogleich aufgebrochen. Sie fühlte die forschenden Blicke dieser Fremden. Es machte sie unfrei.

Kühl und förmlich hatte Groll die Gesellschaft am Nebentisch gegrüßt. Frau Selle wandte sich ihm aber sogleich zu und begann eine eifrige Unterhaltung. »Sie sollen ja ein so vorzüglicher Bobfahrer sein, lieber Freund! Und das haben Sie mir in Berlin verschwiegen? – Wird man Sie denn morgen endlich bewundern können? – Wann fangen die Übungen immer an?«

Der Teelöffel klapperte in Lores Hand. Sie stellte die Tasse hin. »Unerträglich heiß ist's hier!« stieß sie aus. Dann stand sie auf und verließ den engen Raum. Als ihre Begleiter folgten, trafen sie sie draußen an der Tür eines Geräteschuppens in eifriger Unterhandlung mit der Wirtin. Lore hatte Ski aus dem Schuppen herausgezogen und untersuchte die Bindung.

»Ich will ein Pfand lassen«, rief sie Genzmer eifrig zu, »bitte, legen Sie für mich aus. – Ich schicke sie Ihnen morgen mit einem Boten wieder zu, liebe Frau.«

Die Frau zögerte noch immer. Es waren die Ski ihres Mannes und ihres Sohnes.

»Aber ich bitt Sie um alles in der Welt!« rief Kamerlander entsetzt. »Sie werden doch nicht auf Brettln hinunter wollen? Jetzt – das geht ja gar nicht!«

»Doch, doch. Es soll ganz gut abzufahren sein. In zwanzig Minuten ist man unten.«

»Ausgeschlossen«, sagte Genzmer, »das können wir unter keinen Umständen dulden. Mister Biddle, reden Sie ein Machtwort.«

Auch Mr. Biddle erklärte das Unternehmen für gewagt. Er hatte die Strecke zwar noch nicht selbst befahren, hielt sie aber zum mindesten für wenig angenehm wegen der vielen Windungen und der Bäume.

Lore machte eine kurze, fast heftige Bewegung mit dem Kopf nach dem Wirtshaus. »Ich mag aber nicht immer diesen Troß da hinter mir wissen!«

So erregt hatten die Herren sie noch nie gesehen.

Inzwischen hatte Axel Groll die Unterhandlung mit der Wirtin weitergeführt, auch das zweite Paar Ski geprüft. »Allein lasse ich Sie den Weg auf keinen Fall machen, gnädiges Fräulein«, sagte er bestimmt.

Sie sah ihm fest ins Auge. »Gut. Begleiten Sie mich.«

Die anderen Herren erklärten das für einen Bruch des Abkommens; vor allem gönnten sie dem Doktor das Alleinsein mit Lore nicht. Willemintjes Unfall ward ihr warnend ins Gedächtnis gerufen. Aber Lore setzte ihren Schwarzwälder Trotzkopf durch.

Gerade öffnete sich die Tür der Wirtschaft. Mit einer Welle heißer Luft, die das Parfüm der beiden Damen mit sich führte, trat die andere Gesellschaft auf den Vorplatz.

»Kommen Sie!« sagte Lore, den Kopf zurückwerfend. Und in kurzen, aber festen Zügen glitt sie über die Kuppe auf die Schneebahn zu, die unzählige Skispuren als den üblichen Weg bezeichneten.

Sie hörte noch, daß Mayn den Arzt ansprach – andere Stimmen mischten sich ein, verwundert fragend – sie hörte ihn in deutlich abweisendem Ton erwidern.

Gleich darauf rauschte es hinter ihr im Schnee: Axel Groll folgte ihr.

Über den obersten Abhang, der sich nach Osten nur sanft neigte, ging's in mäßiger Fahrt. Der Arzt hielt sich in kurzem Abstand hinter ihr. Eine mäßige Schwenkung der Skispur brachte sie dann mehr nach rechts. Und nun wußten sie, daß sie für die oben Zurückgebliebenen auch mit dem Fernglas nicht mehr sichtbar waren.

Ohne Verabredung stoppten sie beide, und Axel zog die Uhr. »Es ist zwölf Minuten vor fünf. Um fünf müßten wir also unten sein. Es wird auch schon mit Macht finster.«

»Der Weg ist ja gut bezeichnet ...«

Sie sahen einander an – sie hatten sich ganz anderes zu sagen. Aber keines von ihnen fand den Mut.

Langsamer, weil es hier eine Strecke weit ganz eben ging, setzten sie den Weg fort.

Als sie an der Stange mit dem Strohwisch anlangten, die ihnen die Wirtin als Richtungspunkt bezeichnet hatte, hielt Lore wieder inne.

»Ich konnte nicht mehr droben bleiben«, sagte sie unvermittelt.

Er sah, wie es in ihr arbeitete. Der Widerwille gegen die Fremde hatte sie aufgepeitscht. Er fühlte auch, daß etwas wie Eifersucht sie mitbestimmte. Das floß über ihn hin wie eine warme Welle.

»Aber Sie – sind mit Ihren Gedanken noch immer oben, scheint's«, setzte sie hinzu. Es sollte leicht hingeworfen klingen. Aber sie schluckte dabei. Und nun sah sie sich verraten – und blickte ihn ganz hilflos an.

Er streckte ihr die Hand hin, und sie nahm sie. »Sind wir Freunde geworden?« fragte er halblaut.

»Ich möchte es gern. Aber immer wieder kommt so ein Bangen über mich.«

»Vor mir?«

»Ja. Auch. Ehrlich müssen Sie sein. Hören Sie? Aufrichtig. Anders kann ich mir keine Freundschaft denken.«

Es hatte sachte zu schneien angefangen. Dabei wurde es plötzlich um einen Schein heller. Sie hatten die Hände noch nicht gelöst. Durch die Handschuhe hindurch fühlte Axel ihre Wärme. Ein paar Flocken fielen auf ihre Wangen. Sie stand unbeweglich, das Antlitz ihm zugewandt. Groß waren ihre Augen geöffnet.

»Ich sehne mich doch so nach einem Menschen«, sagte er, ganz im Banne ihres Blicks, »ich bin doch so furchtbar einsam.«

»Das weiß ich. Vom ersten Abend an. Warum haben Sie seitdem nie Vertrauen zu mir gefaßt?«

Er lächelte trübe. »Ach, liebes Fräulein Lore –! So ein Sonntagskind wie Sie, vom Schicksal gehätschelt, von aller Welt umworben –!«

»Sie haben Sorgen. Denken Sie, das merke ich nicht? Oder denken Sie, ich sei so oberflächlich ...« Sie entzog ihm ihre Hand. »Damit kränken Sie mich nur. Wissen Sie das?«

»Ich will es nicht.«

Sie kämpfte etwas in sich nieder. Mit plötzlichem Entschluß setzte sie ihren Tellerstock ein und fuhr weiter.

Der Abhang senkte sich nach Osten. Tief da unten blitzten Lichter. Davor, auf den weiten Schneehalden, lagen schon die blauen Abendschatten. Die niederwirbelnden Flocken gaben der Stimmung aber einen freundlichen Ton. Es hatte seinen Reiz, so durch den Schnee zu fahren. In der Senkung, die auf die Lichter zuführte, war vom Wind kaum etwas zu spüren. So fühlten sie auch keine Kälte.

Auf der Weiterfahrt versuchte er nun mehrmals an ihre Seite zu kommen, aber sie hielt sich in der Mitte der Fahrrinne, immer genau vor ihm, um ihn daran zu hindern. Sie wollte ihm ihr Gesicht nicht zeigen.

Nun nannte er bittend ihren Namen. Mehrmals. Aber jedesmal schüttelte sie den Kopf.

Mit einem erschrockenen Aufschrei bremste sie plötzlich, beide Arme hochwerfend. Er warf sich sofort zurück, fiel aber und verlor den Stock.

Während er sich aus dem Schnee wieder herausarbeitete, sagte sie, auf den tiefen Einschnitt zeigend, der sich dicht vor ihnen öffnete: »Das ist ja lustig. Wir sind falsch gefahren.«

Er war ihr auf der letzten Strecke blindlings gefolgt. Sie gab kleinmütig zu, daß sie auf die Skispuren nicht mehr geachtet hatte.

»Dann müssen wir so weit zurück, bis wir sie finden.«

Sie amüsierte sich über sein Aussehen. Über und über haftete der Schnee an seinem Anzug. Auch in seinem kurzen Haar, in den Augenbrauen. Als er den Schnee vom Kopf herunterwischte, geriet ein Teil in den Überschlag seines Sweaters. Natürlich schüttelte er sich.

Auf dem Rückweg, bergauf, sprachen sie nur über die verschiedenen Möglichkeiten, um die Schlucht herumzukommen. Es wurde rasch finster, der Schnee, der jetzt dichter fiel, fing auch an, lästig zu werden. Fast eine Viertelstunde verging – sie fanden die Spur nicht mehr.

»So viel Schnee ist nicht gefallen, daß sie schon ganz verweht wäre«, meinte Axel, »denn hier ist doch noch unsere von vorhin. Wir müssen schon viel weiter oben abgekommen sein.«

»Gleich dort oben, wo Sie so garstig zu mir waren.«

Er erhaschte ihre Hand. Sie mußte stehenbleiben.

»War ich das wirklich?« fragte er, mit einer Bitte im Ton.

Sie nickte heftig. »Sehr. Sehr.« Dabei behielt sie die dunkeln Augen groß aufgeschlagen.

In dem seltsamen Dämmerlicht verschwammen ihre Umrisse mit dem wallenden Schleier, den der herabrieselnde Schnee bildete. Wie ein Märchen sahen ihn diese Augen an. Und doch leuchtete Schalk mit daraus hervor.

»Und ich kann's nicht mehr gutmachen?« fragte er nach einem Schweigen, dem sie sich beide wie verträumt hingegeben hatten.

Sie hob die Schultern. Dann wollte sie ihm ihre Hand entziehen. Aber plötzlich umfaßte er sie, zog ihren Kopf an sich und küßte sie – auf die Augen, die Wangen, aufs Kinn, wie er sie erreichte ...

Sie sträubte sich. Die Lippen überließ sie ihm nicht. Eine heftige Bewegung, die sie in ihrer Bestürzung mit dem linken Ski ausführte, brachte sie ins Taumeln. Er wollte sie auffangen, verlor aber selbst das Gleichgewicht. Und nun steckten sie beide fast bis an die Hüften im Schnee.

»Und das – war nicht garstig?« fragte sie atemlos.

Er hatte rasch die Bindungen seiner Ski gelöst, um ihr aufzuhelfen. Es ging aber nicht so leicht. Er mußte auch sie erst von den Schneeschuhen befreien. Dabei stützte sie sich auf seine Schulter. Sie war in dieser Stellung so ungeschickt, daß sie trotz allem über sich lachen mußte. Und das gab ihm wieder Mut. Er richtete sich rasch auf, umfing sie noch einmal, hielt ihren Kopf mit beiden Händen fest und küßte sie wieder und wieder. Diesmal auf den Mund.

Und jetzt ließ sie's geschehen, wie in einer Erschöpfung.

Bis der Schnee, der an seinen Handschuhen klebte, von ihrer Wärme schmolz und ihr von oben in den Pullover floß. Da schrie sie leicht auf, und er gab ihren Mund frei, hielt sie aber noch immer an sich gepreßt. Brust an Brust standen sie so im Schnee, beide nach Atem ringend.

»Lore – bitte – hilf mir!« stieß er aus.

Der Ton ging ihr durch und durch. Sie preßte die Lippen fest aufeinander. Die Tränen traten ihr plötzlich in die Augen. Sie wandte das Antlitz ab. Schluckend, noch nicht in voller Herrschaft über ihre Stimme, sagte sie: »Haben Sie nicht mich hilflos gemacht? – Wie könnte ich Ihnen helfen?«

»Sie brauchten mir nur auf eine Frage zu antworten. – Bin ich Ihnen etwas wert? Sagen Sie, Lore – Sag, Lore. – Lohnt dir's die Mühe, mir zu helfen, dann kannst du's. Bitte, bitte: sag doch, Lore.«

Ein paarmal setzte sie an. Schließlich kam es fast trotzig von ihren Lippen: »Ja. Ich bin Ihnen gut. Sehr. Mehr – als Sie's verdienen.«

»Als ich's verdiene. Ach, Lore! Warum verdien ich's nicht?«

»Sie haben kein Vertrauen zu mir gezeigt. Noch nie. Aber ich hab' Ihnen Vertrauen gezeigt. Schon lange. Und jetzt mißbrauchen Sie's. Ist es nicht so?«

»Nein, so ist es nicht. Ach, Lore – und jetzt laß mich doch nur glücklich sein, nur glücklich. Ich hab' dich. Du bist mir gut.«

»Nicht küssen. Bitte, bitte. Nicht mehr küssen.«

Mund an Mund hielten sie, Brust an Brust. Aber er gehorchte. Wie trunken sah er ihr in die Augen. »Du lieber, prächtiger Mensch, du!«

»Und du – Rätsel du!« sagte sie nach einigem Schweigen ganz leise.

Tiefe Stille hatte sie umgeben. Nun fuhr aber plötzlich ein Wirbel über sie hin und beschüttete sie mit trockenem, körnigem Schnee. Es waren nicht die weichen, schweren Flocken, sondern es war ein Schnee, der auf die Haut wie scharfer Sand wirkte. Als ob weiße Kobolde um sie tanzten und sie bewürfen. Lore duckte sich und schlug die Hände vors Gesicht.

Der Wirbel ging vorüber. Aber sie hatten im Nu eiskalte Ohren bekommen.

»Jetzt heißt's aber vernünftig sein, Axel, und auf den Weg aufpassen.«

»Am besten, wir halten auf die Lichter zu. Da müssen wir dann auf den Fußweg stoßen, den wir heraufgekommen sind.«

Während sie wieder die Ski festmachten, sagte sie: »In zehn Minuten ist es Nacht.«

Er zog die Uhr. Nur ganz matt war der Zeiger zu erkennen. »Das ist doch nicht möglich«, sagte er erschrocken, »halb sechs –!«

»Hier oben finden wir uns noch leidlich zurecht, aber im Wald ist's schon stockfinster. Kehren wir lieber zum Haus zurück.«

»Das finden wir jetzt nicht mehr. Der Schnee ist zu dicht geworden.«

»Also können wir uns sachte aufs Erfrieren vorbereiten.« Es lag noch Galgenhumor in ihrem Ton. Aber ihm wurde bange für sie. Sie hatten sich langsam in Bewegung gesetzt. Ganz verschwommen erkannte man in einiger Entfernung die Baumgrenze. Darauf hielten sie zu. Je näher sie dem Wald kamen, desto ruhiger ward die Luft. Nur im Geäst pfiff und rauschte es. Sie blieben wieder stehen und hielten Ausschau.

Auf den Ski hier weiterzukommen, war ausgeschlossen, der Abhang war zu steil.

»Da – die Lichter von St. Moritz!« rief Axel freudig überrascht. Zwischen den Stämmen sah man tatsächlich einen matten Schimmer.

»Wir müssen die Ski hinter uns herziehen«, sagte sie. Rasch lösten sie wieder die Bindung. Aber als sie daneben traten, sanken sie sofort bis über die Knie in den Schnee. Und nun begann ein gefahrvolles Bergabklettern. Er ging voran. Nur ruckweise kam man abwärts. Manchmal schrie Lore auf. Angstvoll rief er dann nach ihr.

Schließlich sahen sie ein, daß die Ski sie nur hinderten, und entschlossen sich, sie zu opfern.

»Halte dich fest an mir, Lore. – So. Ruhe, Ruhe. – Hallo!«

Sie rutschten jetzt mehr, als daß sie kletterten. Vorsichtig vermied er die Stämme, obwohl es lockte, sie zum Halten zu benutzen. Aus dem weißen Schnee hoben sich die Bäume für das an die Dunkelheit gewöhnte Auge noch ziemlich scharf ab. Mehrmals galt es, über tiefere Abhänge hinunterzukommen. Da mußte sie hinter ihn treten, sich auf seinen Rücken kauern, ihn mit den Armen umfassen, und er ließ sich eine Strecke weit hinabgleiten. Das Haltfinden im Schnee war schwierig. Immer war er der Gefahr ausgesetzt, daß er mit dem Absatz in dem Wurzelwerk unterm Schnee hängenblieb.

»Horch!« rief sie plötzlich.

Unheimlich rauschte es hoch über ihnen, auf dem Schneefeld, das sie verlassen hatten.

»Das klingt wie Föhn«, sagte er. Sie warteten und lauschten. Es rauschte immer stärker, jagte heran, Äste brachen, und eine wuchtige Schütte Schnee zerstäubte über ihnen.

Lore klammerte sich an ihn. Er war das einzige Mal, daß sie Furcht verriet.

Er sprach ihr zu. »Das Schlimmste ist überstanden!« Das Heulen des Windes klang schauerlich. Wie entferntes Kinderweinen hörte sich's jetzt an. Sie setzten den mühsamen Weg fort, in immer kürzeren Absätzen. Endlich lag das Tal dicht unter ihnen.

»Das kann aber doch nicht der See sein – das da unten, wo die Lichter sind!« sagte er verwundert.

Sie saßen nun nebeneinander, um Atem zu schöpfen, auf dem Rand eines Abhangs. Die Lichter waren viel näher gekommen und schon einzeln zu unterscheiden, verteilten sich aber ganz anders als die von St. Moritz. Vor allem fehlten die mächtigen Hotelkasten mit den siebenfachen Lichterreihen. Auch das Tal, zu dem sie hinunterkletterten, war viel, viel schmaler.

Noch ein paar dutzendmal glitten sie eine kurze Strecke zwischen den Bäumen abwärts. Erschöpft hielten sie dann wieder. Von der Kälte spürten sie nichts. Die Stirn hatte sich ihnen beiden gefeuchtet.

»Ich will dir sagen, was das ist, Lore. Du wirst mich auslachen, aber recht hab' ich doch. Es ist Pontresina.«

Sie lachte wirklich. Aber es war ein nervöses, von der Anstrengung überreiztes Lachen. »Das liegt ja in ganz anderer Richtung –!«

»Ich täusche mich nicht. Wir sind in einem wundervollen Halbkreis um den Piz Rosatsch herumgekommen. Und bei Tage hätten wir die Strecke nicht genommen.«

»Warum nicht?«

»Weil wir da die Gefahr gesehen hatten.«

»Ist jetzt keine mehr?«

»Nein. Da unten links zwischen den Bäumen liegt der Statzer See. Der dunklere Streifen ist der Weg nach Pontresina, der helle, blitzende, die Eisenbahn.«

Sie atmete auf. »Gottlob.«

Als sie endlich unten waren, mußten sie noch einen Zaun überklettern. Sie ließ sich erschöpft niedersinken und lehnte den Kopf zurück. Die Knie zitterten ihr.

»Was bist du aber für ein tapferes Mädel gewesen, Lore! – Andere hätten geweint.«

»Ich – tu's jetzt!« stieß sie aus. Es kamen ihr wirklich zugleich die Tränen. Aber sie lachte dabei. Ihre Überreizung ängstigte ihn. Er wollte auch nicht dulden, daß sie länger hier im Schnee sitzenblieb. Sie war von der Anstrengung heiß geworden. Hier, wo sie aus dem Schutze des Waldes herauskamen, pfiff ein eisiger Wind. Er half ihr auf, umfaßte sie und stützte sie beim Weitermarschieren. Es war noch eine tüchtige Strecke, und man mußte ordentlich ankämpfen gegen den Wind. Beim Übergang über die Schienen der Bahn blendete sie das flackernde Licht, das aus den Wärterbuden herausfiel, so stark, daß sie die Augen schließen mußten.

»Im Schloßhotel machen wir Rast«, sagte er. »Ich rufe in St. Moritz an; dein Mädchen muß im Schlitten schleunigst mit warmen Sachen für dich herüberkommen.«

Sie schwieg. Widerspruchslos wollte sie sich in seine Anordnungen fügen. Was an Strapazen hinter ihr lag, faßte sie nur noch als sportliche Leistung auf. Das war überwunden. In ihren Gedanken arbeitete jetzt ganz anderes.

»Ich bereue es nicht«, sagte sie nach längerem Schweigen und wandte ihm im Weiterschreiten das Gesicht zu. »Du?«

Ihre großen, dunklen Augen hatten einen ängstlich forschenden Ausdruck angenommen.

»Ach – liebe Lore!« sagte er nur leise.

»Daß ich dich weggeholt habe, meine ich.«

»Kind –!«

»Ja. Von da oben. Von ihr.«

Bestürzt blieb er stehen. »Wie kommst du jetzt darauf?«

Die Erregung, die Ermüdung wirkten zusammen. Sie warf sich plötzlich schluchzend in seine Arme.

»Was hast du, Lore?«

»Du – weißt es doch.«

»Nein, Lore.«

»Du hast mich geküßt, Axel. Ich hab' dir gesagt, daß ich dir gut bin. Aber jetzt fordere ich etwas von dir.«

»Sprich doch.«

»Offenheit, Vertrauen.«

»Warum zweifelst du jetzt noch?«

Sie sah ihn lange prüfend an. Endlich sagte sie: »Was hat die Frau – in deinem Leben zu bedeuten?«

»Ach, Lore –! Wie traurig, daß wir jetzt darüber sprechen sollen!«

»Sag mir die Wahrheit. Bitte, Axel. Die volle Wahrheit.«

»Komm doch, Liebling. Der eisige Wind, du bist erhitzt, erregt.«

»Weich mir nicht aus. Axel, es ist doch keine Neugier. Vertrauen will ich zu dir haben. Fühlst du denn das nicht?«

»Mein Herz ist frei, Lore. Mehr kann ich dir nicht sagen.«

»Sie verfolgt dich?«

»Ja. Lange schon.«

»Sie hat ein Recht an dich?«

»Nicht so – wie du's vielleicht dir auslegst.«

Sie schloß die Augen. Irgendeine Gewalt trieb sie, gegen die sie sich nicht wehren konnte. »Da sind Leute, die verbreiten Dinge über dich und über sie, Dinge, die ich nicht glauben will – nicht glauben kann und darf. Wie ein Gift ist das. Und davon mußt du mich befreien. Was gibt ihr ein Recht an dich? Sag mir's, Axel. Ein Versprechen?«

»Nein, Lore.«

»Ist es - eine Schuld?«

»Warum wühlst du das auf? Warum nur?«

Sie wies auf die ersten Häuser. »Wenn wir dort unten sind, ist es überwunden. Dann haben wir Licht und Wärme. Dann sollst du mir frei ins Auge sehen können. Axel, willst du das nicht? Warum schweigst du?«

Traurig sah er ihr ins Auge. »Ich kann dir nicht alles sagen. Eine Schuld – so wie die Leute sie vielleicht annehmen - war es nicht.«

»Mach dir doch das Gewissen frei, Axel. Dann gibt es nichts, nichts mehr, was uns trennt.«

»Trennt uns jetzt noch etwas? Da oben dacht' ich, es wär' ein schöner Bund zwischen uns geschlossen. Fürs Leben.«

Wieder blieb sie stehen. »Du weißt ja nicht, wie es mich schon gequält hat. Und Willemintje kann und will ich nicht eher beichten, als bis ich ihr sagen darf: ›Die haben alle unrecht!‹ Also sprich, Axel. Noch ist Zeit. Die kurze Strecke, siehst du.«

»Ich – kann nicht.«

»Mir kannst du die Wahrheit nicht sagen? Mir? Du willst, daß wir ein Leben zusammenleben – nicht wahr, das willst du doch? – und trägst vielleicht ein großes, furchtbares Geheimnis mit dir herum?«

»Lore –!« Er schrie es fast, so quälte ihn ihre sich steigernde Erregung. Rufend, bittend folgte er ihr. Erst am hellerleuchteten Eingang des Schloßhotels hielt sie inne.

»Lore, laß dir doch sagen –«

Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nun ist es zu spät.«

»Zu spät?«

»Nun kann es nie zwischen uns gut werden.«

Frierend, zitternd, mit nassen Augen lief sie ins Hotel. Die ersten Angestellten, die ihr begegneten und dann den ihr folgenden Mann sahen, blieben verdutzt stehen. Ihre Kleider waren zerrissen, die Gamaschen hingen in Fetzen herunter, sie waren über und über mit Erde und Schnee bedeckt.

»Wir haben uns verirrt, auf einer Skifahrt!« stieß Axel aus, noch atemlos.

Gäste liefen zusammen, eine Dame kam aus dem Büro, eine Klingel wurde in Tätigkeit gesetzt, man fragte von mehreren Seiten, wollte wissen, ob noch andere draußen im Schnee geblieben seien.

»Sorgen Sie nur rasch für die Dame!« Er sah noch, daß die Empfangsdame und ein anderes weibliches Wesen Lore in die Mitte nahmen und sie führten, da sie schwankte.

Ein Hotelangestellter erbot sich, dem verwahrlosten Ankömmling mit trockenem Zeug auszuhelfen; ein anderer fragte, ob er Tee oder Wein haben wollte.

Er fühlte die eiskalte, nasse Wäsche auf der Haut. Die Zähne schlugen ihm aufeinander. Aber er wies alle Hilfe ab. »Zuerst muß ich St. Moritz anrufen. Die werden dort in Angst um die junge Dame sein.«

*

Beim Diner wurde im Grandhotel zu St. Moritz an vielen Tischen über das Schicksal der beiden Skiläufer gesprochen. Der Föhn heulte draußen, es war Nacht, dichter Schnee fiel. Gäste, die mit den Orts- und Witterungsverhältnissen vertraut waren, meinten: wenn bis um acht Uhr keine Nachricht von den beiden verwegenen Skiläufern da sei, müsse man sich auf das Schlimmste gefaßt machen.

Willemintje befand sich in heller Verzweiflung. Die Herren vom Bob »Soleil« waren in ewiger Bewegung. Noch kurz vor Tisch schickte sie den Baron zum Telephon, um Verbindung mit dem Waldhaus am Hahnensee herzustellen, Genzmer zum Hoteldirektor, um ihn um Rat und Hilfe zu bitten – mit Mr. Biddle verabredete sie die Absendung einer Hilfsmannschaft. Wenn die beiden bis zum Diner nicht da waren, sollte ein Dutzend Engadiner aufgeboten werden, darunter auch der Skilehrer, um die Vermißten aufzustöbern, ihnen zu Hilfe zu kommen.

Jeder Tag brachte hier eine ähnliche Aufregung für die Winterkurgäste. Der Sport, der her ausgeübt wurde, konnte in fast jeder Form gefährlich werden. Im Verlauf eines vollen Winters forderte er auch manches Opfer. Über einen neuen Fall brauchte von irgendeinem Augenzeugen nur flüchtig im Aufzug zwischen zwei Stockwerken berichtet zu werden, sofort nahm die Kunde ihren Weg vom Erdgeschoß in alle Stockwerke hinauf und in die Zimmerreihen hinunter, die zwischen den großen Sälen und dem Eisplatz lagen. Die Liftjungen mußten dann bei ihren sämtlichen Fahrten als lebende Zeitung dienen.

Während der Mahlzeit blieb der Tisch der beiden Herren vom Bob »Soleil« unter steter Beobachtung. Auch mit Mr. Biddle, der bei seinen Eltern saß, wurde ständige Augenverbindung gehalten. Man ließ sie sich zeigen, stellte ihre Aufgeregtheit fest und ereiferte sich mit. Wenn zu einem der Herren ein Groom trat und der Gast darauf den Platz verließ, folgten ihm die Blicke von sechshundert Augen. Und in allen Kultursprachen erörterte man die Frage: ob wohl schon Nachricht über die Verirrten da sei?

Auch an dem runden Tisch im Hintergrund des großen Saales zwischen den Säulen bildete das Abenteuer der beiden Skiläufer das Hauptgespräch.

Frau Gertie war während der ganzen Mahlzeit sehr erregt. Nach jedem Gang fragte sie den Oberkellner, ob man Genaueres wisse. Als das gebackene Eis gebracht wurde und der Platz immer noch leer blieb, kam eine zornige Gereiztheit in ihr auf. »Ich begreife den Mann nicht. Ist es nicht lächerlich? Sich von so einem unvernünftigen Ding bei sinkender Nacht ins Ungewisse mitschleppen zu lassen!«

Mayn war stets über alles unterrichtet, wußte also auch über die große Gefahr Auskunft zu geben, in der sich das waghalsige Paar befand. Vorhin, im Lift, hatte er gehört, daß vor drei Jahren auf derselben Strecke unter ganz ähnlichen Umständen ein junger Norweger ums Leben gekommen sei. Frau Vogel erzählte daran anknüpfend noch schauerlichere Begebenheiten. Jonckbloet urteilte ruhiger. Er hatte vor Tisch mit dem leitenden Arzt des Hotels über den Fall gesprochen, und dieser meinte, die Berichte über diese Abenteuer seien gewöhnlich maßlos übertrieben. Allerdings wunderte er sich darüber, daß den Begleiter der jungen Dame, da er doch selbst Arzt sei, nicht die pflichtmäßige Überlegung zurückgehalten habe.

»Sie hat ihm ja keine Ruhe gelassen!« rief Frau Gertie. »Ich habe doch die Blicke beobachtet, die zwischen ihnen hin und her gegangen sind.«

Mayn kniff ein Auge zusammen und blinzelte der jungen Frau halb vertraulich zu. »Tja – es war, als ob da ein bißchen Eifersucht mitspielte, nicht?«

Eine leichte Blutwelle trat in das feingepuderte Antlitz der »Schlangendame«. Das entging keinem an der Tafel. Jonckbloet schmunzelte. Es machte ihm ein besonderes Vergnügen, die junge Witwe durch seine forschenden Blicke in Verlegenheit zu setzen. Übrigens sah sie wieder blendend aus in ihrem schwarzen Abendkleid. Es war nicht das vom Abend zuvor, sondern ein neues, ganz aus Crepe de Chine; von dem sehr tiefen Nackenausschnitt flossen zwei zarte, schwarze, schleierähnliche Überhänge bis zur Erde hinab. Durch ihr bernsteingelbes Haar hatte sie ein breites, schwarzes, flitterbesetztes Band ziehen lassen. Wie ein durchbrochener Glorienschein wirkte das.

Zwischen Frau Vogel und Herrn Mayn entspann sich ein eingehendes Gespräch über Lore Englhofer. Immer wieder warf Frau Gertie kurze Fragen dazwischen. Sie hatte sich im Laufe des Tages schon da und dort zu unterrichten gesucht. Ob es auf Wahrheit beruhe, daß sie so maßlos reich sei? Ob sie denn wirklich ganz allein über ihr Vermögen verfüge? Habe sie denn keinen einzigen männlichen Verwandten? Ob sie noch nie verlobt gewesen sei? Es müsse doch seine Gründe haben, daß ein Mädchen, wenn es sich wirklich in so glänzenden Verhältnissen befand, so frei durch die Welt ziehe.

Über ihre Freundschaft mit Fräulein Willemintje, überhaupt über die Persönlichkeit der Holländerin, herrschte ziemliches Dunkel. Jonckbloet verbreitete sich nicht ausführlicher über seine Nichte.

Herr Vogel wollte gehört haben, die Holländerin hätte ihr einmal bei einem Schiffbruch das Leben gerettet, zum Dank dafür habe Fräulein Englhofer sie zu ihrer Universalerbin eingesetzt.

»Dann soll sie sich vor ihrer Freundin nur in acht nehmen!« warf Frau Vogel rauh lachend dazwischen.

Ihr Mann und Mayn stimmten in ihr Lachen ein. Jonckbloet verstand den Zusammenhang zuerst nicht; als sie's ihm deutlicher machten, krähte er laut auf, verschluckte sich und wurde krebsrot im Gesicht.

Gerties unruhig flimmernde Augen sandten indes ihre Blicke durch den ganzen Saal.

»Was schaust du denn bloß immer nach dem Menschen aus?« fragte Frau Vogel, die Nase hochhebend, von oben her.

Sie lachte nervös. »Spaß macht es mir. Warum soll es mir nicht Spaß machen? Er ist so drollig, wenn er lügt. Man sieht es ihm nämlich immer an. Oh, ich werde ihn schon damit aufziehen. Ein ausgewachsener Mann – und läßt sich auf solche Backfischtorheiten ein. Komisch. Nicht?« Sie sprach verwirrt. Und wieder lachte sie unnatürlich hell und überreizt.

Während sie der Halle zuschritten, schlug Jonckbloet der jungen Witwe eine Partie Bridge vor. Das Gerede, das über sie im Werke war, ermutigte ihn, sich etwas freier zu geben. Die »Schlangendame« fesselte ihn von allen Damen am meisten.

Aber zum Aufgeben ihres Beobachtungspostens hier auf dem geradlehnigen roten Sofa in der Halle war Frau Gertie heute nicht zu bewegen. »Es ist so wahnsinnig anregend hier!« sagte sie in ihrem hellen, flatternden Ton. Sie hatte sich tief zurückgelehnt, ihre nackten Schultern lagen auf der brennendroten Sofalehne. Mit übergeschlagenen Beinen ruhte sie so und blickte nach der Marmortreppe aus, eine Zigarette zwischen den Lippen, in fieberhafter Erwartung der Nachricht über den Doktor Groll.

»Es hat aus Pontresina angerufen!«

Als diese Nachricht in die Halle gelangte, stand Willemintje, auf einen Spazierstock gestützt, draußen im Wandelgang. Die Herren der Bobmannschaft und andere Bekannte suchten sie immer wieder mit neuen Vorschlägen zu unterstützen, hielten die Verhandlung damit aber nur auf.

Der Hoteldirektor erklärte es für das beste, eine geschlossene Schlittenkutsche hinüberzuschicken mit trockener Wäsche und trockenen Kleidern. Es genügte seiner Meinung nach völlig, wenn Fräulein de Steeg die Jungfer mitfahren ließ, außerdem noch höchstens einen der Herren. Ein Unfall schien nach Grolls Bericht nicht vorzuliegen.

Aber keiner der Herren wollte zurücktreten.

So mußten denn zwei Schlittenkutschen geholt werden. Willemintje hatte für Lore einen Handkoffer gepackt, den die Jungfer mitnahm. Genzmer war mit dem jungen Biddle in Dr. Grolls Zimmer gegangen, um durch das Zimmermädchen Wäsche und einen Anzug für ihn heraussuchen zu lassen.

Dicht hintereinander fuhren die Schlitten dann ab. Anderthalb Stunden später kehrten sie aus Pontresina zurück. Die Gäste hörten von der Ankunft der Verirrten aber erst, als diese schon in ihren Zimmern weilten.

Die drei Herren der Bobmannschaft hatten auf der Rückfahrt den Schlitten mit Dr. Groll geteilt, da Lore Englhofer allein mit ihrem Mädchen hatte fahren wollen. Natürlich hatten sie ihm die Vorwürfe nicht erspart, die er ihrer Meinung nach verdiente. Schließlich war es Genzmer, der mit einigem Mitleid einlenkte. Abgespannt lehnte Axel Groll in der Ecke, er gab zu, daß die ganze Fahrt eine Torheit gewesen sei, und sprach sich selbst durchaus nicht frei von Schuld.

»Also trösten wir uns: es hätte schlimmer ablaufen können!« meinte der Flieger. Er war gegen den Arzt milder gestimmt, da er im Schloßhotel zu Pontresina bemerkt zu haben glaubte, daß der Verkehr zwischen Lore und Axel Groll kühl und förmlich geworden war.

»Sicher hat er ihr unterwegs einen Antrag gemacht und ist abgeblitzt!«

Auch Kamerlander, dem er seine Vermutung mitteilte, hielt das für wahrscheinlich. Sie setzten sich, nachdem sie ihre Pelzmäntel und Schneeüberschuhe abgelegt hatten, in die Bar und feierten die Errettung der jungen Erbin bei einer Flasche Champagner. Mr. Biddle und noch einige andere Bekannte gesellten sich hinzu, und so blieb es nicht bei dieser ersten Flasche. Kamerlander, vom Wein angeregt, gutmütig wie er war, äußerte dabei sein Bedauern, daß man den armen Dr. Groll nicht aufgefordert hatte, an diesem festlichen Umtrunk teilzunehmen.

»Jetzt – was meinen S'? Ob einer von uns hinauffahrt und ihn noch ein bisserl herunterholt?« fragte er.

Man sah nach der Uhr. Es war elf vorbei. »Sicher hat er sich gleich in die Klappe gelegt«, meinte Genzmer. »Tät' eh' nix. Wissen S' was? Wir rüsten gleich eine richtige Deputation aus. Der Mister Biddle vertritt die weißgewaschenen Ehrenjungfrauen – oder wir können ja auch noch ein Halbdutzend Zimmermadels requirieren –, und folgt er uns nicht willig, so machen wir ihm ein bissel ›Budenzauber‹! Was? Erst noch!«

Selbst Mr. Biddle, sonst die Nüchternheit in Person, hatte einen kleinen Schwips. Ausgelassene Vorschläge wurden gemacht. Genzmer war dafür, daß man gleich eine frisch geöffnete Flasche im Sektkühler mit hinaufnahm. Dagegen hatte Kamerlander dann aber doch seine Bedenken. Sie konnten auf den Gängen im Hotel Engländerinnen oder Amerikanerinnen begegnen – es war jetzt die Zeit des allgemeinen Aufbruchs zum Schlafengehen –, und man wußte nicht, wie die scherzhafte Situation von diesen Damen aufgefaßt und weitergemeldet würde. So ließen sie die neue Flasche also hier unten im Eise stehen und machten sich auf dem Weg zum Lift: Kamerlander, Genzmer und Biddle.

Dem Fahrstuhl schräg gegenüber lag im dritten Stockwerk eine Tür, die den Eingang zu dem mehreren Zimmern gemeinsam dienenden Vorflur bildete.

Zu ihrer Überraschung stießen sie hier auf Mayn. Er stand in der Nähe von Grolls Tür, hielt den Kopf vorgebeugt, das Gesicht gesenkt, und lauschte.

Auf den dicken Teppichen hatte er ihr Kommen nicht gehört. Erschrocken fuhr er zusammen, als die Tür des Vorflurs ging. Er wußte sich aber schnell zu fassen und tat ein paar Schritte zur nächsten Zimmertür hin, wobei er wie suchend in dem Halbdunkel das Nummernschild ins Auge faßte. Hier klopfte er nun an, wandte sich aber gleich darauf den Herren verbindlich lächelnd zu.

»Wenn Sie zu Herrn Groll wollen, Herr Doktor Mayn, dann müssen Sie da links klopfen, wo Sie zuerst standen«, sagte Genzmer mit einigem Spott.

»Nein, ich möchte mal sehen, ob Mynheer van Jonckbloet noch zu sprechen ist«, erwiderte Mayn, rasch Herr über seine Verlegenheit.

»Komisch. Haben Sie nicht noch vor fünf Minuten unten in der Bar mit ihm zusammengesessen?«

Mayn ging auf die Frage nicht ein. »Übrigens – Herr Doktor Groll dürfte im Augenblick nicht zu sprechen sein«, sagte er lächelnd, »er hat Damenbesuch.«

»Damenbesuch?«

Abenteuerlicherweise huschte den beiden Herren zu allernächst der Gedanke an Lore Englhofer durch den Sinn. Aber sofort schlugen sie den nieder.

Mayn lächelte noch immer verbindlich. »Frau Gertie aus Berlin. Ich hab' sie zufällig heraufgehen sehen. Vielleicht klopfen Sie einmal an?«

Die Herren sahen ihn ganz verdutzt an. Dann wandten sie sich von ihm ab und sprachen mit leiser Stimme unter sich weiter. Kamerlander übersetzte dem Amerikaner, was Mayn gesagt hatte. In Genzmer hatte sich schon lange ein Widerwille gegen den Berliner geregt. Er ließ nun jede gesellschaftliche Rücksicht fallen.

»Kommen Sie, meine Herren«, sagte er kurz und bestimmt. »Wir sind doch keine – Spitzel!«

Ein paar Sekunden später hatten sie den Vorflur verlassen. Mayn drückte die Klinke von Jonckbloets Zimmer nieder. Die äußere Tür war unverschlossen. Er trat leise ein. Auch die Innentür gab nach. Auf den Fußspitzen schlich er weiter. Er wußte genau, wie die Möbel hier standen, denn er hatte den Holländer heute früh erst besucht. Auf der linken Seite befand sich ein Wandschrank. Wenn man den öffnete, war man vom Nebenzimmer nur durch eine tapezierte Bretterwand getrennt und konnte jedes Wort auffangen.

Frau Gertie machte da drinnen ihrem Freund eine stürmische Szene.

*

Axel Groll hatte in Pontresina erst nach der Ankunft des Mädchens und der Bobmannschaft Lore wieder zu sehen bekommen. Gesprochen hatte er sie nicht mehr. Sie war erschöpft, überreizt, kurz angebunden, auch gegen die anderen Herren, für deren nächtliche Schlittenfahrt sie nur ein paar Worte flüchtigen Dankes fand.

Ihre tiefe Verstimmung hielt noch an, als sie im Grandhotel zu St. Moritz eintrafen. Sie verabschiedete ihr »Gefolge« gleich unten am Fahrstuhl. Einen kurzen Händedruck wie die andern bekam Axel Groll, mehr nicht. Er zog sich sofort auf sein Zimmer zurück.

Körperlich ermüdet fühlte er sich gar nicht. Nur ein paar Schrammen, die ihm beim Abgleiten das Wurzelwerk an den Knien, den Waden und am Ohr beigebracht hatte, begannen ihn zu brennen. Mehr belästigte ihn der Kopfschmerz. Der Föhn, der Schnee, die Erhitzung, vor allem die seelische Erregung – alles hatte da zusammengewirkt. Eine tiefe Abspannung folgte jetzt.

Im Augenblick, als er dem Kellner klingeln wollte, hörte er hastig die Vortür seines Zimmers öffnen und schließen. In dem schrankähnlichen Raum zwischen den beiden Türen gab's dann ein Rauschen wie von Frauengewändern – eine Hand tastete nach der Türklinke ...

Und gleich darauf stand Gertie in seinem Zimmer.

Sie blieb an der Tür stehen und sah ihn an, atemlos, die Hand aufs Herz pressend.

»Was – willst du hier?« Sein Ton war rauh. Er starrte sie drohend an.

»Ach, sei mir nicht böse, Axel«, sagte sie kleinlaut, »ich muß dich doch endlich sprechen.«

Es lag etwas Kindliches in ihrer ganzen Art. Sie streckte wie verschüchtert beide Hände hinter sich und stützte sich gegen die Tür. Das linke Schulterband ihres tiefen Ausschnitts war herabgefallen, die ganze Partie der Schulter, des Busenansatzes und der Achselhöhle war unbedeckt. Ein Lächeln spielte um ihre rotgeschminkten Lippen. Ein wenig hielt sie den Kopf geneigt – wie in Furcht vor seinem Zornesausbruch.

»Willst du nicht sagen, daß ich näher treten soll, du garstiger Mann?« fragte sie.

Ein paar Sekunden lang wartete sie noch in der schüchtern lockenden Pose. Dann schlug sie plötzlich ein helles Lachen an und stürmte auf ihn zu, ihn umfassend. »Du – dummer – Bub'!« rief sie, indem sie den Kopf weit zurücklehnte, das Kinn hob und sich an ihn drängte. Nur handbreit war ihr Mund von seinen Lippen entfernt. »Bist du mir davongelaufen, Axel? Willst du Verstecken mit mir spielen? Du – dummer – Bub'! ... Küß mich, Axel, sei lieb zu mir! Ich hab' mich so nach dir gesehnt! Du doch auch nach mir! Nicht? Sag! Bitte, bitte, Axel, sag rasch ... Ich war ja kein Mensch mehr in der ganzen Zeit!«

Schwül legte sich's auf ihn. Hitzige Bilder aus den vergangenen Wintern umgaukelten ihn. Ihre Wärme, ihr Atem, ihr Lachen, ihr Duft wollten ihn berauschen. Sie hatte die Lippen leicht geöffnet. Die weißen Zähne blitzten ihn aus dem rotgeschminkten Mund an. Etwas Raubtierartiges lag in ihr. Plötzlich ließ sie durch ein Zucken der rechten Schulter auch das zweite Samtband, das ihr tiefausgeschnittenes Mieder noch gehalten hatte, über den Oberarm hinuntersinken.

Ihre Formen waren in den letzten Monaten voller geworden. Sie war sich ihrer lockenden Reife bewußt. Ihre Haut war wundervoll gepflegt. Nur der Parfümhauch war zu stark. Sie stand tief atmend vor ihm, sie glaubte seinen Blick, seine Sinne zwingen zu können.

Aber er lehnte den Kopf zurück, preßte die Zähne aufeinander und machte sich frei. Nach einer kurzen Pause erwiderte er: »Du sagst – du hast mit mir zu sprechen. Gut. Also bitte – nimm Platz.«

Seine Stimme klang ernst und kalt. Aber sie hörte aus dem leichten Zittern, daß er sich nur mit Mühe bezwang.

Er hatte einen Sessel für sie herangezogen, ging um den Tisch herum und blieb dort stehen.

Gertie lachte. »Oh, so feierlich? Denkst du, ich bin damit zufrieden? Was ist das für eine abscheuliche Laune?«

»Ich bin nicht imstande, dir irgendeine Komödie vorzuspielen. Die scheinst du erwartet zu haben.«

»Eine Komödie? Nein, Axel, ich hab' dich ja gestern und heut in so vorzüglicher Stimmung gesehn. Bleib so, Axel. Mehr verlang' ich gar nicht.«

»Es ist gegen unsere Verabredung, daß du mir gefolgt bist«, sagte er.

Sie hatte sich inzwischen folgsam auf den Sessel gesetzt, schlug die Beine übereinander und umfaßte ihr Knie mit beiden Händen. Überlegen lächelnd musterte sie ihn.

»Du hast ja auch nicht Wort gehalten, Axel. Du hast unauffindbar bleiben wollen. Wochenlang kein Sterbenswörtchen. Und ich in dieser trostlosen Einsamkeit. Das war sehr schlecht von dir, sehr schlecht.«

»Welche Verpflichtung hab' ich denn übernommen?« fragte er. »Bitte, sag mir doch. Ich wüßte keine. Ich wollte meine Freiheit. Das war alles.«

Nun schoß sie empor. »Die Freiheit, daß du mit andern Frauen eine Liebschaft anfängst, die hab' ich dir nicht gegeben.«

»Mit welchem Recht folgst du mir – verfolgst du mich?«

»Das weißt du nicht mehr? Daß ich deinetwegen gelitten hab'? Deinetwegen das ganze Elend daheim?! Daß ich deinetwegen mißhandelt worden bin? Nicht nur gepeinigt mit Worten, nicht nur ausgezankt, eingesperrt, gefangengehalten – nein, auch geschlagen! Ja – geschlagen! So eine todunglückliche Frau war ich! Und nun ist alles vergessen – und dem dummen Ding läufst du nach? O pfui, wie schlecht bist du doch, wie schlecht!«

Sie ließ sich auf die Couch sinken und warf sich mit den Armen auf das Kissen, laut weinend.

Es rührte ihn nicht. Sie war ihm so fremd geworden, daß er selbst staunen mußte. »Früher hast du mich mit solchen Szenen aus dem Gleichgewicht gebracht, Gertie. Das ist überwunden. Erspare uns doch alle häßlichen Worte. Sie ziehn uns nur hinab. Uns beide.«

Sie richtete sich etwas auf. »Ja, ja, du hast es leicht, vornehm und kühl zu sein. Aber ich bin so nicht zu beschwichtigen, Axel, glaube das nicht. Ich kämpfe um mein Leben. Ich kämpfe darum.«

Nervös, fröstelnd, schob sie die schmalen Schulterbänder höher. Dann gebrauchte sie das Spitzentaschentüchlein, das sie zwischen ihren heißen Fingern allmählich zu einer winzigen Kugel zusammenballte.

»Ich habe nie einen Anspruch auf dein Leben erhoben, Gertie. Lebe du's, wie dir's paßt!«

»Oh, wie schlecht bist du jetzt zu mir!« Sie schluchzte wieder in ihr zusammengeballtes Spitzentüchlein. Dann hauchte sie's an und preßte es abwechselnd auf die Augen.

»Nicht schlechter bin ich jetzt als damals. Meinen Leichtsinn hab' ich schon schwer genug bereut. Schwer genug Du weißt es. An dem furchtbaren Sonnabend damals – das hab' ich dir schon einmal gesagt – da stand ich schon im Kontor, wollte deinem Mann rückhaltlos beichten, mich ihm zur Verfügung stellen ... Weil ich mich vor mir selber schämte, weil ich ein Ende machen wollte!«

Sie nickte langsam und sah ihn dabei drohend an. »Das hättest du nur tun sollen. Das wäre etwas gewesen. Ein Mann, der so etwas aus dem Hinterhalt tut. Damit er mich wieder schlagen würde, nicht wahr? Nein, das hättest du doch nicht übers Herz gebracht. Das hast du dir bloß hinterher ausgedacht. Aber da braucht' ich ihn gottlob nicht mehr zu fürchten. Da war ich frei –!«

»Schweig!«

Er schaltete das Licht aus und öffnete dann rasch und leise die Tür. Durch den schmalen Spalt der Außentür sah man einen Schimmer der Flurbeleuchtung. Tiefe Stille herrschte draußen. Vorsichtig schloß er die Tür wieder.

»Da hat sich doch etwas gerührt?«

Nun lauschte auch sie. Man hörte wirklich ein Rascheln. Aber es schien eher im Zimmer selbst.

Ihre Blicke gingen rundum.

»Da – am Fenster!« flüsterte sie.

Er schaltete das Licht wieder ein, öffnete und schloß den Wandschrank. Lauschte wieder.

»Ein Knistern in den Heizröhren«, sagte sie, »weiter nichts. Warum bist du so aufgeregt?«

»Weil ich nicht will, daß dein Besuch hier bei mir bekannt wird. – Ist es etwa dir gleichgültig?«

»Mir?« Sie lachte gereizt. »Ich habe keine Ursache wie du, das vor den Leuten hier im Hotel zu verheimlichen. Ich hab' nicht zwei Eisen im Feuer wie du.«

Er hob darauf nur in müder Abwehr die Hand.

»Du hast da unten mit dem rothaarigen Mädel angebandelt. Nette Geschichten bei Nacht und Nebel machst du mit der. Und wie eifersüchtig das Ding gleich war. Gestern und heute ... Aber an die Seite drängen lass' ich mich so leicht nicht. Von der nicht.«

Sie saß auf dem Fußende der Couch, ganz in sich zusammengeduckt, ein Häuflein Elend. Immer wieder hauchte sie ihr Taschentüchlein an und preßte es dann gegen die verweinten Augen. Der Puder war von ihrem Teint abgefallen. Dadurch wirkten die Augenhöhlen tiefer. Sie sah älter aus. Und nun stimmte der kindliche Zug ihres Wesens nicht mehr zu ihrer Erscheinung.

»Es ist eine tiefe Kluft zwischen uns, Gertie. Du siehst sie nicht. Aber ich sehe sie, sooft ich dir ins Auge schaue. Und darum ist es ganz undenkbar, Gertie, daß wir uns jemals so angehören könnten, wie du dir's vorstellst.«

Langsam und schwer nickte sie. »Also so stehen wir. Aha. So drehst du's nun. Wie elend ist das von dir!«

Er stampfte mit dem Fuße auf. »Du hast kein Recht, mich zu beschimpfen!«

»Aber du?«

»Ich muß dir nur sagen, was du dir selber sagen könntest: es ist ausgeschlossen, daß ich dir je meinen Namen gebe.«

Sie schluchzte ganz erschüttert. Und mit einemmal raffte sie sich auf, mit zwei, drei stürzenden Schritten war sie bei ihm, umklammerte ihn mit ihren nackten Armen und preßte dann ihr tränenüberströmtes Gesicht an sein Kinn, seinen Kragen – da er sich wehrte, gegen seine Schulter, seinen Ärmel.

»Ich will dich ja nur liebhaben, Axel. Du bist doch der einzige Mensch, den ich liebhabe. Das weißt du. So viele haben mich umworben. Es wäre mir so leicht gewesen, und Hans hat mich ja so gemein behandelt ... Aber ich hab' dir treu sein wollen ...«

Er fühlte ihre Tränen auf seinen Händen. Nun preßte sie ihre Lippen auf seine Rechte.

»Ich will das nicht, Gertie. Beruhige dich.«

Sie ließ von ihm ab, wandte sich um und betupfte ihre Augen mit dem naß gewordenen kleinen Knäuel. Im Spiegel neben seinem Bett sah sie dann ihr Bild und erschrak. »Ja, ich bin häßlich geworden. Der Kummer hat mich häßlich gemacht. Und da ziehst du mir nun das dumme junge Ding vor.«

Müde setzte er sich am Schreibtisch beim Fenster nieder und stützte den Kopf auf. »Was zu sagen war, ist gesagt.«

»Aber ich lasse mich nicht wegjagen wie die Erstbeste. Und damit du es nun weißt: Mein Mann hat keinen Selbstmord begangen. Ich hab' ihm das ganze Morphium gegeben. Das hab' ich getan, jawohl, – für dich!«

Hastig fielen die beiden Türen hinter ihr ins Schloß. Mit etwas dumpferem Geräusch die dritte, die den Vorflur abschloß. Dann wurde es ganz still.

Nur das Rascheln zwischen Bett und Fenster an der jenseitigen Wand unterbrach jetzt wieder die Stille.

Er erhob sich, sah sich um, öffnete den Wandschrank und lauschte. Im Nebenzimmer rasche Schritte. Gleich darauf ging eine Tür. Im Nu schoß er durchs Zimmer und trat hinaus.

Ein Herr im Smoking verschwand gerade durch die Tür des Vorflurs. Er konnte nur noch unterscheiden: Jonckbloet war es nicht.

*

Nun hatte man endlich den von allen Sportsleuten so lange und so sehnsüchtig erwarteten Neuschnee. Der Föhn war sein Vorbote gewesen. Es schneite die ganze Nacht, den ganzen Tag, abermals eine Nacht und wiederum einen Morgen. Wer sich auch nur ein paar Schritte weit aus dem Hotel hinauswagte, kam als wandelnder Schneemann zurück. Man befand sich mitten in den Schneewolken.

»Der Schnee fällt nicht – er ist da!« sagte Genzmer lachend, als er Willemintje von seinem Versuch, mit Kamerlander auf den Skiern nach Maloja vorzudringen, Bericht erstattete. Sie waren nicht weit über Campfèr hinausgekommen.

Für die älteren Herrschaften, die keinerlei Wintersport trieben, war diese Zeit die angeregteste, denn in allen Hotels gab es tagsüber ein Leben und Treiben wie sonst nie. Die Halle, die Lese-, Musik-, Spiel-, Rauch- und Damensalons waren stets überfüllt. Abends nach dem Essen tanzte das junge Volk während des Konzerts in dem Rundbau des Treppenhauses, sooft das Hotelorchester eine tanzbare Weise spielte. Auch eine klassische Ouvertüre mußte gelegentlich dafür herhalten.

Am ersten Tag hütete Lore das Bett. Willemintje empfing nur kurz vor dem Lunch ein paar Besuche. Die Bekannten brachten Blumen und gratulierten zu der Überwindung des gefährlichen Abenteuers. Axel Groll hatte gleich morgens seinen ärztlichen Rat angeboten, aber Willemintje erklärte ihm, ihre Freundin habe dringend gebeten, sie den ganzen Tag schlafen zu lassen.

Willemintje selbst war wieder ziemlich auf dem Posten. Beim Treppensteigen empfand sie noch eine gewisse Schwäche im Fuß, aber auf ebener Fläche konnte sie schon längere Strecken ohne Ermüdung zurücklegen. Sie freute sich auf den ersten Spaziergang: am andern Tage wollte Lore mit ihr zum Tee ins Kulmhotel.

Nur wenige Sportsleute wagten eine größere Unternehmung. Zu den Verwegenen gehörten Mr. Biddle und Axel Groll. Aus diesem Grunde fehlten sie in Lores »Gefolge« beim Besuch des Kulmhotels.

Die beiden Herren hatten gleich nach dem Frühstück das Grandhotel auf ihren Skiern verlassen. Sie wollten bergab nach Celerina und Samaden bis zu der Bobstrecke Preda–Bergün, auf der jetzt nach dem starken Schneefall endlich die Rennen beginnen sollten. Obwohl das Ende des Schneefalls noch nicht abzusehen war, fing man schon mit dem Ausbau der Kurven an. In vielen Windungen schlängelte sich die Straße durch das enge Tal mit den ungeheuren Schneewänden. In mehreren Kehrtunneln, auf schmalen Bändern, hohen Brücken begleitete die Eisenbahn die Landstraße, die in der Wintersaison als Bobbahn diente. An einigen Kehren fiel der Abhang über hundert Meter tief ab. Man türmte an diesen Stellen besonders hohe Schneemauern auf.

Noch einige Herren vom St. Moritzer Bobklub, Landsleute Mr. Biddles, fanden sich im Laufe des Tages auf der Strecke ein. Zeitweise setzte der Schneefall aus, aber es war grimmig kalt in dem engen Tale, das im Winter nur so selten die Sonne sah. In Pelze eingemummt, die Mützen tief heruntergezogen, stapften die Klubherren von einer Kehre zur andern, nur mühsam den beiden leichtbeschwingten Skiläufern folgend. Da und dort gaben sie den frierenden, bunt eingewickelten Italienern, die bei den Schneebauten angestellt waren, ihren fachmännischen Rat.

Gegen Abend hörte es auch in St. Moritz zu schneien auf, und als die Ausflügler mit der Bahn zurückkehrten, sahen sie gleich vom Bahnhof aus im Schimmer des Mondes, dessen fast runde Scheibe neben dem Piz Morteratsch auftauchte, daß die Aufräumungsarbeiten auf dem See schon tüchtig vorgeschritten waren. Der Oberkellner erstattete ihnen dann noch Bericht über eine ganze Menge von Neuheiten.

Für den Fall, daß morgen und übermorgen gutes Wetter war, sollten die schon zweimal verschobenen Rennen auf dem See nun endlich am Sonntag stattfinden. Das Barometer war gestiegen, am Samstag war Vollmond. Man durfte also hoffen. Es handelte sich um Trabrennen mit dem kleinen Rennschlitten auf dem Eise und um Skikjöring. Mr. Biddle, der diesen Sport öfters ausgeübt hatte, wollte sich daran beteiligen. Viele Anmeldungen von Berufsfahrern und Wintergästen lagen dem Sportsausschuß vor.

Als die beiden Herren in die Halle kamen, sahen sie den Tisch von Lore und Willemintje umlagert. Mrs. Biddle und zwei der jungen Amerikanerinnen, mit denen zusammen man in Belvoir gerodelt hatte, befanden sich im Kreise, sonst lauter Herren.

Willemintje hatte ihren lustigen Tag. Sie fühlte sich nach der langen Gefangenschaft wie erlöst. Die Gesellschaft kam aus dem Lachen nicht heraus.

Axel fiel es auf, daß Lore stiller war als sonst. Sie sah angegriffen aus, war auch recht blaß.

Seine Begrüßung nahm sie freundlich hin, aber zu irgendeiner Aussprache kam es zwischen ihnen nicht. Axel mußte sich in größerer Entfernung von ihr niederlassen, denn jeder der Herren hielt eifersüchtig seinen Platz fest. Er mußte Auskunft geben über den Zustand der Strecke von Preda nach Bergün. Und er fühlte gerade durch ihre höfliche Aufmerksamkeit, wie fremd sie ihm geworden war.

Indem er seinen Blick über die dichtgefüllte Halle schweifen ließ, die die rauschenden Klänge des Hotelorchesters durchzogen, bemerkte er auch Gertie.

Sie trug eine neue schwarze Robe, wieder sehr tief ausgeschnitten, hatte aber einen bis zur Erde reichenden Spitzenschal lose über die nackten Schultern gelegt.

Unausgesetzt beobachtete sie ihn und die Tafelrunde, die sich um die beiden Damen gebildet hatte.

Es war sein fester Entschluß, ihr keine Gelegenheit mehr zu einer neuen Szene zu geben. Ihre Beichte, daß sie die Mörderin ihres Gatten war, hatte ihn niedergeschmettert.

Sie suchte heute abend die Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf sich zu lenken. Außer Jonckbloet, dem Ehepaar Vogel und Dr. Mayn befanden sich noch einige Herren, die ihm fremd waren, an ihrem Tisch.

Lore war vielleicht die einzige im Saal, für die Gertie nicht vorhanden schien. Und doch hatte die es offenbar gerade darauf abgesehen, von ihr und ihrer Umgebung bemerkt zu werden.

Im Augenblick, da Lore und Willemintje aufbrachen, zerstreute sich auch ihr Gefolge. Die Halle ward dann bald leer. Einzelne Reihen der Lichter wurden ausgeschaltet, die Bedienung wurde zurückgezogen. Nur der Tisch, an dem Gertie Hof hielt, bildete eine Ausnahme. Man trank hier Champagner, man rauchte, schwatzte. Jonckbloets krähendes Lachen, das immer wieder durch erschöpftes Husten unterbrochen wurde, hallte durch den weiten Saal. Er hatte das Gespräch auf den Berliner Abend gebracht, an dem er die junge Frau als »Schlangendame« kennengelernt hatte, und berichtete davon allerlei gewagte Geschichtchen. Mayn stand ihm bei, und Frau Gertie, bei der der Champagner schon seine Wirkung tat, schien von diesen losen Reden aufgepeitscht und steigerte ihre Ausgelassenheit noch selbst.

Es ging schon auf ein Uhr, als der Kreis sich abermals vergrößerte. Aus der Bar kamen mehrere Herren, ebenso angeregt vom Abendtrunk, mit einigen nicht ganz zweifelfreien Damen. Darunter befand sich die finnische Baronin. Vertraulich luden ein paar von Gerties Nachbarn die späten Ankömmlinge ein, Platz zu nehmen. Die Vorstellung war in der vorgeschrittenen Stimmung so flüchtig und formlos, daß niemand hinhörte. Gertie merkte es kaum, daß die Tafelrunde sich vergrößert hatte.

»Nun müßte man noch ein bißchen tanzen!« sagte Frau von Molin plötzlich.

Jonckbloet patschte sich auf die prallsitzende Frackhose. »Wissen Sie noch, wie Sie damals das Solo tanzten?« fragte er Gertie, seine Schweinsäuglein weinselig zusammenkneifend. »Heiß konnte es einem werden!«

Zwei Paare hatten sich sofort gefunden. Zwischen regellos dastehenden Stühlen und noch unabgeräumten Tischen schoben sie sich hin und her. Einige trällerten und pfiffen. Jonckbloet sprang auf – er hielt sich nicht mehr ganz sicher auf seinen Füßen – und markierte den Rhythmus durch Händeklatschen, indem er das Tempo, wie im Zirkus der Stallmeister, durch »Hè – hopla!« zu steigern suchte. Es entstand ein tolles Durcheinander. Die Tänzer bogen die Knie auswärts, lehnten den Oberkörper zurück, schoben sich mit zwei kurzen Seitenschritten nach links und rechts, und die Tänzerinnen folgten ihrem Beispiel, die Melodie mitträllernd, dazwischen mehr und mehr erschöpft lachend.

Gertie erhob sich und faßte nach dem Saum ihres weich herabfließenden Gewands. »Schneller – schneller!« rief sie den Paaren zu und bewegte sich schon mitschwingend in den Hüften.

Jonckbloet rief ihr ein stürmisches »Bravo!« zu und kam ihr mit ausgebreiteten Armen näher, um sie zum Tanz zu holen. »Hé – donc! En avant!« rief er näselnd, aufgeregt, atemlos, mit kirschrotem Gesicht. Er schnalzte mit den Fingern und stampfte den Boden im Takt.

»Da kommt im Leben kein Tanz heraus – höchstens ein Schuhplattler«, sagte Mayn trocken.

Schon hatte sich Frau Vogel erhoben und war neben die junge Witwe getreten. Die Sache war ihr denn doch zu wüst geworden. »Wir dürfen nicht vergessen, liebe Gertie, daß wir noch Trauer haben«, sagte sie ihr ins Ohr.

Es gab der jungen Witwe einen Ruck. Sie sah für ein paar Augenblicke die Sprecherin erstarrt an. Dann ließ sie, plötzlich ermattet, die Schultern sinken, den Fingerspitzen entfiel der Kleidersaum, und sie nickte Frau Vogel gehorsam zu.

»Verzeihung – ja – ich ... ich hatte gar nicht daran gedacht ...«

Sie besaß nicht mehr die Herrschaft über sich. Sie hatte zu viel getrunken. Frau Vogel merkte, wie es um sie stand. Sie nahm energisch ihren Arm und führte sie zur Treppe.

Die tolle Szene, die sich nach Mitternacht in der Halle abgespielt hatte, war von Nachzüglern aus den Spiel- und Lesezimmern beobachtet worden. Etwas vergröbert und aufgebauscht machte die Schilderung anderntags die Runde.

Auch Willemintje hatte davon gehört. Davon und noch von andern Verwegenheiten des neuen Hotelgastes. Als sie am Sonntagnachmittag im hellen Sonnenschein unten auf dem See von der Tribüne aus dem Rennen zusah und Frau Gertie Selle in ihrem schmucken Sportgewand erschien, in dem sie so überraschend mädchenhaft aussah, stritt man sich über die Persönlichkeit der jungen Witwe, und Willemintje forschte ihren Nachbar Genzmer über sie aus.

Er blieb seltsam zugeknöpft. Sie wußte aber längst in seiner Miene zu lesen und ahnte, daß er gerade über den einen Punkt, der sie am brennendsten beschäftigte, unterrichtet war.

»Es ist keine Indiskretion mehr«, sagte sie schließlich, »denn Kamerlander hat meiner Freundin schon Andeutungen gemacht, die eigentlich alles enthielten.«

»Dann trägt auch Kamerlander die Verantwortung, nicht ich.«

»Sie hätten also darüber geschwiegen, Genzmer?«

»Ja.«

Sie sann ein Weilchen nach. »Weil Sie mehr Korpsgeist haben als der Baron?«

»Korpsgeist der Männer – meinen Sie?« Er zuckte die Achsel. »Das weiß ich nicht einmal. Eher: weil es mich selbst zu stark geärgert hat, als daß ich vor Fräulein Lore so meine Glossen darüber hätte machen mögen.«

»Hm. Sie sind im Grunde ein famoser Kerl, Genzmer.«

»Merken Sie das wirklich jetzt erst?«

Sie lächelte. »Nein, ich weiß es schon lange. Ich frage mich nur immer: wie stimmt das zusammen mit Ihrem grenzenlosen Leichtsinn? Denn – Hand aufs Herz – den haben Sie doch, Genzmer.«

»Nein, Fräulein Willemintje, den habe ich nicht – der hat mich!« Sie wurden unterbrochen, denn eine neue Nummer des Rennprogramms begann.

Das Bild war unvergleichlich. In italienischem Tiefblau wölbte sich die große Himmelsglocke über der Hochgebirgslandschaft. Im unberührten Neuschnee lagen auch die Vorberge da, die den Talkessel umrahmten, sie erschienen dadurch noch wuchtiger, bedeutender. Auf dem See war in einem riesigen Oval die Rennstrecke freigeschaufelt. In koppelartigen Verschlägen hinter den Tribünen führte man die dampfenden Pferde im Schnee auf und nieder. Obwohl das Thermometer noch immer zehn Grad unter Null zeigte, empfand man auch nicht die Spur von Kälte. Wo die Sonne lag – und sie brannte jetzt auf ganz St. Moritz und der schneebedeckten Seenkette, so weit sie zu übersehen war –, hatte die Luft etwas Wohliges. Die Zuschauer entledigten sich bald der Pelze und Mäntel. Die Tribünen waren nicht nur mit Wintergästen der Hotels von St. Moritz besetzt, sondern auch mit zahlreichen Einheimischen. Der Nachmittagszug hatte soeben noch Zuschauer aus den fernen Nachbarorten, sogar aus Davos und Chur, gebracht. Der Verkehr zwischen dem Sattelplatz, den mit rotem Tuch ausgeschlagenen Tribünen, der Schiedsrichterloge und dem Totalisator war immer lebhafter geworden. Die Musikkapelle am Start spielte ein Stück ums andere.

Lore hatte Mr. Biddle versprechen müssen, mit hinunter zum Sattelplatz zu kommen, um sich das lustige Treiben im Schnee anzusehen.

Er hatte sich für das erste Skirennen hinter dem Pferde gemeldet und führte einen gutlaufenden Fuchs, mit dem zusammen er in den letzten Wochen viel trainiert hatte. Eine große Schar von Bekannten umringte ihn. Seine dürre, langaufgeschossene Gestalt bot in dem Anzug aus glattem, gelblichweißem Tuch mit den hoch über die Knie hinaufreichenden Gamaschen ein putziges Bild. Der warme Atem des Pferdes bildete Rauhreif auf seinem Haar, das er unbedeckt ließ, und in seinen Augenbrauen. Die Damen mußten ihm versprechen, auf seine Nummer am Totalisator zu setzen. Die Stimmung war lustig, und auch Lore, die seit der abenteuerlichen Skifahrt vom Hahnsee ihren Bekannten seltsam einsilbig, matt und in sich gekehrt vorgekommen war, ging wieder mehr aus sich heraus.

Willemintje und Genzmer saßen mitten unter stockfremden Gästen. Es waren Rumänen aus Davos und Arosa. Sie kümmerten sich beide längst nicht mehr um ihre Umgebung.

Bis zum heutigen Tage war es zwischen ihnen nie über einen liebenswürdigen Neckton hinausgegangen. Willemintje hatte Genzmer wohl um einen Grad kameradschaftlicher behandelt als die andern – allerdings auch weniger höflich. Er hatte sich's gern gefallen lassen, weil er sie in ihrer erfrischenden Offenheit ganz allerliebst fand. Seinen gelegentlichen Liebeserklärungen, die freilich auch immer so übermütig gehalten waren, daß man sie nicht ernst zu nehmen brauchte, war sie stets mit überlegenem Humor begegnet.

»Wen lieben Sie nun eigentlich von uns beiden am allerverzehrendsten im Grunde Ihres schwarzen Herzens?« hatte sie ihn erst kürzlich gefragt.

»Würde ich Ihnen beiden so den Hof machen, wenn ich das wüßte?« gab er da lachend zurück.

Heute traf sich's einmal besonders günstig: er konnte ihr hier auf der Tribüne nicht so leicht ausweichen. Da wusch sie ihm denn gründlich den Kopf. In den langen, einsamen Liegezeiten hatte sie über ihn und über Lores ganzes übrige Gefolge viel nachgedacht. Auch über sich und Lore selbst.

»Über mein ›Vorleben‹ hat Ihnen doch Exzellenz Feldern genug geklatscht«, sagte er mit einem melancholischen Lächeln, »oder etwa nicht?«

»Es brauchte mich niemand über einzelne Greueltaten von Ihnen zu unterrichten, Genzmer. Sie verraten Ihren grenzenlosen Leichtsinn ja auf Schritt und Tritt. Denken Sie bloß an die himmlischen Nelken, die Sie mir immer gebracht haben. Stück für Stück ein Fränkli. Verschwender! Das Jahreseinkommen eines braven Familienvaters haben Sie in Blumen für mich angelegt. Das spricht doch Bände.«

»Wissen Sie, Fräulein Willemintje, Sie sind bei Gott das erste weibliche Wesen, vor dem ich richtigen Respekt habe.«

»Oh – ich mag gar keine Respektsperson sein. Wenn meine Freundin mich mal ›ihr Gouvernantchen‹ nennt, dann biete ich ihr immer an, ihr die Augen auszukratzen.«

»Selbst auf die Gefahr hin möcht' ich, ich hätte Sie schon immer im Leben als mein Gouvernantchen gehabt. Da wär' ich vor vielen Dummheiten bewahrt geblieben. Und vor mancher Enttäuschung.«

Sie sah ihn fest an. »Vor einer der unangenehmsten will ich Sie ja eben bewahren.«

Er verstand sofort: sie wollte nicht, daß er sich noch irgendwelche Hoffnung auf Lores Herz, ihre Hand – und ihre Reichtümer machte.

Ein seltsames Lächeln spielte um seine Lippen. Er erwiderte keine Silbe, schüttelte nur überlegen den Kopf, lehnte sich zurück und pfiff leise die Melodie mit, die die Rennbahnkapelle soeben spielte.

Als das Stück zu Ende ging, hörte man einen Pistolenschuß. Der Starter hatte ihn unten auf der Bahn abgegeben. Die vierzehn Pferde, die Skikjöring laufen sollten, nahmen die ganze Breite der Bahn ein. Im Nu schossen sie jetzt über die Startlinie hinaus. Aber nur die Hälfte kam in gute Fahrt. Vier Skiläufer verwickelten sich schon auf der Geraden, noch vor den Tribünen, in die langen Leinen, drei weitere flogen bei der ersten großen Kurve aus der Bahn, ein Pferd stürzte dabei, die beiden andern jagten mitten im Felde herrenlos eine volle Runde um den See, bis die Wärter sie endlich einfingen.

Überall wurden die Ferngläser in Tätigkeit gesetzt, das Summen auf den Tribünen schwoll an.

»Mr. Biddle ist Außenseiter!« rief Kamerlander nach der ersten Runde lachend zur Tribüne hinauf.

»Nein, nein, dort – der zweite ist es!« Es war Lores Stimme, die hell das sich steigernde Stimmengewirr übertönte.

Und nun erkannte auch Willemintje die streichholzdürre Gestalt hinter dem Fuchs. Näher und näher rückte da drüben der nickende Pferdekopf dem vorderen Skiläufer – nun schob er sich neben ihn – und jetzt erreichte er die Flanke des Schimmels, der die Führung des Feldes hatte. Der trockene Schnee stäubte unter den Pferdehufen und den Skiern, so daß die Läufer in eine dichte weiße Puderwolke eingehüllt schienen.

Noch ein zweites Mal ging das Rennen um die ganze Bahn. Die Schnelligkeit steigerte sich, aber das Feld blieb dasselbe. Nur unter den Nachzüglern traten ein paar Veränderungen ein: der drittletzte stürzte und gab das Rennen auf, der vorletzte mußte abstoppen, um nicht auf das Hindernis aufzurennen, den Vorteil nahm der letzte wahr, um in großer Fahrt die Kurve zu nehmen und seinen Vordermann zu schlagen. Lauter Beifall, der von den Tribünen über das ganze weite Schneefeld hallte, spornte ihn an. Bald hatte er die leere Strecke überwunden und klebte dicht hinter den beiden Führern des Feldes.

»Der holt ihn noch! Kinder, gebt's bloß acht, der holt ihn noch!« rief Kamerlander schadenfroh.

Aber für die letzte Gerade hatte sich Mr. Biddle einen gewaltigen Vorstoß aufgespart, während der Skiläufer hinter dem Schimmel vom Rufen und Anfeuern schon ausgepumpt war. Kurz vor dem Ziel lockerte der Amerikaner, der kaum einen Schritt weit von der Hinterhand seines Fuchses entfernt blieb, die Zügel, das Pferd legte sich nach vorn, um wieder Anlehnung zu finden – und in dieser Sekunde schoß es um Kopflänge über den Schimmel hinaus.

... Jubel, Klatschen, Geschrei ... Mr. Biddle war Sieger, hatte den Ehrenpreis und wurde durch einen Tusch ausgezeichnet.

Nun mußte auch Genzmer zum Sattelplatz, um zu gratulieren. Die ganze crew war zur Stelle. Nur Axel Groll fehlte. Kamerlander war sein Fehlen längst aufgefallen. Nun rief er mit seiner lustigen, hohen Stimme im gemütlichen Wienerisch über die dichtgefüllten Bänke der nächsten Tribüne hin: »Die crew vom Bob ›Soleil‹! Bitt' schön' ist vielleicht der Herr Doktor Groll aus Berlin zur Stell'? – Er trete vor!«

Kamerlander war wegen seines zwanglosen Auftretens einer der beliebtesten Hotelgäste. Seine Bekannten nahmen droben auf den rotausgeschlagenen Bänken der Tribüne den Ruf auf. Die Fremden, die nicht Deutsch verstanden, fragten neugierig, was da los sei. So rollte die Welle, die Grolls Namen weitertrug, bis zum Ende der ersten Bank, wo sich Frau Gertie Selle mit ihren Bekannten befand.

»Doktor Groll ist abgereist!« klang's da von der höchsten Bank gemächlich herunter.

»Abgereist?« Gertie war blitzschnell herumgefahren und wandte dem Sprecher – es war Mynheer van Jonckbloet – bestürzt das Gesicht zu.

Inzwischen waren Kamerlander und Genzmer herangekommen. Sie wollten die Nachricht nicht glauben. Kamerlander setzte mit einem Sprung auf die Tribüne und stieg, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, bis zur obersten Bank hinauf.

Herr und Frau Vogel und Doktor Mayn hatten gleich der jungen Witwe ihre Plätze verlassen und umringten den Holländer, ihn ausforschend.

Der zuckte die Achsel und erklärte, er wisse es nur ganz zufällig. »Ich bin sein Nachbar – schon immer wollt' ich ein zweites Zimmer – und eben sagte mir der Hotelsekretär, mein Nachbar reise ab, ich könne das Zimmer noch heute abend beziehen.«

»Aber da muß doch ein Irrtum vorliegen ...«

»Ich bitt' Sie um alles in der Welt«, rief Kamerlander, »morgen die Predafahrt – und die Rennen – er wird doch unsern Bob nicht im Stich lassen!«

Während Jonckbloet noch der jungen Witwe und den andern Herrschaften Rede stand, eilte Kamerlander zum Sattelplatz zurück.

»Was sagen S' bloß dazu, Gnädigste? Unglaublich! Unerhört! – Unser Bremser streikt! Ist Knall und Fall ausgerissen!«

Als Willemintje die Nachricht von Genzmer hörte, kam sie eiliger, als ihr schonungsbedürftiger Fuß es ratsam erscheinen ließ, von ihrem Tribünenplatz in den Schnee herunter. Zwischen der Loge der Jury und dem Sattelplatz gab es dann eine lebhafte Auseinandersetzung. Auch Mr. Biddle, der inzwischen den Ehrenpreis empfangen hatte und während dieses feierlichen Augenblicks mitsamt dem ungeheuren goldenen Pokal unzählig oft geknipst worden war, trat herzu. Er war bei dem Rennen naß geworden, sein Haar dampfte. Willemintje gab ihm besorgt den Lodenmantel von Lore um, mit dem sich bisher Genzmer beladen hatte.

Allgemeine Ratlosigkeit herrschte. Der Sieger kam um die Freude, sich von seiner Mannschaft als Mittelpunkt gefeiert zu sehen. Lore vergaß in der Erregung überhaupt, ihm zu gratulieren.

»Es wird eine Tatarennachricht sein«, sagte Genzmer. »Denn das wäre ja unverantwortlich – wo die Bobrennen vor der Tür stehen.«

»Jetzt – ob vielleicht die holden Fesseln, die ihn drücken, dran schuld sind?« fragte Kamerlander, verschmitzt ein Auge zukneifend.

Lore zuckte zusammen. Fast böse sah sie ihn an. Dann wandte sie sich hastig von ihm ab.

»Aber ich bitt' Sie um's Himmelswillen ...« Kamerlander war erschrocken über die Wirkung seiner Worte. Er konnte indes nicht umständlich erklären, wie die Bemerkung aufzufassen war, weil er's dadurch nur noch schlimmer gemacht hätte.

Willemintje hatte ihren Arm in den ihrer Freundin gelegt. Mit der Linken sich auf den Stock stützend, wanderte sie neben ihr weiter, die Gruppe verlassend. Sie wußte, worauf Kamerlanders Anspielung zielte, und es war bei ihr kein Zweifel, daß Lore sie sich richtig gedeutet hatte.

Die drei Herren blieben in starker Verstimmung zurück. Kamerlander berichtete nun, verdrießlich über sich selbst, dem Sieger, der sich fröstelnd in den roten Mantel gewickelt hatte, über die fatale Begegnung an jenem ereignisreichen Abend: den Damenbesuch ihres gemeinsamen Freundes. Natürlich hatte er sich den Spaß gemacht, Fräulein Englhofer gegenüber etwas über die Wahrnehmung verlauten zu lassen ... »Ich könnt' mich ja jetzt prügeln! Jess' Maria, aber wann sie ihn für einen Heiligen gehalten hat, dann soll's einen eh' nicht verdrießen!«

Die ganze Freude am Rennen war ihnen durch Lores Verstimmung genommen. Sie kehrten zum Hotel zurück – kaum ein paar hundert Meter hinter den beiden Damen.

Beim Erklimmen der in den Schnee gehauenen Stufen, die zum Grandhotel emporführten, zog Willemintje müde den Fuß nach. »Man müßt ihr doch ein bissel beistehn«, meinte der Baron, tief unglücklich darüber, daß er so unversehens in Ungnade gefallen war.

Aber Genzmer hielt ihn am Rockärmel fest. »Lassen Sie die Damen jetzt lieber für sich. Es spielt da was viel Ernsteres, als Sie ahnen.«

»Als ich ahne? Sie unschuldsvoller Engel Sie. Er hat ihr das Köpfl verdreht, ganz einfach. Der Pflasterschmierer. Massakrieren könnt' ich ihn.«

»Jetzt hat er Ihnen ja das Feld geräumt«, sagte Genzmer mit einem leicht überlegenen Lächeln.

»Mir? Sehr gut. Wo die Gnädigste sofort hinter ihm dreinjagt! Nein, ist es nicht, um aus der Haut zu fahren?«

»Wohin gehen die Ladies?« fragte Mr. Biddle, der den Reden nicht folgen konnte.

»Nachschauen, ob der Herr Groll aus Berlin sie wirklich hat aufsitzen lassen. Tja – man braucht nur den Spröden zu spielen. Was einer haben kann, macht ihn nicht heiß noch kalt, doch nimmt man es ihm weg ... Jess', Maria und Joseph, ich hab' einen solchen Zorn! Der ganze Aufenthalt ist mir verleidet! Am besten, ich pack' mein Bündel jetzt auch und fahr' nach Wien zurück! Das ist ja zum Narrischwerden dahier!«

Sie waren an den Schneestufen angelangt und blieben ein paar Augenblicke stehen, um einen Trupp verspäteter Zuschauer durchzulassen.

Da schob sich, vom See kommend, hastig eine junge Dame an ihnen vorbei und eilte die schmale Treppe empor. Sie mußten links und rechts in den tiefen Schnee treten. Es war die junge Witwe aus Berlin.

»Die hat's auch gar eilig«, spottete Kamerlander, »daß sie den Ausreißer noch erwischt!«

Auf der letzten Strecke des Wegs zum Hotel blieben sie einsilbig. Genzmer wollte seine beiden Begleiter nicht in all das einweihen, worüber ihn seine Unterredung mit Willemintje aufgeklärt hatte. Denn die hofften ja beide noch in einem Winkel ihres Herzens auf die endliche Erhörung ihrer stumm werbenden Bitten. Genzmer aber wußte jetzt, daß Lore liebte – unglücklich liebte.

Inzwischen hatte Lore, ihrer Freundin vorauseilend, die auf der steilen Strecke nur langsam von der Stelle kam, das Hotel erreicht. Sie trat in das Sekretariat ein.

»Herr Doktor Groll ist abgereist?« fragte sie.

Der Hotelsekretär gab Auskunft, gut erzogen und ganz geschäftsmäßig, ohne mit einem Wimperzucken seine Neugierde zu verraten. Die Abreise war allerdings überraschend gekommen; das Zimmer konnte aber sofort anderweit besetzt werden. Übrigens war das große Gepäck noch hiergeblieben. Erst von unterwegs wollte Herr Groll Nachricht geben, wohin es nachzusenden sei.

»Welchen Zug hat Herr Groll benutzt?« forschte Lore weiter. Sie gab sich Mühe, ruhig und überlegen zu bleiben, merkte aber, daß ihre Stimme unsicher klang.

»Der Herr ist nicht mit der Eisenbahn gefahren. Er hat das Handgepäck und die Ski auf dem Schlitten mitgenommen. Ich glaube, er wollte nach Maloja – von dort eine Skifahrt antreten. Aber das weiß gewiß unser Herr Direktor besser, mit dem hat er noch kurz vor der Abfahrt gesprochen. Soll ich ihn rufen?«

»Danke.« Lore wandte sich rasch zur Tür. Sie fühlte sich klein und beschämt vor dem Hotelangestellten – sie wußte selbst nicht, weshalb.

Vor dem Lift stand Willemintje. Suchend blickte sie sich um. Sie hielt einen Brief in der Hand. Als sie Lore bemerkte, wies sie auf die Fächer, die in dem schräg gegenüberliegenden Postschalter nach Zimmernummern geordnet die Posteingänge für die Hotelgäste enthielten. Der Umschlag des Briefes, den Willemintje der Freundin einhändigte, wies keine Marke auf; das Schreiben stammte also aus dem Hotel. »Wie's scheint – von Groll.«

Lore las nicht einmal die Aufschrift. Sie wollte den Brief sofort erbrechen.

Aber da tat sich die breite Glastür des Windfangs auf, und Frau Selle erschien. Sie war atemlos vom raschen Laufen.

Für eine Sekunde brannte wieder Blick in Blick. Und der jungen Frau entging auch das Schreiben nicht, das Lore in der Hand hielt. Eine Anwandlung von Eifersucht durchzuckte sie. Es war, als wollte sie Lore, kriegerisch gestimmt, ansprechen. Aber Lore stand unbeweglich und maß sie kalt, fast verächtlich. Beunruhigt wandte sich die junge Frau ab und begab sich zur Postoffice. Hier duckte sie sich ein wenig, um rascher ihr Brieffach zu finden. Es war leer.

Noch einmal traf ihr Blick die Nebenbuhlerin: voll zorniger Herausforderung. Dann eilte sie ins Hotelbüro.

Nun wußte Lore den Grund ihrer seltsamen Beschämung vor dem Sekretär: sie bereute es, genau dieselben Fragen an ihn gerichtet zu haben, die er nun von dieser Frau zu hören bekam.

Auf ihren stummen Wink öffnete der Liftjunge die Fahrstuhltür. Eine halbe Minute später stand sie in ihrem Salon.

Die Tür und die beiden Fenster waren weit geöffnet. Golden flutete die Sonne herein. Durch die klare, stille Luft tönte vom See her das Rufen und Beifallklatschen der Tribünengäste. Es steigerte sich jetzt noch. Und nun fiel der Tusch der Rennbahnkapelle ein. Auf der großen Hotelterrasse, gerade unter Lores Zimmer, nahmen die Zuschauer, die da in bunten Gruppen das fröhliche Rennbild genossen, die Begrüßung des Siegers auf.

Lore nahm nichts von der Umgebung wahr. Indem sie auf den Balkon hinaustrat, riß sie den Briefumschlag auf und zog den Bogen heraus. Hastig setzte sie sich auf Willemintjes Liegestuhl und las. Dabei war sie so erregt, daß sie einzelne Sätze übersprang, den Zusammenhang nicht erfaßte und noch einmal von vorn anfangen mußte.

Nachdem Willemintje in ihrem Zimmer abgelegt hatte – sie ließ sich mehr Zeit als sonst –, suchte sie ihre Freundin draußen auf. Lore saß noch immer unbeweglich da. Sie war weiß im Gesicht. Willemintje erschrak über ihr Aussehen.

»Ein seltsamer, ganz seltsamer Abschiedsbrief –!« sagte Lore stockend und hielt ihr das Blatt hin.

Willemintje setzte sich neben sie und las. Und Lore las noch einmal mit.

Axel Groll gab für seine rasche Abreise keine äußeren Gründe an, schützte auch nicht einmal den Empfang von irgendwelchen Nachrichten vor.

»... Es tut mir bitter weh, scheiden zu müssen, und ich fürchte, Sie werden den wankelmütigen, unausgeglichenen Gesellen, den Sie schon einmal ein Rätsel nannten, jetzt noch weniger verstehen.

Sie haben in den letzten Tagen gewiß Dinge über mich gehört, für die Sie eine Erklärung hätten fordern müssen. Denn diese Gerüchte mögen Zartes und Gutes in Ihnen verletzt haben. Diese Erklärung aber kann und darf ich Ihnen nicht geben. Und darum bin ich zum Abschiednehmen gezwungen.

Ich bin aus einer sonnigen Höhe wieder ins Dunkel hinabgezerrt worden. Das Leben in diesen Tiefen hat aber keinen Wert mehr für mich.

Nur das eine darf ich Ihnen noch sagen, daß ich an meinem Sturz so nicht schuldig bin, wie die große Menge es ohne weiteres annehmen muß.

Bewahren Sie mir also ein leidlich gutes Andenken, Fräulein Lore. Sie haben mich in meinen glücklichen Zeiten unausstehlich gefunden. Aber wo das Schicksal mich in die Knie niedergezwungen, wo es mich des Lachens beraubt hatte, da war Ihre Herzensgüte hilfsbereit. Lassen Sie mich darum noch einmal Ihre Hand nehmen und sie küssen in inniger Dankbarkeit. Ihrem wackeren Willemintje meinen Gruß. Sie ist schon tüchtig in der Welt herumgeschlagen worden, kennt manche Lebenskrise und weiß vielleicht aus ihrem oft mißhandelten Herzen heraus zu erklären, was andern unerklärlich scheint. Vielleicht wird sie mein Fürsprecher bei Ihnen, wenn Sie nur Kränkung empfinden, wo das Schicksal einen Verirrten in die letzte Verbannung weist.

Mir bleibt die Erinnerung an diese Zeiten, in denen die Sonne von St. Moritz mir Heilung bringen wollte, lieb und teuer bis zum letzten Stündlein. Haben Sie Dank, Fräulein Lore –, für die Sonne!

Ihr Axel Groll«

... Sie blickten von dem ernsten Abschiedsbrief auf und ließen den Blick über das herrliche Landschaftsbild schweifen. Der Sommer über dem Schnee! Das lachte, schwatzte, flirtete da unten auf der Hotelterrasse in der warnen, goldenen Sonne, und vom See her klangen die Glockenzeichen, das aufgeregte Rufen der Rennbahngäste, das Händeklatschen, die Musik ... Lebenslust und Sportfreude überall ...

»Es ist mir so entsetzlich bang!« sagte Lore.

Willemintje war aufgestanden und hinter sie getreten, lehnte Lores Kopf an sich und pätschelte ihre Wangen.

»Mein armes Kind!«

Wieder schwiegen sie. Und noch einmal hob Lore das Schreiben, das zerknittert in ihrem Schoße lag, empor und las. Sie erkannte die Schriftzüge nur noch undeutlich, denn sie las jetzt durch einen Tränenschleier.

»So schreibt nicht einer, der noch ein Leben vor sich sieht. Willemintje, sag, ist das nicht erschütternd? Was mag er in diesen letzten Tagen still in sich durchgekämpft haben.« Sie atmete tief und schwer. »Und ich hab' ihn fallen lassen. Weil uns ein Klatsch ins Ohr getuschelt worden ist. Wie ich Kamerlander jetzt hasse –!«

Willemintje entsann sich ihres Gesprächs mit Genzmer. Er hatte nicht mit dürren Worten, aber doch durch sein ganzes Verhalten die Richtigkeit von Kamerlandes Darstellung bestätigt. Das sagte sie nun Lore. Nur um ihr klarzumachen, daß man sich in diesem Punkte von jedem Vorwurf frei fühlen durfte. »Es hat uns doch beide nicht mehr losgelassen, Kind! Wie sollte man sich's erklären? Was gab es da für eine andere Deutung als die – die einen empören mußte?!«

Lore nickte. Die Tränen tropften auf das Blatt. Doch dann las sie halblaut die Stelle: »– daß ich an meinem Sturz so nicht schuldig bin, wie die große Menge es ohne weiteres annehmen muß.« Sie faßte wie bittend nach Willemintjes Hand. »Ich kann ihn doch nicht so in die Welt hinausgehen lassen. Ich würde das ja nie im Leben verwinden. Unglücklich ist er – vielleicht liegt's in meiner Kraft, ihm zu helfen.«

»Er will dir aber doch ausweichen, Kind.«

Plötzlich fuhr Lore angsterfüllt empor.

»Du«, stieß sie zitternd aus, »das ist mehr als ein Abschiedsbrief, das ist ein letztes Lebewohl, ein allerletztes ... Er wird Hand an sich legen!«

»Kind! Kind!«

Lore umschlang ihre Freundin, schluchzend preßte sie ihr Gesicht an Willemintjes Schulter.

»Hilf mir doch, Willemintje, ach, hilf mir doch!« Die Tür ging auf, die Jungfer erschien im Salon und meldete Herrn von Genzmer.

Ganz verstört sah sich Lore um. Sie verstand des Lärms wegen, der auf der Terrasse und den Tribünen jetzt das Finish des letzten Rennens begleitete, die Meldung der Zofe nicht. Aber in der offen gebliebenen Tür erschien bereits der Besuch. Sie trocknete hastig ihre Augen, ihre Wangen. In noch wundem, erschöpftem Ton bat sie ihn, näherzutreten. »Sie bringen Nachricht?« fragte sie dann mit einem leisen Schimmer von Hoffnung.

»Ich habe eben noch mit Mister Biddle gesprochen. Grolls Schlitten ist erst bei Beginn des Rennens nach Maloja abgefahren, sagt der Pförtner. Wenn man die Ski nimmt und ihm folgt, erreicht man ihn noch. Mister Biddle zieht sich um und kommt mit. Wir wollen ihm ins Gewissen reden. Er muß die Rennen noch mitmachen. Alle Welt ist gespannt darauf, wie ›Soleil‹ abschneiden wird. Wir setzen uns ja dem Gespött hier aus, wenn wir in letzter Stunde kneifen.«

Lore nickte, sprach aber kein Wort. Inzwischen war Willemintje vom Balkon hereingekommen. Auch sie hatte sich in aller Eile einen Plan zurechtgelegt.

»Sehr gut, lieber Genzmer«, sagte sie lebhaft. »Und meine Freundin und ich setzen uns in einen Schlitten und fahren hinter Ihnen drein!«

»Famos! – Wir sehen uns also droben wieder. Im Paßhotel.«

»War das dein Ernst, Willemintje?« fragte Lore, nachdem Genzmer eiligst wieder verschwunden war. Sie fühlte sich so unsicher wie nie. Und Bedenken stiegen in ihr auf, daß ihre Freundin ihren Fuß überanstrengen könnte, der doch noch der Schonung bedurfte.

Willemintje zwang sich zu einem möglichst leichten und heiteren Ton. »Warum sollen wir nicht den herrlichen Tag wahrnehmen, um noch die kleine Schlittenfahrt zu machen? In zwei Stunden können wir droben auf dem Passe sein.«

»Aber dann ist es Nacht –«

»Tut nichts. Wir haben ja Mondschein.«

Als sie kaum fünf Minuten später, mit Pelzwerk versehen, im Schlitten Platz nahmen, sahen sie in der Richtung auf Campfèr eine dürre, langaufgeschossene Gestalt im Skikjöring davonsausen. Mr. Biddle war beim Verlassen des Hotels auf den Stallbesitzer, bei dem sein Fuchs stand, gestoßen und hatte ihm rasch eines der Pferde abgenommen, die gerade nach dem Stall gebracht werden sollten. Der Rappe war bei den Rennen mehrmals Outsider gewesen, also noch ziemlich frisch. Pferd und Läufer hatten sofort eine tüchtige Geschwindigkeit; noch vor dem nächsten Dorf überholten sie Herrn von Genzmer.

Zurückblickend gewahrte Willemintje auf der Strecke zwischen dem Grandhotel und dem zum See hinabführenden Fußweg Onkel Jan in einer lebhaft schwatzenden Gruppe: der Jurist Mayn, der das Einglas ins Auge geklemmt hatte und dem davonsausenden Schlitten überrascht nachschaute, gehörte dazu, außerdem Frau Gertie Selle.

»Sieh nicht hin, Lore«, sagte sie rasch. Sie schwiegen beide. Willemintje empfand inniges Mitleid mit ihrer Freundin. Und je weiter hinaus sie in die Einsamkeit fuhren, je tiefer die Sonne sank, desto banger ward ihr.

Lore hatte unter der Schlittenpelzdecke die Hände gefaltet. Fest preßte sie die Lippen aufeinander.

*

Im alten Paßhotel von Maloja, wo er schon einmal, vor Wochen, eingekehrt war, hatte sich Axel Groll ein Zimmer anweisen lassen.

Das Mädchen, das die Wirtin ihm hinaufschickte, um das Bett zu beziehen, kam unverrichteterdinge zurück und meldete: der Fremde verlangte nichts weiter als ein Schreibzeug.

Die Frau brachte es dem seltsamen Gast dann selbst. Der hatte nur eine kleine Reisetasche bei sich, der er gerade ein Päckchen Briefe entnahm. Das Zimmer war geheizt, aber er hatte das Fenster weit geöffnet. Die Sonne stand groß und goldrot dicht über dem schluchtartigen Einschnitt des steil abstürzenden Bergell. Für die nächsten Ortschaften am Silser See, hinter dem Kulm, war sie für heute schon entschwunden; hier oben hatte man sie noch ein Halbstündchen länger.

Ob der Herr denn nicht über Nacht bleiben, hier schlafen wolle?

Nein, er gedenke noch heute abend eine größere Skifahrt anzutreten. Das kleine Gepäck sollte ihm mit der morgigen Post nach Tiefenkastel geschickt werden.

Nach Tiefenkastel? – Aber dahin gab's im Winter doch von hier aus keinen Übergang!

Er wollte ihn ausprobieren.

Auf Schneeschuhen?

Ja. Zuerst hinauf nach Fuorcla di Lunghino, dann hinab über die Schneehalden zum Septimerpaß und über Forcellina ins Aversertal nach Juf und dann die Straße weiter.

»Jetzt – bei Nacht?« fragte die Frau entsetzt.

»Wir werden ja Mondschein haben«, entgegnete der Gast gelassen und rückte den Tisch ans offene Fenster in die Sonne.

»Aber das ist lebensgefährlich, mein Herr! Wissen Sie das?«

Er zuckte die Achsel. »Es gilt eine Wette, liebe Frau.«

Sie zögerte noch immer an der Zimmertür. Wenn er schreiben wollte, sagte sie, fände er's doch unten in der großen Wirtsstube besser, die sei geheizt.

Müde dankte er. »Ich sehe noch gern ein bißchen in die Sonne.« Und dann setzte er sich hin, überlas die Aufzeichnungen, die nun schon seit Wochen ihrer Absendung nach dem Fernen Osten harrten, und ließ ihnen eine Nachschrift folgen.

*

»... Wenn diese Blätter morgen früh den Briefkasten hier oben auf der Paßhöhe von Maloja verlassen, um endlich die Wanderung zu Dir anzutreten, dann hab' ich die große und beschwerliche Winterfahrt hinter mir, vor der es mir im Augenblick noch ein bißchen graut. Noch scheint mir die Sonne aufs Papier. Es ist dieselbe liebe Sonne, die mir in St. Moritz eine Zeitlang Sommer vortäuschte, ob auch der eisige Winter unter der Schneedecke knirschte. Wenn sie sich von diesen Blättern verabschiedet hat, weißt Du alles, und dann greife ich nach dem Bergstock und mache mich still auf den Weg über den Paß.

Ich kann Dir nicht alles schildern, was ich erlebt habe, seitdem ich hier gewesen bin. Es sieht zu wirr in mir aus. Das Glück kam und hielt mir die Hand hin, ich griff schon danach, sehnsüchtig, jubelnd – und da fuhr das Schicksal wieder mit seiner plumpen, täppischen Faust dazwischen und schlug mich zu Boden. Ich habe von einem Wesen Abschied nehmen müssen, das mich in dieser St. Moritzer Zeit wieder hoffen gelehrt hatte. Wer Lore war? Ich will Dir nur sagen, was sie mir war. Einmal sagte ich zu ihr: ›Meine Sonne sind Sie mir geworden!‹ Ich dachte, die müsse mir nun immer scheinen, Tag für Tag, Stunde für Stunde. Ich wärmte mich an ihren Strahlen. Ein Dankgefühl hatte ich in der Brust wie ein Genesender. Das Licht war heller, die Welt war schöner geworden mit jedem Tag. Lore hätte wieder den kampfmutigen Burschen von einst aus mir machen können. Aber eines Tages erschien Gertie in St. Moritz. Sie hat mir gebeichtet, daß ihr Gatte nicht Selbstmord begangen, sondern daß sie ihm das Gift eingegeben hat. Mit ihrem brutalen Ungestüm dachte sie mich von Lores Seite zurückzureißen. Ich konnte Lore ja nicht gestehen, was mich nun mit diesem Weib verbindet. Eine Liebesgeschichte – so muß sie wohl annehmen. Nun, die hätte sie mir vielleicht verzeihen können. Es wäre der einzige Posten auf meinem Schuldkonto geblieben, des war sie ja sicher. Aber nun hat das Verhängnis doch noch einen Weg gefunden, um mich zur Strecke zu bringen.

In meinem ersten Brief schrieb ich Dir, daß ich schon in Berlin eine gewisse Unruhe nicht losward, so oft ich einem jüngeren Juristen begegnete, der im Hause der Frau von Troost ein und aus geht. Auch den traf ich hier wieder, seltsam aufmerkend auf jeden meiner Schritte. Frau Erika von Troost war in erster Ehe mit Dr. Selles Bruder verheiratet. Ich weiß, wie groß ihr Zorn darüber war, daß sie bei Selles Tod leer ausging. Ebenso groß war die Enttäuschung von Selles Vetter, dem Bankier Selle. Durch verschiedene Feststellungen habe ich nun in den letzten Tagen volle Gewißheit darüber erhalten, daß die Verwandtschaft einen Prozeß anstrebt, um Gertie das Erbe streitig zu machen. Trauer hat sie nie gezeigt, nicht einmal die äußere Form gewahrt, im Gegenteil oft genug zu erkennen gegeben, daß sie die Erlösung von ihrem Quälgeist dankbar begrüßte. Der überraschende »Selbstmord« gab ihnen zu denken. Der Klatsch hat mich mit ihr schon lange in Verbindung gebracht. Zu einer Zeit, wo ich noch gar nicht ahnte, daß man uns beide beobachtete. Ich war nach ihrer Meinung der einzige außer Gertie, der den Wunsch haben konnte, Hans Selle aus dem Wege zu räumen. Sie nehmen jetzt an, daß wir das Verbrechen von langer Hand vorbereitet hätten.

Vielleicht sind wir belauscht worden, vielleicht hat Gertie, die sich in ihrer zornigen Überreizung in die erstbeste skrupellose Gesellschaft im Hotel gestürzt hat, sich von ihrer Umgebung ausforschen lassen, vom Champagner aufgepeitscht - kurz, ich hatte heute vormittag eine denkwürdige Unterredung mit jenem Berliner Herrn, von dem das Gerücht behauptet, er wäre uns von einer Auskunftei als Spitzel nachgeschickt worden. Ausweichen konnte ich ihm nicht, ich hätte mich dadurch nur um so verdächtiger gemacht.

Was soll ich Dir das spitzfindige Hin und Her in seiner ganzen marternden Peinlichkeit ausführlich schildern. Herr Mayn ist berüchtigt ob der Skrupellosigkeit der Mittel, die er anwendet, um seinen Auftraggebern zum Sieg zu verhelfen. Er hat eine sehr leicht täuschende lebemännische Art, eine gewisse Schnoddrigkeit, durch die er rasch mit zweifelhaftem Gelichter Verbindung gewinnt. Oft ist man erstaunt, in welche Winkel des Elends, des Lasters, in welche Schlupfwinkel der Verbrecherwelt sein Spürsinn reicht, wie groß seine Kenntnis aller menschlichen Verirrungen ist. Wehe dem Leumundszeugen, der seinen Schützling angreift. Er sieht bald ein Bild von sich selber entrollt, vor dem es ihm graut. Die winzigsten Punkte, die sich zu einem Fleck auf der Ehre aufbauschen, vergrößern, vergröbern lassen, die stöbert er im Leben eines Menschen, der ihm unbequem geworden ist, auf. Und dann hilft auch das beste und ruhigste Gewissen nicht mehr. Im Leben eines jeden kannst Du eine schwache Stunde finden. Die wächst unter dem scharfen Blick dieses hämischen Menschen dann zu einer Schuld, neben der die Rechtschaffenheit eines ganzen übrigen langen Daseins verschwindet. Du kannst entkräften, aber nicht mehr beseitigen – es wird stets so viel hängenbleiben, daß Du in den Augen der Welt einen Makel wie eine Kugel hinter Dir her schleppst.

Ich war zuerst abwartend, ablehnend, abweisend – aber Rede stehen mußte ich ihm schließlich doch. Er ist über jeden, aber auch über jeden Weg unterrichtet, den ich mit Frau Gertie je gegangen bin. Immer enger sah ich mich eingekreist. Woher sein Wissen stammt? Es ist nicht anders erklärlich, als daß er Gerties frühere Zofen und Hausmädchen, den Pförtner, auch den und jenen aus meiner Umgebung ausgehorcht hat. Und auf Grund von deren Aussagen hofft er uns zu dem Geständnis zu zwingen, daß Selle unserer Liebe schon immer im Wege war.

Ach, Junge, was sollst Du Dich in meine Wut, meine Ohnmacht versetzen? Die Schlinge, die den Hals einschnürt, in der spielend leichten Hand sehen, immer enger, immer atemraubender zusammengezogen!

Mayn weicht nicht mehr von Frau Gerties Seite. In der Maske eines Verehrers hat er sich an sie heranzuschleichen gewußt. Sie nimmt jetzt ja wahllos jede Huldigung an, nur um meine Eifersucht anzustacheln. Und in seinen Händen wird sie Wachs sein. Was er bis heute nur ahnt, das wird er von ihr als letzte Beichte erpressen. Und das wird nach wochenlanger, zäher, fleißiger, komödiantisch verschleierter Vorbereitung dann endlich die Stunde seines Sieges! Er wird alles seiner Auskunftei aushändigen, die Auftraggeber überliefern es der Staatsanwaltschaft. Man wird Gertie und vielleicht auch mich verhaften. Die Schande aber würde ich nicht überleben.

Mein alter Fred, wärst Du da, so würdest Du mir jetzt noch einmal fest die Hand geben, mir Mut zusprechen, noch ein letztes Mal offen und klar ins Auge schauen und darauf still die Stube verlassen. Ich würde erst beim Aufblicken entdecken, daß Du gegangen bist – und daß Du mir ein zierliches Abschiedsgeschenk auf dem Tisch zurückgelassen hast, Deinen Revolver.

Ich weiß, Fred, was ich dem Namen schuldig bin, den wir tragen.

Keine Furcht also. Die Sonne hat sich ins Bergell gebettet. Wie in einem Feuerkessel brodelt's da unten. Der ganze Himmel glüht. Und blicke ich links zurück durch das halbblinde kleine Dachfenster, so sehe ich schon die große, blasse Scheibe des Mondes über den Schneehäuptern hinter Silvaplana auftauchen. Vollmond. Am Himmel steht kein Wölkchen. Es wird eine wunderbare Nacht geben. Silberhell wird mir das Licht des gutmütigen Begleiters auf meiner letzten Alpenfahrt leuchten. Ich schnalle mir die Ski unter die Sohlen und ziehe mit leichtem Herzen und leichtem Gepäck in den Schnee hinaus. Meine Sorgen habe ich hier auf diesen Blättern gelassen. Sie werden irgendwo auf der heißen Erde im Fernen Osten mit den Fetzen zerflattern, die Du den Winden übergibst.

Leb' wohl, Fred.

Dein Bruder Axel.«

*

Als Mr. Biddle hinter seinem Rappen Maloja erreichte – naß und dampfend wie zwei Stunden vorher beim Skikjöring auf dem See von St. Moritz –, war es halb sechs Uhr. Er hatte eine gute sportliche Leistung hinter sich und war zufrieden.

Im Paßhotel erfuhr er da aus dem Munde der Wirtin, welchen Skiweg Dr. Groll zu nehmen gedachte. Sofort regte sich in ihm die Eifersucht, denn einen so großartigen winterlichen Alpenübergang auf den Ski verzeichnete die alpine Literatur bis jetzt überhaupt noch nicht. Für ein paar Augenblicke vergaß Mr. Biddle beinahe, daß diese Skifahrt auf Kosten des »Soleil« ging, der dadurch in den nächsten Tagen seines eingeübten Bremsers entbehrte.

Man bezeichnete ihm die Tür des Zimmers, in dem der Fremde saß. Mit seinem harten Knöchel pochte er an und drückte gleich darauf die Klinke nieder.

Axel Groll stand am offenen Fenster und verschloß gerade seine Reisetasche, die er mit seinem Namen und dem Bestimmungsort Tiefenkastel versehen hatte.

»Oh, Mister Groll, ich komme, Ihnen zu sagen, daß wir sind sehr erschrocken zu Ihre Abreise.«

Nicht im entferntesten hatte Axel Groll an die Möglichkeit gedacht, daß sein Aufbruch noch vor Beendigung der Rennen auf dem See bekanntwerden könnte. Vom Hotelfenster in St. Moritz aus hatte er alle Bekannten auf dem Weg zu den Tribünen gesehen: Lore mit ihrem Gefolge – behutsam führte sie ihre Freundin über die schmalen Schneestufen –, das Ehepaar Vogel, den Juristen Mayn, der seinen Arm vertraulich in den von Gertie gelegt hatte, und als letzten seinen bisherigen Zimmernachbar, den Holländer.

Als er hörte, daß die Damen im Schlitten hierher unterwegs seien, verlor er vollends die Fassung.

»Ich habe Fräulein Englhofer geschrieben – sie kennt die Gründe, die mich zwingen, St. Moritz zu verlassen –, ich kann die Rennen nicht mitmachen. Es tut mir sehr leid, Mister Biddle, aber es ist ausgeschlossen, daß ich zurückkehre.«

Da unten vor dem Eingang noch Mr. Biddles Rappe stand, verließen sie das Zimmer und traten ins Freie.

In der Sonne war über Tag der Schnee auf dem Passe aufgetaut. Die Postautos und Lastfuhrwerke, die hier Station machten, steckten mit ihren breiten Rädern tief im aufgeweichten Erdreich. Der Platz war schwarz von den Pfützen, die sich vom Tauwasser gebildet hatten. Rasch sank die Temperatur. Auf einzelnen Pfützen begann sich schon wieder eine Eisschicht zu formen.

Mr. Biddle ließ seinen Rappen im Stall unterbringen. Der alte Studienfreund mußte ihn dahin begleiten. Während der Amerikaner dem Stallburschen Anweisungen gab, überlegte Groll seinen Plan. Er wollte den Paß verlassen haben, noch bevor der Schlitten mit Lore und Willemintje hier eintraf. Aber Mr. Biddle war zäh. Er hatte sich eine Pferdedecke umgehängt, seine kurze Pfeife in Brand gesetzt, rittlings auf einer Krippe Platz genommen und bearbeitete in seiner gelassenen Art, die keinen Widerspruch duldete, das ungetreue Mitglied seiner Mannschaft.

Der »Soleil« hatte die besttrainierte Bobmannschaft. Im Klub herrschte nur eine Meinung: der »Soleil« zählte in erster Reihe. Einen neuen Bremser in die Mannschaft aufzunehmen, am Vorabend der großen Rennen, war ganz ausgeschlossen.

Der stumpfen Ruhe, mit der Mr. Biddle auf seiner Forderung beharrte, war mit Vernunftgründen nicht beizukommen. Axel Groll versuchte es, ihn durch Versprechungen loszuwerden.

»Morgen bin ich in Tiefenkastel – übermorgen kann ich in St. Moritz wieder mit der Bahn eintreffen. Zum eigentlichen Rennen komme ich dann immer noch zurecht.«

Mr. Biddle stieß eine dicke Dampfwolke aus und sagte, ohne die kurze Pfeife aus den Zähnen zu lassen: »Wenn Sie dann noch leben, Mister Groll.«

»Warum – soll ich dann nicht mehr leben?«

»Der Weg, den Sie da vor sich haben, ist sehr gefährlich, Mister Groll. Den Sie können machen, wenn die Rennen sind vorbei. Vorher – nein.«

Sie stritten noch miteinander, als Genzmer vor dem Wirtshaus anlangte – nicht minder dampfend und schweißtriefend als Mr. Biddle. Im Stalle hörte man seinen hellen Ruf, den er über den Paß hin erklingen ließ. Nun war Axel Groll ein Entrinnen unmöglich gemacht: er mußte das Eintreffen des Schlittens abwarten.

Obwohl die Sonne schon seit einer halben Stunde hinter dem Bergell in die italienische Ebene hinabgesunken war, strahlte im Westen der ganze Himmel in rotgoldenem Feuer. Auch die Schneegipfel auf der Südseite der Seenkette ragten wie leuchtende Fackeln auf. Doch über die schmale, ebene Schneefläche des Silser Sees ergoß sich schon der milde Silberglanz des Mondes. Den Rest der Schlittenfahrt zum Kulm empor begleitete dies wunderbare Farbenspiel: der Kampf der Gestirne. Willemintje war dem Eindruck ganz hingegeben. Auch Lore empfand trotz ihrer erregten Stimmung die überwältigende Schönheit dieser Szenerie.

Das Wiedersehen mit Axel Groll bot durch die kaltblütige Überlegenheit Biddles und die gutmütig-drollige Gereiztheit, die Genzmer dem Ausreißer gegenüber zur Schau trug, keine Gelegenheit zu tragisch anklingenden Vorwürfen.

Die beiden Skiläufer froren, verlangten Grog und bestanden darauf, daß man sich im großen Wirtszimmer zunächst einmal behaglich um einen Tisch setzte, die Lampe anzünden ließ und sich stärkte. Genzmer half Willemintje behutsam vom Schlitten über die gefrorenen Pfützen ins Wirtshaus. Mr. Biddle verhandelte mit dem Schlittenkutscher über das Ausspannen der Pferde und traf dann in der Küche seine Anordnungen für ein ausreichendes Abendessen.

Inzwischen war Lore mit Axel allein auf dem Platz geblieben.

Sie waren von der Straße weg auf die Felsplatte getreten, zu dem Gitter, über das man den berühmten Blick über das Bergell hat. Die Schlucht lag im tiefblauen Schatten unter ihnen. In matten Orangetönen zitterte noch das verglimmende Licht des Tages als schmaler Streifen über dem tiefsten Einschnitt des Bergell. Da und dort flimmerten Sterne, wie greifbar nahe. Der Mond war nicht zu sehen, denn der Riesenschatten des Wirtshauses und der Ställe schlug über den Platz hin. Links und rechts von den Gebäuden aber leuchteten die weißen Schneewände der wild zerrissenen Alpenlandschaft.

Von allen Anklagen, die Mr. Biddle gegen den Flüchtling vorgebracht hatte, war Lore nur die eine im Gedächtnis geblieben: daß Axel Groll die nächste Nacht benutzen wollte, um den Rekord einer nächtlichen Skifahrt über den Septimer durchzusetzen. Sie wußte, daß dies die Fahrt in die Ewigkeit war.

»Graut es Ihnen nicht?« fragte sie mit unsicherer Stimme.

»Schicksal«, sagte er leise.

»Sie wollen mir nicht sagen, wer Ihnen Ihr Todesurteil gesprochen hat?«

Mit einer hastigen Gebärde suchte er ihr zu wehren. Aber sie hielt ihm das Antlitz zugewandt, und obwohl sie im Schatten des Hauses standen, fühlte er sich im Bann ihres Blicks.

»Hier handelt sich's um keinen Rekord, Sie Ärmster – daran mag Biddle glauben, ich glaube nicht daran – hier handelt sich's um eine Flucht aus dem Leben.«

Nun neigte er schweigend die Stirn.

»Ist denn Ihr Verbrechen so ungeheuerlich – um Gottes willen, sagen Sie mir doch, Axel, daß es nur mit dem Tod gesühnt werden kann?«

»Kein Verbrechen. Nennen Sie's einen Leichtsinn. Aber eine Schuld, die ich nicht allein trage. Und büßen will ich sie nicht Schulter an Schulter mit ...« Er hob beide Fäuste. Aufstöhnend brach er ab.

Sie schwieg lange, sie kämpfte mit sich – kämpfte gegen ihren Stolz. Dann fragte sie: »Und die Rücksicht, die Sie nehmen müssen, zwingt Sie, mich so tief zu demütigen?«

Er hörte die Tränen in ihrer Stimme. In plötzlicher Erschütterung griff er nach ihren Händen, beugte sich auf sie und küßte sie.

»Vertrauen Sie mir doch, Axel. Ich dürft' es ja kaum mehr aussprechen. Ich will Ihnen nicht wie ein bettelndes Ding vorkommen, das seinen Stolz vergißt.«

»Ach Lore, Liebste, Liebste –!« Er richtete sich auf, preßte sie an sich, küßte sie lange, immer wieder, auf Augen, Stirn und Wange, dann auf den Mund, nicht fähig, von ihr zu lassen.

Es war eisig kalt geworden. Sie fühlten es beide nicht, obwohl ihr Atem gefror. Im Wirtshaus waren da und dort Lichter aufgesprungen. Die hellen Rechtecke der Fenster zeichneten sich scharf in dem großen Schatten ab, den die Hauswand über den Schnee warf. Langsam kehrte Lore zum Haus zurück, Hand in Hand mit ihm.

»Ich habe einen einzigen Menschen zu meinem Vertrauten machen wollen«, sagte Axel. »Meinen Bruder. In der ersten Zeit in St. Moritz hab' ich an ihn geschrieben. Das war schon damals so eine Art von Abrechnung, von Abschied. Aber ich konnte mich nicht entschließen, die paar Blätter abzuschicken. Denn inzwischen hatte ich dich kennengelernt, Lore.«

»Hast du den Brief noch?«

»Ja. Heute hat er seine Nachschrift bekommen. Ich schrieb die letzten Worte, als Mister Biddle kam.«

»Willst du mir ihn nicht geben? Darf ich ihn nicht lesen?«

Er nickte. Indem sie in den Lichtschein des Hauseingangs traten, zog er das postfertig gemachte Schreiben aus der Brusttasche und gab es ihr. »Es läßt sich nur leider – nichts mehr daran ändern.«

Lore folgte Axel in das Zimmer des oberen Stockwerks. Er drehte die Lampe, die über dem Tisch hing, an Lore trat heran und las in fliegender Hast Bogen um Bogen.

In der Wirtsstube hatte sich inzwischen noch mehr Gesellschaft eingefunden: Bobfahrer, die den sonnigen Tag zu mehreren Fahrten durch das Bergell benutzt hatten. Die Strecke war gefährlich, an den scharfen Kurven war man ganz auf die Bremse angewiesen, aber, von einigen Entgleisungen im tiefen Schnee abgesehen, war das Unternehmen dreimal geglückt. Die schweren Stoßschlitten hatten sie immer von Zweispännern bergauf schleppen lassen, während sie selbst den Marsch zu Fuß zurücklegten. Sie waren körperlich erschöpft, aber bester Laune, in der Erwartung eines guten Abendessens und danach der schönen Heimfahrt bei Mondschein im bequemen, mit Wärmflaschen versehenen Schlitten.

Genzmer verkündigte den Ankömmlingen sofort stolz den Sieg des Führers vom Bob »Soleil« im Skikjöring. Mr. Biddle wurde gefeiert, man machte gemeinsam Tafel, aß und trank, und der Sieger vergaß dabei fast des Grundes dieser späten Fahrt.

Unruhig blickte nur Willemintje immer wieder nach der Tür. Heimlich besprach sie sich mit Genzmer.

Der sagte ihr offen: die Art und Weise Grolls hatte ihm nicht gefallen. Da stimmte irgend etwas nicht. Hier lag nicht, wie er zuerst angenommen hatte, eine Laune, eine Ungezogenheit vor: diese plötzliche, seltsame Flucht entsprang ernsteren Beweggründen. Und nach allem mußte man sie in Zusammenhang mit Frau Selle bringen.

Willemintje schwieg darauf, sie fühlte sich ja selbst zwischen hundert Zweifeln hin und her gerissen.

Die frohe Laune der beim Punsch sitzenden Bobfahrer war noch immer im Steigen begriffen. Ein paar Türen im Treppenhaus waren offen geblieben. Nun zog aus der Küche und der großen Gaststube der Speisenduft und Punschgeruch durch alle Räume, auch durch die Fugen der alten Holztür, die das Zimmer Axel Grolls vom Flur trennte. Und das Lachen, das Schwatzen und Rufen in verschiedenen Sprachen scholl durchs ganze Haus.

Lore hatte in tiefer Erschütterung gelesen. Als sie das letzte Blatt aufnahm, wollte Axel sie hindern und griff nach dem Schluß, den er seiner Beichte heute noch angefügt hatte.

Sie wehrte ihm und las zu Ende. Eine fieberhafte Erregung hatte sich ihrer bemächtigt. Der Bogen entfiel ihren Fingern. Schluchzend preßte sie die Hände gegen ihr Antlitz und warf sich auf den Stuhl am Tisch, achtlos mit den Armen aufschlagend.

Endlich hob sie das tränenüberströmte Antlitz. »Also jetzt – wärst du schon unterwegs, Axel? Wenn wir dir nicht gefolgt wären?«

»Warum quälst du mich, Lore? Ich meine: nun müßtest du mich doch begreifen.«

»Vieles begreife ich. Ich sehe, was du gelitten hast. Ich verstehe, daß diese Marter dich verändert hat. Ich begreife, daß du verzweifelt warst. Aber sag' doch um Gottes willen: ist denn nicht jede Schuld auf Erden zu sühnen, wenn der gute Wille da ist?«

»Auf Erden. Vor dem Richter?« Er schüttelte den Kopf. »Ich darf meinem Namen nicht die Schande machen.«

»Und wenn du dein Vergehen selbst mit dem Tode bestrafst, müßte dann nicht alle Welt annehmen: an deinen Händen klebt Blut?«

Er fuhr auf.

»Laß sie doch Anklage gegen dich erheben. Deine Schuld ist nicht so riesengroß, daß der Urteilsspruch deinen Namen unehrlich machen könnte. Wer hätte die Stirn, Axel, zu sagen, du beschimpfst deinen Namen, wenn du ein Unrecht offen bekennst?«

Erschöpft hatte er sich auf das Bett gesetzt, die Stirn in die Hand stützend. Nun schlug er die Augen zu ihr auf. Sie stand außerhalb des kleinen Lichtkreises. In dem halbfinsteren Raum jenseits des Tisches konnte er kaum ihre Gestalt erkennen. Aber es war ihm, als ginge ein stilles Leuchten von ihr aus.

»In die finsterste Stunde meines Lebens hast du mir Licht gebracht, Lore.«

»Dein guter Kamerad wollte ich sein«, sagte sie einfach.

Er stand auf und nahm ihre Hand. Schweigend. Lange standen sie so in tiefer Ergriffenheit.

Aus der Gaststube klang Singen herauf. Die hellen Stimmen der Amerikanerinnen setzten mit einer lustigen Melodie ein. Man hörte Lachen und dazwischen Gepolter. Da wurden wohl Tische und Stühle weggeräumt: die jungen Leute wollten tanzen. Lore löste ihre Rechte aus seiner Hand, ging zur Tür, öffnete sie und lauschte ins Treppenhaus. Dann wandte sie sich ihm wieder zu und sagte bittend: »Darf ich Willemintje und den andern sagen, daß du uns begleitest?«

Er nickte stumm. Sie hielt ihm die Hand hin. »Komm«, sagte sie leise.

*

Willemintje lehnte neben Genzmer in einer Fensternische des großen Wirtschaftssaales. Sie ahnten beide, daß sich in dieser Stunde Schicksale entschieden. Das machte sie ernst, nachdenklich, sie konnten auf den lustigen Ton des jungen Volks, das lärmend den Raum füllte, nicht eingehen. Ihre Gedanken waren bei den beiden da oben.

Nun hatten sich alle Paare gefunden, und der Tanz begann. Mr. Biddle, der im Vollgefühl seines Sportsieges aus sich herausging wie sonst nie, übernahm das Amt eines Tanzordners. Mehrmals trat er auch zu der Holländerin und ihrem Ritter. Ob es Miß Englhofer gelingen würde, dem unberechenbaren Dr. Groll die Fluchtgedanken auszureden? Oder ob sie ihr nicht lieber alle zusammen Beistand leisten sollten?

Mit einem fast flehenden Lächeln brachte Willemintje den Helden des Tages von diesem unglücklichen Plane ab. Aber immer ungeduldiger, gespannter und nervöser, je weiter die Zeit vorrückte, harrte sie des Erfolgs.

Endlich zeigte sich Lore in der Tür und nickte ihrer Freundin zu. Sofort unterbrach Mr. Biddle den Tanz. Noch vor Willemintje verließ er den Saal. Als er seinen alten Studienfreund vor dem Hause im Schnee stehen sah, im Gespräch mit dem Schlittenkutscher, wollte er gleich hinausstürmen, mit einem Dutzend Fragen auf ihn eindringen.

»Quälen Sie ihn jetzt nicht mehr«, bat Lore den Amerikaner. »Er wird uns nach St. Moritz zurückbegleiten. Das muß Ihnen für heute genügen.«

Mr. Biddle hob mahnend den Zeigefinger. »Aber morgen ich will verlangen, daß wir sind alle sehr fleißig. Sonst wir verlieren unseren guten Platz bei den Rennen.«

Lore versprach alles, was er forderte.

Inzwischen hatte sich Genzmer mit Willemintje dazugefunden. Er verhandelte mit Mr. Biddle über die Heimkehr. Draußen wurden schon die Schlittenpferde vorgeführt, man durfte sie in der eisigen Nacht nicht lange stehenlassen, mußte also ungesäumt aufbrechen.

Dem Amerikaner schien das gar nicht zu passen. Er hatte sich mit mehreren seiner Landsleute angefreundet und wollte seinen Sieg im Skikjöring in diesem Kreis noch weiter auskosten.

»Entscheiden Sie sich rasch, es eilt. Wenn Sie mit uns im Schlitten zurückfahren wollen, müssen wir auslosen, welcher von uns Männern auf dem Bock sitzen soll.«

»Groll – natürlich Groll!« rief der Amerikaner sofort. »Dann haben wir ihn unter Augen!«

Genzmer sagte: »Er hat keine Fluchtgedanken mehr.«

Gönnerhaft lächelnd nickte Mr. Biddle. »Than I am satisfaid.« Und mit wichtiger Miene setzte er hinzu, wieder den Finger hebend: »Aber morgen, Sie dürfen nicht vergessen, früh acht Uhr Abfahrt nach Preda! Training auf der Straße nach Bergün!«

Klingelnd fuhr der Schlitten vor. Mr. Biddle trat in die offene Tür, rief dem Doktor in seiner kurzen, formlosen Art noch eine burschikose Anerkennung für seinen Entschluß zu und gab auch ihm die Zeit an für die Abfahrt am anderen Morgen. Als der Schlitten mit den Insassen in die mondbeglänzte Winternacht hinausfuhr, stand Mr. Biddle in der Tür des Paßhotels und winkte ihnen ein fröhliches »Good bye!« nach.

Es war eine stille Fahrt. Nur Genzmer und Willemintje versuchten ab und zu ein Gespräch.

Genzmer bemerkte, daß sich unter der Schlittendecke die Hände der beiden jungen Mädchen vereinigten, und er fing den Blick auf, den sie miteinander tauschten.

Geheimnisvoll huschte das Gefährt an den beschneiten Seeflächen entlang. Schweigend lag die Landschaft in der silbernen Klarheit. Niemand begegnete ihnen auf der Fahrt. Auch die Dorfstraßen waren menschenleer. Nur durch die kleinen, mit Kunstschmiedegittern versperrten Fenster einzelner Häuser drang der rötliche Schein der Lampen und verriet noch Leben.

Es war ganz windstill geworden. So empfand man auch die Kälte nicht. Sie gaben sich schließlich alle dem stimmungsvollen Frieden dieser Nachtfahrt hin. Keiner sprach mehr. Die beiden jungen Mädchen saßen Arm in Arm. Willemintje fühlte, daß ihrer Freundin noch immer ein Zittern in den Gliedern steckte. Als sie Campfèr hinter sich gelassen hatten, um den trotzigen Turm des Segantini-Museums herumbogen und die ersten Villen von St. Moritz erreichten, hob Willemintje den Arm, umschlang Lores Nacken und küßte sie auf die Wange. Lore nickte ihr mit einem dankbaren Lächeln zu.

Vom Glockenturm der Dorfkirche schlug es eben elf Uhr, als der Schlitten vor dem Grandhotel in St. Moritz vorfuhr. Die beiden Damen verabschiedeten sich in dem Gewimmel der herzueilenden Hotelangestellten nur kurz von ihren Begleitern und begaben sich sofort zum Fahrstuhl. Aus dem großen Saal tönte Ballmusik. Genzmer wollte nicht erst in die Gesellschaftsräume eintreten, weil er sich im Sportanzug befand. So geleitete er denn den Doktor ins Hotelbüro.

Der Sekretär bedauerte lebhaft, Herrn Groll für diese Nacht nicht mehr unterbringen zu können. Sein Zimmer hatte im Laufe des Nachmittags Mynheer van Jonckbloet bezogen; alles andere war besetzt.

»Wenn Sie auf meiner Bude mit der Couch fürliebnehmen wollen«, sagte Genzmer gutmütig, »so brauchen Sie nicht erst anderweit um Unterkommen zu suchen.«

Axel dankte ihm für den guten Willen. Der Hotelsekretär wollte einen Boten nach einem der benachbarten Häuser schicken, um für den Gast ein Zimmer ausfindig zu machen. Auch das lehnte Axel ab. »Ich wandere noch gern ein Weilchen draußen in der hellen Nacht herum.«

»Die Klubbahn wird morgen für die Rennen besichtigt«, sagte der Hotelsekretär, »es muß also auf der Strecke Preda–Bergün geübt werden. Haben die Herren schon die Bekanntmachung am Schwarzen Brett gelesen? Die meisten Herrschaften nehmen den Achtuhrzug. Die Bobs werden in besonderem Wagen verladen.«

Die Herren dankten und verließen das Büro. Genzmer holte seinen Wettermantel, um den Doktor noch eine Strecke zu begleiten. Sie hatten die Richtung zu dem neuen Hotel eingeschlagen, das dem Bahnhof gegenüberlag. Der Mond war um ein großes Stück weiter nach Westen gerückt und stand rechts vom Piz Morteratsch, gerade über dem Seeufer. Auf dem See hingen die Fähnchen der Tribünen und der Rennstrecke schlaff an den Masten nieder. Der am Tag in der Sonne weichgewordene Schnee ballte sich wieder und knirschte unter den langsamen Tritten der beiden nächtlichen Wanderer.

»Ich möchte Ihren Rat, Doktor. In einer Herzensangelegenheit. Einen freundschaftlichen Rat.«

»Sprechen Sie doch, Genzmer.«

»Ich hab' nämlich eine kolossale Dummheit wieder gutzumachen. Sehen Sie, so im ersten Feuereifer, als ich hier ankam und die beiden Damen kennenlernte, da hatt' ich mich blindlings verschossen – der Vollständigkeit halber gleich in alle beide. Ich will ganz ehrlich sein: eigentlich hab' ich mich nur in das nette Persönchen von Willemintje verliebt – aber daneben noch ein bißchen in die netten Milliönchen von Fräulein Lore. Es hätte ja bei meinen Leuten zu Hause keinen übeln Eindruck gemacht, wissen Sie, wenn ich alter Bruder Leichtfuß mit so einer guten Partie heimgekommen wäre. Na, das nebenbei. Aber ich kann Ihnen sagen: je mehr ich merkte, daß ich für Fräulein Lore nicht in Betracht kam, um so lieber ist mir die kleine Holländerin geworden. So ein rührendes Ding, so ein famoser Kerl! Ich wüßte keine, die mich so verstanden hätte und der ich so von Herzensgrund aus ...« Er brach ab, wie vor sich selber geniert: »Aber nun müssen Sie endlich auch einen Ton reden, Doktor.«

Axel lächelte; der warme, burschikose Ton des jungen Mannes erfrischte ihn. »Ist's nicht besser, ich höre Ihnen zu, als daß ich Sie störe? Es ist doch eine Wohltat, so aus sich herauszugehen, nicht?«

»Wenn man sich verstanden fühlt, gewiß.«

»Glauben Sie mir, Genzmer, ich verstehe Sie. Fräulein Willemintje verdient die Verehrung. Wer so neidlos Freundschaft halten kann, der ist mehr als ein guter Kerl – der ist ein großer Mensch.«

»Sie wissen es noch feierlicher auszudrücken als ich. Recht haben Sie jedenfalls. – Aber das hilft mir nicht weiter. Wie immer ich's jetzt anstellen mag, Willemintje wird sich ja doch sagen: ›Aha, Numero eins hat ihn abblitzen lassen, nun versucht er's mit Numero zwei!‹ Und halt' ich jetzt um sie an, dann krieg' ich bombensicher meinen Korb. Sehen Sie, das ist die Zwickmühle. Wenn einer mir helfen kann, dann sind Sie's. Wenigstens – wie ich annehme, daß Sie zu Fräulein Lore stehen.«

»Offenheit gegen Offenheit, Genzmer. Sie nehmen an, ich sei mit Fräulein Lore verlobt.«

»Ja. Und ich würde Ihnen gleich ein herzliches Glückwunschsprüchel aufsagen.«

Axel war stehengeblieben. »Lieber Freund – das liegt noch in weitem Felde. Für mich gilt es einen langen, bangen und schweren Weg zu wandern, ehe ich hoffen darf.«

»Aber auf diesem Weg – werden Sie nicht allein sein, nehme ich an. Wie? Seien Sie mir nicht böse, Doktor. Ich bin verflixt ratlos. Aufdringlich möcht' ich wahrhaftig nicht sein. Aber es sieht doch ein Blinder, daß Sie miteinander einig sind, wenigstens so in den Vorfragen. Na, und so weit bin ich nun wieder nicht. Sehen Sie, nun lachen Sie mich aus.«

»Das tue ich nicht, Genzmer. Wirklich nicht. Sagen Sie ganz offen: wie kann ich Ihnen raten oder helfen?«

Genzmer zuckte die Achsel. »Ich weiß, die Damen reisen ab, und ich krieg' sie so bald nicht mehr zu sehen. – Aber Sie werden sie sehen, Doktor. Na ja, und da dacht' ich: ich könnte vielleicht einen Fürsprecher an Ihnen haben.«

»Brauchen Sie den, Genzmer?«

»Aber ob!«

»Ich bitte Sie, Ihr Fall liegt doch golden klar. Sie stammen aus begütertem Haus – Willemintje kommt als Ihre Frau in eine glänzende Stellung. Daß Sie sie aufrichtig lieben, um ihrer selbst willen, bedarf kaum einer Versicherung: denn Willemintje ist arm.«

»Aber was für Greueltaten aus meiner Vergangenheit werden ihr inzwischen zu Ohren kommen. Ich war ja ein fürchterlich leichtsinniger Gesell'. Sie haben keine Ahnung.«

»Glauben Sie, daß so ein tapferes Ding wie uns' Willemintje, die als halbes Kind schon den Kampf mit dem Leben aufgenommen hat, sich durch irgendeinen Klatsch in die Flucht schlagen läßt? Da seien Sie ohne Sorge! Aber – Ihr Fürsprecher will ich gerne sein.«

»Dann bin ich meiner Sache sicher. – Sehen Sie, Doktor, verliebt war ich gut und gern hundertmal. Aber diesmal... Nun lachen Sie mich richtig aus. Ja, ja, und recht haben Sie. Übrigens ist's heillos spät. Erst einmal herumschlafen. Morgen sieht man klarer.«

Sie hatten den Eingang des Hotels La Margna erreicht. Der Pförtner trat ihnen in der Vorhalle entgegen, und Axel erfuhr, daß er Unterkunft finden könne, wenn er mit einem kleinen Zimmer fürliebnehme. So reichten sie einander denn an der Tür die Hand zum Abschied.

Das Klingeln von mehreren Schlitten, helles Lachen und Rufen auf der Straße, die durchs Dorf führte, kündigte gerade die Ankunft der Gesellschaft aus Maloja an. Genzmer machte rasch kehrt, um Mr. Biddle abzufangen.

Eine Viertelstunde später war die Handtasche aus dem Grandhotel da, und Axel konnte das Zimmer aufsuchen und sich niederlegen. Er war zu Tode erschöpft – aber Ruhe fand er nicht. Die Strapazen dieses Tages rächten sich. Stundenlang lag er wach, mehrmals stand er auf und wanderte im Zimmer umher. Er öffnete das Fenster und ließ die eisige Luft herein. Dann fror er im Bett, daß es ihn schüttelte. Aber er besaß nicht mehr die Kraft aufzustehen, um das Fenster zu schließen. Wie gerädert fühlte er sich. Erst gegen Morgen sank er in einen erschöpften Halbschlaf. Die Unruhe auf dem nahen Bahnhof, das Klingeln der Schlitten, die zum ersten Zuge kamen, lebhaftes Sprechen auf dem Platz vor dem Bahnhofsgebäude, auf den sein Zimmer mündete, schreckten ihn dann wieder auf.

Es war noch finster draußen – der Mond verschwunden, die Sonne noch nicht aufgegangen. Er zog sich notdürftig an und trat ans Fenster, vor Frost zitternd.

Der Platz unten wimmelte von Sportsleuten. Er entsann sich, daß die Mehrzahl der Bobfahrer heute auf der Strecke Preda–Bergün trainieren wollte. Im Schnee standen noch einige der eisernen Stoßschlitten. Gepäckträger und Sportsleute waren mit vereinten Kräften bemüht, die schweren Gestelle zum Gepäckwagen zu schleppen.

Soeben schlug die Bahnhofsuhr. Axel zählte. In zwei Minuten ging der Frühzug ab. Es schienen aber noch nicht alle Bobmannschaften vollzählig beisammen. Der Platz entleerte sich, die Fahrgäste drängten zum Zuge. Aufgeregt riefen ein paar Herren vom Bahnhofseingang aus nach der zum Dorf emporführenden Straße. Im Trabe kamen da noch mehrere Nachzügler an. Gertie war darunter.

Ein paar Schritt weit ging ihr ein Herr im schwarzweißkarierten Sportanzug entgegen, winkte mit seiner Mütze und trieb sie zur Eile an. Die gemachte Forschheit dieser Stimme war Axel bekannt. Er konnte das Gesicht des ungeduldigen Herrn nicht sehen, wußte aber sogleich: es war Mayn.

Im letzten Augenblick gelangte die junge Frau noch in den Zug. Gleich darauf verließ er stampfend die kleine Halle.

*

Über Celerina, Samaden und Bevers hielt die Bahnstrecke auf die Giumels zu – die beiden senkrecht aus der sumpfigen Talwüste emporsteigenden Felskolosse.

Die ganze Landschaft zeigte im Neuschnee und in der Morgendämmerung nur sanfte Umrisse. Um so schroffer und drohender wirkten diese beiden schwarzen Wächter des Albulapasses, von deren Schultern der Schneemantel im Brand der Sonne der letzten Tage schon wieder abgeschmolzen war.

Mit einem langen, heulenden Pfiff bohrte sich der Zug zu Füßen des Riesenpaares in die Felswand ein und durchfuhr den fast sechstausend Meter langen Albulatunnel.

An den Tagen, an denen die Bobfahrer den Frühzug benutzten, herrschte eine fröhliche Stimmung auf der ganzen Fahrt. Die wenigen Einheimischen, die mitfuhren, stillschweigend ihr Pfeifchen rauchend, betrachteten die abenteuerlich vermummten Gestalten mit leichtem Schmunzeln. Damen und Herren, die sonst nicht anders als erster Klasse fuhren, gesellten sich auf diesen sportlichen Ausflügen mit einer drolligen Lässigkeit den Fahrgästen der dritten. Der Qualm der Pfeifen und Zigaretten erfüllte bald die niedrigen Wagen.

Ein paar Mannschaften fanden sich heute erst im Zuge, während der Fahrt, zusammen. Die Teilnehmer trugen den Namen ihres Bobs gestickt auf dem Pullover. Außer den Engländern und Amerikanern, Skandinaviern und Deutschen, die mehrere auf der Klubbahn schon rühmlich bekannte crew bildeten, machten auch ein paar Engadiner Gruppen die Fahrt mit. Es waren Handwerker aus St. Moritz und Pontresina. Die ausländischen Wintergäste betrachteten sie mit einer gewissen Ehrfurcht, denn Eingeweihte hatten im Wagen die Nachricht verbreitet: das seien die Mannschaften, die bei den vorjährigen Rennen auf der Strecke Preda– Bergün den Sechsminutenrekord des berühmtesten amerikanischen Bobs geschlagen hätten.

Unter den Nachzüglern aus dem Grandhotel hatte sich auch der Baron Kamerlander befunden. Dicht hinter Frau Gertie Selle war er in den schon in Bewegung befindlichen Zug gesprungen. Er ging nun von einem Abteil zum andern, um Mr. Biddle aufzustöbern.

Als er Mayn sah, der im vordersten Wagen neben Giovanni Lendi saß, dem Inhaber eines großen Schlittenverleihgeschäfts von St. Moritz, fragte er ihn fast verzweifelt, ob er die Mannschaft des Bob »Soleil« nicht gesehen habe.

Mayn hatte in letzter Zeit selten die Auszeichnung einer Ansprache durch Kamerlander genossen; er zeigte sich aber nicht nachträglich, sondern berichtete ihm äußerst angeregt, was er über den Verbleib der Mannschaft des Mr. Biddle wußte.

»Herr von Genzmer hat Sie noch gestern spätabends in der Bar gesucht, um Ihnen zu sagen, daß der ›Soleil‹ heute nicht mitstartet, Herr Baron.«

»Was? Überhaupt nicht? Nein, hören S', Verehrtester –!«

»Die Mannschaft startet nicht, weil Fräulein Englhofer noch vor den Rennen St. Moritz verläßt.«

Kamerlander setzte sich verblüfft auf die Holzbank. »Ich bitt' schön, machen S' keine schlechten Witz!«

»Die Damen wollen eine Reise ins Ausland antreten.«

»Sagen S' lieber gleich: nach dem Mond.«

»Es ist Tatsache, Herr Baron.«

»Jes', Maria –! Wann ist denn das zum Austrag gekommen? – Ich war gestern abend droben im Kulmhotel zum Nachtmahl eingeladen. Auf dem Eisplatz hat's da eine Illumination gegeben, ein bissel Maskerade auf Schlittschuhen, Fackelpolonäse und so ein Zeug –, ich bin erst um ein Uhr ins Bett gekommen.«

»Haben Sie denn den Zettel in Ihrem Postfach nicht gefunden? Ich sah noch selbst, wie ihn Herr von Genzmer zum Schalter gebracht hat.«

»Ich hab' ja nicht einmal gefrühstückt! Ich bitt' Sie, wann man zu so nachtschlafender Zeit auf der Bahn sein soll. Es ist alles im Hui gegangen. Jetzt – das hab' ich mir ja wieder fein eingerichtet. Da hätt' ich doch noch ein paar Stunden bequem im Bett bleiben können. – Und wo steckt der Doktor, Ihr Landsmann?«

Mayn saß Rücken gegen Rücken mit Frau Gertie Selle. Er wußte, daß sie gespannt herhörte.

»Herr Doktor Groll – ist schon gestern abgereist«, sagte er gedehnt.

»Wohin? Sie machen so ein geheimnisvolles Gesicht!«

»Ich kenne zufällig die Gründe, die Herrn Doktor Groll gezwungen haben, Knall und Fall abzureisen. – Er mußte schleunigst nach Berlin.«

Nun wandte sich die junge Frau, die bisher regungslos gelauscht hatte, nach ihm um – Kamerlander mußte die Gelegenheit wahrnehmen, sie zu begrüßen –, und sie drang in den Berliner:

»Mein Himmel, so sagen Sie doch endlich, was mit ihm los ist. Das ist ja – kindisch!« Sie stieß es lachend aus, aber ihr Lachen verschleierte die zornige Ungeduld nicht, die aus ihrem Ton klang.

Der Zug war in den Tunnel eingefahren. In dem trüben Licht der Lämpchen sah man nun plötzlich die dicken Tabakswolken, die den Wagen erfüllten, so stark, daß sämtliche Damen unwillkürlich zu husten anfingen. Das wirkte auf sie selbst so komisch, daß das Husten sofort von Lachen unterbrochen wurde.

Kamerlander konnte von seinem Platz aus mit seinen scharfen Augen Frau Gertie Selle trotz mangelhafter Beleuchtung und Rauchschwaden gut erkennen.

»Verteufelt viel Rasse hat sie!« dachte er so bei sich.

Mit einem Ruck hielt der Zug. Die Fahrgäste fuhren unter leichtem Taumeln in die Höhe. »Preda!« rief es draußen.

Im Nu war fast der ganze Zug leer. Nur ein paar Viehhändler, Marktleute und Arbeiter blieben sitzen.

»Trainieren Sie auch auf die Rennen?« fragte Kamerlander den Berliner.

»Bewahre, wir fahren nur zum Vergnügen. Frau Selle hatte so viel von den Bravourfahrten des Bob ›Soleil‹ gehört – da wollte sie Ihre Leistungen heute bewundern.«

»Der wackere Biddle wird's ja im ganzen Leben nicht verwinden, Gnädigste, daß er jetzt auch um den Triumph gebracht wird«, sagte Kamerlander. Er schilderte ihr darauf sein Pech.

Gertie befand sich durch ihre Verspätung in gleicher Lage. Auch sie hätte die Fahrt nicht mitgemacht, wenn sie rechtzeitig von den plötzlichen Veränderungen gehört hätte.

Der letzte offene Wagen enthielt sämtliche Bobs. Er wurde soeben losgekoppelt. Die Mannschaften tummelten sich, um möglichst rasch in den Besitz ihrer Schlitten zu kommen. Vier Mann faßten das niedrige eiserne Gestell an den Drahtseilen und Trägern an und schleppten es rasselnd über die Schienen auf den schmalen, zwischen hohen Schneemauern freigeschaufelten Fußweg. Jede Mannschaft wollte die erste sein, die den Startplatz auf der Landstraße unterhalb des Posthotels erreichte: ein paar Minuten Zögern verhinderte unter Umständen das Mitkommen mit dem nächsten Zug, der von Bergün hierher zurückfuhr.

Mayn verhandelte für die Gästefahrt noch mit dem Engadiner und einem andern Berufssportler über die Verteilung der Plätze. Giovanni Lendi war als vorsichtiger Fahrer bekannt, er übernahm das Steuer und wollte einem Anfänger wie dem Berliner Juristen nicht gern die Bremse überlassen. Mayn, der den Engadiner angeworben hatte, machte dieses Amt wiederum dem Fremden, den Lendi dafür ausersehen wollte, streitig. Der Fremde trat darauf in Unterhandlung mit einer andern Mannschaft.

»Wenn Sie mit uns fahren wollen, Herr Baron«, rief nun Mayn über die Eisenbahnschienen hin, »auf unserem Bob ist ein Platz frei geworden.«

Kamerlander wollte sich nicht umsonst den Morgen um die Ohren geschlagen haben. Die überstürzte Abreise der Schwarzwälder Millionenerbin verdroß ihn, forderte zugleich aber seinen Trotz heraus. Unter Umständen war es ganz lohnend, einmal einen Tag in der Gesellschaft dieser »lustigen Witwe« hinzubringen. »Lustig« war Frau Gertie heute morgen allerdings nicht.

»Mit Vergnügen, mein lieber Herr Mayn, das trifft sich ja ausgezeichnet!« Er beeilte sich indes nicht, den schweren Schlitten mit über die Schienen zu schleppen, sondern überließ dies dem Besitzer des Bobs sowie Herrn Mayn. Auf dem Weg zum Posthotel leistete er der hübschen Frau Gertie Gesellschaft.

Das Gespräch blieb noch unpersönlich. Kamerlander erzählte nur von ein paar früheren Fahrten, die er mit dem »Soleil« hier mitgemacht hatte und wobei sie häufig umgeschlagen waren. Das war immer sehr lustig gewesen, dieses Durcheinanderkrabbeln im Schnee.

Inzwischen waren sämtliche übrigen Bobschlitten abgefahren. Lendi rückte das Gestell auf der abfallenden Straße zurecht und überwachte das Einrichten der neugebildeten Mannschaft. Als zweiter sollte Baron Kamerlander Platz nehmen, dahinter die Dame, den letzten Platz auf der schmalen Schlittenbank hatte Mayn als Bremser inne.

»Ein bissel zärtlich geht's dabei schon zu«, entschuldigte sich Kamerlander, indem er sich behaglich im Reitsitz zurechtsetzte. Er schob seine langen, dünnen Beine rechts und links neben seinem Vordermann aus und verstaute die von Frau Gertie, die in hohen Gamaschen steckten, behutsam neben sich in den Haltegurten. Er fühlte die Wärme, die von ihrem Körper ausging, durch die feine Wolle.

Nun hatte auch Mayn Platz genommen; er probierte die Bremse aus, indem er sich mehrmals mit voller Wucht hintenüberlegte, und rief dem Steuermann zu: »Okay!«

Auf der zunächst nur mäßig abfallenden Straße glitt der Bobschlitten ruhig zu Tal. Bei den ersten Kurven befahl der Führer das Einsetzen der Bremse, bei den nächsten gab er ein kurzes Kommando, worauf sich die ganze Mannschaft rechts oder links überbeugen mußte. In runder Fahrt nahm das Gefährt den Bogen, ein wenig emporsteigend an der hochgezogenen Schneemauer, dann glitt es, noch etwas schwankend, in die neue Richtung. Bald hatte man das Dorf hinter sich und folgte den Windungen der Albula.

Gertie hielt sich rechts und links an den kurzen Gurten fest, die sie auf Kamerlanders Weisung mehrmals um das Handgelenk geschlungen hatte. Bei den ersten Kurven klammerte sie sich mit ihren Knien noch etwas ängstlich an ihren Vordermann an, hernach folgte sie den Kommandorufen freier. Es war ihre feste Absicht gewesen, in Bergün, wo man zwischen der zweiten und dritten Fahrt eine längere Frühstückspause einzulegen pflegte, während man auf den Zug wartete, Fräulein Englhofer zu »stellen«. Nun wütete sie innerlich, daß die Damen St. Moritz verlassen haben würden, wenn sie zurückkehrte. Auch Mayns geheimnisvolle Andeutungen über Grolls Abreise erregten sie.

»Aufpassen! Links lehnen!« rief der Mann am Steuer. Das Kommando galt ihr, denn sie hatte mit vorgebeugtem Kopf steif aufgerichtet dagesessen. Sie gehorchte erschrocken.

Gleich darauf jagte das Gefährt rechts herum, dann – in einer so steilen Kurve, daß die ganze Mannschaft an der Schneewand fast waagerecht entlangglitt links herum. Und mit der Schnelligkeit eines Eisenbahnzuges ging es eine lange, schmale Rampe neben einem ungeheuren Abgrund weiter. Links trennte nur ein niedriger Schneewall die Straße von dem steil abstürzenden, wild zerrissenen Tal.

In diesem Augenblick ertönte der Pfiff einer Lokomotive. Auf der andern Seite des Tales trat ein Zug aus einem Tunnel und fuhr auf eine das ganze Tal überspannende Bogenbrücke.

»Der Zug, den wir verlassen haben!« rief Kamerlander ihr zu. »Der läuft hier durch zwei Kehrtunnels!«

»Achtung!« schrie der Führer. Ein paar Augenblicke lang war es Gertie, als ob dicht vor ihnen der Weg aufhörte. Links war der Abgrund, vor ihnen ein schluchtartiges Tal – doch da zog sich die schmale Schneebahn in jähem Bogen, dicht an den Felsen gepreßt, rechts herum.

»Rechts!« Und dann ein scharfes »Bremse!«

Der Bobschlitten fuhr fast zwei Meter hoch an der Böschung empor, durch die Gewalt des Seitwärtswerfens aller Insassen gewann er aber sofort wieder die Mitte des Weges. In einem zweiten, etwas weiteren Bogen wendete sich die Bahn abwärts. Der Schlitten schleuderte noch ein wenig hin und her. Dann folgte er so sicher wie auf Schienen den Krümmungen und Senkungen der Straße.

Gertie war atemlos. Sie gehorchte den Zurufen – aber sie schloß dabei mehrmals die Augen. Man sauste unter einem riesigen Steinbogen hindurch. Darüber fuhr der Zug, den man vorhin hatte aus dem Tunnel treten sehen. Mit einem heulenden Pfiff verschwand er in einem zweiten Kehrtunnel.

»Von jetzt an – nicht mehr bremsen!« schrie der Führer. Und nun ging es mit Eilzugsgeschwindigkeit.

»Zurücklegen!« Gertie gehorchte gleich den andern. Sie hörte die beiden Männer atmen, fühlte die Bewegungen ihrer Lungen. Als sie die Augen aufschlug, sah sie über sich einen schmalen Streifen blauen Himmels; links hoch am Rande der Schneeriesen, die wie ein Festungswall das Tal beherrschten, glänzte das goldene Sonnenlicht.

»Schauen S' bloß – da, der Piz Rugnux – der sagt schon guten Morgen!« rief Kamerlander und wandte das Gesicht der Sonne zu.

»Das ist – Piz Salteras!« rief der Führer. Die Worte wurden ihnen weggerissen vom Munde. Nach einem letzten langen Bogen kam man auf eine gerade Strecke.

»Der Turm da unten – die Kirche – das ist Bergün!« rief Mayn.

Die Fahrt verlangsamte sich. »One, two – bob!« kommandierte der Führer. Und alle Insassen stießen mit dem ganzen Oberkörper nach vorn, um den Schwung nicht erlahmen zu lassen. Hundert Meter vor dem Dorf Bergün stoppte der Führer.

Die Herren sprangen auf. »Die Dame sitzenbleiben!« befahl Lendi. Jeder der Herren nahm einen der Haltestricke, und im Eilmarsch ging es durch das langgestreckte Engadinerdorf zum Bahnhof, das letzte Stückchen wieder ein wenig bergauf.

Die übrigen Mannschaften waren schon auf dem Bahnsteig versammelt, die Bobschlitten wurden auf einem offenen Güterwagen verstaut, der an den Zug angehängt werden sollte.

Gertie war noch kaum zur Besinnung gelangt, als der von Chur herauf kommende Zug einlief. »Ist das der Zug, den wir unterwegs gesehen haben?« fragte sie.

Die Herren lachten, und Kamerlander sagte: »Dem begegnen wir doch erst in einer Viertelstunde!«

Sie faßte das nicht. »Wie lange waren wir denn unterwegs?«

»Die Fahrt hat genau achteinhalb Minuten gedauert. Für dieselbe Strecke – bergauf mit der Bahn – brauchen wir nun zweiundvierzig.«

Der Zug war stärker besetzt, aber die Bobmannschaften bekamen noch alle bequem Platz. Gertie bildete als Neuling den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit für die Umsitzenden. Auf der Fahrt zeigte man ihr durch die Wagenfenster die Windungen der Straße. Nachdem man die Kehrtunnel verlassen hatte, erkannte sie die Situation überhaupt nicht mehr. Es erschien ihr unmöglich, daß man die weite Strecke in wenigen Minuten zurückgelegt haben sollte.

»Es ist ein Gefälle von über vierhundert Metern.« Giovanni Lendi steckte sich schmunzelnd seine Pfeife an. Er schien von den Leistungen seiner Mannschaft, ob sie auch bunt zusammengewürfelt war, befriedigt.

»Das nächste Mal können wir ein bißchen zulegen«, sagte Mayn unternehmend. »Oder ist Ihnen bange, Gnädigste?«

»Ich habe nicht mehr zu verlieren als Sie«, erwiderte sie.

Es drängte sie, endlich allein mit ihm zu sprechen. Er wußte mehr von Axel Groll und seiner überstürzten Abreise! Es war ihr, als betrachtete er sie zuweilen mit einer hämischen Überlegenheit. Für die Schmeicheleien des Wiener Barons war sie in ihrer zerrissenen Stimmung kaum zugänglich. Sie zeigte nur ab und zu ein flüchtiges Lächeln, mehr aus Gewohnheit.

Zum zweitenmal wurden die Schlitten aus dem Zuge herausgebracht und zum Start hinübergeschleppt. Diesmal hatte man mehr Zeit. Man konnte in Bergün bequem frühstücken und erreichte noch immer den Mittagszug nach Preda, um von dort die letzte Fahrt auf der Bobsleighbahn zurückzulegen.

Auf dieser zweiten Fahrt sah man die Landschaft im vollen Sonnenglanz. Unterwegs, an mehreren Kehren hörten sie eine andere Mannschaft hell jauchzen.

»Das sind die Engadiner!« rief Kamerlander. »Zur letzten Fahrt haben's nur sechs Minuten gebraucht!«

Lendis Ehrgeiz schien nun doch etwas angestachelt. Er nahm einige Kurven, um auch nicht den Bruchteil einer Sekunde zu verlieren, ohne Bremse und so hoch, daß die Mannschaft für zwanzig Meter Fahrt waagerecht über der Bahn hing.

Furcht empfand Gertie nicht. Sie war mit ihren Gedanken überhaupt nicht bei der Fahrt. Sie sah weder die wundervollen Alpenkulissen der in Sonne gebadeten Höhen, noch die Abstürze, Schluchten und Kurven. Sie hörte auch das Jauchzen der Engadiner nicht. Immer stärker erregte sie der Gedanke, daß Mayn sich an ihrer Ungeduld weidete, daß er irgendeine Nachricht im Hinterhalt hatte. Sie wurde sein überlegenes, fast grausames Lächeln nicht los, das vorhin, als sie sich mit einer Frage an ihn wandte, sein Gesicht verzerrt hatte.

Diesmal blieb sie nicht im Schlitten sitzen, sondern marschierte hinter den Herren mit durchs Dorf.

»Was haben Sie?« fragte sie Mayn gepreßt, als sie den Bahnhof erreicht hatten.

»Meine Freude an Ihnen, Gnädigste. Daß Sie sich so tapfer zeigen.«

Sie zuckte verächtlich die Achsel. »Ich war nie feige.«

»Sie haben eben ein gutes Gewissen, schöne Frau.«

Kamerlander unterbrach ihr Gespräch. »Verzeihen S' einem armen Sterblichen die Störung. Aber 's ist jetzt die wichtige Frage zu erörtern: Wo speisen wir?«

Die Mehrzahl der Bobfahrer hatte sich in das Hotel zum »Weißen Kreuz« begeben. Doch Gertie war die Vorstellung, für die Dauer einer langen Mahlzeit mit ein paar Dutzend Fremden in einen engen Speisesaal eingesperrt zu sein, unerträglich.

»Ich bleibe hier im Freien«, sagte sie kurz.

Der Baron fand den Plan, den Lunch im Schnee einzunehmen – in der Sonne auf dem freien Platz vor dem Bahnhof –, ganz köstlich. Er übernahm sofort die Vorbereitungen. Mayn ward dabei ebenso zur Hilfeleistung angestellt wie Lendi.

Aus dem Wartesaal schaffte der Wiener, selbst mit Hand anlegend, einen Tisch herbei. Eine Bank, ein leeres Faß und ein zerbrochener Sessel bildeten die Sitzgelegenheiten. Ein großer Krug roten Landweins, kaltes Fleisch, Butter und harte Eier brachte nach Verlauf einer Viertelstunde Mayn aus dem »Weißen Kreuz«, er zeigte die Päckchen schon von weitem stolz wie eine Beute, Lendi besorgte Brot und Apfelsinen aus der Ortschaft. Teller gab es nicht. Gertie mußte die Hausfrau spielen und die Verteilung der Herrlichkeiten übernehmen.

Der Wein, die Sonne, die sportliche Erregung und der übermütige Ton, den Kamerlander anschlug, brachten die buntgemischte Gesellschaft bald in gehobene Stimmung. Für ein Weilchen zeigte sich Gertie sogar den etwas gewagten Aufmerksamkeiten des Wieners zugänglich. Vielleicht nur – um Mayn herauszufordern.

Man stieß mit den Wassergläsern, aus denen der Wein getrunken wurde, auf weitere gute Zeit an. Lendi hatte ausgerechnet, daß man der dritten Fahrt noch eine vierte und letzte folgen lassen konnte, wenn die Teilnehmer nicht verlangten, zum Abendessen schon wieder in St. Moritz zu sein. Zur Abstimmung darüber kam es noch nicht. Gertie war fest entschlossen, nach der nächsten Fahrt sofort zurückzukehren.

»Ich muß Sie sprechen!« stieß sie flüsternd aus, als Mayn mit seinem Glase zu ihr trat.

»Das ist längst auch mein Wunsch. Ich habe gestern abend eine überraschende Mitteilung bekommen. – Aber besser: wir bleiben dabei allein. Vielleicht nachher im Zuge, wie?«

Wieder der spöttisch-überlegene Ausdruck in seinem Gesicht. Er hatte das Einglas eingeklemmt. Es war offenbar eine Wollust für ihn, sie zappeln zu lassen. Wie eine Katze kam er ihr vor.

Kamerlander bot ihr aus seiner silbernen Dose eine Zigarette. Sie nahm sie und paffte erregt die Wolken in die klare Luft, deren Kälte man in der prallen Sonne kaum fühlte. Das Bild dieser Mahlzeit im Schnee unter dem blauen Februarhimmel war ganz einzig. Heimelig eingebettet lag das Dorf in dem friedlichen Tal, der Schnee der weiten Wiesenflächen leuchtete im Sonnenschein. Die rotbraun gebrannten Gesichter wirkten auf dem schneeweißen Hintergrund noch dunkler. Auch Gertie war von der Sonne und dem Gegenwind bei der scharfen Fahrt stark mitgenommen.

Immer dichter füllte sich der Platz. Da und dort wurden Aufnahmen gemacht. Einzelne Mannschaften nahmen dazu auf ihren Schlitten Platz. Kamerlander versuchte immer wieder mit der jungen Witwe eine Anknüpfung – aber sie war jetzt fast abweisend, wenn nicht feindselig. Er merkte: da stimmte etwas nicht zwischen Frau Gertie und dem Berliner Juristen.

Als der Zug einfuhr, der stark überfüllt war, liefen die Sportgäste hastig durcheinander. Die meisten Mannschaften wurden getrennt. Kamerlander wollte sich die Nachbarschaft der jungen Witwe sichern und verließ noch einmal rasch den Wagen. Da sah er sie indes am andern Ende des Zuges einsteigen – Mayn begleitete sie. Nun gab er das Rennen auf.

Es war das allerletzte Abteil im Zuge, in das Gertie mit ihrem Begleiter geraten war, ein Halbabteil. Durch die Scheiben, die der Holzbank gegenüber lagen, sah man auf die Geleise.

»Endlich allein!« sagte Mayn mit einem Versuch zu scherzen.

»Es war Ihre Absicht, meine Spannung zu steigern«, sagte Gertie gereizt zu Mayn, ihre Stimme etwas dämpfend. »Ihren Zweck haben Sie erreicht, nun geben Sie mir also, bitte, Aufschluß. Was ist mit dem Doktor?«

Mayn lächelte noch immer. Er hatte sich bequem in die Ecke gesetzt und das Knie ein wenig auf die Bank heraufgezogen. Den Kopf stützte er in die Hand. Sein Blick ruhte unverwandt auf ihrem Gesicht. »Ja, denken Sie, was es da in Berlin gegeben hat. Eine ganz verteufelte Geschichte, in die unser Freund verwickelt ist. Die Staatsanwaltschaft hat seine Verhaftung verfügt.«

Der Zug hatte sich in Bewegung gesetzt. Soeben fuhr er in den ersten Kehrtunnel ein.

Gertie fühlte, daß ihr das Blut in den Adern stockte. Entsetzt starrte sie den Juristen an. Sie sah in dem Halbdämmer sein lächelndes Gesicht wie eine verzerrte Maske.

»Was soll er denn – verbrochen haben?«

»Die Sache liegt schon ziemlich weit zurück. Man legt sie verschieden aus. Teilweise recht bösartig. Denken Sie, es liegt der begründete Verdacht vor, daß er einen Gattenmord hat vertuschen wollen, um für sich und die Erbin des Toten finanzielle Vorteile herauszuschlagen.«

Die Wagentür öffnete sich. Ein Mann trat ein. Gertie war so erregt, daß sie entsetzt aufschrie.

Es war der Zugbegleiter. Er schloß die Tür und begann in seiner schweizerischen Mundart eine Unterhaltung. Der ganze Zug sei überfüllt, aber in Preda werde es wieder leerer.

Man hatte den Tunnel verlassen. Deutlich sah man von hier aus die mächtige Doppelschleife, die die Bahn durch die beiden Kehrtunnel beschrieb. Ein paar Augenblicke lang konnte man den großen Gefängnisturm und den Kirchturm von Bergün durch die Bogen der gewaltigen Brücke hindurch sehen, über die man wenige Minuten später fuhr.

Zwischen dem Zugbegleiter und einem radebrechenden Amerikaner entwickelte sich ein Gespräch, in das Mayn zuweilen als Dolmetscher eingreifen mußte. Er hatte seinen leichten Ton beibehalten, beobachtete aber Gertie nach wie vor.

»Den Namen des Toten kann man wohl nicht erfahren?« fragte Gertie, bemüht, äußerlich ganz ruhig zu bleiben.

»Warum nicht? In ein paar Tagen geht die Sache ja durch alle Zeitungen. Es war ein sehr vermögender Fabrikbesitzer am Kurfürstendamm – sehr angesehener Herr in mittleren Jahren, der eine blutjunge Frau geheiratet hatte. Ja, denken Sie, und zwischen dieser blutjungen Frau und unserm Doktor ... Aber was ist Ihnen, Gnädigste?«

Gertie hatte den Kopf zurücksinken lassen. Lautlos. Ihre Augen waren weit aufgerissen. – Der Zug fuhr über die Brücke. Das Rasseln übertönte, was Mayn sagte.

Gertie sah wieder die höhnische Fratze mit dem Einglas, in dem sich das Lämpchen der Decke spiegelte. Wieder fiel ihr das Bild ein: da lauerte mit funkelndem Auge eine grausam-tückische Katze, die mit ihrem Opfer spielte.

»So dumpf ist die Luft hier«, brachte Gertie mühsam hervor. Man durchfuhr den nächsten Tunnel.

»Jetzt – Obacht!« sagte der Beamte gutmütig. Er ließ das Fenster an der Seite herunter. Gleich darauf öffnete er die Tür, schwang sich hinaus und kletterte am Trittbrett weiter.

Eine Minute lang hielt der Zug an einer Ausweichstelle.

Gertie atmete tief die Luft ein. An ihre Ohren hämmerte das Blut. Sie hörte das Singen und Lärmen der Bobfahrer in den andern Wagen wie aus weiter Ferne. Vor ihren Augen bildeten sich feurige Kreise. »Sie wissen ja spannend zu erzählen!« sagte sie mit grimmigem Hohn.

»Ja, nicht wahr, eine tolle Geschichte? Wer hätte das unserm scharmanten Doktor zugetraut! Die Sache war von langer Hand vorbereitet. Die beiden Leutchen wollten den Mann, der ihnen im Wege war, beiseiteschaffen, gaben ihm gelegentlich ein Tränklein, und darauf begruben sie den Ärmsten mit allen bürgerlichen Ehren. – Nett, wie?«

»Das ist doch – undenkbar!«

Mayn blieb ruhig, fast liebenswürdig. »Die Verwandten des Toten wüten hauptsächlich darüber, daß die Witwe das ganze große Erbe geschluckt hat. Die sagen: sie hat es bloß des Geldes wegen getan. Ich meine dagegen: eher hat die Liebesleidenschaft sie blind gemacht. Die arme junge Frau! Nun hat er sie obendrein noch sitzenlassen.« Er machte abermals eine Pause: als ob er auf ihr Geständnis wartete.

Gertie hielt die Zähne fest aufeinandergepreßt und schwieg. Es war ihr, als schlügen die Wogen über ihr zusammen. Sie rang nach Atem. Ihr angstvoller Blick kam von dem ihres Peinigers nicht frei. – Die Bahn trat aus der Schneehelle und dem Sonnenglast wieder in eine Reihe von Felseinschnitten. Blitzartig drang das Licht in den Wagen, sooft der Zug an einem der großen Felsentore vorüberglitt. Und dann saß man von neuem im Schatten: weitere Tunnel folgten. Man hörte das Ächzen der Maschine, die mühsam die starken Steigungen nahm.

Der Zugbegleiter schwang sich wieder ins Abteil. Gertie hörte, daß der Amerikaner zu ihr sprach. Indem sie sich bemühte, seinen Worten zu folgen, fühlte sie, wie das Zittern in ihr sich legte. Nichts eingestehen, nichts eingestehen! – sagte sie sich heimlich immer wieder vor. Der Amerikaner erzählte, daß er gestern dreimal durch das Bergell mit dem Bob hinuntergefahren und erst spät nach Mitternacht von Maloja zurückgekehrt sei.

Sie hatte sich ihm so weit zugewandt, daß Mayn ihr Gesicht nicht mehr sehen konnte. Es war ihr eine wahre Erholung, daß sie seinem überlegen-spöttischen Blick auf diese Weise auswich. Und doch fühlte sie, daß er jede Bewegung von ihr verfolgte. Sie beobachtete sich nun selbst, und es fiel ihr auf, daß sie bei einzelnen Worten ganz unnötig die rechte Hand spielen ließ.

»Preda – Preda!« Das Ende ihrer Fahrt. Es war Gertie, als hätte sie in dem engen Käfig stundenlang gesessen.

Ein wahrer Sturm erfolgte jetzt wieder auf den Güterwagen, in dem die Bobschlitten verstaut waren.

Diesmal hatte Lendi mehr Glück; mit Mayn zusammen, der rasch hinzugesprungen war, schleppte er schon seinen Bob die kleine Anhöhe empor, noch bevor die anderen Besitzer ihre Schlitten aus dem Gewirr herausgefunden hatten.

»Obacht!« rief er dem Baron Kamerlander zu, der, eine Zigarette rauchend, sich inmitten der Schienen nach Frau Gertie umsah.

»Rasch, rasch! Avanti!« mahnte der Engadiner oben vor dem Posthotel, lebhaft seiner Mannschaft zuwinkend. Lendi war ungeduldig. Die Haltegurte waren verwickelt. Er rief dem Wiener zu, mit Hand anzulegen.

»Alle Wetter, jetzt wird er scharf!« sagte Kamerlander und stieg auf seinen dünnen Storchbeinen mit langen Schritten durch die nächsten Schneehaufen, um den Weg abzukürzen.

»Vielleicht legt die Frau noch ein Geständnis ab«, sagte Mayn kaltblütig, »das könnte ihn vielleicht noch retten. Aber wenn sich jetzt ihr Gewissen noch nicht gemeldet hat ...«

Sie sah ihn haßerfüllt an. »Jetzt?«

»Aufsitzen!« rief Lendi.

Mayn senkte den Kopf, um Gertie ins Gesicht zu sehen. »Nun ja, die Sache liegt doch schon ziemlich lang zurück. Sie wissen das Datum nicht?«

»Wie soll ich es wissen?«

Kamerlander stand noch neben dem Bobschlitten. Der Baron trällerte das Signal: Galopp!

Mayn bohrte seinen Blick in den ihren. Halblaut, fast vertraulich, sagte er: »Kaum vier Monate ist's her. Am fünften November hat man ihn beerdigt. Der zweite November war sein Sterbetag.« Es war das Datum von Selles Tod.

Auf der Straße hatten sich schon mehrere Schlitten hinter dem des Engadiners aufgereiht. Ungeduldige Zurufe wurden laut: »Abfahren!«

Gertie folgte dem Befehl. Als sie auf ihrem Platz saß, fühlte sie den hätschelnden Griff, mit dem Kamerlander noch rasch ihre Füße neben sich verstaute.

»Ich will nicht, ich ... ich will nicht!« Es klang wie aus dem Mund eines Kindes, das Strafe erwartet. Schon glitt der Bobschlitten die Neigung der Straße hinab. »Zwei Minuten Abstand!« schrie Lendi noch über die Schulter zurück. Und Kamerlander gab den Ruf weiter ... Da sauste das Gefährt schon um die erste Kurve. Bei der zweiten kam es ein wenig zu hoch. »Links – links!« schrie der Mann am Steuer.

Gertie hatte die Gurte um die Handgelenke geschlungen und neigte sich gehorsam nach links. Aber sie fühlte, daß die Innenflächen ihrer Hände vor Angst naß geworden waren. Sie fand keinen Halt. Während der Schlitten in der steilen Kurve um das Dorf herumkam, suchte sie fester zuzupacken. Doch ihre Finger glitten ab. Unwillkürlich klammerte sie sich mit den Knien an ihrem Vordermann fest.

»So – schön!« rief ihr der Baron lachend über die Schulter zu.

Windung auf Windung folgte. Gertie fühlte ihre Zähne aufeinanderschlagen. Es war ihr, als säße hinter ihr der Tod. Sie duckte sich noch näher an Kamerlanders Rücken. Ein eisiger Schauer lief ihr über den Nacken. Sie konnte den kalten, hämisch - siegesgewissen Blick Mayns ja nicht sehen – aber sie fühlte ihn.

Jetzt kreischte sie auf. Plötzlich. Ohne Grund. Nach einer kurzen Kurve lief das Gefährt auf einen Schneewall – sauste im Bogen dicht unter dem oberen Rande einer Strecke weiter dahin – waagerecht lagen die Insassen über der Bahn ... Und dann ging's in Schnellzugseile die lange, schmale Rampe auf die jäh abstürzende Schlucht zu ... Da drüben war die Brücke ... Sie kannte die Lage nun schon ... Als ob sie sich vor dem Bild schützen müßte, das ihre Angst ihr vorgaukelte, dem Bild des Sensenmannes, der hinter ihr saß, dessen Arme sie umfassen wollten, riß sie die Rechte aus der Schlinge. Sie fühlte den eisigen Luftzug an der nassen Innenfläche ihrer Hand.

»Achtung!« schrie Lendi vornan, denn der Schlitten schleuderte plötzlich.

Gertie fühlte, wie das Herz sich ihr zusammenzog. Vor Grauen. Ein Satan war es, der ihr im Nacken saß. Die Katze mit dem lauernden Blick. Sie riß sich herum und schrie dem Manne keuchend zu: »Schurke –!«

»Rechts! Rechts! Rechts! – Bremse ...!«

Kreischend rief es Lendi, kreischend fiel Kamerlander in den Ruf ein. Es ging auf den Abgrund zu. Die Männer legten sich weit rechts über – aber die Zähne der Bremse griffen nicht ein. Der Bobschlitten flog zwei, drei Meter hoch den Schneewall empor, fast senkrecht. Lendi schleuderte das Steuer nach rechts herum, so daß das Gestell im letzten Augenblick zu Fall kam.

Ein jammervoller Aufschrei vom Ende des Schlittens her. Dann war sofort alles totenstill ...

Lendi lag mit dem Gesicht tief eingegraben im Schnee. Er arbeitete sich stoßend und um sich schlagend heraus. Endlich stand er. Er blutete aus der Nase. »Wo sind die andern?«

Der Schlitten hing quer in die Bahn herein. Die Bremse stand frei über dem oberen Rand des Schneewalls.

Unter dem Gestell im Schnee bewegte sich eine Gestalt. Lendi erkannte die Gamaschen des Wiener Barons.

»Vorsicht!« rief Lendi. Er tastete im Schnee nach den Händen Kamerlanders, die noch immer die Gurte umkrampften.

»Loslassen! Rasch Bahn frei!« Er schaffte das schwere Eisengestell aus der Bahn. »Die nächsten müssen ja gleich durchkommen!«

Inzwischen richtete sich Kamerlander auf. Auch er betastete sich. Wie geistesabwesend sah er sich um.

»Hierher! Hierher!« schrie Lendi, sprang abermals in die Bahn und zerrte den Taumelnden nach der Innenseite der Kurve. Oben auf dem Schneewall kauerten sie neben dem verbogenen, steil in die Luft ragenden Eisengestell.

Von den beiden andern war keine Spur zu sehen. Nur Mayns Sportmütze lag oben auf der höchsten Stelle des Außenwalls.

Ein jauchzendes Schreien verkündete das Heransausen des nächsten Schlittens. »Bob! – Bob!« klang es von oben her. Gleich darauf: »Rechts! – Bremse!«

Nur für den Bruchteil einer Sekunde sah man die Mannschaft waagerecht ganz oben an der äußeren Schneeböschung der Kurve entlang gleiten. In kurzem Schwung legten sich die Fahrer nach der anderen Seite über. Die Gesichter konnte man in der Geschwindigkeit nicht erkennen. Aber man hörte jemand rufen: »Da liegt – eine Mütze!« Schon waren sie vorbei. Keiner von ihnen hatte die Männer mit dem gescheiterten Fahrzeug auf der Innenseite der Kurve entdeckt.

»Man müßt' ihnen entgegen – den andern –, damit sie halten!« brachte Kamerlander hervor, noch halb betäubt.

»Impossibile!« sagte der Engadiner. Nun zählte er die vorüberkommenden Schlitten. In Zwischenräumen von zwei zu zwei Minuten folgten die Bobschlitten in sausender Fahrt.

Der fünfte stieg so hoch an der Böschung empor, daß Kamerlander entsetzt aufschrie. Aber ein Lachen erklang – mit einem Ruck warfen sich die Fahrer zur Seite – und sausten weiter.

Es war der Bob der Engadiner.

Sie waren schon um die nächste Kurve herum, da hörte man einen von ihnen in seiner Mundart etwas rufen.

»Die haben uns entdeckt«, sagte Lendi. Er blutete noch immer. Erst jetzt, als er vor sich den Schnee sich rot färben sah, fühlte er die Wärme auf der Haut.

»Hundertachtzig Meter tief geht's da hinunter«, sagte Lendi. Er suchte mit Schnee das Blut zu stillen. Aber je stärker er anpreßte, desto mehr Blut verlor er. »Das Nasenbein!« sagte er kleinlaut.

Neun Schlitten hatten sie gezählt. »Auf der zweiten Fahrt waren's zehn«, sagte Kamerlander. Im Reitsitz hatte er sich auf den Schneewall gesetzt und betastete sich wieder und wieder. Er konnte es noch nicht glauben, daß er unverletzt geblieben sein sollte.

Sie warteten noch vier, sechs Minuten. Die Strecke blieb leer. Nun wagte sich Lendi in die Bahn. Er war aber kaum auf der Sohle der Kurve angelangt, als er auch sofort wieder zurückfuhr. Er hatte nur eben noch Zeit, sich gegen die innere Böschung zu pressen.

Mit »Juchhu!« sauste der zehnte Bob heran, nahm die Kurve ohne Bremse und jagte weiter.

Lendi erkannte die Landsleute an ihrem Juchzen. Die hätten so lange droben gewartet, meinte er, weil sie ihre Vorderleute nicht überrennen wollten; sie führen nur als die ersten oder die letzten auf dieser Strecke. Noch einmal hörte man ihr »Juchhu!« – schon tief unten im Tal. Dann wurde es ganz still.

Endlich wagten sie sich auf die andere Seite hinüber. In der Schneewand sah man die Furchen, die die Schlitten gezogen hatten, eine über der andern. An einer Stelle durchschnitt eine besonders tiefe Furche, die steil aufwärts führte, die übrigen Spuren.

»Das ist unsere«, sagte Lendi. Er kletterte als erster auf den Schneewall. »Nichts zu sehen«, sagte er nach einer Weile.

»Nichts zu sehen«, sagte auch Kamerlander. Plötzlich streckte er den Arm aus. Und, sich überstürzend, rief er Lendi zu: »Da unten liegt eine Gestalt – an dem Baum dort, wo der Schnee aufgewühlt ist.«

Er unterschied deutlich das bernsteingelbe Haar. »Sie liegt mit dem Rücken gegen den Baum – der hat sie im Sturz aufgehalten!«

Der Engadiner konnte sie von seinem Standpunkt aus noch immer nicht entdecken. Im Reitsitz rutschte er auf dem Schneewall weiter, hielt, arbeitete sich abermals vorwärts – und mit einemmal schrie er: »Sie regt sich! Sie regt sich!«

Ohne Stricke sich hinunterzuwagen, das war auf dem jäh abstürzenden Abhang unmöglich.

»Einer muß nach Bergün, Beistand holen«, sagte der Wiener.

Lendi meinte: die Kameraden hätten es gesehen, daß sie gekentert seien, und wären gewiß schon unterwegs hierher.

Nach kurzer Verhandlung kamen sie überein, daß Lendi hier oben Wache hielte, während Kamerlander sich auf den Weg nach Bergün machte. Er blieb unterwegs mehrmals stehen und warf einen Blick in den schluchtartigen Talkessel. Die Frauengestalt dort am Baumstamm konnte er noch lange unterscheiden. Aber von dem Berliner sah er keine Spur.

Wie war es nur gekommen? fragte er sich immer wieder. Seltsam. Die Erinnerung an den ersten Teil der Fahrt war ihm durch den Sturz, den Schreck, die Erschütterung wie ausgelöscht.

*

Die beiden Freundinnen waren auf ihren Hotelzimmern mit Packen beschäftigt. Die Jungfer mußte bald hier, bald dort mit Hand anlegen. Über das neue Reiseziel hatte sich ihre Herrin noch nicht geäußert. Lore war selbst noch unschlüssig. Nur rasch weg wollte sie von St. Moritz. Denn die Vorstellung, Frau Selle hier noch einmal zu begegnen, war ihr unerträglich. Am liebsten wäre sie für die nächsten Wochen nach Berlin übergesiedelt, um Axel nahe zu sein.

»Er wird mich brauchen, Willemintje. Du wirst ja später alles erfahren. Jetzt kann ich dir nur sagen: ich muß ihm die Möglichkeit geben, uns rasch und leicht zu erreichen. Er durchlebt eine schwere Zeit, Kind. Wir müssen in steter Verbindung bleiben. Ich bin sein Kamerad – sein Freund. Da heißt es: Treue halten.«

Willemintje küßte sie auf die Stirn, schwieg aber.

Später kam Genzmer. Willemintje empfing ihn allein. Lore war in ihr Schlafzimmer gegangen, um unter der Mithilfe der Jungfer mit Packen fortzufahren. Sie hörte Genzmer eifrig reden, hörte einmal auch Willemintjes gerührtes Lachen.

Da wollte sie eintreten.

Doch an der Tür hielt sie wieder inne.

Ein paar bittende Worte nur hatte sie Genzmer sagen hören – aber sie verrieten ihr viel.

Sie wurde erst eine ganze Weile später von ihrer Freundin selber gebeten, in das Empfangszimmer zu kommen: Mr. Biddle hatte sich eingefunden.

»Wollen Sie mir eine große Freude machen, Mister Biddle?« fragte Lore, ihm die Hand reichend.

»Sie haben mir gemacht eine große Schmerz, Miß Englhofer. Daß Sie wollen verlassen diese Ort, und ich sehe Sie nicht mehr. Es mir immer war erfreulich, Sie zu sehen, Miß Englhofer. Ich weiß nicht, ob ich richtig auf deutsch ausdrücke. Aber Sie lieben es, zu hören deutsch von mir. So will ich Ihnen sagen: Sie waren mir eine freudvolle Bekanntschaft.«

Lore lächelte. »Meine Bitte ist: nehmen Sie den ›Soleil‹ als Andenken an die schöne Zeit, die wir zusammen hier verlebt haben.«

Ein kurzes, fast betroffenes Zögern – dann lächelte auch Mr. Biddle. »Ich werde nicht sagen: nein. Ich werde gern sagen: ich danke Ihnen, Miß.«

So schieden sie noch als gute Freunde.

Als Axel Groll ins Grandhotel herüberkam, um sich Lore melden zu lassen, begegnete er dem alten Studienfreund und Sportkameraden. Der teilte ihm die Neuigkeit mit und zeigte ihm auch gleich die Eintragung auf dem Schwarzen Brett. Als Besitzer des Bobs war nun Mr. Biddle genannt. Der Rennschlitten hieß auch nicht mehr »Soleil«, sondern »Sun«. Axel gratulierte, und sie gingen mit dem üblichen kräftigen Handschlag auseinander.

Als Axel bei den Damen eintraf, fand er sie mit Packen beschäftigt; sie hatten inzwischen auch dem Hotelbüro gemeldet, daß sie St. Moritz andern Tages zu verlassen gedächten. Axel wollte den Abendzug nehmen. »Bevor ich reise, muß ich noch einmal mit dem Berliner sprechen«, sagte er zu Lore, als Willemintje sie allein gelassen hatte. »Wenn ich ihm offen den Hergang der Sache schildere, dann wird es ihm möglich sein, auch Frau Selle zu einem Geständnis zu bringen. Die Lage bessert sich für alle, wenn die Wahrheit lückenlos zutage kommt.«

Sie waren auf den Balkon hinausgetreten und überblickten noch einmal das Winterbild, das die Sonne so festlich bestrahlte.

Unten auf dem Eisplatz spielte das Hotelorchester. Die Schlittschuhläufer tanzten Walzer. Überall herrschte helle Freude an der Sonne.

»Leb wohl, Axel. - Ich liebe dich!«

»Ich danke dir, Lore.«

.... Von Genzmer erfuhr Axel Groll später, daß die Rückkehr der Bobfahrer erst mit dem Fünfuhrzug zu erwarten sei. Wenn sie die Fahrt viermal machten, konnten sie sogar kaum vor acht Uhr von Bergün zurück sein.

Er wanderte mit Genzmer, der von Mr. Biddle zu einer Besprechung mit den neuen Mitgliedern der Mannschaft der »Sun« bestellt war, eine Strecke zum Kulmhotel aufwärts. Genzmer war selig. Er hatte eine Aussprache mit Willemintje gehabt. Zu einem schlanken »Ja« hatte er sie ja nicht gebracht – aber eine Aussicht hatte sie ihm doch gelassen. Wenn er in einem halben Jahre noch immer so dächte wie heute, dann sollte er zu ihr kommen und sie holen.

»Denken Sie, Doktor, mit dem lustigsten Gesicht von der Welt sagt sie mir das. Denn das Balg glaubt ja gar nicht daran, daß ich Wort halten werde. In einem Vierteljahr rück' ich ihr also auf die Bude. Schon aus Trotz. So ein Frechdachs!«

Des Geplauder mit dem frischen, jungen Menschen hatte Axel ein bißchen aufgeheitert. Vor dem Kulmhotel trennten sie sich, und Axel begab sich auf den Weg zu seiner Wohnung. Er wollte dort ein paar Zeilen an Mayn schreiben, ihn um seinen sofortigen Besuch bitten. Den Brief sollte er bei seiner Rückkehr im Grandhotel im Postfach vorfinden.

Kurz vor La Margna wurde er von einem eilig dem Bahnhof zustürzenden Herrn überholt.

Es war Jonckbloet.

Als der den jungen Arzt erkannte, blieb er stehen. Atemlos sprach er ihn an: »Haben Sie schon gehört? Das große Bobunglück? Mir ist der Schreck so in die Glieder gefahren –« Und voller Hast berichtete er: Von Bergün aus hatte der Baron Kamerlander den Kurarzt angerufen. Ein Bob war verunglückt. Durch ein unerklärliches Versagen der Bremse war an der berüchtigten Kurve auf drei Kilometer Weg von Preda der Schlitten auf die Böschung geraten, die beiden letzten Fahrer, der Bremser und die vor ihm sitzende Dame, waren über den Abhang geschleudert worden. -Dr. jur. Mayn aus Berlin sofort tot. Die Leiche war hundert Meter tiefer am Ufer der Albula, in Stücke zerrissen, aufgefunden worden. Frau Gertie Selle lag hoffnungslos. Man wollte den Versuch wagen, sie ins Spital nach Samaden zu schaffen, zweifelte aber an ihrem Aufkommen. Dem Führer, einem Berufssportler, den an dem schaudervollen Unglück keine Schuld treffe, sei das Nasenbein zerschmettert. Wie durch ein Wunder sei Kamerlander, der als Dritter gefahren war, am Leben und heil.

»Ich will sehen, ob man aus Chur noch in dieser Nacht einen Krankenwagen herbeischaffen kann. Kommen Sie mit nach dem Bahnhof? Stellen Sie sich vor, Herr, um ein Haar hätte ich an der Fahrt teilgenommen. Ihnen hab' ich's zu danken, daß ich nicht mitgefahren bin. Jawohl, Ihnen. Weil Sie ausgezogen waren, hatte ich gestern noch Ihr Zimmer bekommen. Der Wandschrank hat eine Holzwand, die herausgenommen worden ist. Nun spazierte ich in der Nacht durch die beiden Stuben hin und her und fing dabei zu kramen an. So verspätete ich mich beim Schlafengehn – und verschlief heute früh. Nein, solch ein Glück! Ich bin wie aus dem Wasser gezogen vor Aufregung. Keine zehn Pferde bringen mich je wieder auf einen Bob. Ich spiele Curling. Das fördert die Verdauung und ist ungefährlich. Es ist doch ein Büfett am Bahnhof, wie? Ich muß einen Kognak nehmen. Mir ist ganz flau im Magen.«

Axel war gar nicht dazu gekommen, auch nur ein Wort zu sagen. Der Holländer lief weiter, zog die Sportmütze vom Kopf und wischte seinen blanken Schädel, auf dem die Wassertropfen standen, mit seinem großen seidenen Taschentuch.

Auf dem Bahnhof war die Schreckensbotschaft auch schon bekannt.

Die Einheimischen kannten Giovanni Lendi als sehr geübten Bobfahrer. Es war ausgeschlossen, daß der sich eine Unvorsichtigkeit hatte zuschulden kommen lassen. Auf dem Bahnsteig bildeten sich Gruppen. Halblaut sprach man über den Unglücksfall. Dann erschien Jan van Jonckbloet – mehrere Kognaks hatten sein schlagflüssiges Gesicht noch mehr gerötet, aber seinen Lebensmut bedeutend gehoben –, und Wildfremden erzählte er noch einmal ausführlich den ganzen Hergang, so wie ihn Kamerlander berichtet hatte, fast mit genau denselben Worten. Und wieder legte er das Hauptgewicht darauf, daß ein glücklicher Zufall ihn verhindert hatte, mit an der Fahrt teilzunehmen. »Wenn ich nicht verschlafen hätte, weiß der Teufel, wo ich diese Nacht mein Haupt betten müßte –«

Zur Abfahrt bereit stand ein Zug in der Halle. Es war ein nur schwach besetzter Personenzug. Ein Beamter machte den erregten Holländer darauf aufmerksam, daß er einsteigen müsse, wenn er mit nach Bergün wolle.

»Mit nach Bergün? Ich? Um keinen Preis. Ich kann keine Toten sehen. Nein, wenn ich mir vorstelle, ich läge da nun selber mit zerschmetterten Knochen – ist es nicht ein Wunder, ein wahres Wunder? Und da gibt es Leute, die an keine Schicksalsbestimmung glauben. – Doktor, wie ist das, fahren Sie nach Bergün? Mein Gott, Sie haben sie doch auch noch in der Erinnerung, Doktor, von dem lustigen Fest damals im Berliner Zoo. Die ›Schlangendame‹, wissen Sie noch? Ein großartiges Weib. Rasse hatte sie, den Satan hatte sie im Leib. Und gebaut war sie –! Ich bin ganz kaputt. Ihr werdet nimmer ihresgleichen finden.«

Erregt sprechend, erschien eine neue Gruppe auf dem Bahnsteig: Herr und Frau Vogel. Sie wollten sich sofort auf die Bahn setzen und nach der Verunglückten sehen. Mit Tränen in den Augen kam Frau Vogel auf den Holländer zu. »Haben Sie gehört? Unsere unglückliche Kusine! Der Arzt meint, wir dürften uns nur wenig Hoffnung machen. So ein tragisches Schicksal. Sehen Sie, wir sprachen doch noch über die große Erbschaft. Und nun hat sie die noch nicht vier Monate genossen. Ich glaube auch nicht, daß sie die Überführung ins Krankenhaus übersteht, wenn es wirklich das Rückgrat ist. Man könnte ihr's nicht einmal wünschen.«

»Einsteigen! Personenzug Celerina– Bergün–Tiefenkastel–Chur! Höchste Zeit!«

Axel hatte rasch eine Fahrkarte gelöst. Es war ja anzunehmen, daß inzwischen ein Arzt an die Unfallstelle herbeigeholt war, aber er hielt es doch für seine Menschenpflicht, der Unglücklichen beizustehen, wenn es irgend in seiner Macht lag.

Zeit war nicht mehr, Lore eine Erklärung zu geben. Er konnte voraussetzen, daß Onkel Jan den Damen die Botschaft brachte, falls sie nicht von Genzmer oder Mr. Biddle sie erfahren haben sollten. Unterwegs wollte er eine Depesche an Lore aufsetzen und sie bitten, seine Rückkehr noch in St. Moritz abzuwarten.

*

Als der Zug in Bergün hielt, war von Chur aus der Krankenwagen schon gemeldet. Der Tragekorb mit dem hilflosen, nur leise wimmernden Geschöpf stand in dem kleinen Wartesaal. Axel untersuchte sie eingehend.

Die Wirbelsäule schien gebrochen. Wochenlanges Hängen in Bandagen konnte vielleicht das Leben erhalten – vielleicht.

Kamerlander verhielt sich sehr still und gegen die aufgeregt in ihn dringenden Berliner Herrschaften ablehnend. Er war ihm unmöglich, den Vorgang zu erzählen. Seine Erinnerung war wie ausgelöscht. So war es ihm schon einmal auf einem Rennen ergangen, als er bei einem groben Hindernis mit dem Pferde gestürzt war. Von der letzten Runde vor dem Sturz hatte er keine Vorstellung mehr gehabt, als ihn Kameraden an Einzelheiten erinnerten.

Frau Vogel wollte die Verunglückte durchaus sehen. Sie erfüllte mit ihren wortreichen Klagen den zur Krankenstube gewandelten Warteraum. Aber die Berlinerin kreischte laut auf, als sie in das vom Schmerz entstellte Antlitz mit den ein paar Sekunden lang ruhelos umherirrenden, dann wieder halb sich schließenden Augen sah. Ihr Mann führte sie rasch hinaus. Man hörte sie aber noch lange auf dem Bahnsteig jammern.

Einen tragikomischen Eindruck machte Giovanni Lendi. Er trug ein mächtiges Pflaster auf der Nase, Watte steckte in seinen Nasenlöchern, und er atmete eigentümlich schnarchend durch den Mund.

Mit Kamerlander einigte sich Axel Groll dahin, daß sie das Ehepaar Vogel überreden wollten, die Nacht über hier im Hotel »Weißes Kreuz« zu bleiben, um für die Einsargung der Leiche ihres Berliner Bekannten, die jetzt in der kleinen Friedhofskapelle aufgebahrt war, zu sorgen, die Verwandten des Verunglückten zu benachrichtigen und deren Bestimmungen abzuwarten. Die Überführung der Schwerverletzten nach Samaden ins Spital wollten sie selbst begleiten.

Etwas vor Mitternacht setzte sich der Krankenwagen in Bewegung. Herr Vogel hatte sich bereit erklärt, die Kosten eines Sonderzugs zu übernehmen. So rollten die wenigen Wagen in ruhiger Fahrt durch die Bahnhöfe durch, ohne zu halten.

Zwei Spitalärzte waren zur Stelle, als der kleine Zug an seinem Bestimmungsort anlangte. Der eine von ihnen, ein bejahrter Herr, war Chirurg und leitete das schwere Werk.

Endlich hing das hilflose Bündel im Streckbett.

Stundenlang war die Unglückliche fast ohne Bewußtsein gewesen. Die Schmerzen weckten sie jetzt wieder. Man gab ihr Einspritzungen. Danach wurde sie still.

In dem weiß gestrichenen, hell erleuchteten Raum standen die drei Herren, die sich der Röcke entledigt, die Hemdsärmel aufgekrempelt und weiße Operationsmäntel übergezogen hatten, in halblaut geführtem Gespräch beisammen. Der älteste von ihnen erklärte, da jede Aussicht auf Rettung ausgeschlossen sei, halte er es für überflüssig, daß sie alle drei Wache hielten. Es handle sich ja nur noch darum, daß man die Ärmste durch Einspritzungen vor allzu großen Qualen schütze. Bald darauf verabschiedete er sich von seinem Assistenten und dem fremden Kollegen mit Händedruck und begab sich in seine Wohnung.

Gegen fünf Uhr erwachte die Kranke. Axel trat an ihr Schmerzenslager. Ein paar Sekunden lang sah sie ihn mit stumpfem Blick an. Dann weiteten sich plötzlich ihre Pupillen. Man sah von der grauen Farbe ihrer Augen nichts mehr. Sie bewegte die Lippen. Er hörte nichts. Wie ein Kinderstammeln klang es dann. Darauf schlossen sich die Augen, um sich nicht mehr zu öffnen.

In der Morgenfrühe verkündete das Totenglöcklein vom Kirchturm den erwachenden Bewohnern des tief in den Schnee gebetteten Orts, daß eine arme fremde Seele die ewige Ruhe gefunden hatte.

*

Der Ostende-Erpreß, mit dem die Damen in Axel Grolls Begleitung von St. Moritz abreisten, hielt auf keiner Station der Albulabahn. Der Zug war wenig besetzt. Jetzt feierte man in dem berühmten Hauptquartier des Wintersports die große Woche: die Bobrennen auf der Klubbahn, die Rennen mit dem Skeleton auf dem steilen, ganz vereisten Cresta-Run. Meisterschaften im Kunstlauf wurden auf den Eisplätzen des Kulmhotels ausgefochten, im Schnellauf zeigten sich Läufer von internationalem Ruf auf dem See von St. Moritz. Trabrennen, Skikjöring, Eishockey, Maskenbälle, Illuminationen – jeder Tag bot in dieser Woche ein Fest. Die Züge, die nach St. Moritz führten, brachten noch fortgesetzt neue Gäste. Wenn die herrliche Witterung so anhielt, hoffte man noch den ganzen Monat März hindurch eine schöne Wintersaison zu haben.

Axel und Lore standen im Seitengang des Wagens und blickten über die von der strahlenden Wintersonne übergossene Schneelandschaft. Sie standen Hand in Hand. Schweigend.

Leicht glitt der Zug zu Tal. Nun fuhren sie an Preda vorbei – die Nacht der Tunnel nahm sie auf – sie sahen wieder das Tageslicht und lasen den Namen der Station, an der der Zug vorübereilte.

Bergün –!

Axel hatte die Stirn gesenkt. Es war, als grüßte er den toten Gegner, der da in der kleinen Kapelle neben dem Turm aufgebahrt war. Lore schloß die Augen. Ein Schauer ging über sie hin.

Bis Basel wollten sie zusammen reisen.

»Ich weiß nicht, wie das so über mich gekommen ist«, sagte Lore, »aber ich hab' solche Sehnsucht nach dem alten Schwarzwaldnest der Großeltern. Da will ich mich umsehen, mich wieder einleben – und auf dich warten.«

Mit keinem Wort hatten sie über die praktischen Folgen gesprochen, die der plötzliche Tod der beiden Unglücklichen schuf. Frau Gerties Verwandte hielten das Erbe, das sie der »lustigen Witwe« mißgönnt hatten, nun unverkürzt in Händen. Sie mochten kaum ein Interesse daran haben, dem armen Hans Selle jetzt noch die Ruhe im Grabe zu rauben. So lag ewiges Schweigen über dem Geheimnis seiner Sterbestunde.

Aber Lore wußte, daß Axels Fahrt trotzdem dasselbe Ziel hatte: er wollte sich anklagen, um vor sich selber von seiner Schuld erlöst zu sein.

»Ich werde dich dann holen, Lore, und wir werden in die weite Welt hinausfahren. Um zu vergessen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nicht vergessen, Axel. Überwinden. Man muß größer werden als die Schuld. Wachsen an seinen Aufgaben. Den Leidenden sollst du ein wahrer Helfer werden. Ein Wohltäter der Menschheit.« Dann sagte sie in leichterem froh beschwingtem Ton: »Ach sieh, wie ein Traum steht das vor meinen Augen, du kämst in meine Heimat, in unser altes, liebes Schwarzwaldnest, wo mir noch das Stück Land der Großeltern gehört, und auf der Anhöhe, in dem weiten Kranz der Tannenwälder, auf dem sonnigen Feld, da bauten wir ein schönes, großes, gesundes Haus. Für die Mühseligen und Beladenen. Meinst du nicht?«

Lange schwieg er. Eine Rührung ging durch ihn. Dann sagte er: »Ja, Lore. Später. Wenn die Schattenzeit überwunden ist.« Er küßte ihre Hand. »Die krank sind an Körper und Gemüt, die sollen dann all die Liebe spüren, die sie umgibt, und einen ehrlichen Willen. Und die man zu uns schickt, weil sie das Dasein verachten, die sollen sehn, wie wunderbar es ist, sich an einer Pflicht aufzurichten.«

»Ach, Liebster – wie schön ist das Leben!«

Aus dem wildzerrissenen Albulatal kam der Zug zum jungen Rhein. Die Nacht war hereingebrochen. Aber in ihren Seelen blieb es hell. Sie trugen in sich ein Stück Sonne mit heim.

 

Ende


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