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P Papa Länglin war vereidigter Bücherrevisor. Er hatte tagtäglich mit Inventuren, Konkursen, Hinterlassenschaften und Erbschaftsteilungen zu tun, glaubte also das Leben in seinen Höhepunkten zu kennen. Aber die bedeutsame Stunde, da ihm der gesamte Nachlaß von Tante Amalie zufiel, fand ihn doch völlig ratlos.

Er war nämlich der Universalerbe eines Damenpensionats geworden. Jawohl, eines Damenpensionats in Berlin W., in der Lützowstraße, ganz nahe am Magdeburger Platz. Für einen einsamen Witwer und vereidigten Bücherrevisor ein etwas unbequemer Besitz. Denn mit der Erbschaft waren auch Pflichten verbunden; z. B. mußte der Erbe in den noch drei Jahre laufenden Mietskontrakt der seligen Tante Amalie eintreten.

Papa Länglin fühlte sich dieser Verantwortung nicht gewachsen und wollte zuerst auf die Erbschaft überhaupt verzichten. Aber seine Tochter Gertrud bewies einen wahren Heldenmut. Sie kündigte sofort ihre Stellung als Schreibmaschinenfräulein bei den Spandauer Mörtelwerken und erklärte sich bereit, an Stelle der toten Tante das Amt einer Pensionsmama in der Lützowstraße zu übernehmen. Sie zählte damals siebzehn Jahre, drei Monate und vier Tage.

Und alsbald zogen Vater und Tochter mitsamt ihrem bißchen Kram hoffnungsgeschwellt in das vornehme Quartier des Berliner Westens, sie aus Spandau, er aus seiner Hofwohnung am Kreuzberg, und ein paar Tage lang gaben sie sich einer wunden Seligkeit hin. Die gute Tante Amalie! Im Leben hatte sie sich ja nie um sie gekümmert, ja sie war sogar allen Annäherungsversuchen geflissentlich ausgewichen – und nun im Tode streute sie das Füllhorn so reicher Gaben über sie aus: denn die große Etage mit ihren neun komfortabel eingerichteten Pensionszimmern machte einen blitzsauberen Eindruck, und es war an Tisch- und Bettwäsche, Gardinen, Tafelgeschirr, Wärmflaschen, Teeservicen und Abreibewannen reichlich soviel vorhanden, als die Aufnahme von einem Dutzend auch der verwöhntesten Pensionäre erforderte.

Nur eines fehlte momentan in dem Damenpensionat: eben dieses Dutzend Pensionäre.

Tante Amaliens Krankheit hatte zwar kaum drei Wochen gedauert, und es war den Damen in dieser Zeit wirklich nichts abgegangen, denn die Köchin, eine Mecklenburgerin, verstand ihre Kunst vortrefflich, und bis zum Tag vor ihrem sanften Ende hatte Tante Amalie in fürsorglichster Weise noch selbst das Menu bestimmt, – aber Undank ist der Welt Lohn: die Mehrzahl der Damen hatte an dem Unglückstage sofort das Pensionat verlassen, und am Monatsersten folgten auch die anderen, unter der unkontrollierbaren Versicherung, sie hätten mündlich der Verstorbenen noch rechtzeitig gekündigt.

Als Länglin Vater und Tochter von dem Damenpensionat Besitz ergriffen, übernahmen sie nur eine einzige Pensionärin, Fräulein Sophie Köberle aus Mannheim, die sozialpolitische Schriftstellerin, die sich bereit erklärte, auch der neuen Verwaltung treu zu bleiben, erstens aus Pietät, und dann, weil sie sowieso noch für die letzten drei Monate das Pensionsgeld schuldete.

Vielversprechend war der Anfang also nicht. Die sofort fällige Vierteljahrsmiete verschlang auch gleich ein rundes Sümmchen. Papa Länglin mußte es von der Sparkasse abheben. Und es blieb nicht dabei. Als die ersten neuen Pensionäre kamen – zwei Misses, Malschülerinnen – brauchte Trudel Wirtschaftsgeld, Betriebskapital. Knausern durfte man nicht, das sahen sie beide ein. Aber die Ansprüche der beiden Engländerinnen erschreckten sie doch nicht wenig. Zum ersten Frühstück schon kaltes Fleisch und zwei Eier und Kräuterkäse und Honig oder Jam. – Papa Länglin, der seit Menschengedenken morgens nie etwas anderes zu sich genommen hatte als eine Tasse Kakao nebst zwei »Schrippen«, meinte, er wüßte gar nicht, wo man das alles lassen sollte, früh, gleich auf nüchternen Magen. Aber dann versuchte er es auf Anraten der Mannheimerin doch, wenigstens nahm er ein bißchen Honig, und siehe da, es schmeckte ihm.

Überhaupt schien die Gefahr vorhanden, daß sie auf die Dauer einem Wohlleben verfielen, das ihre Verhältnisse überstieg. Trudel kam zuerst zur Einsicht. Sie fuhr daher eines Tages nach Spandau, begab sich aufs Bureau der Mörtelwerke und bat um Schreibarbeit, die sie daheim anfertigen könnte.

Derlei Gesuche wurden dort häufig eingebracht. Sie blieben meistens unbeantwortet. Aber dem Inspektor tat das junge Ding leid. Er verbarg das freilich hinter resoluten Vorwürfen. Wäre sie hier auf dem Bureau geblieben, sagte er, so hätte sie's in Jahr und Tag bombensicher bis zur Buchhalterin gebracht. So fleißig und gewissenhaft, wie sie stets gewesen wäre. Und das ganze Personal hätte sie gern gehabt. Natürlich in allen Ehren. Dabei kniff er ihr in die Wange. Na, ja.

Sie schüttete ihm daraufhin gerührt ihr Herz aus. Es blieb ihm nichts erspart. Die Ansprüche der Misses, die teure Miete, die leerstehenden Zimmer – und das schier unerschwingliche Kalbfleisch.

Wie sie so vor ihm stand, die drollige kleine Pensionsmama mit den schwimmenden Augen und dem verlegenen Lächeln um den süßen Plaudermund, hätte es ihn beinahe gepackt, den Inspektor, der bisher ein hartgesottener Hagestolz gewesen war. Aber es blieb dann dabei, daß er der Kleinen, statt ihr Herz und Hand anzutragen, bloß die erbetene Kopierarbeit zusagte. Und er hielt hernach sogar Wort.

Wenn Trudel von da an nicht auf dem Markt oder auf sonstigen Einkaufsgängen war, wenn sie sich nicht in der Küche oder am Leinenschrank betätigte, dann saß sie gewiß in dem letzten kleinen Hinterstübchen und »tippte«. Und auch abends, wenn alles zu Bett war, »tippte« sie stets noch ein paar Stündchen, trotzdem sie morgens immer wieder als die erste auf den Beinen sein mußte.

Allmählich, ganz allmählich wuchs der Stamm ihrer Pensionäre.

In den ersten Monaten, wo Trudel alles selbst machen wollte, weil sie ein Stubenmädchen zu sparen gedachte, wechselte das Bild freilich noch häufig. Vorübergehend war's sogar der reine Taubenschlag.

Und aus jener ersten Zeit des Sorgens und des Werbens datierte die Aufnahme eines Herrn in das Damenpensionat. Des einzigen Herrn – denn Papa Länglin zählte ja nicht mit – so meinte wenigstens Fräulein Köberle, die Mannheimerin.

* * *

Ein mildernder Umstand für die Aufnahme eines männlichen Pensionärs in das Länglinsche Damenpensionat ist in Betracht zu ziehen: Georg Strauß bildete nur das Anhängsel seiner Schwester, der schönen Stefanie. Die Geschwister waren soeben Waisen geworden, es hielt sie nichts mehr in dem weltentlegenen Provinzstädtchen, das nur ein Progymnasium aufwies, sie waren nach Berlin gekommen, um an all den Errungenschaften der geistigen Metropole teilzunehmen: Georg trat in die Prima des Wilhelmgymnasiums ein, und Stefanie besuchte das Sternsche Konservatorium, Abteilung Klavier, Klasse B.

Die Misses fanden es shocking, daß die Pensionsmama dem jungen Mann die geheiligte Pforte des Damenpensionats öffnete. Aber die Mannheimerin meinte in ihrer drastischen Art: »Mich scheniert's net. 's isch ja überhaupt noch gar koin Herr, jetz, des isch doch noch e Bühwele!«

Daß das »Büble« schon im Verlauf des zweiten Winters einen Schnurrbart bekommen würde, das hatte sie natürlich nicht vorausgesetzt. Die kleine Pensionsmama ebensowenig.

Schließlich ergaben sich auch die Misses in Georgs Anwesenheit. Sie sahen ein, es wäre grausam, das Geschwisterpaar zu trennen. Und Stefanie paßte doch noch viel weniger in eine Herrenpension als Georg in ein Damenpensionat. Denn Georg galt vorläufig für durchaus ungefährlich, Stefanie dagegen besaß alle Eigenschaften, um in Männerherzen Verwirrung und Aufruhr anzurichten. Ihr Feuer teilte sich freilich weniger ihrem Klavierspiel mit. Ihr Lehrer meinte sogar, sie wäre auffallend unbegabt. Aber verliebt war sie, verliebt – es war einfach erstaunlich. Heute schwärmte sie für ihren Theorieprofessor, morgen für den Hofkapellmeister – oder gar Herrn Matkowsky, dem Heldenspieler. Sie machte nicht einmal vor der hohen Behörde Halt. Einmal nämlich erschien der Vorstand des Polizeireviers wegen einer russischen Pensionärin im Damenpensionat, und Stefanie empfing ihn, weil die Pensionsmama gerade auf dem Markt weilte. Und da wußte sie doch wahrhaftig den hübschen, jungen Offizier vom Flecke weg derart in ihre Netze zu verstricken – behaupteten die anderen Pensionsdamen – daß er gleich am Sonntag darauf in Helm und Waffenrock erster Garnitur wieder vorsprach und um Stefanies Hand anhielt. Die Mannheimerin argwöhnte, er hätte wahrscheinlich aus den Papieren ersehen, daß die Geschwister Besitzer einer hohen Hypothek waren. Gleichviel. Herr Nette, der Polizeileutnant, erhielt Stefanies Jawort, und ein Vierteljahr darauf war die Hochzeit, an der das ganze Damenpensionat teilnahm, einschließlich Papa Länglins, der ein kleines Räuschchen mit heimbrachte. Das junge Paar meldete von da an alljährlich die Ankunft eines Sprößlings. Was Fräulein Köberle mißbilligte.

Georg, der inzwischen sein Abiturium gemacht hatte, verblieb natürlich auch nach der Hochzeit seiner Schwester im Damenpensionat. Die Mannheimerin führte eine streng-mütterliche Aufsicht über ihn, sie nannte ihn kurzweg »Schorschl«. Papa Länglin vertrat die Vater-, Onkel- und Großpapastelle, die kleine Pensionsmama ersetzte ihm in rührender Weise die Schwester – und die übrigen Damen er- und verzogen ihn, je nachdem. Es fehlte ihm also nichts.

Bei diesem patriarchalischen Verhältnis blieb's, solange »Schorschl« die Universität besuchte und Astronomie studierte, dabei blieb's auch, als er hernach als junger Assistent seine praktische Tätigkeit auf der Sternwarte begann. Er war ein geradezu unentbehrliches Stück Hausmöbel geworden. Neue Pensionäre lernten ihn einfach als »Doktor Schorsch« kennen. Sie waren erstaunt, wenn sie gelegentlich erfuhren, daß er nicht »Schorsch«, sondern Strauß hieß.

Gegen die Mitglieder des Damenpensionats war er auch als junger Assistent noch ebenso freundlich und gefällig wie als Pennäler. Nur mischte sich in seine Aufmerksamkeit gegen die jüngeren und jüngsten Damen mit der Zeit ein fast bedenkliches Aufgebot an Galanterie.

Fräulein Sophie Köberle, die sich neuerdings als Herausgeberin des Fachorgans der Mäntelnäherinnen zur radikalen Sozialdemokratin entwickelt hatte, galt für eine Männerfeindin – trotzdem sie vier Jahrzehnte durchs Leben geschritten war, ohne daß je ein Mann ihr auch nur im geringsten zu nahe getreten wäre. Sie war nämlich von Ansehen ziemlich »wühscht« – lang, spitznäsig und lieblos hager. Und von Jahr zu Jahr steigerte sich bei ihr ein nervöser Argwohn gegen das junge Volk beiderlei Geschlechts.

Behauptete sie nicht einmal: Der »Doktor Schorsch« sähe die kleine Pensionsmama immer so verliebt an? Und Trudel würde dann stets so verdächtig rot?

Papa Länglin war außer sich. Seine Trudel eine Männerjägerin! Welch verdorbene Phantasie gehörte dazu, um so ein unschuldiges, ideales Verhältnis mißzuverstehen! Sie verkehrten doch wahrhaftig beide in all ihrer Jugend und Harmlosigkeit nicht anders als Geschwister miteinander. Aber freilich, eine so rabiate Frauenrechtlerin, deren ganzes Sinnen und Trachten darauf gerichtet war, das Männergeschlecht als solches abzuschaffen, die suchte eben nur danach, die Harmonie im Hause durch derlei Verdächtigungen um jeden Preis zu stören.

»No, 's wärd ja immer scheener!« grollte die Mannheimerin. »Mir isch's recht. Baschta. Aber gewwe Se acht, daß es net plötzlich emol in der Stadt heiße tut: ins Herr Länglins, des Damepensionat, des isch schon bald der richtige Harem!«

Entschieden war diese Befürchtung stark übertrieben. Denn Sultansmanieren entwickelte hier niemand. Papa Länglin wahrhaftig nicht. Und »Schorschl« –? Nun ja, daß der junge Sternkundige sich ein bißchen als Hahn im Korbe fühlte, das war schließlich menschlich. Aber schon seine eigenartige und zeitraubende Berufstätigkeit verhinderte doch jede für den Ruf des Damenpensionats gefährliche Aufwallung. Man sah ihn ja so selten. Nur ab und zu bei Tisch.

Fräulein Köberle ließ sich's trotz aller Beschwichtigungsversuche auch in der Folge nicht nehmen, gewissermaßen offiziell über die Moral im Damenpensionat zu wachen; und besonders streng beaufsichtigte sie die kleine Pensionsmama. Wenn Trudel sich's einmal einfallen ließ, »Doktor Schorschs« Zimmer in dessen Anwesenheit zu betreten, so kam sie rasch hinterdrein. »Ich will des Tete-a-tete net störe – bloß – da hinne uf'm Korridor da tut's so arg nach Petroleum rieche ...« Eilfertig kam Trudel dann mit. Aber es roch auf dem Korridor natürlich nicht nach Petroleum. »Es isch mir nord von weger Ihne Ihrer Moral, Frailein Trudche. Ahnständige Mädcher hawwe nix in emmene Herrezimmer zu suche. Des paßt sich net. Und grad weil der Herr Schorsch, der Malefiz-Sterngucker, Ihne Avangse macht ... Sind Sie ganz still, ich hab's gesehe. Baschta.«

Die kleine Pensionsmama war inzwischen dreiundzwanzig Jahre alt geworden, konnte also zur Not allein für sich einstehen. Aber sie ertrug die Tyrannei der Mannheimerin, ob sie ihr auch oft genug die Röte in die blassen Wangen trieb, ohne sich besonders heftig dagegen zu sträuben. Der Verdacht nämlich, so grundlos er sein mochte, schmeichelte der kleinen Pensionsmama. Unglaublich, aber wahr. (Der Frauen Herz ist ja so rätselvoll.) Und je mehr der Argwohn der Mannheimerin zunahm – desto glücklicher fühlte sich ihr Opfer.

Denn insgeheim, ganz insgeheim – aber das konnte doch kein Mensch wissen – lebte in Trudels verschwiegenem Mädchenherzen allerdings ein lieber, drolliger, zärtlicher Gedanke.

Freilich war das nur ein Husch, ein Traum.

Und »Schorschl« – der Gegenstand dieses Traumes – hatte ja wohl nicht die leiseste Ahnung davon.

* * *

Unter uns gesagt: der »Malefiz-Sterngucker« war durchaus kein solcher Musterknabe, wie die ihm gutgesinnte Partei im Damenpensionat behauptete. Als Student hatte er die tollsten Dinge angegeben. Und seitdem er Assistent war, reihte sich ein kleiner Roman an den anderen. Kein Wunder. Er war nämlich ein ganz forsches Kerlchen geworden, und auf den Bällen und Gesellschaften, die er mitmachte, galt er bei der chronischen Männernot als eine brillante Partie. Es sprach für sein diplomatisches Talent – oder sagen wir für seine Kunst, die Bahnen der Sterne vorauszubestimmen – daß er seinen fünfundzwanzigsten Geburtstag noch total unverlobt feiern konnte. Und seltsam: das Renommee, das ihm daraufhin bald anhaftete– »er wäre ein richtiger Schmetterling« – machte ihn in Berlin W. nur um so interessanter. Er tanzte gut, er hatte eine hübsche Singstimme, er war ein brillanter Tennisspieler, und zu alledem kamen noch seine gar nicht so unansehnliche Jahresrente und – sein mystischer Beruf. Denn dafür galt den schwärmerischen jungen Damen die Astronomie. Den schwärmerischsten erschien Dr. Strauß ja nicht ganz stileinheitlich. Unter einem richtigen Sternkundigen hätten sie sich lieber einen hageren, bleichen Herrn mit träumerisch-verzückten Augen vorgestellt. Dazu bildete er aber einen starken Gegensatz. Er besaß vom Sport her einen kräftig dunkeln Teint und eine geschmeidige Gestalt, seine hübschen, knitzen Augen konnten sehr lustig blitzen, stellenweise verwegen, und sein keck aufgesetzter Schnurrbart verhinderte jegliche Ähnlichkeit mit dem »Seni« aus »Wallensteins Tod«.

Am fidelsten war er, wenn er mit ehemaligen Studiengenossen einen fidelen Kneipabend verleben konnte. In Herrenkreisen verwöhnte man ihn vielleicht noch mehr als in Damenkreisen. Er besaß einen prächtigen Humor. Auch ein guter Menschenbeobachter war er. Wenn er einmal zum Besten gab, was er so »in Berlin W.« erlebt hatte, dann schüttelte sich alles vor Lachen. Diese Eifersüchteleien und Renommistereien, wovon man Zeuge werden konnte, wenn man aufpaßte, diese Intrigen und Komödien, nein Possen, die sich da abspielten! Und das Hauptthema blieb überall dasselbe: der Kampf präsumtiver Schwiegermütter um den Verlobungsring. Es gehörte für einen so vielumworbenen jungen Ballherrn schon eine gute Portion Lebensklugheit dazu, um nicht ein Opfer der Eitelkeit zu werden. Dr. Strauß besaß zum Glück die nötige Selbstkritik. Und nachdem er ein paar Winter hindurch von Blume zu Blume geflattert war, die Kur geschnitten und sich die Kur hatte schneiden lassen, entschloß er sich in einer feierlichen Stunde: zeitlebens ledig zu bleiben. Jedenfalls hatte er gar kein Interesse mehr an den superklugen oder herausfordernden jungen Damen, die in den Champagnerzelten der Wohltätigkeitsbasare auch auf den gewagtesten Flirt eingingen, bloß um möglichst rasch eine Versorgung zu kapern oder gar – um für »modern« zu gelten.

Von seinen gesellschaftlichen Erfolgen und seinen verwickelten kleinen Romanen erfuhren seine Nachbarinnen im Damenpensionat fast nichts. Daß er abends so selten daheim war und oft so spät erst nach Hause kam, erklärte man mit den speziellen Erfordernissen seines eigenartigen Berufs. Fragte die Mannheimerin einmal etwas unwirsch: »Ha, wo ischt denn heit bloß Ihne Ihr Sterngucker widder?« – so lautete eben Trudels Antwort: »Er wird Dienst auf der Sternwarte haben, denk' ich.« Damit gab sich Fräulein Köberle meist zufrieden, obwohl sie gelegentlich auch äußerte: »Ich möcht' bloß wisse, was die da howwe uf der Sternwart vom Himmel sehe könne, wenn's so regne tut wie heit abend!« Die kleine Pensionsmama seufzte dann verstohlen. Denn etwas eifersüchtig war sie doch. Beim Aufräumen von »Doktor Schorschs« Kommode hatte sie ja erst neulich die Unzahl Kotillonorden entdeckt – und ein ganzes Pack Gedichte in der Krawattenschachtel. – Ja, was für Sterne er wohl betrachten mochte, wenn die Nacht so rabenschwarz wie heute war? – Aber seltsam: gegen die mitunter fast böswilligen Anspielungen der Mannheimerin nahm sie den Sterngucker energisch in Schutz. Sie verriet auch nie eine Silbe davon, daß sie so halb und halb um seine stürmischen Romane wußte, die sich da auf Büttenpapier, in heißer Sprache und gekünstelten Reimen austobten. Die übrigen jungen Damen der Pension verkehrten ja in ganz anderen Kreisen als Dr. Strauß, die hatten wohl kaum eine Ahnung, wieviel und wie stark umworben ihr Pensionsgenosse war. Zumeist waren es Kunstbeflissene und zudem Ausländerinnen. Aber wenn der junge Astronom einmal einen Abend in der Pension verlebte, dann ging es immer sehr munter her, man blieb viel länger als sonst wach, es war, als ob die Gegenwart dieses einzigen jungen Herrn die jungen Damen geradezu elektrisierte. Die schwarzäugige, etwas üppige Rumänin, die Medizin studierte, Fräulein Vacarescu mit dem rollenden r, erschien wohl bloß ihm zu Ehren in einer so knallroten Seidenbluse (die sogar einen recht ergiebigen Ausschnitt hatte), und Miß Antenbrink, die rehäugige Cellistin von der Hochschule, hatte bei dem nie fehlenden Vortrag der Schumannschen »Träumerei«, ihres Leib- und Magenstückes, Blicke für den Sterngucker, Blicke – nein, selbst Trudel, die doch von niemand etwas Böses dachte, fand diese Blicke belastend.

Zu Papa Länglins fünfundsechzigstem Geburtstag sollte eine kleine Feier stattfinden. Fräulein Köberle, die mit dem alten Herrn sonst im allgemeinen auf dem Kriegsfuß stand, hatte es angeregt. Sie stimmte dafür, daß Trudel, um dem Tage einen festlichen Stempel aufzudrücken, ein warmes Abendbrot mit zwei Gängen und süßem Nachtisch geben sollte. Ein paar andere Pensionärinnen waren mehr für einen » thé dansant« – » small dance« – eine »italienische Nacht«. Gegen die Einladung fremder Herren wandte sich die Mannheimerin indes in einer sehr geharnischten Erklärung. »Jetz hat's aber g'schnappt. Mannsleit zulasse, aha, bloß daß mer hernach ins Gered kommt: ins Herr Länglins da werre Orchideen gefeiert«. (Sie verstand darunter Orgien.) »Ich bedank mich scheen für so einen italienischen Salat.« Miß Antenbrink hätte dem Geburtstagskind gern ein Ständchen in aller Frühe gebracht, um ihm zu huldigen: aber die Rumänin meinte entsetzt, das könnten die Unterwohner als Ruhestörung auffassen, es wäre Hausgesetz, daß nicht vor neun Uhr musiziert würde.

Schließlich holte Trudel das zu feiernde Geburtstagskind persönlich aus. Und siehe da: Papa Länglin erklärte sich für eine Bowle. »Weißt du, Trudel, sie braucht aber nicht so ganz antialkoholisch zu sein wie der Punsch zu Silvester. Für die Abstinenzler unter den Damen gibst du ganz einfach Limonade. Denn siehst du, vielleicht kommt auch Stefanie Nette mit ihrem Mann. Und ein Polizeileutnant – der kann schon etwas Kräftigeres vertragen. Die sind nicht so.«

Trudel war wieder mal ein bißchen rot geworden. »Stefanie Nette? Ja, meinst du, sie kommt? Da hast du wohl auch schon mit ihrem Bruder gesprochen?«

»Natürlich. Doktor Schorschl hat zugesagt. Ich hab' ihn ganz feierlich eingeladen. Sollt' ich nicht?«

»O gewiß. Bloß ... Ach wenn doch nur Fräulein Köberle nicht immer so taktlos wäre. Ihre Bemerkungen – und wie sie aufpaßt – auf jeden Blick, jedes Wort. Ich hab' schon wieder die reine Angst.«

Länglin nickte und sagte im Flüsterton:

»Weißt du, Trudel, ich für meine Person fürchte mich ja vor niemand auf der ganzen weiten Welt – ich bin im Leben schon mit vielen Schwierigkeiten fertig geworden – aber dieses Weib ist geradezu ein Nagel zu meinem Sarge ... Und ich gebe dir die Versicherung, ich werde ihr noch einmal gründlich die Meinung sagen, furchtbar gründlich, Hören und Sehen soll ihr vergehen, denn wenn man so bis aufs Blut gereizt wird ... Bscht, sie kommt, nichts verraten.«

Das zu erwartende Fest stand von nun an im Mittelpunkt des Interesses. Fritzi Block, die Geigerin, hatte mit Miß Antenbrink zusammen bereits ein Duo zu üben begonnen, das sie am Festabend vortragen wollten. Aber die Temperamente, der Rhythmus und die Fingerfertigkeit der beiden Damen stimmten absolut nicht zueinander. Die Geigerin brach immer wieder ab und hielt sich die Ohren zu. » Cis, cis, doch nicht ce, Miß Antenbrink, und es ist doch Dreivierteltakt, nicht Vierviertel.« Sie markierte das Thema gereizt: »Jedreie, eine, zwei – jedreie, eine, zwei! Werden Sie denn das nie begreifen?« Auch die Rumänin mit den feurig-melancholischen Augen und dem rollenden r erschien in der Tür und meinte: »Erbarmen Sie sich, wie rauh das klingt! Das ist ja schmerzlich! Ruhe, Ruhe, meine Damen!« Die Künstlerinnen zankten sich – die Pensionsmama war zufällig nicht da, um Frieden zu stiften, wie sonst immer – und schluchzend lief die Cellistin endlich nach dem vorderen Korridor, wo Dr. Schorschs Zimmer lag.

Er kam bestürzt heraus, als er so herzbrechend schluchzen hörte. Und Miß Antenbrink sang ihm sofort ein dickes Klagelied. »O Mister Schorsch, ich uill nicht mehr spielen mit Miß Block. Miß Block hat gesagt, ich tue spielen falsch ce, aber ich tue nicht spielen falsch ce, ich tat spielen richtig cis, nur es tut nicht klingen gut, weil Miß Block, sie setzt immer ein zu früh, und dann es kann nicht klingen gut. Uollen Sie nicht so gut sein und kommen und sagen, Miß Block soll nicht einsetzen so früh – oder ich tue nicht mehr spielen mit Miß Block, auch nicht zu Mister Länglins holyday, ueil daß ich nicht uill sein gedacht hier eine schlechte Spielerin auf das Cello, wo Mister Hausmann, mein Professor, hat gesagt, ich werde noch später einmal alles machen gut auf das Cello, was ich jetzt nicht mache gut, und Mister Hausmann ist mehr sachverständig als Miß Block, yes, indeed!«

Der junge Astronom war ganz perplex. Solch einen Redestrom hatte er der sonst so temperamentlosen Cellistin gar nicht zugetraut. Er war unwillkürlich zurückgewichen. Schluchzend war ihm Miß Antenbrink in sein Zimmer gefolgt. Schluchzend nahm sie auf dem Sofa Platz und stützte das Antlitz in die Hände, worin sie das Taschentuch hielt.

»Aber verehrtes Fräulein Antenbrink – es ist doch zweifellos nicht bös gemeint gewesen, Sie dürfen sich das nicht so zu Herzen nehmen.«

» O yes, Miß Block hat gesagt, ich tue spielen falsch ce, aber ich tue nicht spielen falsch ce, ich tat spielen richtig cis, nur Miß Block setzt immer ein zu früh, und dann es kann nicht klingen gut ...«

Sie erzählte ihm die Sache richtig noch einmal.

Ein menschliches Rühren erfaßte ihn. Er sprach ihr begütigend zu. Aber sie hörte nicht, sie schluchzte. Er erfaßte ihre Hand, klopfte ihr leicht auf die Schulter und wischte ihr mit seinem Batisttaschentuch zwei unheimlich große Tränen von den Backen. »Aber wenn es doch gilt, Herrn Länglins Geburtstag zu feiern, liebstes Fräulein! Der liebe, nette, famose alte Herr! Warum denn da Zank und Streit?«

Miß Antenbrink ward plötzlich von einem Nervenchock ergriffen. »Ich tue nicht spielen falsch ce!« schluchzte sie – ließ ihr Haupt an Doktor Schorschs Schulter sinken – und schloß die tränengefüllten rehbraunen Augen.

»No, 's wärd ja immer scheener!« rief's da vom Korridor her, und die Mannheimerin trat ein. »Jetz spiele Se gar vierhändig, Frailein Antenbrink? – Und über Ihne aber ah, Herr Schorsch! G'hört sich des, daß Se junge Mädcher auf Ihre Stub locke tue? A bewahr', still sind Sie und schäme tue Sie sich. Da hawwe mer der Beweis.«

»Jemine, jemine, jemine!« rief der junge Mann und fuhr sich mit beiden Händen an die Stirn. »Es handelte sich doch lediglich um Herrn Länglins Geburtstagsfeier ...«

»Sie wolle ihm wohl e Thiaterszen' vorspiele? ›Ha, wü üch düch liebe tu!‹ Sauber, Herr Schorsch, sauber, gut eing'fädelt!«

Die tiefgekränkte Cellistin hatte sich inzwischen leidlich gefaßt und suchte der Mannheimerin klar zu machen, daß nur Miß Block an allem schuld war: »Miß Block hat gesagt, ich tue spielen falsch ce, aber ich tue spielen richtig cis ...«

»Des isch mir ganz egal, des,« donnerte die Mannheimerin, »mit Ihne Ihre Falschspielerei! Ich duld' net, daß in emene ahnständige Pensionat derlei Stückcher aufg'führt werre. Auf der Stell' gehe Sie hinner, Frailein Antenbrink. Da hat der Zimmermann 's Loch g'lasse.«

Sie blieb als Siegerin auf dem Schlachtfeld zurück und hielt dem wehrlosen Pensionär noch eine fulminante Schlußrede. Darin nannte sie ihn unter anderem einen »Rattenfänger«. Und sie drohte ihm an, sie würde gleich morgen alles seiner Schwester sagen. »Und dere ihr Mann isch Polizeileitnant!« fügte sie funkelnden Blicks hinzu. Trotz ihrer revolutionären Gesinnung hatte sie vor dem Vertreter der hohen Obrigkeit anscheinend einen heiligen Respekt.

Dr. Strauß amüsierte sich hernach noch herzlich über das kleine Intermezzo mit Miß Antenbrink. Es waren ihm nämlich schon zweimal im Leben junge Damen ohnmächtig in die Arme gesunken – beide Male zufällig in einem leeren Ballnebensaal, und beide Male hatte ihn nur die Angst vor dem drohenden Goldreifen in letzter Sekunde noch abgehalten, die für eine Ohnmacht verhältnismäßig so sehr roten und einladenden Mädchenlippen zu küssen. Er besaß also, was die Bewertung einer Damenohnmacht anbelangt, schon einige Routine. Daß er nun aber von der unnachsichtigen Mannheimerin die Moralpauke bekam, statt der rehäugigen Miß, das erschien ihm eine ungerechte Verteilung. Und unangenehm, sogar sehr unangenehm war ihm die Vorstellung, die Mannheimerin könnte den Vorgang entstellt außer seiner Schwester auch noch der kleinen Pensionsmama berichten.

Denn – es war ja zu komisch – gerade vor dem armen, vielgeplagten kleinen Ding empfand er von jeher eine ganz besondere Gêne. Sie war so ein Stückchen lebendes Gewissen für ihn. Wenn sie ihn mit ihrem klaren, lieben, rührenden Kinderblick ansah, dann war es ihm immer, als würde er besser. So bunt die Gesellschaft in dem Damenpensionat zusammengewürfelt war, so verfänglich manch flirtbereites Wort klang, das ihm auch hier oft genug den Weg zu einem neuen kleinen Abenteuer bereiten zu wollen schien: das schwesterliche, herzliche und aufrichtige Vertrauen, das ihm die kleine Pensionsmama entgegenbrachte, wirkte geradezu wie ein Talisman für die Räume, in denen sie lebte und wirkte. Er hätte sich vor sich selber geschämt, zu Tode geschämt, wenn er ihren Herd nicht heilig gehalten hätte.

Für den heutigen Abend war er versagt – er hatte sich mit Freunden verabredet – also konnte er Trudels Rückkehr nicht abpassen. Große Wichtigkeit legte er der moralischen Entrüstung von Fräulein Köberle ja überhaupt nicht bei. Aber er wollte doch in jedem Fall eine törichte Auslegung vermieden wissen. Mit wem konnte er nun vernünftig darüber sprechen? Fritzi Block und das andere »junge Gemüse« kamen nicht in Betracht. Die ernsteste und reifste war noch die Rumänin. Er wollte es also so einrichten, daß er ihr im Vorübergehen ein paar Worte über das fatale Mißverständnis sagte und sie bat, der kleinen Pensionsmama die Sache im rechten Lichte darzustellen.

Es traf sich gut. Gerade als er sein Zimmer verließ, kam Fräulein Vacarescu in den Korridor. Sie wohnte ihm direkt gegenüber und hatte ihn wohl kommen hören.

»Haben Sie vielleicht zufällig einen Hammer, Herr Doktor Strauß?« fragte sie ihn in ihrem tiefen, immer etwas elegischen Ton.

»Einen Hammer?«

»Ja. Oder eine Zange.«

Er trug derlei Instrumente ja niemals bei sich. Immerhin gab die Frage eine Anknüpfung. Die exotische junge Dame erklärte ihm, sie brächte eine Kiste nicht auf, die über das Zollamt an sie eingetroffen war.

»Ich habe versucht mit dem Lineal, mit dem Handschuhknöpfer – Nagelschere ist mir abgebrochen –, ich bin schon ganz verzweifelt.«

Natürlich trat er bei ihr ein, um zu helfen.

»Aber Sie dürfen sich nicht umsehen, Herr Doktor Strauß, ich bin gerade beim Kramen.«

Allerdings sah es ziemlich kunterbunt aus. Spitzenreiche, seidene Wäsche war auf dem Bett ausgebreitet, traumhaft schöne Blusen lagen auf dem Tisch, ein Ballkleid hing über dem Schreibtischsessel, und in scharfem Kontrast zu all dem Flitterkram stand in der Ecke, zwischen dem Bett und dem Waschtisch: ein menschliches Skelett! Fräulein Vacarescu hatte sich's für sechs Wochen von einem Händler ausgeliehen, ihrer anatomischen Studien halber. In dem lustigen Wirrwar der tote Punkt.

Die Kiste war rasch geöffnet; sie enthielt zwei ungemein farbenprächtige Hüte, die Fräulein Vacarescus Schwester, eine Opernsängerin, in Bukarest für sie besorgt hatte.

»Sie halten wohl Generalmusterung über Ihre Balltruppen für die Winterkampagne?« fragte Georg lächelnd.

»Oh, die paar Kleinigkeiten. Ich habe wirklich rein nichts anzuziehen. Aber man macht hier in Berlin ja auch so wenig Toilette.«

»Ach nein, finden Sie?«

»Haben Sie schon einmal einen Hofball in der Burg mitgemacht, Herr Doktor?«

»In Wien? Nein.«

»Oh – aber in Paris waren Sie doch? Auch nicht? Unbegreiflich ...«

Sie verschlang ihn fast mit den forschenden Blicken ihrer tiefschwarzen, etwas heißen Augen.

»Warum unbegreiflich, meine Gnädigste?«

»Weil Sie mir so – so modern vorkommen.«

»Das ist bloß äußerlich.«

»O nein. Ich habe Sie oft angesehen – studiert – und mich gefragt: Wie kommen Sie hierher? Sie gehören doch nach allem in die große Welt. Ein Onkel von mir ist Staatsrat in Bukarest. Den müßten Sie kennen lernen. Werden Sie nie nach Bukarest kommen?«

»Verschwindend wenig Aussicht. Apropos, gnädiges Fräulein, was ich mit Ihnen besprechen wollte ...«

Sie ließ ihn aber nicht zur Sache kommen. Er mußte sich setzen, und sie bot ihm Pralinés und russische Kaiserbonbons an. Als er herzlich aber entschieden dankte, holte sie eine silberne Zigarettendose aus dem Nachttischchen.

»Aber ums Himmelswillen, wo werde ich denn in einem Damenboudoir rauchen!« verwahrte er sich rasch.

Sie lachte. »Sie müssen. Ich liebe es. Ich rauche selbst sehr passioniert.« Und graziös steckte sie eine Zigarette an, aus der sie zwei lange, tiefe Züge nahm. Dann hielt sie ihm den Papyros lachend hin. »Wenn Sie nun nicht ungalant sein wollen, müssen Sie weiterrauchen.«

Was blieb ihm übrig? Er akzeptierte. Freilich merkte er, sie wollte Eindruck auf ihn machen, ihn in eine besondere Stimmung versetzen. ›Vorsicht – attention!‹ sagte er leise zu sich. Der Knochenmann in der Ecke, eine gewisse Schwüle und Geschraubtheit ihres forsch sein sollenden Wesens, dazu die Mischung des nicht ganz feinen Parfums, dessen sie sich bediente, mit dem Duft des Tabaks und das ungenierte Tableau der Spitzenherrlichkeiten, das etwas beabsichtigt wirkte, das alles machte ihn skeptisch und unempfänglich.

»Sie wollten mir etwas sagen?« fragte sie ihn plötzlich und setzte sich dicht zu ihm hin, ihre beiden Hände auf seine Rechte legend.

»Ach – es war nur so eine Idee ...«

»Sprechen Sie. Bitte. Ich sterbe vor Ungeduld.«

»Dazu liegt kaum ein Anlaß vor, meine Gnädigste. Ich hatte mich nur vorhin ein bißchen geärgert – über Fräulein Köberle ...«

Sie preßte seine Hand fast stürmisch. »Nicht wahr? Nicht wahr? Oh, ich hasse sie, ich verabscheue sie.«

Er lächelte. »So leidenschaftlich bin ich ja nicht. Mich verdrießt es nur, daß sie alles geflissentlich falsch auslegt – und uns Pensionäre hier damit gewissermaßen terrorisiert.«

»Terrorisiert. Jawohl. Oh, ich leide furchtbar darunter. Sie müßten nur wissen, was sie oft zu mir sagt. Dinge –! Und auch über Sie ...«

»Auch über mich?«

Die Rumänin hatte eine entschieden malerische Pose eingenommen: die weiten Spitzenärmel ihres prunkvollen Teekleides fielen zurück und gaben ihre elfenbeinfarbenen, wunderhübschen Arme frei. Sie lächelte melancholisch und senkte die Lider zur Hälfte. »Aber ich glaube es nicht. – Ich will es nicht glauben.« Sie sagte das letzte fast flüsternd.

Die Situation erschien ihm mehr und mehr verfänglich. Er suchte mit überlegenem Spott abzubauen. »Ist es etwas so Entsetzliches? Sie wird mir doch keinen Giftmord nachsagen, hoff' ich.«

»Sie sagt – Fräulein Länglin wäre furchtbar verliebt in Sie.«

»Nanu!«

»Oh, das wäre ja nicht weiter verwunderlich,« sagte sie, ihm einen abgrundtiefen Blick zuwerfend. »Aber sie meint: auch Sie wären furchtbar verliebt in Fräulein Länglin.«

»Na nu nee!« Es fiel ihm in seiner ersten Bestürzung nichts Geistreicheres ein. Indessen drückte es wohl am besten seine große Verblüffung aus.

»Ist es nicht die Wahrheit?« fragte sie eifrig.

»Ich habe keine Ahnung – wie Fräulein Köberle dazu kommt, so etwas zu behaupten?«

Die Rumänin lachte wieder leise auf – und hastig preßte sie seine Hand. »Ich wußte, daß es nicht wahr ist!« sagte sie triumphierend.

»Sie wußten –?«

»Ja. Weil ich mir sagte: Sie stehen hoch darüber – Sie gehören an eine führende Stelle – und Ihre Frau muß repräsentieren können – grand'dame sein. Nicht wahr? Oh, bitte, sagen Sie, hab' ich nicht recht? Sagen Sie doch, bitte!«

Er war nervös aufgestanden. Sie hielt dicht vor ihm. Ihr Atem berührte ihn.

Plötzlich ein scharfes Pochen an der Tür von einem knöchernen Fingergelenk. »Ischt es vielleicht net uhnbescheide, daß mer frage tut, warum die Herrschafte net im Empfangssalohn zusammekomme?«

... Die Mannemerin! ...

Nun ward der Sterngucker aber fuchsteufelswild. Er schoß auf die Tür zu und riß sie auf.

»Ah – Fräulein Köberle?!«

»Des hawwe Se wohl net erwartet g'habt?« sagte die Draußenstehende höhnisch, indem sie die hageren Arme kreuzte. »Aber Ihne Ihre Schlich, Herr Doktor Schorschl, die kenne mer jetz. Verstandewuh?«

»Nun, Fräulein Köberle, erwartet hatte ich allerdings nicht, daß Sie mir in dieser höchst eigenartigen Weise nachspionieren. Aber das sage ich Ihnen jetzt ein für allemal: ich verbitte mir von nun an jegliche Bevormundung. Und ich mache Sie darauf aufmerksam, daß mein Name nicht Schorschl, sondern Strauß lautet.«

»No, 's wärd ja immer scheener. So e Bühwele sind Sie g'wese, wo mir Sie hier aufg'nomme hawwe. In d'Schul' sind Sie noch gegange. Und jetz isch mer plötzlich der große Herr? Und Sie werre dahier so e Stückcher aufführe? Und denke, ich guck zu und sag nix? Ha, Sie sind ja der reine Blaubart. Still sind Sie. Also deswege hawwe Sie sich daher in emene ahnständige Damenpensionat eing'schliche? Gut. Gut. Fein. Brav. Erscht die Trudel, nord die Miß und jetz des Frailein aus die Donaustaate? Ha, da isch mer ja schließlich auch net mer sicher! E uhnmoralischer Mensch sind Sie, e uhnmoralischer. Und Sie packe Ihre Siebesache und marschiere stantepeh wo annersch hin. Ins Herr Länglins isch für so ein arger Wühschtling koin Platz. Und wenn Sie net pariere, nord solle Sie emol e Mannemer Wuppdich kenne lerne. Ich fürcht' mich noch lang net vor Ihne. Dunnerkeitel noch emol.«

Das war eine Aufregung im Damenpensionat! Sie liefen alle zusammen: die Geigerin, die Cellistin, die Köchin, das Stubenmädchen, sogar die beiden schwarzgekleideten Norwegerinnen, die sich bisher noch um keine Menschenseele gekümmert hatten, sondern immer auf ihrem Zimmer saßen und weinten.

Dr. Strauß sah ein, daß eine vernünftige Darlegung der Verhältnisse momentan undenkbar war. Es kochte in ihm. Die Mannheimerin an Zungenfertigkeit und Lungenkraft zu überbieten, war kaum möglich, zudem besserte es auch nichts an der Sachlage, die für ihn unbedingt prekär geworden war. Um so mehr, als die Rumänin, statt den anderen Damen mit ein paar ruhigen Worten Auskunft zu geben, zu seiner Bestürzung eine dramatische Pose eingenommen hatte, die etwas Schuldbewußtes, dabei aber Sündhaft-Geschmeicheltes besaß.

»Ist vielleicht Herr Länglin zu Hause?« fragte der Sterngucker endlich das Stubenmädchen.

»Nein.« Papa Länglin hatte seine Tochter in die Stadt begleitet, sie machten Besorgungen für die Feier übermorgen, und bevor sie zum Abendbrot nach Hause kämen, wollten sie noch zu Frau Nette, das Allerjüngste sehen.

»Soll man vielleicht den Herrn Polizeileutnant holen, Herr Doktor?« fragte die Köchin mit einem strafenden Seitenblick auf die ihr gleichfalls unsympathische Mannheimerin.

»Ich werd' Ihne was! Kümmere Sie sich um Ihr G'scherr! Der ganze Aufwasch steht noch in der Küch'. E foine Wirtschaft, des. Und die annere Herrschafte, die sind höflichst gebete, ihre Nas' in ihre eigene Sache zu stecke. Baschta.«

Wenige Minuten später befand sich Georg Strauß in Paletot und Hut, verließ das Pensionat wutentbrannt und machte sich auf den Weg zu seiner Schwester.

Darin war er mit sich einig: er mußte noch diesen Abend die Kabinettsfrage stellen. Entweder wurde die Mannemerin an die Luft gesetzt – oder er ging.

* * *

Stefanie bekam er nicht zu sehen. Als ihm das Mädchen seiner Schwester die Entreetür öffnete, erfuhr er: Baby litt an einer Verdauungsstörung, und die junge Hausfrau war im Badezimmer intim mütterlich beschäftigt, mithin zunächst unabkömmlich. Doch Fräulein Länglin war da. Er wurde ihr gemeldet, und sie kam sofort aus der Kinderstube – mit heißen Wangen.

»Papa ist auch hier, er ist bei den Kleinen geblieben, da amüsiert er sich ja immer so köstlich. Ja, und denken Sie, ich soll an Stefanies Stelle ins Theater, in die Oper, denken Sie, Ihr Herr Schwager hat das Billett den Augenblick durch einen Schutzmann geschickt.«

»Es ist schon gleich sieben Uhr,« sagte er, die Uhr ziehend, »da heißt es eilen.«

Sie war sehr aufgeregt. »Ich nehme die Elektrische bis zum Rosentaler Tor. Oder lieber die Hochbahn? Was meinen Sie?«

Er lachte sie aus, daß sie als Berlinerin nicht Bescheid wußte, und schloß sich ihr ohne Umstände an. »Ist's denn nicht ein Billett fürs königliche Opernhaus?« fragte er auf der Treppe.

»Nein, für die Volksoper am Weinbergsweg. Sie geben dort Glucks Iphigenie.«

»Himmel!« entfuhr es ihm. »Glucks Iphigenie am Weinbergsweg!« Er blieb verdutzt stehen. »Und für den Kunstgenuß wollen Sie ganz Berlin durchqueren?«

»Ich komme ja sonst nie ins Theater. Und wenn's eine Vorstellung in den Königlichen Theatern ist, dann – dann ...«

»Dann benutzen Nettes die Billetts alleine!« vollendete er lachend. »Das ist ein raffinierter Wohltäter, mein Herr Schwager!«

»Er meint es doch so gut.«

»Jawohl. Ein Gemütsmensch mit Klappen. Glucks Iphigenie am Weinbergsweg, die überläßt er großmütig anderen. – Aber hören Sie, Fräulein Trudel, unter Umständen ist das gerade mal ein kolossaler Spaß da draußen. Wenn Sie mich mitnehmen wollen, begleit' ich Sie!«

Ein hilfloses Lächeln stand in ihrem hübschen Gesichtchen. »Ach, Sie machen sich dann bloß lustig, weil Sie natürlich Besseres gewöhnt sind. Aber für mich – für mich ist es wirklich gut genug ... Ach nein, Herr Georg, wenn sie einen so ansehen, dann – dann wird's einem so seltsam ...«

Es war ihm, als schimmerte es feucht in den dunkelblauen Augen. Kameradschaftlich schob er seinen Arm in den ihren und zog sie mit sich fort. »Nicht böse sein, Fräulein Trudel. Ich werde Ihnen doch Ihr Vergnügen nicht stören. Ich meine nur, es ist ein Irrtum, wenn Sie sagen, die Komödie da draußen sei ›gut genug‹ für Sie. Gerade, weil Sie sich so selten mal für ein paar Stunden freimachen können, müßte Ihnen etwas geboten werden, was Sie aufmuntert, Sie erhebt, Ihren Gedanken zu tun gibt ... Nein, Mädel, was führen Sie doch für ein Leben! Ich hab' mich schon oft gefragt: weshalb opfern Sie sich eigentlich so auf?«

Und so zog er schwatzend mit ihr weiter. Sie war teils verlegen, teils beglückt. Aber doch noch etwas mehr beglückt als verlegen. Ganz insgeheim freute sie sich auch darüber, daß sie heute abend ihr neues Winterjackett angezogen hatte. Es hatte eine lange, lange Reihe von nächtlichen Arbeitsstunden an der Schreibmaschine verschlungen.

»Erst sollte ja Papa hinfahren,« berichtete sie unterwegs weiter, »aber abends traut er sich so weite Wege nicht zu. Nun ist ihm doch auch gestern seine Brille zerschlagen, da hätte er von der Oper gar nichts gesehen.«

»Na – Hören und Sehen sollen einem in der Oper da draußen überhaupt vergehen. Still, still, nein, ich will ja brav sein und nicht mehr lästern. Aber eine fulminante Idee, Fräulein Trudel. Am Sonnabend hat doch Papa Länglin Geburtstag, nicht wahr? Sehen Sie, und ich zermartere schon seit acht Tagen meinen armen Schädel mit der Frage: was soll ich Papa Länglin schenken? Es war schon wie in dem schönen Gedicht: ›'nen Kakadu, ein Straußenei?‹ – Aber nun weiß ich's: er kriegt von mir eine goldene Brille.«

»Ach, Herr Georg, nein, das sollten Sie nicht tun, es ist ja sehr lieb von Ihnen, daß Sie überhaupt ... Aber es setzt ihn doch so in Verlegenheit.«

»Wenn ich mal fünfundsechzig Jahre alt werde, muß er sich natürlich revanchieren. Übrigens, wissen Sie was? Sie könnten mir beim Aussuchen helfen. – Oh, Zeit ist noch die Hülle und Fülle ...« Es ratterte gerade eine Automobildroschke heran. Auf seinen kurzen Anruf bremste der Führer. »So ein Ding kariolt uns in fünf Minuten nach der Leipzigerstraße, dann heidi zum Theater, da ist's gar kein Umweg.«

Trudel kam das ganz abenteuerlich vor. Das pfauchende Ungetüm mit dem in Glanzleder gekleideten Fahrer versetzte sie zudem in eine heillose Beklemmung. Aber der Sterngucker hatte eine so fröhlich-bestimmte Art, daß sie gar nicht zu widersprechen wagte.

Und so stieg sie denn ein, er verstaute sie mittels der Decke, und es ging flott in das glänzend erleuchtete Berlin hinein. An der Potsdamer Brücke flog Trudel fast vom Sitz. Er legte daher kordial den Arm um ihre Schulter, um sie zu halten.

»Ist Ihnen bange, Fräulein Trudel?« fragte er lachend.

»Mächtig!« gestand sie. »Aber – aber schön ist es doch. Ja. Gruselig-schön.«

Das sauste, pfauchte, lärmte, klingelte, tutete, rasselte.

... Ratatatatatata ... Sie hielten vor dem Optikerladen. Ein riesengroßes, grell erleuchtetes Auge bildete das Reklameschild.

»Nein, diese Lichter überall, und das Wagengedränge, das Menschengewoge, wie das hier flutet, wie sich das jagt –!«

»Sie kommen sonst wohl selten her?«

»Ach, eigentlich nie. Wenn ich mich mal für den Abend frei mache, dann ist's doch höchstens, um ein Konzert zu besuchen. Nämlich, wenn eine unserer Damen irgendwo mitwirkt. Neulich im Oranienburger Bezirksverein.«

»Im Oranienburger Bezirksverein! Trudel, Trudel, Sie werden ja schnöde gemißbraucht!« Er nahm sogleich wieder beschwichtigend ihren Arm. »Nein, nein, ich lästere nicht, ich gebe zu, aller Anfang ist schwer. Aber Ihre Schönheitsgalerie gegenwärtig – wirklich ... Holla, die Cellistin, Ihre Miß! Da fällt mir eben ein ...«

Und während sie im Laden standen und sich ein paar Dutzend goldene Brillengestelle vorlegen ließen, erzählte er ihr von dem musikalischen Streit zwischen Fritzi Block und Miß Antenbrink. Ohne sich vor der Verkäuferin zu genieren – er bemerkte sie kaum – kopierte er sie: »Miß Block hat gesagt, ich tue spielen falsch ce, aber ich tue nicht spielen falsch ce, ich tue richtig spielen cis ...« Er sprudelte das unter Lachen hervor, und Trudel mußte herzlich mitlachen. Aber plötzlich meinte sie erschrocken: ob es da nicht besser wäre, sie ginge sofort nach Hause?

»Das fehlte noch! Übrigens wird Ihnen die Litanei ja auch morgen früh nicht erspart bleiben, kleine Pensionsmama.«

Sie fand rasch ihre fröhliche Laune wieder. »Ja, ist es wirklich nicht, als ob sie alle meine Kinder wären?«

»Sie – etwa groß geschrieben?«

Zuerst verstand sie nicht. »Ach so, Sie meinen, Sie gehören nicht mit darunter?« Drollig drohte sie mit dem Finger. »Sie sind sogar mein allergrößtes Sorgenkind. Ja. Wissen Sie das?«

»Ach Trudel, Sie sind ja allerliebst!« Noch nie war ihm das so aufgefallen wie heute abend. Ihre nettesten Eigenschaften – ihre muntere Drolerie, ihre Schalkhaftigkeit – lernte er jetzt erst bei ihr kennen. Es war ein ganz reizendes, lustiges Viertelstündchen in dem Optikerladen.

Er hatte sich schließlich für eine schöne, solide Brille von 14karätigem Gold entschieden. Die Gläser, deren Nummern Trudel angab, sollten eingeschliffen werden. Andern Tags würde ihnen die Brille dann zugeschickt werden. Aber als die kleine Pensionsmama den Preis hörte, erschrak sie nicht wenig. »Ja, es ist echtes Gold, ganz massiv, meine Dame,« versicherte die Verkäuferin.

»Und Papa Länglin wird brillant darin aussehen,« meinte Georg, indem er rasch bezahlte, »mindestens wie ein Professor.«

»Ach, ich freue mich ja so, ich freue mich furchtbar. Aber es ist doch wirklich viel zu viel.«

Er schlug sofort ein anderes Thema an. »Was machen wir?« fragte er draußen unternehmungslustig. Er hatte das Rendezvous mit seinen Freunden, die Abenteuer mit den beiden Pensionsdamen, das Renkontre mit der Mannheimerin total vergessen. »Es ist gleich halb acht. Nun kratzen sie droben am Weinbergsweg die endlose Ouvertüre herunter. Die ist nämlich zum Auswachsen, Fräulein Trudel. Tatsächlich. Überhaupt Gluck. Für Kenner ja sicher prima. Aber der gewöhnliche Sterbliche ... Und, notabene, am Weinbergsweg! – He, Kutscher!«

Wieder packte er sie ins Automobil und gab dem Fahrer eine kurze Weisung. Sie überließ sich widerspruchslos ihrem Schicksal, ganz selig über die goldene Brille.

Und nach kaum vier Minuten hielten sie schon unter den Linden, und er bezahlte hastig.

»Aber was sollen wir denn hier, Herr Georg? Das ist doch das königliche?«

»Allerdings!« Pfiffig lächelnd stürmte er voraus, aufs Portal zu.

»Alles ausverkauft, mein Herr!« raunte man ihm von verschiedenen Seiten her in heiserem Ton zu, unter scheuen Blicken nach den am Fahrdamm postierten Schutzleuten. »Aber wenn Sie noch ein paar gute Plätze haben wollen – unter der Hand ...«

Es waren Billetthändler. Er begleitete einen der dunkeln Ehrenmänner nach der Seitenfront und erstand von ihm zwei Logenplätze im zweiten Rang. Natürlich zum doppelten Preis. »Ja, lieber Herr, Sie müssen bedenken, die Meistersinger, da jeht det Jeschäft wie warme Semmeln!«

... Die Meistersinger! Wagners Meistersinger! ... Trudel schwindelte es zuerst, als sie's vernahm. Seit Jahren war es ihr sehnlichster Wunsch gewesen, gerade dieses Werk einmal zu hören, zu sehen. Sie hatte schon mehrmals darauf gespart gehabt. Aber hernach waren immer ein paar Schuhe nötiger, oder es mußte eine Lampenglocke gekauft werden, eine Teekanne. Und man bekam ja doch niemals Plätze. Und nun – der Sterngucker, von dem Fräulein Köberle immer sagte, er wäre so unpraktisch, so zerfahren – der brauchte bloß die Hand auszustrecken ...

»Ach, lieber, lieber Doktor Schorsch, ach, bin ich glücklich! – Dann soll ich das Billett für die Iphigenie verfallen lassen?«

»Wir schenken's einem Streichholzverkäufer. – Heda, mein Junge! – Und noch 'ne Mark zu – als Schmerzensgeld!«

Lachend, aufgeregt, glückstrahlend stürmte sie an seiner Seite durchs Vestibül. »Die Meistersinger – die Meistersinger! – Aber Papa weiß doch nicht ... Ach, mir ist's ganz wirblig im Kopf!«

Und fünf Minuten später saß sie in der vordersten Logenreihe des zweiten Ranges, dicht vor dem Sterngucker, dessen Stuhl eine Stufe höher stand, und gleich darauf ward's dunkel im Haus.

Es war, als ob der Herr Hofkapellmeister bloß auf die kleine Pensionsmama gewartet hätte: noch einmal sah er sich im Hause um, ein leises, breites Zischen in allen Teilen stellte die Ruhe her, dann flog sein schwarzer Ärmel mit der weißen Manschette, der blassen, nervösen, schmalen Hand und der schlanken Battuta in die Luft – und das festlich prunkvolle Marschmotiv des Bläserchors brauste in seinen markanten Rhythmen durch den weiten Saal.

* * *

So lieb und traut, so innig deutsch wie heute hatte zu »Dr. Schorschl« das wundersame Bühnenspiel des Bayreuther Meisters noch nie zuvor gesprochen.

Es war etwas im Hause, was ihm die rechte, weihevolle Stimmung vermittelte: das rührend dankbare, bei den heiteren Stellen leis lachende, bei den ergreifenden leis schluchzende Geschöpf, das ein paarmal – ganz versunken in die fremde Welt – das blonde Haupt zurücklehnte und die Hände im Schoß faltete. Ihr Kopf fand eine Lehne an seinen Knieen. Und es ging von ihrer Wärme, ihrem Zittern, ihrer Seligkeit wie ein Fluidum auf ihn über.

Hans Sachs und der ritterliche Junker, der Lehrbub David und der drollige Beckmesser, sie gewannen Leben vor Trubels Augen – der reiche Zauber verklungener Zeiten umwob die kleine Pensionsmama – und eine süße Lichtgestalt inmitten des altertümlichen Nürnberg weckte alles, was ihr Herz an verträumter Innigkeit und verschwiegener Sehnsucht besaß.

... Evchen! ...

Wie sie die stolzsittige Bürgermaid liebte – wie sie mit ihr fühlte – wie sie den Herzenskampf verstand, nein, miterlebte, als ob sie ihn selbst durchzukämpfen hätte! Ach, wie stand das doch alles so hoch über dem Alltag – trotzdem es so menschlich, so schlicht bürgerlich war! Und sie sagte sich: diese Poesie, die ihre Seele jetzt durchflutete, die müßte von nun an ihr ganzes Leben verklären!

In einem der Zwischenakte wanderte sie an Georgs Seite durch die Gänge und Säle. Sie sah von der Menge nichts. Das Schwirren und Schwatzen hörte sie nicht. Die reichen, wohligen Harmonien klangen in ihrem Innern fort – das melodische Lied vom »trauten Herd zur Winterszeit« ging ihr nicht mehr aus dem Sinn. Und es war mit all dem sehnenden Blühen und Werben dieses deutschen Meister- und Minnedramas eine Maienstimmung in ihr Herz gezogen, die sie verjüngte, verschönte.

Ihr Begleiter hielt ihre Hand verstohlen in der seinen. Hier kannte sie ja kaum jemand in dem dichten Gewühl. Sie sprachen nur wenig miteinander. Denn auch der Sterngucker war seltsam gerührt. Ganz, ganz anders war es als sonst. Zuweilen nickten sie einander beglückt zu. Und dabei sah Georg, daß Trudels liebe, blaue Augen, so selig sie schimmerten, voll Wasser standen.

* * *

Nun war der Jubel der Festwiese verrauscht. Über dem feiernden Nürnberg schloß sich der Vorhang. Die letzten festlich feierlichen Akkorde, in die es wie Glockenton hineinbrauste, füllten das weite Haus.

Trudel konnte noch immer nicht aus dem weihevollen Bann des festlichen Spiels in die Wirklichkeit zurückfinden.

Draußen nahm sie sogleich den Arm des Sternguckers. Dabei dankte sie ihm wieder und wieder. Aber sie sprach nur leise, ganz leise, als fürchte sie sich, die inneren Stimmen, die noch in ihr klangen, zu stören.

Sie konnte es nun gar nicht begreifen, sagte sie, daß dies alles wirklich bloß ein einziger Abend gewesen sein sollte.

»Das ist ja eine ganz neue Welt!« flüsterte sie. »O lieber Gott – welch neue, schöne, wunderschöne Welt!«

Im Wandern kamen sie unversehens in ein immer flotteres Tempo. Er mußte ihr noch dies und das aus dem Text erklären, denn ein paarmal hatte sie doch nicht so richtig folgen können. Sie klagte sich nun selbst dessen an. Kleinigkeiten aus dem Haushalt hatten sich plötzlich zwischen sie und ihre Gedankenwelt drängen wollen – das Gefühl ihrer Verantwortung als Pensionsmama – und mitten in einer stilleren Szene hatte sogar die gräßliche Erinnerung an das Geklapper der Schreibmaschine wie ein Spuk sie überrumpelt.

»Und da hab' ich mich dann so schrecklich vor Evchen geniert!« gestand sie ihm – duckte aber sogleich ihr Gesicht.

»Ach, liebe, kleine Pensionsmama!« stieß er aus, teils gerührt, teils belustigt. Und er preßte im Weiterschreiten zärtlich ihren Arm. Hernach meinte er: »Wissen Sie, Trudel, daß Sie sehr viel vom Evchen haben? Ja, ja. Etwas, was in dem flirrigen, fahrigen, hektischen, nervösen Berlin sonst blitzselten zu finden ist. Das Deutsche, Trudel. Verstehen Sie mich? Bei der Miß und bei Ihren anderen exotischen Pfleglingen im Pensionat, da such' ich's natürlich nicht – dort vermiss' ich's auch nicht. Aber so bei den jungen Gesellschaftsdamen von Berlin W....«

Er fühlte, wie es in ihrem Arm zuckte. Aber er gab sie nicht frei. Lachend zog er mit ihr weiter.

»Aha, das paßt Ihnen nicht, daß ich Ihnen nun endlich auch einmal etwas Nettes sage. Trudel, haben Sie sich am Ende in den Walther Stolzing verliebt? Was? Na, so ein ganz klein bissel? Ja, ich hab' freilich kein so schönes, blausamtenes Wams wie der fränkische Rittersmann an. He, Sie machen wohl Vergleiche?«

»Ach – lieber Herr Georg!«

Das kam so hilflos und so zärtlich von ihren Lippen.

Er war selbst in einer so seltsam gerührten Stimmung wie noch nie in seinem Leben.

»Trudel, ich bin wohl so im allgemeinen immer recht garstig zu Ihnen gewesen, wie? So aus purer Gedankenlosigkeit. Sagen Sie mal ganz offen.«

Sie bestritt es entschieden. Nach einem kleinen Schweigen hub er wieder an, etwas ernster als zuvor:

»Seitdem Stefanie ihre Göhren hat, hab' ich ja eigentlich gar nichts mehr von ihr. Aber daß sie nicht mehr in Frage kommt für mich – das hab' ich überhaupt nicht gemerkt. Weil ich Sie hatte, Trudel. Jawohl, Sie, kleine Pensionsmama. Und so recht gedankt hab' ich's Ihnen doch noch nie, ich altes Scheusal, was?«

»Ach, das bißchen Müh', Herr Georg, – das war doch alles so selbstverständlich für mich.«

Er pätschelte ihre Hand. »Nein, Trudel, nicht das bißchen Müh'. So das Herumpusseln an den Sachen, das Benähen und Bestricken, das meine ich nicht. Das hätte schließlich auch ein ander weiblich Wesen fertig gekriegt. Aber in Ihnen war immer so ein gutes, treues, deutsches Mädel um mich – so das Stückchen Eve aus den Meistersingern – das mich vor mancher Dummheit bewahrt hat. So recht ist mir das erst heute abend aufgegangen. Verstehen Sie das, Trudel?«

Wieder senkte sie den Kopf, und ihr Herz klopfte stürmisch. »Ich – glaube.« Sie sagte es ganz leise. Das Blut war ihr in die Wangen getreten, denn sie entsann sich der heißen Verse, die sie gelesen hatte, die die Bankierstochter vom Kurfürstendamm ihm geschrieben hatte. Und so manches, manches andere zog wie eine heiße, beängstigende Welle durch ihr Herz.

Sie hatte in ihrer verträumten Stimmung gar nicht auf den Weg geachtet. Nun sah sie sich plötzlich verwirrt um. Sie waren ja nach Osten, statt nach Westen gegangen! Erschrocken ließ sie seinen Arm los. »Ist das hier nicht das Rathaus?«

»Ja, wahrhaftig, das ist das Rathaus!« Er spielte den Verwunderten. Allein um seinen Mund zeigte sich ein unternehmendes Lächeln. »Und trotz Walther Stolzing und Richard Wagner muß ich Ihnen gestehen: mir fehlt das Abendbrot. Aber hier im Ratskeller soll man sich famos verproviantieren können.«

»Sie wollen noch – in ein Restaurant?« Es klang wie ein matter Hilfeschrei.

»Ja, liebstes Trudel, gibt's denn jetzt noch bei Länglins etwas zu essen? Die schlafen dort doch längst alle, bis wir heimkommen.«

Sie sann nach. Tee könnte sie ihm schnell noch aufbrühen, meinte sie.

Nach Tee verlangte es ihn gar nicht. »Überhaupt, Trudel, sind Sie als die Pensionsmama offiziell für das Wohlergehen Ihrer Pfleglinge verantwortlich. Und wenn Sie mir nicht durch ihr Mitkommen in den Ratskeller umgehend zu Imbs und Umbtrunk verhelfen, dann sterbe ich hier angesichts des wunderbaren märkischen Ziegelbaues den Tod der Erschöpfung. Und Sie müssen mich dann auf Pensionsunkosten begraben lassen.«

»Aber es geht doch nicht! Wenn unsere Damen erfahren, daß ich mit Ihnen noch in einem Restaurant war –!«

»Bloß zehn Minuten. Und hernach nehmen wir wieder ein Automobil. Ja?«

»Aber Papa –?«

»Schläft doch auch schon längst. – Überhaupt, kümmert sich denn sonst jemand darum, ob Sie um elf Uhr still und brav im Bett liegen? Kein Mensch. Und ich weiß doch: oft sitzen Sie bis weit nach Mitternacht bei der Schreibmaschine. Tipptipp – tipptipp. Kommen Sie, Trudel. Erstens kennt uns hier in Berlin C. kein Mensch – und zweitens kümmern wir uns nicht um die anderen. Das ist heute ein Festtag – und den müssen wir feiern.«

Sie feierten also. In einem kleinen, gemütlichen Ratskellerbogen am hübsch gedeckten Tisch, auf dem eine elektrische Lampe mit einem seidenen Schirm stand. Und Trudel – von der Aufregung, von der Musik, von all dem Fremden, Neuen, Ungeahnten so schon halb überwältigt – bekam von dem Gläschen Wein, das sie zu dem rasch servierten Abendbrot trank, einen Schwipps. Einen kleinen, allerliebsten Schwipps.

»Mädel, Mädel,« sagte der Sterngucker, der von ihrer Drolerie, ihrer naiven Herzlichkeit, der gutherzigen Offenheit, die sich in jedem ihrer Worte aussprach, mehr und mehr entzückt und begeistert war, »ja, wie ist es denn nur möglich: in dem großen Berlin werden täglich ein paar hundert Hochzeiten abgehalten, die wüschtesten Bankierstöchter, die die abscheulichsten Verse machen, werden geheiratet, – und an so einem kleinen, lieben, hellen Juwel sind die Männer bisher blind vorbeigegangen?«

Sie strahlte, die kleine Pensionsmama. Sie lachte. Es war, als wollte sie ihm etwas sagen. Aber dann hob sie bloß das Weinglas und nippte und sah ihn schelmisch an. Und setzte es wieder ab, nippte noch einmal und sagte dann drollig lachend: »Ach, Schorschl, die Männer, die sind ja alle so dumm!«

Nun lachte er mit. Dabei drückte er unterm Tisch ihre Hand.

»Ach Gott, ich glaube wirklich, ich hab' 'nen kleinen Luttetü!« sagte sie plötzlich.

»Ich auch, Trudel. Aber nicht von dem Schluck Wein. Er schmeckt mir überhaupt nicht. Ich mag heute keinen Tropfen mehr. Ich bin von ganz was anderem berauscht. Von einem Erlebnis. Trudel, kennen Sie das? So ganz ausgefüllt sein, berauscht sein von einem schönen Erlebnis?«

»Ja! Ja!« Strahlend nickte sie wieder. »Die Meistersinger!« Und sie summte ganz leise: »Herr Walther von der Vogelweid', der ist mein Meister gewesen ...«

Nun hielt er ihre Rechte in seinen beiden Händen. Und da sie allein waren, die Nebentische schon leer, bückte er sich und küßte ihre warmen, zuckenden Finger innig und ausführlich.

»Nein, Trudel, ich meine etwas noch Schöneres, noch Größeres. Ein Erlebnis, dem auch das herrlichste Kunstwerk nicht gleichkommt. – Ja, nun möchte die kleine Neugierde wohl wissen, was? – Ich hab' einen Menschen erlebt, Trudel. Einen lieben, prächtigen, goldigen Menschen. – Ach, Trudel, sieh mich nicht so süß an, sonst kriegst Du wahrhaftig trotz allen Oberkellnern der Welt einen schallenden Kuß ... Und wir sitzen hier direkt unterm Berliner Standesamt, Du kleine Verführerin, weißt Du das?«

* * *

Draußen war nachher kein Automobil aufzutreiben. Ein offener Taxameter war das einzige Vehikel in erreichbarer Nähe. Die Nacht war leidlich mild und klar, also rief Georg den Rosselenker an, der aus dem Halbschlaf emportaumelte – es war schon bald ein Uhr früh – und sie nahmen selbander Platz.

Über den Schloßplatz ging's, die Linden hinunter und durchs Brandenburger Tor. Es war dann eine sehr poetische Fahrt durch den still und verträumt daliegenden Tiergarten. Hand in Hand saßen sie nebeneinander. Und Georg legte der kleinen Pensionsmama eine Beichte ab. Sie war etwas umfangreicher, als er selbst gedacht hatte. Wie oft war er der Gefahr nahegerückt, in all dem Wust zu ertrinken! Wie leichtfertig hatte er oft Glück und Frieden und Zukunft und Seelenruh' aufs Spiel gesetzt gehabt. Es war ein Wunder, daß er entronnen war, ohne in das glänzende Elend einer sogenannten Vernunftehe zu geraten, ohne sich von einer Leidenschaft der Sinne in eine seinem Innersten fremde Atmosphäre verschleppen zu lassen.

»Ich hatte einen guten Engel, Trude!« sagte er ihr leise ins Ohr und küßte sie dann ins blonde Haar, das unterm Hut hervorguckte.

Trudel hatte ihren Kopf gegen seine Schulter gelehnt und lächelte selig. Ja, nun fühlte sie: es war doch nicht der »Schwipps«, den sie sich im Rathauskeller von dem Gläschen Wein geholt hatte, es waren auch nicht bloß die Meistersingerklänge, die sie berauschten. Das Glück war's, das sie wandelte, das sie hob, das ihr Fühlen und ihr Sinnen in wundersame Schwingungen versetzte!

Im Dunkeln stiegen sie die drei Treppen zum Pensionat empor. Ganz leise, um Papa Länglin und seine schlafenden Schutzbefohlenen nicht zu wecken, schloß er die Entreetür auf. Auf den Fußspitzen gelangten sie bis zu seiner Tür, beide etwas atemlos. Hier preßte sie stumm seine Hand. Aber er umschlang sie, zog sie an sich, hielt ihr Kinn fest und wendete sich ihren Mund zu. Man sah nichts in der totalen Finsternis – man war aufs Fühlen angewiesen. »Trudel,« flüsterte er, halb lachend, aber doch unter hörbarem Herzklopfen, » alle Männer sind doch nicht so dumm, wie Du glaubst. Ich denke, ich werde eine rühmliche Ausnahme machen. Wenigstens will ich jetzt den verständigsten Schritt in meinem Leben tun. Dich heiraten, Trudel. Bscht. Sprich nicht. Die schlafen ja schon alle. Gute Nacht, Trudel.« Und nun küßte er sie – und fühlte, wie all ihre Zärtlichkeit sich für ihn löste. »Gute Nacht!« hauchte sie zwischen zwei Küssen. Und er wieder: »Gute Nacht, gute Nacht!« So ging's noch eine ganze Weile fort. Bis sie sich endlich freimachte und mit nur mühsam unterdrücktem Jubel ausstieß: »Ach, Schorschl, und ich bin Dir doch so schrecklich gut. Ja. Schon immer gewesen. Und hab' gedacht, Du merkst es nicht. Aber jetzt sollst Du's merken ...« Und darauf sagten sie einander noch einmal »Gute Nacht«.

Leise, leise gingen sie dann auseinander. Er öffnete die Tür zu seinem Vorderzimmer, sie trat in die Berliner Stube ein, um den rückwärtigen Korridor zu gewinnen.

Es war stockdunkel. Georg hatte ihr Wachsstreichhölzer gegeben, aber sie wagte nicht, eines anzuzünden, weil sie an den Schlafzimmertüren der Pensionäre den Lichtschein vermeiden wollte.

Indes: im rückwärtigen Korridor, der zur Küche führte, war's hell. Die Tür zum Zimmer der Mannemerin stand auf.

Erschrocken blieb Trudel stehen. Sie hörte lebhaftes Durcheinandersprechen: Fräulein Köberles scharfes Organ, dazwischen ein paar verteidigende, mildernde Worte ihres Papas, die Stimmen der Miß, des Fräulein Block, der Rumänin ...

Und als sie nun die Tür zum Berliner Zimmer hinter sich ins Schloß drückte, schoß eine lange, hagere Gestalt, mit einer weißen Nachtjacke angetan, deren Ärmel entschieden zu kurz waren, in den Korridor.

»Sie isch's!« rief Fräulein Köberle den in ihrem Zimmer Versammelten zu. Die Arme verschränkend wartete sie das Herankommen des nächtlichen Ausreißers ab.

Die kleine Pensionsmama bekam plötzlich das Lampenfieber.

* * *

Seit elf Uhr war hier die Szene zum Tribunal gewandelt. Das vorbereitende Untersuchungsverfahren hatte mit Papa Länglins Heimkehr eingesetzt. Die Rolle des grimmen Staatsanwalts hatte die Mannemerin übernommen. Zu Kronzeugen waren zwei auswärtige Mächte gestempelt worden: England und Rumänien. Auf der Geschworenenbank saß zur Zeit nur noch Fritzi Block, die Geigerin. Die übrigen Mitglieder des Volksgerichts waren bereits abgefallen: wegen überhandnehmender Schlaftrunkenheit von der Mannemerin zu Bett geschickt worden. Die unter diesen Umständen undankbare und aussichtslose Funktion der Verteidigung hatte Papa Länglin auf sich genommen.

Es war der beredten Staatsanwaltschaft geglückt, den Hauptmissetäter in contumaciam verurteilt zu sehen. Der Sterngucker war einfach geliefert. Nicht einmal die Rumänin wagte mehr ein Wort zu seiner sittlichen Hebung zu sagen. Denn Fräulein Köberle ließ ihr nur die Wahl, entweder als die Verführerin zu gelten oder als die Verführte. Sie entschied sich für das letztere, beteuerte aber, daß sie zum Glück moralische Kraft besessen hatte, trotz allem ihrer Sinne Meister zu bleiben. Das genügte der Mannemerin.

»Nein, nein, nein, nein,« stöhnte Papa Länglin, »ich kenne doch wahrhaftig das Leben – als vereidigter Bücherrevisor, was glauben Sie, da hat man Einblicke in die verwickeltsten Verhältnisse – aber so etwas hätte ich doch nie und nimmer für möglich gehalten! Unser Doktor Schorschl, der liebe, prächtige Junge, ein Don Juan! Ach, was wird bloß mein armes Trudchen sagen?«

»Die hat ganz still zu schweige!« ereiferte sich die Mannemerin. »Die isch doch die, wo des ganze Unheil angestiftet hat!«

»Fräulein Köberle!« brauste Papa Länglin auf. Er hatte für zwei Sekunden die drohende Miene einer gereizten Löwin, der man ihr Junges raubt.

Aber die Mannemerin besaß eine so gewaltsam herrische Art, daß sie selbst Löwen vom Schlage des vereidigten Bücherrevisors zu bändigen wußte. Ihre strafenden Blicke schmetterten alles nieder, was sich ihr entgegensetzte.

»Mir kenne unsere Pappehoimer! Ins Herr Länglins hat mer bloß deshalb so lang gefackelt mit dem wühschte Mädchejäger, weil's Frailein Trudche selbscht in ihm verliebt g'wese isch. Aber des muß jetz annersch werre. Es wird dem Bühwele noch heut gekündigt.«

Sie hatten aus dem Abendblatt festgestellt, daß die Oper am Weinbergsweg um ein Viertel vor zehn Uhr beendigt war. Trudel konnte also um halb elf hier sein.

Bis elf warteten sie in bangem Schweigen, alle mit Lektüre beschäftigt, am runden Tisch im Speisezimmer unter der Hängelampe. Die Mannemerin zog sich dann für ein Weilchen zurück und erschien in der Nachtjacke wieder. Sie wirkte nun noch strenger denn zuvor. Da die beiden Norwegerinnen in dem an die Berliner Stube anstoßenden Zimmer schliefen, verlegte Fräulein Köberle auf Fräulein Blocks Vorschlag die hochnotpeinliche Gerichtsstätte nach ihrem eigenen Boudoir.

Es ward halb zwölf Uhr. Es ward Mitternacht. Von Zeit zu Zeit begab sich eines der Mitglieder der Gerichtskommission durch die im Finstern liegende Zimmerflucht nach einer der Vorderstuben und spähte auf die Straße hinaus.

Von der Pensionsmama keine Spur.

Papa Länglin konnte sich's nicht erklären. Trudel war doch sonst die Pünktlichkeit selbst. »Es wird ihr doch nichts zugestoßen sein in dem schrecklichen Berlin?« Er hätte am liebsten an Nettes telephoniert, aber es war kein Anschluß mehr.

»Also ins Herr Nettes hawwe Se se zum letschte Mal gesehe?« examinierte die Mannemerin.

»Ja. Sie hatte mir schon Adieu gesagt, um nach dem Weinbergsweg zu fahren, und da – da war doch gerade noch Herr Strauß gekommen ...«

»Wer?!« Fräulein Köberle wich ein paar Schritt zurück und kreuzte die Arme. »Ha, da schlag' einer doch gleich lang hin. Und des wird unserei'm verhoimlicht bis zu dere Sekund'?«

»Ja – was ist denn dabei?« rief Papa Länglin, schon ganz verzweifelt. »Er wird doch noch seine Schwester besuchen dürfen!«

»Und nord sind se miteinander auf und davon? ... Daß euch die Krott petz'! Ha, aber so ebbes! ... Und jetz isch's e g'schlagene Stund' nach Mitternacht. Fein, fein, die kann so bleibe. E scheen's Muschter von enere Pensionsmamme. Des isch ja schon mehr als uhnschicklich. Des isch ja schon laschterhaft. Jawohl, sind Sie still. Die Dame sind Zeuge, wie daß es der Herr Schorsch treibe tut. Und mit so ei'm Don Juan isch mer jetz unter oim Dach g'wese. Ha, wenn mer sich vorstellt, was da hätt alles passiere könne!«

»Ich bin unschuldig!« beteuerte die Rumänin mit einer melodramatischen Geste.

Und die Miß sagte: »Ich habe Mister George nur gesagt, Mister George, sag' ich, Miß Block sagt, ich tue spielen falsch ce ...«

»Jesses, jesses, jesses!« rief die Geigerin und hielt sich die Ohren zu.

... Da knackte die Tür vom Speisezimmer ... Alles schwieg ... Die Mannemerin eilte auf den Korridor und stand dort wie eine Bildsäule: die strafende Gerechtigkeit ... Und Trudel erschien im Türrahmen, blaß, indes mit seltsam roten Lippen.

Papa Länglin wollte ihr in seiner ersten Wiedersehensfreude um den Hals fallen. Aber Fräulein Köberles scharfer Ton zerschnitt die Stimmung grell.

»Gute Morche, Frailein Länglin. Es isch gleich halber zweie.«

»Ja – Sie sind noch alle auf – allerdings – es ist so spät geworden ...« Trudel zitterten noch die Lippen von dem seligen Abschied. Auch die Kniee begannen ihr nun zu zittern.

»Wo komme mer denn her, Frailein Länglin?« fragte die Mannemerin.

»Aus dem Theater. Ich hatte doch ein Billett bekommen – zu Glucks Iphigenie ...«

Ein schrilles Lachen schnitt ihr die Rede ab. »Ins Herr Glucks? So, so. Wisse Se, was se heit abend am Weinbergsweg gegewwe hawwe? Koin Gluck net, sondern –« sie holte das Abendblatt – »weger Uhnpäßlichkeit der Frailein Kaliwoda: Martha oder der Markt von Riechmohnd! – Was sage Se jetz?«

»Ich – ich bin ja auch gar nicht am Weinbergsweg gewesen, sondern – sondern in den Meistersingern.«

»Hähä! Des kann jeder sage!«

Nun lockerten sich in Trudels Augen schon die Tränen. »Jawohl, im Opernhaus war ich. Mit Georg.«

»Mit – wem?« Eine allgemeine Sensation griff Platz. »Ich versteh' als Georg – des isch der Doktor Schorsch?«

»Jawohl. Und es war so wundervoll – so einzig – so – so ... Ach, Papa, es ist mir ja so gräßlich ...«

»Still. Dagebliebe ... Ich bitt' mir's aus.« Die Mannemerin postierte sich als Schildwache an der Tür. »Und die Meischtersinger, die gibt mer jetz in der Oper ohne Strich', was? Und da sind se erscht am andere Morche zu End'?«

»Rein – wir – das heißt Schorsch – er hatte doch noch kein Abendbrot – und da sind wir noch in ein Restaurant gegangen. Jawohl. In den Ratskeller.«

»In den Ratskeller! In Kneipe geht se!«

»Das ist ein ganz feines Restaurant. Schorsch sagt, im Bädeker mit einem Stern.«

»Mit emene Stern! No, 's wärd ja immer scheener!«

»Und da haben wir gegessen – und ein Fläschchen Wein getrunken.«

»Oin Fläschchen Woin getrunken! Fein, fein! So muß es komme! ... Ha, Sie Uhnglückskind, wisse Se denn, was für oiner Ihr Herr Galan isch? .... Ein Don Juan isch er!« Und nun hagelte es über die kleine Pensionsmama herein. Übrigens stand die Mannemerin mit ihrer Ansicht nicht allein. Papa Länglin sagte es ja auch, er hätte eine Schlange am Busen genährt, und sie wären alle empört, ohne Ausnahme empört, denn der Doktor Schorsch war der Schandfleck der Pension, hier hatte man über ihn zu Gericht gesessen, und das Volksurteil stand nun unverbrüchlich fest: – Herr Strauß mußte hinaus!

Das Tohuwabohu der Weiberverschwörung dauerte zum Glück so lange, daß Trudel inzwischen ihre Fassung wiederfinden konnte. Die Miß sprach, die Rumänin sprach, beide klagten jetzt fanatisch an, denn sie fanden Fräulein Länglins nächtliche Bummelfahrt höchst unweiblich und für die Charakterlosigkeit des Sternguckers erschwerend, dazwischen machte Papa Länglin laue Verteidigungsversuche, das Schlußwort aber führte die Mannemerin.

»Jetz sage Se noch ebbes zu Ihne Ihrer Entschuldigung, Frailein Länglin, wenn Se könne!«

Trudel lehnte am großen Kleiderschrank. Sie hatte die Arme erhoben und die Hände im Nacken gefaltet. Das schmerzliche Lächeln um ihren roten Mund war längst gewichen. Trotz der rauhen, stürmischen Reden gewann sie rasch ihre volle, klare Harmonie wieder. Ja, es erschien den Damen, als summte die Angeklagte leise vor sich hin. Ein Motiv aus Walthers Preislied. Und als nun die Ruhe nach dem Sturm kam, eine große, erwartungsvolle Stille nach dem hitzigen Durcheinander, da huschte ein schalkhaftes Lächeln um die Lippen der kleinen Pensionsmama.

»Ja, Papa,« sagte sie endlich, noch etwas stockend, ein ganz klein bißchen verlegen, »das sehe ich wohl ein: so wie bisher geht's nicht weiter. Ich glaube selbst: wir müssen ihm kündigen.«

»Trudel –!« rief der Hausherr bestürzt.

»Bravo! Des isch wenigschtens e Wort!«

»Aber wenn der Georg das Pensionat verläßt, dann – dann geh' ich mit ihm!« setzte Trudel hinzu.

»Unterstehe Sie sich!«

Alle waren starr.

Der Schalk, die Seligkeit, der Jubel, der Triumph verschafften sich nun nicht etwa einen jauchzenden, lösenden Ausweg. Nein, Trudel lächelte nur, beseligt und verklärt mit schwärmerischen Augen, während liebe, linde, süße Weisen aus dem Minnespiel des Bayreuther Meisters sie umgaukelten. Und in ihrer bescheidenen Art, die immer um Entschuldigung zu bitten schien für ihre Existenz, sagte sie verschämt und glückstrahlend: »Denn heut abend – aber nicht böse sein, Papa, bitte, bitte – da hab' ich mich nämlich mit dem Doktor Schorschl verlobt.«

Und weg war sie – draußen und in ihrem Zimmer, das sie fest verschloß, und in ihrem Bett. – Und an diesem Abend richteten sie nicht weiter. Sie waren alle zu fassungslos dazu.

... Das ist die ganze Liebesgeschichte der kleinen Pensionsmama aus der Lützowstraße beim Magdeburger Platz ...

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