Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

.

»Bummelei!« schalt der dicke Kreisarzt Dr. Findler, indem er sich in merklicher Verstimmung von seinem behaglichen Eckplatz an dem noch verwaisten Stammtisch »Zum goldenen Lamm« erhob, um nach einem hastigen Gang durch das schon von freundlichem Lampenschimmer erhellte vordere Gastzimmer breitspurig und mit auf dem Rücken zusammengelegten Händen vor dem bauchigen Kachelofen trotz der diesem entströmenden Glut wieder stehen zu bleiben. »Ich bin die Verträglichkeit selbst und lasse mir Verschiedenes gefallen, aber wenn man nun schon im dritten Jahr seinen Samstagskat mit dem Glockenschlag sechs beginnt und auf einmal bleibt nicht nur der dritte, sondern sogar auch noch der zweite Mann aus, obwohl es schon lange dreiviertel sieben Uhr vorüber ist, da hört einfach alles auf und die bummelige Gesellschaft soll sich was schämen – ja, lachen Sie nur, Frau Bindewald,« setzte er gereizt hinzu, als von dem in eine Nische eingebauten, samt dem Stammtisch davor eine Stufe höher liegenden Schankraum her ein kurzes, trockenes Lachen laut wurde, »das kostet Ihren Mann eine Mark in die Strafkasse, und der Amtsrat soll auch bluten müssen. So 'ne Bummelei kann ich schon gar nicht leiden!«

Er hatte sich inzwischen wieder auf seinem Platz dicht vor dem Büfett niedergelassen. Mit einem wütenden Zug trank er sein Stammglas leer und reichte es zur neuen Füllung über die Einschenke, wo die hagere, schon in vorgerückteren Jahren stehende Lammwirtin einsam saß, über einen mächtigen Strickstrumpf gebeugt. Das einförmige Klirren der Radeln war eben das einzige Geräusch im Zimmer, an dessen behaglich gedeckten Tischen sich bisher nur wenige der gewohnten Abendgäste eingefunden hatten; sie mochten zurückgehalten worden sein von dem rauhen Sturme, der draußen auf der Gasse fegte und an den geschlossenen Fensterläden rüttelte, mit derbem Baß durch den Schornstein wetterte und dann wieder von den Dächern her in schrillem Diskant pfiff.

»Ein Hundewetter!« grollte der Kreisarzt weiter, zur Abwechslung seine Brille putzend, um dann zum vielleicht hundertsten Male die nebst Schreibtafel schon auf dem Tisch bereit liegenden Skatkarten zu durchzählen, ob auch keine davon fehlte. Mißmutig warf er die Karten wieder hin. »Ist alles da, bis auf die bummelige Schwefelbande – na, prost auch!« unterbrach er sich, aus der Wirtin Hand das wieder gefüllte Glas empfangend und an dessen Inhalt mit langem, durstigem Zuge sich labend. »Wie ein vernünftiger Mensch bei solch einem miserablen Wetter auf den blödsinnigen Gedanken kommen kann, spazieren zu fahren, ist mir unerfindlich. Was zum Teufel hat Ihr Mann denn ausgerechnet heute in dem traurigen Höhenbronn zu suchen?«

Ueber das verblühte, wohl früher einmal hervorragend schön gewesene Gesicht der Wirtin ging nun ein flüchtiges Lächeln, verschwand aber die Sekunde darauf wieder, als ob es sich vor dem starren, strengen Ausdruck fürchte, welcher für gewöhnlich den Zügen der alternden Frau einen eisig abweisenden Ausdruck verlieh. »Der Herr Amtsrat ist ja auch noch nicht da!« sagte sie kurz.

»Der hat vielleicht noch ein pressantes Amtsgeschäft zu erledigen,« knurrte Dr. Findler, »wenn ich freilich auch nicht wüßte, was Dringlicheres es am heutigen Abend für ihn in diesem trostlosen Neste geben könnte als pünktlich zum Skat anzuschwirren.«

»Mein Mann hat auch Geschäfte, zum Vergnügen ist er nicht bei solchem Wetter nach Höhenbronn gefahren,« bemerkte die Wirtin.

Ein langer Zug leerte das Stammseidel; nun klappte der Kreisarzt geräuschvoll den Deckel zu. »Ihr Mann hat die heilige Verpflichtung, jeden Samstag abend pünktlich um sechs Uhr mit frisch gewichsten Pantinen zum Skat anzutreten,« trumpfte er auf. »Es ist ein Skandal! Was kann er In Höhenbronn wollen? Vielleicht ein Stück Vieh kaufen, so 'was läuft einem doch nicht davon, das hätte am Montag auch noch Zeit gehabt, darum läßt man eine durch jahrelange Tradition geheiligte Skatpartie um die Viertelpfennige doch nicht schnöde im Stich – so 'was ist noch schlimmer wie Fahnenflucht! … Skandal!« fügte er knurrend mit einem Blick auf die Wanduhr hinzu, »nun schlägt es gleich sieben – da hört sich aber doch alles auf!«

Die Lammwirtin strickte gleichmütig weiter; sie saß gebückt und nahm nicht einmal das zum Füllen auf das Schankblech gestellte Glas wahr. »Wo mein Mann so lange bleibt, begreife ich auch nicht,« versetzte sie nach einer Weile. Spätestens um fünf Uhr hat er zurück sein wollen, er ist ja gleich nach dem Mittagessen fortgefahren. Er hat's dem Bürgermeister versprochen – Sie werden ihn kennen, er hat den »Goldenen Ochsen« in Höhenbronn, nun ja, dem hat er gestern Vieh abgekauft und hat's versprochen, heute das Kaufgeld zu bringen – Sie kennen doch meinen Mann, was der einmal versprochen hat, das hält er auch, und wenn's darum gleich gestorben sein müßte … ich hab' ihm freilich gesagt, das Geld dem alten Mehlig mitzugeben, der muß seine Posttasche voll doch hinaufbringen, einerlei, was für Wetter ist, und zuverlässig ist er auch. Aber mein Mann war nicht davon abzubringen, selbst zu fahren.«

»Eine nette Sorte von Worthalterei – uns läßt er im Stich!« lachte Dr. Findler grimmig auf, indem er sich aus dem dicken fuchsigen Schnurrbart die Schaumflocken wischte. Geräuschvoll setzte er das Glas auf den Tisch. »Ich will ihn zwiebeln, Gnade ihm Gott, holt er sich von der Schlittenfahrt einen Schnupfen, dann lasse ich ihn Tee saufen und schwitzen, daß er wimmert!« Er begann wieder die Karten zu mischen, warf sie aber sofort wieder ärgerlich auf den Tisch. »Also richtig, ein Viehhandel! Ich will Ihnen was sagen, Frau Bindewald, das gefällt mir an Ihrem Mann gar nicht, daß er so aufs Verdienen aus ist, immer zusammenscharren, hinter jedem neuen Profit her, und dabei ist er schon längst der reichste Mann in diesem gottverlassenen Nest, das sich Kreisstadt schimpfen läßt … wenn noch wenigstens Kinder da wären, so hätte diese Geizhammelei doch noch einen Sinn, aber so –«

»Nein, Kinder sind keine da,« sagte die Frau hinter der Einschenke leise.

Es lag etwas in ihrem Stimmklang, das den Polterer am einsamen Stammtisch zum Umschauen zwang. Nun sprang er auch schon wieder auf und streckte der Lammwirtin über das Schankblech die Hand hin. »Nicht übel nehmen, Frau Bindewald, an diese Herzenssaite wollte ich wahrlich nicht rühren,« meinte er gutmütig, »es fuhr mir nur so unbedacht heraus, Sie wissen ja, wenn ich mich ärgere, kann ich sogar grob werden, so schwer mir's auch fällt.«

Aber die Wirtin ging nicht auf das gutgemeinte Scherzwort ein; es war, als habe sie es gar nicht gehört; ihr ohnehin immer in sich gekehrter Blick schien eben wie losgelöst von Raum und Zeit. Wohl eine Minute lang saß sie so, dann wurden ihre Züge wieder steinern. »Nein, es sind keine Kinder da – gottlob nicht, das Leben ist schon so schwer genug?« Wie es nun in plötzlicher Aufwallung ihre fest aufeinander gepreßten blutlosen Lippen wehe zu umzucken begann, legte sie rasch den Strickstrumpf nieder und schritt an dem sie bestürzt anblickenden Gaste vorüber, starr dabei vor sich hinschauend.

Kopfschüttelnd sah der Kreisarzt ihr nach, bis sie unsanft die Tür hinter sich ins Schloß geworfen hatte. »Wunderliche Leut'!« brummte er dann und griff gewohnheitsmäßig wieder nach dem Glase. »Das reine Kräutchen Rührmichnichtan, sobald man auf den fehlenden Kindersegen zu sprechen kommt – schließlich kann sie für solch' betrübenden Defekt doch nicht unsereinen verantwortlich machen – – holla, wen haben wir denn da!« unterbrach er sich. »Geruhen wir endlich zu kommen, Amtsrätchen, ja? Verwünschte Bummelei! Da warte ich seit mindestens hunderttausend Jahren und habe inzwischen mein bißchen Skatspiel glücklich wieder verschwitzt!«

Die Tür hatte sich geöffnet und eine unförmlich vermummte Gestalt eingelassen, kaum daß aus dem hochgeschlagenen Mantelkragen und dem tief über die Ohren gezogenen Schlapphut noch ein bebrilltes Augenpaar zu lugen vermochte. Lachend und pustend schüttelte der Ankömmling die dicke Schneekruste von Mantel und Hut und schälte die eigene hagere, eckige, schon ein wenig nach vorn übergebeugte Gestalt aus der winterlichen Hülle.

Die Minute darauf stand Amtsgerichtsrat Martini, ein gutmütiges Lächeln in dem verkniffenen, vielfach verrunzelten Gesicht, vor dem jovialen Polterer und streckte ihm die Hand hin. »Wieder beim Schimpfen, Alterchen?« meinte er schalkhaft. »Nur sich nicht stören lassen, das fördert mächtig einen bierehrlichen Durst … und das ist wohl auch die eigentliche Absicht, was?«

Er setzte sich lachend an seinen gewohnten Platz. »Ich habe mit dem besten Willen nicht früher kommen können,« berichtete er. »Da waren noch unverhofft ins Haus geschneite dringliche Amtsgeschäfte zu erledigen – und freute ich mich nicht rechtschaffen darauf, Ihnen wieder wie das letztemal mindestens vierzig Pfennig im edlen Skatspiel abzunehmen –«

»Abzuräubern,« widersprach Dr. Findler grollend, »wenn freilich ein großherzoglich badischer Amtsgerichtsrat, so da Jus in diesem von Gott auch nur im Zorn geschaffenen Schwarzwaldnest verzapft, sich nicht entblödet, durch schnöde Mogelei einem hungerleidenden Wurm von Pflasterkasten einen zu seines Lebens Notdurft unentbehrlichen Vermögensteil abzuwimmeln, so –«

»Sehr schön gesagt,« lachte Martini, »leider aber in der Adresse verfehlt, denn ein so gewiegter Skatspieler wie ich mogelt prinzipiell nicht –«

»– wenn er dabei erwischt zu werden fürchtet,« fiel der Kreisarzt ein. »Aber warten Sie nur, heute passe ich auf … ja so, dieser trostlose Lammwirt ist ja noch nicht da,« brach er seufzend ab, »und bei dem Hundewetter draußen ist kaum an Ersatz zu denken!« Er wies auf die fast noch leeren Tische im Zimmer.

»Wäre es nicht um unseren Skat, ich wäre auch nach Hause gegangen,« bestätigte Martini. »Was ist denn mit Bindewald los? … Guten Abend, Frau Wirtin,« wendete er sich an die eben wieder zur Tür Hereintretende, »wo steckt denn Ihr Alter? Es soll losgehen!«

»Höchster Omnibus!« knurrte der Kreisarzt. »Aber da liegt der Hase im Pfeffer; unser würdiger Herbergsvater hat unseren Skat einem schnöden Viehkauf geopfert, er steckt seit Mittag in Höhenbronn und kommt nicht wieder; was sagen Sie dazu?«

Der Gerichtsrat zuckte nur jovial mit den Achseln. »Wir müssen eben auf ihn warten … Na, Pröstchen, Doktor« – er nahm den gefüllten Stammkrug aus der Wirtin Hand entgegen; dann, als er getrunken, fragte er diese: »Ihr Alter muß nun bald zurückkommen, oder nicht?«

»Ich begreife sein langes Ausbleiben nicht, es fängt schon an, mich zu beunruhigen,« entgegnete die Gefragte, die inzwischen auch den Doktor wieder mit frischem Trunke versehen hatte und nun einem alten Aufwärter den Dienst hinter der Schenke überließ, während sie selbst bei den beiden Stammgästen stehen blieb. »Er sollte schon zwei Stunden zurück sein. Er hat den Schlitten genommen und unseren alten Braunen vorgespannt, der ist zuverlässig und wetterhart,« setzte sie auf eine Zwischenfrage Findlers hinzu, »der kennt den Weg allein, hat ihn ja schon hundert Male gemacht – und mein Mann erst, der kutschiert mit verbundenen Augen, ist weit und breit ringsum in den Schwarzwaldbergen keine Handbreit Land, wo er nicht genau Bescheid weiß.«

Martini nickte nachdenklich; wie unter einem unerfreulichen Gedanken war plötzlich eine Wolke auf seine Stirn getreten. »Es ist kein Anlaß zur Besorgnis da,« meinte er laut. »Nach Höhenbronn zu muß der Schnee fußhoch liegen, dazu der Sturm – und zwei gute Wegstunden sind es auch. Sie meinen, der Braune schafft es in einer Stunde, zumal mit dem Schlitten und bergab? Allerdings, mit dem Schlitten, da sollte Ihr Mann schon zurück sein.« Er räusperte sich und stand unschlüssig auf. »Schließlich kann man einmal nachfragen, dort hängt ja der Fernsprecher.«

Er schritt an den Apparat und setzte die Klingel in Bewegung. »Der Bürgermeister dort hat Anschluß, ich habe mich seines Telephons selbst schon bedient.« Er blätterte im Teilnehmerverzeichnis, um die gewünschte Nummer zu finden. Gleich darauf war die Verbindung auch schon hergestellt.

»Hier Amtsrat Martini in Neustadt, wer dort? … Sie selbst, lieber Bürgermeister? Schön. Schneit es auch dort? Gerade wie hier, aber der Sturm bringt Kälte mit, das Dickste dürfte bereits vom Himmel herunter sein. Rufen Sie mir doch einmal Freund Bindewald an den Apparat, der steckt gewiß noch bei Ihnen – nicht? Er fuhr schon am Nachmittag zurück, hielt sich knapp fünf Minuten bei Ihnen auf, meinen Sie? Was Sie nicht sagen – schon gleich nach vier Uhr war er dort, gerade um die anbrechende Dämmerung – nein, er ist bis jetzt noch nicht zurückgekommen.«

Bestürzt wendete sich Amtsrat Martini nach Frau Bindewald um. »Kommen Sie doch, bitte, einmal hierher, da nehmen! Sie das eine Hörrohr; soeben teilt mir Bürgermeister Lattmann mit, Ihr Mann, sei schon seit Stunden wieder fort.«

»Was soll denn das bedeuten?« rief die Wirtin in großer Beunruhigung durch den Apparat. »Sie meinen, er sei stecken geblieben – ganz unmöglich, das passiert meinem Mann nicht, zumal mit dem Braunen, der kommt; durch … und so arg ist es mildem Schnee gar nicht … Sie wollen einen Ihrer Knechte mit einem Gespann die Landstraße herunterfahren lassen, um stach ihm auszuschauen? Natürlich ist mir dies recht, ich werde einen von unserem Leuten ihm entgegenschicken.«

In wachsender Bestürzung ließ die Lammwirtin das Hörrohr sinken und eilte aus dem Zimmer, um anspannen zu lasten

»Schöne Geschichten!« polterte der Kreisarzt vom Stammtisch her, der wieder einmal die Karten gemischt hatte und sie nun unwirsch auf die Schiefertafel warf. »Auf diese Weise können wir sitzen, bis wir schwarz werden und haben schließlich doch keinen Skat gespielt!«

Der Amtsrat war vor dem Fernsprecher stehen geblieben. »Noch eins, lieber Bürgermeister,« versetzte er eben gedämpft, »es betrifft etwas Dienstliches. Lassen Sie das Anwesen des Krämers Jungnickel heute nacht durch den Ortsdiener unauffällig, aber scharf beobachten, es liegt mir daran, zu erfahren, wer ein- und ausgeht – nein, gegen den Mann liegt nichts vor, durchaus nichts. Ich kann Ihnen das von hier aus nicht weiter auseinandersetzen. Jedenfalls trifft einer meiner Herren morgen dort ein oder ich rufe Sie selbst an. Also reinen Mund und Vorsicht? Der Ortsdiener soll genau aufpassen – und nicht wahr, sobald Sie Nachricht über Bindewalds Verbleib haben, klingeln Sie ungesäumt an, ich bleibe vorläufig noch im Lamm.«

Als sich Martini nun bedächtig wieder an den Stammtisch begab, an welchem sich inzwischen zwei weitere Gäste eingefunden hatten, erschien seine Stirne noch umwölkter als zuvor. Schweigend ließ er sich nieder, tauschte nur ein kurzes Kopfnicken mit den eifrig mit Essen beschäftigten beiden Honoratioren aus, führte das Glas an den Mund und setzte es, ohne getrunken zu haben, wieder vor sich hin. Dann wendete er sich dem neben ihm sitzenden Kreisarzt voll zu. »Fatale Geschichte«, sagte er gedämpft, nur dem Ohre des andern erreichbar, »ich wollte, wir hätten unseren dritten Mann erst wohlbehalten wieder hier.«

Dr. Findler lachte spöttisch. »Ihr Juristen müßt doch immer gleich Unrat wittern – – oder sprechen

Sie im Ernst?« setzte er in verändertem Tone ebenfalls leise hinzu, als die Miene des Rates düster blieb. »Sorgen Sie sich wirklich um Bindewald?«

Martini schob die eckigen Schultern hoch. »Ja und nein. Der Lammwirt ist ein Mann von peinlicher Pünktlichkeit und sein überlanges Ausbleiben gibt mir zu denken. Ich kenne ihn nun doch schon an die zwanzig Jahre her und habe ihn wegen seiner fast pedantischen Pflichttreue aufrichtig schätzen gelernt. Gerade weil er ein einmal gegebenes Versprechen unter allen Umständen zu halten pflegt, mißfällt mir seine auffällige Verspätung. Bindewald läßt sich nicht aufhalten, das bißchen Unwetter macht ihm nicht viel aus, seinen alten Braunen kenne ich, der ist die Zuverlässigkeit selbst. Zudem ist Bindewald mit der Umgebung vertraut wie kein zweiter; in seiner Eigenschaft als Posthalter fuhr er früher häufig selbst die Extrapost, damals war Höhenbronn nicht so am Ende der Welt gelegen wie heute, sondern eine wichtige Zwischenstation nach der nur wenige Meilen entfernten Schweizer Grenze. Seitdem wir freilich die Eisenbahn haben, liegt das Dorf wie im Schlaf und auch die hiesige Posthalterei will nicht mehr viel bedeuten, man hat Bindewald aber immerhin in Anerkennung seiner Verdienste die Verwaltung des hiesigen Postamts belassen.«

»Ja, er ist ein großes Tier,« gab der Kreisarzt mit einem vieldeutigen Lächeln zu, »im Gemeinderat sitzt er auch und als Mitvorstand des städtischen Krankenhauses ist er sogar ein Stück Obrigkeit für mich.« Er zuckte mit den Achseln. »Ich kann mir nicht helfen. Mir hat der Mann nie gefallen, und wenn ich mich auch darein gefunden habe, jeden Samstag Skat mit ihm zu dreschen, warm bin ich in seiner Gesellschaft noch nie geworden.«

»Wird man auch nicht so leicht,« pflichtete Martini nachdenklich bei. »So recht sympathisch ist Bindewald wohl überhaupt keinem Menschen, dazu ist sein ganzes Wesen zu verschlossen, auch sein ungeschlachtes, wenig glückliches Aeußere mag da mitsprechen. Aber er hat sich als untadeliger Ehrenmann erprobt, als solchen achtet ihn die Stadt und er verdient auch die vielen Ehrenämter, zu deren Verwaltung man ihn berufen hat.«

»Na ja, ein leidlicher Skatspieler ist er auch, sogar mogelrein, was matt von gewissen anderen Leuten nicht gerade behaupten kann.« Findler lachte anzüglich und tauchte dann schnell seinen borstigen Schnurrbart in das schäumende Glas.

Rat Martini hatte sich indessen schon der Lammwirtin zugewendet, die eben wieder die Wirtsstube betreten hatte, da und dort an den nun allmählich gefüllten Tischen stehen blieb und ein freundliches Wort plauderte, bis sie endlich den Stammtisch erreichte und dessen inzwischen vollzählig erschienene Insassen begrüßte. Er nahm seine Gelegenheit wahr und sich mit dem einen Arm auf die Einschenke stützend, hinter der sich die Wirtin wieder zu schaffen machte, beugte er sich zu dieser hinüber: »Ein Wort im Vertrauen, Frau Bindewald, aber nicht erschrecken! Sanders ist aus der Irrenanstalt entwichen,« flüsterte er.

Die Wirkung seiner Worte äußerte sich bei der Matrone in einem nur gewaltsam beherrschten grundtiefen Erschrecken. Sie erbebte leise und ihr ohnehin bleiches Gesicht erschien eben schneeweiß. »Hilf Gott,« sagte sie, die Linke wider das Herz pressend, »der Unselige – – aber wie ist das nur möglich?«

»Man hat es wohl an der nötigen Aufsicht fehlen lassen. Sanders soll sich übrigens hierher gewendet haben – dies ist zugleich auch der Grund meiner heutigen Verspätung,« kehrte er sich dem aufmerksam zuhörenden Kreisarzt wieder zu. »Nun bereue ich fast, nicht durchgearbeitet zu haben, denn natürlich macht ein solch ärgerliches Vorkommnis einen ganzen Haufen Scherereien. Sämtliche Gemeindevorstände des Bezirkes sind zu benachrichtigen, um den Flüchtling im Betretungsfalle anzuhalten.«

»So viel Umstände eines Wahnsinnigen wegen?« Kopfschüttelnd hatte der Kreisarzt gelauscht.

»Es handelt sich um keinen gewöhnlichen Geisteskranken,« belehrte Martini, »sondern dieser Sanders ist ein wegen Raubmordes zum Tode verurteilter, durch landesfürstlichen Gnadenakt zu lebenslänglicher Zuchthausstrafe begnadigter Verbrecher, der bald nach seiner Einlieferung in die Landesstrafanstalt Bruchsal irrsinnig geworden und seither in der im unteren Schwarzwald gelegenen Irrenanstalt Illenau verpflegt wurde. Er hat sich dort durch lange Jahre tadellos geführt und die dortigen ärztlichen Autoritäten erachteten ihn als geistig gänzlich wieder hergestellt. Da es dem Gefühl des Anstaltsleiters widerstrebte, den Wiedergenesenen, den er viele Jahre lang als Schreibgehilfen beschäftigt hatte, dem Zuchthaus wieder zu überweisen, so versuchte er die völlige Begnadigung seines Schützlings durchzusetzen, hatte aber kein Glück damit. Die Sache machte auch mir eine Menge Schreibereien, kurzum, es wurde nichts daraus, das Ministerium lehnte jede Befürwortung einer Begnadigung rundweg ab, und damit war's natürlich aus. In der Nacht vor seinem Rücktransport nach dem Zuchthaus entwich der Mann und wendete sich zweifellos seiner hiesigen Heimat zu. Da man ihn volle zwei Tage in der näheren Umgebung der Irrenanstalt nicht hatte finden können, so wurde heute nachmittag von der Justizbehörde ein Generalalarm an alle Amtsgerichte erlassen, insbesondere wurde der hiesige Bezirk zu energischem Handeln aufgefordert. Ich habe bereits ein Rundschreiben erlassen, zum Teil die Ortsvorsteher auch telegraphisch unterrichtet. Ist der Bursche nicht über die nahe Schweizer Grenze oder erhält er nicht sicheren Unterschlupf geboten, dürften wir ihn bald am Schlawittich haben … doch nichts mehr davon,« unterbrach er sich mit einem besorgten Blick aus die Wirtin, die immer noch regungslos mit vor Entsetzen versteinerten Zügen stand.

Er erhob sich rasch und ergriff die Hand der Fassungslosen. »Nehmen Sie sich die Geschichte nicht so Herzen,« raunte er ihr verstohlen zu. »Was geht der unselige Mensch Sie nach all' den langen Jahren im Grunde genommen noch an; zudem werden wir ihn bald genug wieder in Nummer Sicher haben, und was ich tun kann, um unnötiges Aufsehen zu vermeiden, geschieht, darauf können Sie sich verlassen!«

Die Wirtin schüttelte nur abwehrend mit dem Kopfe. »Sie meinen es gewiß gut, Herr Rat, und ich bin Ihnen auch dankbar, daß Sie mir alles mitgeteilt haben, so was muß man doch wissen,« meinte sie unter einem angestrengten Versuch, gefaßt zu erscheinen. »Aber das sage ich Ihnen, ist meinem Manne unterwegs was zugestoßen, dann hat's jener Unhold auf dem Gewissen!« In plötzlich aufwallendem Schmerze ganz Ort und Umgebung vergessend, schlug sie beide Hände vor das erstarrte Angesicht und dumpf stöhnte sie auf: »Kann man denn nie zur Ruhe kommen … diese arge Schande vor den Leuten! Nun wärmt man gewiß die alte Geschichte wieder auf. Was habe ich denn nur getan, um so viel Unglück zu verdienen!«

Sowohl am Stammtisch wie in der Vorderstube war man auf das verstörte, absonderliche Gebaren der Lammwirtin schon aufmerksam geworden und verschiedene der Gäste näherten sich bereits unter mancherlei Vorwänden neugierig der Einschänke.

»Was ist nur eigentlich los? Man tappt ja in lauter Geheimnissen,« rief der Kreisarzt vom Stammtisch her, »ich verstehe von alledem kein Wort.« Er war inzwischen aufgestanden und hatte sich nach der Wirtin umgewendet: bei deren so verändertem Anblick stutzte er. »Nehmen Sie einmal rasch ein Brausepulver, Frau Bindewald,« meinte er, »die Aufregung ist für Sie nicht gut, Sie wissen ganz gut, daß Sie sich Ihres Herzens wegen in Acht nehmen müssen – nein, nein, keine Widerrede?« setzte er entschieden hinzu, »hier, nehmen Sie meinen Arm, ich führe Sie in die Hinterstube und bereite Ihnen ein niederschlagendes Pulver!«

Die ersichtlich völlig Erschöpfte ließ es widerspruchslos geschehen, daß Findler sie aus dem Zimmer führte. »Was los ist mit der Frau?« fragte er bei seinem Wiedereintritt in die Gaststube die ihn neugierig Umdrängenden. »Unser braver Lammwirt hat sich unsichtbar gemacht, ist rein wie vom Erdboden verduftet: so was regt ein liebendes Frauengemüt natürlich auf, oder nicht?«

»Machen Sie keine schlechten Witze, Herr Doktor,« protestierte der Stadtküster, der zugleich eine schwunghafte Weinhandlung betrieb, »so was sagt man nicht einmal im Scherz; Bindewald verwaltet unser ganzes Kirchenvermögen –«

»Und Kassierer vom Vorschutzverein ist er auch,« fiel ein zweiter meckernd ein. »Ich habe mich überhaupt immer gewundert, daß man so viel Geld in einer Hand beieinander läßt.«

»Reden Sie kein Blech, Meister Rebe,« mischte sich der Amtsrat gallig ein. »Wenn die Stadt Herrn Bindewald und nicht Ihnen ganz außerordentliches Vertrauen schenkt, so hat das wohl seine guten Gründe – und um Ihre paar Kreuzer Anteil an dem von unserem Lammwirt verwalteten Kassenvermögen brauchen Sie sich wahrlich keine schlaflosen Nächte zu machen.«

Man lachte, während der so derb Abgeführte sich schleunigst wieder zu seiner engeren Tischrunde gesellte und dort verstohlen weiter schimpfte.

Man sprach hin und her, die Neuankommenden ließen sich von den bereits Anwesenden in das zu immer regerer Diskussion anregende Gesprächsthema einweihen, man tauschte die verschiedenartigsten Vermutungen aus und war in der Meinung einmütig, das überlange Ausbleiben des Gastwirts so rätselhaft wie beunruhigend zu finden, und Franz, das langjährige, Faktotum des Hauses, der an Stelle der Wirtin den Dienst hinter der Einschänke übernommen hatte, kam über all' die an ihn gestellten Fragen kaum mehr zum Verzapfen des edlen Nasses. An die um den Stammtisch Versammelten wagte sich von den kannegießernden Spießern keiner so recht heran; man stand in einiger Entfernung und suchte von dem mit Eifer geführten Gespräch nach Möglichkeit zu profitieren.

Dann wurde mit einem Male draußen vor dem Hause auf der Gasse Tumult laut. Wirr durcheinander rufende Stimmen, Peitschenknallen, das Geklirr eiserner Rossehufe auf dem Steinpflaster der Hofdurchfahrt des Gasthofes.

Gleich darauf wurde die Tür zur vorderen Wirtsstube aufgerissen und in wirrem Durcheinander drängte ein ganzer Haufen Leute herein. Zwei Knechte führten einen augenscheinlich stark erschöpften Mann in der Montur eines Postboten und ließen ihn fürsorglich auf dem nächsten Stuhle nieder. Um die Stirn des Alten war ein buntes, blutgetränktes Taschentuch geschlungen, das darüber vorstehende Grauhaar war verklebt und auch das vielgefurchte, verwitterte Gesicht war stark beschmutzt und ebenso wies die Kleidung, zerrissen und übel zugerichtet, auf ein hartes, aufreibendes Erlebnis hin.

Der Amtsrat war unter die Gruppe getreten, die sich rasch um den völlig Erschöpften gebildet hatte. »Wen haben wir da?« fragte er, um sofort hinzuzufügen: »Natürlich, der alte Mehlig … hat wohl wieder mal etwas zu tief ins Glas geschaut oder ist gefallen, he?«

Dr. Findler war bereits um den Alten bemüht; er hatte den Notverband entfernt, fand die Stirn zerschrammt und machte sich ohne weiteres daran, aus seinem mitgeführten Taschenbesteck Heftpflaster und Wundwatte bereit zu legen. Schon brachte eine Magd Wasser und Schwamm; mittlerweile hielt der Arzt dem Alten ein Glas! kräftig duftenden Kognaks als ersten Notbehelf unter die Nase, um seine Lebensgeister zu sammeln.

Ein Stöhnen ging über die verkniffenen Lippen des Alten. »Herr Doktor, das halt ich nicht aus,« wimmerte er kläglich.

»Seid doch keine Memme, Mehlig, das bissel Schmerz, es sind ja nur Hautrisse,« mahnte der Kreisarzt.

»Das meine ich ja nicht, Herr Doktor,« stöhnte der Lechzende dumpf, »auf die Schmerzen pfeif' ich – aber der schöne Branntwein, der verriecht ja, es ist ja so schade um ihn – ach, nur die Lippen naß machen –«

»Alter Schluckspecht!« mußte der Kreisarzt lachen. »Wer abgestochen ist, soll nicht trinken, das muß schon der jüngste Brandfuchs wissen –«

»Nur ein Hauch, Herr Doktor … ich kann's nicht länger riechen,« ächzte der Alte, und wie der Arzt das Handgelenk ein wenig locker ließ, da packte der Gierige auch schon zu und mit einem einzigen durstigen Schluck hatte er das Wasserglas voll intus.

»Prosit!« sagte Findler unter dem Gelächter der Umstehenden. »Nun, jetzt geht's wohl besser, he?«

»Nur noch einmal riechen, Herr Doktor, es tut gar so gut –«

»Und hinterher aussaufen, was?« knurrte der Arzt. »Na, meinetwegen, der Kerl hat ohnehin eine ausgepichte Gurgel.« Er gab ihm zu trinken. Dann, als der Alte gierig das zweite Glas voll getrunken, wehrte er seinem weiteren Verlangen. »Nichts da, heraus mit der Sprache, was hat's mit Euch gegeben, he?«

Der Alte rappelte sich zusammen und hob zu jammern an. »Ach du mein liebes Herrgöttle,« stöhnte er, »Leutle, wie soll ich s euch nur kund tun … unterwegs nach Höllenbronn ist heut' aufs Dunkelwerden auf der Landstraß' ein gar gruselig's Unglücklich geschehen!«

Eben hörte man die Stimme der Lammwirtin im Torweg draußen. »Wer ist heimgekommen in meines Mannes Schlitten? Der alte Mehlig, sagt ihr? Und wo ist mein Mann? … Nur Mehlig ist gekommen, und drinnen in der Wirtsstube ist er?«

Da erschien sie auch schon im Rahmen der offenstehenden Tür und bebend vor Erregung näherte sie sich mit fliegendem Atem der alten Landbriefträger. »Was ist mit meinem Mann, Mehlig?« rief sie ungestüm schon von weitem. »Wie kommt Ihr zu seinem Schlitten?«

»Ich fürchte, es hat ein Unglück gegeben, Frau Bindewald,« sagte der Alte darauf mit kläglichem Ausdruck. »Vielleicht halb fünf Uhr ist's gewesen, ich war g'rad vor dem letzten steilen Berg unterwegs nach Höhenbronn, da kam der Schlitten auf mich zugesaust – leer, es war keiner drinnen –, und der alte Braune war rein wie toll – hörte auf kein Anrufen … und wie ich mich vor ihm in den Weg werfe, um ihn beim Zügel zu greifen und aufzuhalten, da kennt er mich nicht, der Schinder – reißt mich um und schleift mich eine ganze Strecke. Wie's weiter war, weiß ich selbst nicht, muß wohl von Sinnen gekommen sein, denn wie ich die Augen wieder aufgeschlagen habe, da war es Nacht um mich und die Glieder waren mir wie erfroren, kaum daß ich mich regen konnte – und wie ich auf allen Vieren krabble, da merke ich erst, daß ich auf der Landstraße liege, und dicht neben mir hält der Braune mit dem Schlitten als ob nichts geschehen wäre – nun ja, da habe ich mir den Kopf verbunden, so gut ich konnte, und dann bin ich in den Schlitten gekraxelt und hierher gefahren – oder vielmehr der Braune ist dem Stall zugelaufen, denn mir ist so dösig gewesen, daß ich beinah gedacht hab, ich hätt' einen Rausch – nichts für ungut, Frau Bindewald, aber die Post für Höhenbronn habe ich nicht bestellen können, die ist noch in meiner Tasche.«

Der Amtsrat war inzwischen einmal hinausgegangen, um den Schlitten zu besichtigen; nun kam er zurück. »Dem Schlitten ist nichts anzumerken, nur unten an den Kufen scheint etwas Blut hingespritzt zu sein, das rührt wohl von der Verwundung des alten Mehlig hier her.«

»Wahrscheinlich,« bemerkte der Kreisarzt. »Es sind zwar nur ganz leichte Hautabschürfungen und ich begreife nicht, daß sie so stark geblutet haben können, um stundenlange Bewußtlosigkeit hervorzurufen – käme freilich noch die Kälte in Betracht … unser guter Mehlig mag sich unterwegs auch ausgiebig geistig gestärkt haben. Was, Alter?« Ex schlug dem Zusammenzuckenden derb auf die Schulter.

Dieser protestierte, verstummte aber kläglich, als Findler ihm aus der Manteltasche eine große Branntweinflasche zog, in der sich nur noch ein Bodensatz Inhalt befand. »Herr Doktor, wenn man so durch Wind und Wetter marschieren muß, da tut ein keiner Zuspruch Wunder.«

Na, bei Euch hat er jedenfalls das Erfrieren verhindert, Mehlig,« wendete sich der Amtsrat, nachdem das Lachen der Umstehenden sich wieder gelegt, an den Postboten. »Sagen Sie einmal, wie trug sich eigentlich das Abenteuer zu? Kam der Schlitten ganz plötzlich herangesaust oder hörten Sie etwa zuerst etwas Auffälliges?«

»Einen Schuß hörte ich,« berichtete Mehlig nun, beide Hände am Kopfe und in einem schwerfälligen, schleppenden Tone sprechend, der ebenso von großer Erschöpfung wie vom starken Branntweingenuß verursacht worden sein konnte. »Der muß ganz oben bei Höhenbronn gefallen sein, ich hatte vielleicht noch eine halbe Wegstunde bis dahin. Es war ja auch mit dem Hören schlecht bestellt, denn ich hatte gegen den Wind zu kämpfen, der schmiß einem immer ganze Hände voll Schnee ins Gesicht, so daß man kaum mehr ordentlich schnaufen konnte – und blenden tat einen das Rackerzeug, es war schon nicht mehr schön, und – und – nun ja, da hört' ich plötzlich das Schellenläuten vom Schlitten, das war vielleicht eine Viertelstunde oder zehn Minuten später, so genau kann ich das nimmer angeben … und dann kam es auch schon durch das Dämmerlicht herangesaust – der alte Braune griff mächtig aus, und hinter ihm wackelte der Schlitten die Kreuz und Quer, es ist ein wahres Wunder, daß er nicht zu Kleinholz zerschlagen worden ist!«

»Und von Herrn Bindewald vermochten Sie keine Spur zu entdecken?« fragte Martini. »Lag der nicht vielleicht bewußtlos im Schlitten und ist unterwegs auf der Fahrt durch einen unglücklichen Zufall herausgeschleudert worden?«

Gekränkt fuhr der Alte auf. »Aber, Herr Amtsrat, das würde ich doch sagen; für wen halten Sie mich?«

»Na, alter Freund, wenn wir auch einen tüchtigen Stiebel vertragen und ein ganz ordentlicher Postbote sein mögen, so sind wir doch zu häufig im Traum, um als klassischer Zeuge gelten zu können,« wendete der Amtsrat skeptisch ein. »Also von Herrn Bindewald vermochten Sie nichts zu entdecken. Nun, da ist er wohl bereits früher aus dem Schlitten gefallen.«

Mehlig schüttelte eifrig mit dem Kopfe. »Das glaube ich nicht, Herr Amtsrat,« widersprach er. »Das ist sozusagen nicht möglich. Das Spritzleder war nämlich bis oben zugeknöpft. Da hätte er ja gar nicht 'rausfallen können, selbst wenn ihm was zugestoßen wäre. Mich hat's Mühe genug gekostet als ich mich wieder etwas aufgerappelt hatte, das Spritzleder aufzuknöpfen, um in den Schlitten klettern zu können.«

Die Wirtin hatte sich inzwischen von ihrem ersten Verzweiflungsausbruch notdürftig wieder erholt. Nun wendete sie sich an den Amtsrat. »Ich lasse ein anderes Pferd an den Schlitten spannen und will ohne Verzug selbst nach Höhenbronn hinauffahren. Vielleicht liegt mein Mann hilflos im Schnee Wenn's nur nicht schon zu spät ist,« setzte sie stockend hinzu, angstvoll den Amtsrat dabei anschauend. »Ich werde die Ahnung nicht los, als müsse der unselige Sanders hierbei die Hand im Spiele haben.«

»Geben Sie sich keinen vorzeitigen Befürchtungen hin, mit denen Sie sich vielleicht ganz unnötig quälen,« suchte Martini sie zu trösten; »aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich nur um einen Unfall. Mehlig will ja einen Schuß haben fallen hören. Da mag der Braune gescheut haben und durchgegangen sein, dabei ist Ihr Mann aus dem Schlitten geschleudert worden und hat das Bewußtsein verloren.«

»Das glaube ich nicht,« entgegnete die Wirtin kopfschüttelnd. »Sie hörten ja von Mehlig, daß das Spritzleder völlig zugeknöpft war – schauen Sie selbst, ob da ein Mensch herausfallen kann.«

Sie waren inzwischen in den Torweg hinausgetreten und standen nun vor dem Schlitten, der eben mit einem frischen Pferde bespannt wurde.

»Das erscheint mir allerdings unmöglich,« räumte der Rat nachdenklich ein. Er hatte sich in den Schlitten gesetzt und das Spritzleder über sich gezogen; es reichte ihm bis an die Brust und schloß dicht über dem Körper. »Als der Braune durchging, kann sich Ihr Mann gar nicht im Schlitten befunden haben,« meinte er nun. »Veranlaßt durch den Schuß ist er vielleicht ausgestiegen, um nachzusehen; der Braune ging plötzlich durch die Lappen und Ihrem Mann ist nichts anderes übrig geblieben, als zu Fuß nach Hause zu humpeln – er müßte dann freilich ebenfalls schon lange zu Hause sein,« schlußfolgerte er nachdenklich. »Er hätte wohl auch auf Mehlig stoßen müssen, der lag ja durch Stunden bewußtlos im Schnee.«

Von einem Gedanken erfaßt, ging er in die Gaststube zurück, trat an den Fernsprecher und ließ sich mit dem Höhenbronner Bürgermeister neuerlich verbinden. Dessen Knecht war noch unterwegs, die Minute zuvor war aber Frau Bindewalds Bote eingetroffen, der hatte unterwegs den ihm entgegengeschickten Knecht getroffen, aber nichts Auffälliges oder gar Verdächtiges auf seinem Wege wahrnehmen können.

Die Wirtin hatte sich unterdessen zur Fahrt fertig gemacht. Sie gab dem alten Franz gerade noch Verhaltungsmaßregeln, als der Amtsrat sich ihr wieder näherte.

»Verlassen Sie sich nur auf mich. Madam,« meinte das alte Faktotum treuherzig, »ich passe schon auf, daß nichts Unrechtes geschieht. Ich lege mich hinten vor Ihre Schlafstube, wo der Geldschrank steht, da sollte mal einer kommen, dem wollte ich schon heimleuchten – und Mehlig wohnt ja auch hinten im Hofgebäude. Auf den alten Süffel ist freilich kein Verlaß, aber ich passe schon auf, fahren Sie nur ruhig und bringen Sie den Herrn gesund mit.«

Der Zuspruch des Amtsrates, die Lammwirtin von den Strapazen der mitternächtlichen Fahrt zurückzuhalten, erwies sich als vergeblich. »Gut,« entschied er. »wenn ich auch nicht glaube, daß wir vor Tagesanbruch etwas ausrichten können, so sind wir es Freund Bindewald doch schuldig, das Menschenmöglichste zu seiner Auffindung zu tun. Fahren Sie voran, Frau Bindewald – Sie haben sich doch mit Fackeln oder Laternen versehen? Gut. Ich habe zu Hause ein paar hellbrennende Radfahrlaternen, die werde ich holen. Sie lassen inzwischen einen zweiten Schlitten anspannen, den werde ich benutzen und für alle Fälle schließt sich der Herr Kreisarzt mir an.«

Dieser schien über die Zumutung nicht übermäßig erfreut, willigte aber nach kurzem Zögern ein. »An den Skatabend will ich denken,« knurrte er verdrießlich. »Ich fahre mit aber ich bereichere meine Taschenapotheke durch Mitnahme einiger Flaschen dreigesternten Kognaks … draußen ist ja eine Hundekälte!«

Damit holte er auch schon ohne viel Federlesens aus dem Wandschrank in der Einschenke einige Flaschen mit vertrauenerweckendem Etikett und verleibte sie den weiten Taschen seines Wintermantels ein.

Eine Viertelstunde später waren die beiden Männer im Schlitten – unterwegs. Der Amtsrat kutschierte selbst, während sein getreuer Hühnerhund mit kläglich hängender Rute hinter dem Schlitten einhertrottete, augenscheinlich über die ungewohnte nächtliche Wanderung durch den fußtiefen Schnee noch weniger entzückt als der Begleiter seines Herrn.

»Sagen Sie einmal, Verehrter, was soll diese ganze Geschichte eigentlich bedeuten?« fragte der Kreisarzt unterwegs, kaum daß sie die Stadt im Rücken hatten und nun die steilanstrebende Bergstraße verfolgten, die zu dem Höhenorte in vielfachen Windungen führte. Grell strahlten die Azetylenlaternen zu beiden Seiten des Schlittens und verbreiteten über die ganze Straßenfläche vor ihnen fast Tageshelle.

Nachdenklich paffte der Amtsrat aus der mitgenommenen kurzen Jagdpfeife, bevor er das Schweigen brach. »Bei den streng abgezirkelten Lebensgewohnheiten unseres gemeinschaftlichen Bekannten erscheint mir jegliche Hoffnung auf eine natürliche, harmlose Erklärung des Vorfalles ausgeschlossen. Entschieden hat sich etwas ereignet, was den Mann an der Rückkehr verhindert hat, ob ein Unglücksfall oder eine Untat, das kann ich nicht sagen, aber die Befürchtungen seiner Frau wollen mir immer mehr einleuchten.«

»So bringen Sie das Entweichen jenes Sanders aus dem Irrenhause mit dem Vorfall von heute abend in Verbindung?«

»Allerdings, wenn Sie eine runde Antwort haben wollen. Diese instinktive Anklage der Frau gibt mir zu denken. Bindewald hat den Entsprungenen wirklich zu fürchten; ganz abgesehen von der Tatsache, daß Sanders der erste Gatte der heutigen Gastwirtin »Zum goldenen Lamm« ist, so –«

»Nanu, jetzt wird's schon interessanter,« unterbrach ihn Dr. Findler. »Da möchte ich doch um nähere Information bitten. Daß die Frau eine Vergangenheit haben muß, vermute ich seit langem; ihr starres, gedrücktes Verhalten fiel mir schon wiederholt auf, ich wollte darüber längst einmal mit Ihnen sprechen.« Er berichtete, wie auffällig sich die Lammwirtin einige Stunden zuvor bei seiner gutgemeinten Anspielung benommen. »Sie muß unter einem seelischen Drucke leiden, den das Ausbleiben etwa erhoffter ehelicher Nachkommenschaft allein nicht erklären kann.«

»Frau Bindewald hat eine Tochter,« schaltete der Amtsrat ein. »Aber gerade deren Existenz hat sie zu der schwermütigen Frau gemacht, als welche wir sie alle kennen – eine Tochter aus erster Ehe.«

»Also ein Kind dieses Sanders?«

»Ganz recht, eine von der eigenen Mutter verleugnete Tochter, die wiederum Haß auf die Urheberin ihrer Tage geworfen hat, ein ebenso abschreckendes wie unnatürliches Verhältnis.«

»Das erste Wort, das ich höre! Wer hätte in dem Leben dieser wortkargen, in sich gekehrten Frau ein derartiges Lebensdrama vermutet!«

»Sie sind noch zu kurze Zeit hier, um darüber etwas gehört haben zu können, denn die wenigen noch vorhandenen Ueberlebenden aus jener Zeit bewahren schon mit Rücksicht auf die unverdient leidende Frau diskretes Schweigen. Als ich dagegen nach Neustadt kam – und das sind nun reichlich zwanzig Jahre her und ich war damals ein frischgebackener junger Amtsrichter –, da waren die Vorgänge noch in frischer Erinnerung, lagen kaum um Jahresfrist zurück. Die alles ausgleichende Zeit hat, wie gesagt, auch hier ihre Schuldigkeit getan und die Geschichte ist in Vergessenheit geraten – damals hätten Sie übrigens Frau Bindewald kennen müssen, sie war von geradezu berückender Schönheit. Das nach innen gekehrte, verschlossene Wesen war ihr freilich schon damals eigen.«

»Habe ich Sie vorhin im »Goldenen Lamm« richtig verstanden, so war der erste Ehemann ein überführter Mörder?« fragte der Kreisarzt, als der andere schwieg, »Sie hatte sich von ihm scheiden lassen und später ihren jetzigen Gatten geheiratet.«

»Erraten,« erwiderte Martini. Er sprach nicht gleich weiter, sondern verfolgte nachdenklich unter kurzen Rauchstößen aus der im Mundwinkel hängenden Pfeife den Trott des keuchend ausgreifenden Pferdes, das die schneeverwehte, steile Bergeshöhe nur mühsam zu erklimmen vermochte. Die grellen Streiflichter der Laternen funkelten gespenstig in das Dickicht des zu beiden Wegseiten sich hinstreckenden Tannenwaldes. Es hatte aufgehört zu schneien und bleicher Mondschein lag auf den weißglitzernden Baumkronen.

»Ja, es ist eine eigene Geschichte,« nahm der Amtsrat dann den Faden seiner Erzählung wieder auf. »Ganz genau bin ich auch nicht unterrichtet; was ich Ihnen sagen kann, weiß ich eben auch nur vom Hörensagen. Jedenfalls sollen Sanders und Bindewald ursprünglich sehr gute Freunde gewesen sein, bis sie in Liebe zu demselben Weibe entbrannten und darum sich entzweiten. Bindewald hatte den Gasthof zum »Goldenen Lamm« kurz vorher von seinem Vater geerbt; der heutige lange Flügel in der Hauptstraße, wo sich die Fremdenzimmer und der Tanzsaal befinden, bildete früher ein gesondertes Nachbargrundstück und gehörte Frau Bindewalds Vater, dem Altbürgermeister Steuernagel, der darin durch lange Jahre eine Eisenwaren- und Waffenhandlung betrieben, dieses Geschäft aber nach der Verheiratung seiner einzigen Tochter seinem Eidam Sanders übertragen hatte. Das junge Paar bewohnte das Erdgeschoß, während der verwitwete Alte im Oberstock wohnte. In diesem waren zugleich verschiedene öffentliche Kassenräume untergebracht, deren Rendant und Kassier der Greis war. Eines Nachts nun wurde die junge Frau Sanders, die damals kaum von der Geburt ihrer kleinen Tochter sich zu erholen begann, durch schauerliches Hilfegeschrei aus dem Schlafe geweckt. Sie fand neben sich des Gatten Lager leer; mutig war sie von jeher, so kleidete sie sich hastig an und eilte hurtig nach der Wohnung ihres Vaters, von der das grausige Schreien und Stöhnen herkam … und die Minute darauf erblickte die Arme ihren Mann, wie er noch auf der Leiche ihres eigenen Vaters kniete, den er erschlagen und beraubt hatte. Ein Blick auf den erbrochenen Kassenschrank erklärte alles. Schon seit geraumer Zeit hatte sich Sanders, der sich eine lockere Lebensführung angewöhnt hatte und dem Spiel huldigte, in Zahlungsschwierigkeiten befunden, denen abzuhelfen der alte Steuernagel sich entschieden geweigert hatte. Da war in Sanders, der gelernter Schlosser war, der verbrecherische Plan gereift, die dem Schwiegervater anvertrauten Kassen nächtlicherweile zu berauben. Bei der gewaltsamen Oeffnung des Geldschrankes von dem im Hemd herbeieilenden alten Mann überrascht, hatte er diesen kurzerhand niedergeschlagen. Der fürchterliche Anblick warf die Aermste nieder; monatelang schwebte sie infolge eines Nervenfiebers in Lebensgefahr. Als sie wieder genas, war sie zu der Frau geworden, wie wir sie heute kennen. Die leidenschaftliche Liebe zu ihrem Manne war ebensolchem intensiven Haß gewichen. Sie trat als Hauptzeugin wider den des Raubmordes Angeklagten in der Schwurgerichtsverhandlung auf und ihrer Schilderung des Tatbestandes war der Schuldigspruch der Volksrichter wesentlich zuzuschreiben, obwohl Sanders wie ein Verzweifelter um Freiheit und Leben kämpfte und seine Unschuld bis zuletzt versicherte. Nach seiner Darstellung wollte er selbst durch ein Geräusch erwacht und bewogen worden sein, sich nach dem Oberstock zu begeben. Dort nun will er seinen Schwiegervater bereits im Blute liegend, den Kassenschrank erbrochen gefunden haben. Er behauptete, bei seinem eilfertigen Eintritt in das Zimmer eben noch den Schatten eines Mannes wahrgenommen zu haben, der sich in behender Flucht aus dem Fenster geschwungen habe. Dieses Fenster ging auf den Hof des Bindewaldschen Grundstückes, und Sanders behauptete nun in der Hauptverhandlung, daß der wirkliche Täter kein anderer als der junge Lammwirt sei, mit dem er sich so bitter verfeindet. Beweise für diese Behauptung, die er während der Untersuchung gar nicht vorgebracht hatte, angeblich weil er den ehemaligen Freund hatte schonen wollen und deren er sich nun als Trumpf vor dem Schwurgericht bediente, hatte er keine. Bindewald genoß einen vorzüglichen Leumund, der alte Mehlig, den Sie ja kennen, war damals schon als Postillion in seinen Diensten: er bewies das Alibi seines Herrn in unanfechtbarer Weise. Beide hatten in einem unter der Mehligschen Wohnung liegenden Stall die Nacht über ein krankes Pferd gewartet. Sie hatten dabei um die dritte Morgenstunde plötzlich Licht in dem einen Fenster des Oberstockes gesehen, das ja nach dem zum Lamm gehörigen Hofraum hinausging. Mehlig hatte nun ganz deutlich gesehen. wie Sanders am erleuchteten Fenster erschienen war und die dunklen Gardinen zugezogen hatte Wenige Minuten später waren die Hilfeschreie des alten Steuernagel laut geworden. Das Uebrige wissen Sie.«

»Dieser Sanders muß ein abscheulicher Halunke sein!« unterbrach Findler im Tone ehrlicher Entrüstung. »Pfui Teufel! Um den eigenen Kopf zu retten, den ehemaligen Freund ins Verderben retten zu wollen – der Kerl verdiente jeden Tag fünfundzwanzig extra.«

»Die allgemeine Erbitterung gegen ihn war hochgradig,« fuhr der Amtsrat fort, »und man sympathisierte mit der jungen Frau, die sich an wütendem, eiferndem Haß gegen den Mann, dessen Namen sie immer noch trug, nicht genug tun konnte. Man verstand es völlig, daß sie sofort nach geschehener Verurteilung ihre Ehescheidung durchsetzte und viele billigten auch die Eile, mit der sie den Lammwirt heiratete, vermutlich, um den von ihr Geschiedenen so empfindlich wie möglich dadurch zu treffen. Um so unverständlicher blieb vielen dagegen ihr Verhalten gegen ihre kleine Tochter aus erster Ehe. Sie sah In dem Mädchen, das sie bis zu der Untat ihres Mannes abgöttisch geliebt hatte, nur noch das Kind des verhaßten Mörders und all die in ihr gegen diesen wachgewordene intensive Abneigung übertrug sie auf die arme Kleine. Sie konnte das Mädchen nicht mehr vor Augen sehen, sondern gab es, was ihr von vielen sehr verübelt wurde, nach Höhenbronn zu der dortigen kinderlosen Lehrersfamilie in Pflege. Als nun die alten Leute vielleicht ein Jahr später mit dem Wunsche hervortraten, das Mädchen adoptieren zu dürfen, entäußerte sich die junge Lammwirtin mit einer wahren Freude ihrer Mutterrechte. Ich amtierte damals schon, und ich habe es an Vorstellungen wahrlich nicht fehlen lassen. Aber die Frau schaute mich nur mit ihren toten Augen starr an. »Es ist gut für das Kind und für mich, wenn wir jetzt für immer auseinanderkommen,« gab sie zur Antwort, »es sieht mich mit Mörderaugen an – es hat seine Augen, sein Haar, sein Gesicht … ich kann das Kind nicht sehen, weil es Blut und Fleisch von ihm ist … und sein Weib gewesen zu sein, ist eine Schande, die kein Wasser mehr von mir abwaschen kann … und so oft ich das Kind sehe, da schreit's in mir auf, wie ich entehrt bin … und ein Hatz regt sich in mir, ein Haß – – um des Himmelswillen, Herr Amtsrichter, machen Sie den Akt fertig! Zuweilen ist mir's, als müßte ich noch wahnsinnig werden!« Was sollte ich tun? Das Mädchen wurde in aller Form rechtmäßig von dem Lehrerpaar adoptiert. Wenn ich mir die Geschichte so recht überlege,« fuhr der Amtsrat nachdenklich fort, »so kommen mir bei dieser ganzen seltsamen Geschichte mancherlei Gedanken. Wir leben hier in einem protestantischen Lande und die Scheidung der Ehe scheint uns so selbstverständlich, namentlich wenn sich solche Dinge ereignen, wie sie im Hause der Wirtin vom »Goldenen Lamm« sich ereignet haben. Und doch: wenn ich sehe, wie sich die Frau in ihrem blinden Haß in eine zweite Ehe gestürzt hat, ohne ihr Glück zu finden und ohne daß man den Gedanken los werden kann, daß immer noch ein rätselhaftes Etwas sie quält, lege ich mir oft die Frage vor, ob eine Einrichtung die beste ist, welche erlaubt, die Ehe so rasch zu wechseln. Mir scheint, als wenn die Ehe, wie sie bei den Katholiken besteht, die Unauflöslichkeit des Ehebandes bei Lebzeiten des ersten Gatten, vor viel Unüberlegtheiten und Ungerechtigkeiten bewahren würde, die sich später bitter rächen. – Vielleicht kommen wir, mein Lieber,« meinte nach einer kurzen Pause der Amtsrat, »im Falle der Wirtin vom »Goldenen Lamm« noch einmal daraus zurück. Ich habe übrigens die seltsame Frau seither durch viele Jahre beobachtet, aber ihre komplizierte Natur ist mir ein völliges Rätsel geblieben: aus der einen Seite dieser leidenschaftliche Haß, der sich auch auf des eigenen Kindes Haupt erstreckt, zum andern ist Frau Bindewald die Wohltätigkeit selbst, sie hat eine offene Hand und den Armen in unserer Stadt ist sie eine allzeit hilfsbereite Freundin.«

»Mutter und Tochter haben sich nie wieder genähert? Auch die Tochter hat keinen Versuch gemacht?«

»Sie erfuhr wohl erst nach ihrem Schulaustritte Näheres. Ich glaube, sie hat damals die Mutter aufsuchen wollen, wurde aber gar nicht vorgelassen oder sehr kühl abgewiesen. Sie ist auch nach dem Tode ihrer Pflegeeltern in Höhenbronn geblieben und hat dort vor drei Jahren den Krämer Jungnickel geheiratet.«

»Aha, darum Ihre heutige Anweisung an den Bürgermeister, das Jungnickelsche Haus bewachen zu lassen.«

»Erraten! Ich rechne aus eine Einkehr des Flüchtlings. Nach Bekanntgabe der Irrenhausdirektion hat Sanders mit seiner Tochter schon seit Jahren in regelmäßigem Briefwechsel gestanden und ist von ihr auch wiederholt in Illenau besucht worden – doch da haben wir inzwischen wohl die Stelle erreicht, wo der alte Mehlig den Schlitten aushalten wollte,« unterbrach er sich.

Mit kurzem Zügelruck hielt er das schnaufende Pferd. Unmittelbar vor ihnen hielt der von der Lammwirtin benützte Schlitten. Diese selbst war abgestiegen und mit einer großen Laterne in der Hand leuchtete sie den nächtlichen Schauplatz ab.

Ueber die ganze Breite der Landstraße war der Schnee muldenförmig aufgewühlt. Obwohl anzunehmen war, daß man an dieser Stelle nichts über den Verbleib des Vermißten würde feststellen können, verteilte man sich auf Anweisung des Amtsrates doch zu beiden Seiten in den Wald. Die unablässigen Rufe erweckten aber nur ein schlafversunkenes Echo. Man mußte die Schlitten wieder besteigen und im Schritt ging es nun die letzte steile Bergeshöhe hinauf.

Immer von neuem hielt man wieder, verließ die Schlitten, ging in den Wald und erfüllte diesen mit lauten Rufen. Alles blieb umsonst. So hell die Laternen auch brannten, war es doch zu dunkel, als daß man irgend eine verlässige Spur hätte finden können.

Mitternacht war bereits nahe, als man unter vergeblichem Suchen und Ableuchten endlich die ersten Häuser des abgelegenen Höhendorfes erreicht hatte. Die Dorfstraße lag im Mondschein wie ausgestorben, die Häuser waren in Finsternis getaucht, kein Lebewesen zeigte sich ringsum. Als man indessen vor dem Löwenwirtshaus vorfuhr, erwies sich alsbald, daß in dessen unteren Räumlichkeiten noch gar reges Leben herrschte. Trotz der vorgerückten Nachtstunde füllte fast noch die gesamte männliche Dorfeinwohnerschaft das weite Schankzimmer.

Der scharfe Peitschenknall der nächtlichen Schlittenfahrer hatte den Bürgermeister selbst auf die Straße gelockt. Er empfing die Aussteigenden und geleitete sie durch die qualmerfüllte Stube nach einem behaglich durchheizten Nebenraum, wo sich keine Gäste mehr aufhielten.

»Recht so, Herr Amtsrat, daß Sie selbst noch herausgekommen sind,« meinte der behäbige Mann, kaum daß die Späterkommenden sich niedergelassen und von dem ihnen eilfertig servierten Punsch genippt hatten, »es wird für Sie zu tun geben, denn die Geschichte mit dem Bindewald ist nicht richtig.« Er streckte der Lammwirtin treuherzig die Hand hin. »Es ist ein Kreuz, Sie hätten bester daheim bleiben sollen. Jetzt tun Sie mir nur die Lieb' an und erschrecken Sie nicht zu sehr. Mein Knecht ist gerad' vorhin zurückgekommen und hat Ihres Mannes Brieftasche mitgebracht, er hat sie auf der Landstraße vor dem Ort, gerade da, wo der Wald aufhört und der Mond hineinscheinen kann, im Schnee gefunden.«

Damit war er auch schon auf einen in der Ecke stehenden Schreibsekretär zugeschritten und hatte diesem eine lederne Brieftasche entnommen, die deutliche Spuren starker Abnützung aufwies.

Sofort griff die Lammwirtin nach dem Fundstück. Sie stieß einen schwachen Schrei aus. »Es ist meines Mannes Brieftasche,« sagte sie entschieden.

»Freilich ist sie's,« bestätigte der Bürgermeister, »ich hab sie oft genug in Ihres Mannes Hand gesehen. Wie er heute nachmittag kam, um mir das Vieh zu bezahlen, war er ganz verlegen, weil er die Tasche zu Hause vergessen hätte – und nun hat sie mein Knecht dicht vor dem Ort gefunden. Wie sich das zusammenreimt, versteh' ein anderer!«

»Ich verstehe es auch nicht,« brummte Martini. Er hatte die Tasche inzwischen geöffnet, um nach ihrem Inhalt zu sehen. »Da ist ja nichts drinnen, die Tasche ist leer,« stellte er fest.

»Unmöglich,« rief die Lammwirtin. Erregt bemächtigte sie sich der Tasche, um sie auch ihrerseits zu durchsuchen. Bestürzt sah sie den Bürgermeister an. »Aber wie geht das zu?« rief sie aus, »mein Mann hat 2300 Mark mitgenommen, ich stand neben ihm beim Kassenschrank, als er das Geld zu sich steckte. Hier in die Tasche tat er mindestens achtzehn Hundertmarkscheine, den Rest steckte er in Gold zu sich.«

Der Knecht wurde herbeigerufen; er gab eine umständliche Beschreibung, wie er das blanke Metallschloß der Tasche im Mondschein aus dem Schnee heraus habe blinken sehen, aber hoch und heilig beteuerte er, sie seinem Herrn gerade so abgeliefert zu haben wie er sie gefunden hatte.

»Ihr Mann muß sie unterwegs verloren haben,« meinte der Rat.

»Aber wo ist dann das Geld geblieben?« fragte die Lammwirtin erregt. Er soll doch auch dem Bürgermeister gesagt haben, er habe sein Geld zu Hause vergessen – und das ist nicht wahr. Mein Mann aber lügt nie.«

»Ich auch nicht,« brummte der Bürgermeister gereizt. »Ich kann nur sagen, was ich weiß – zudem waren genug Zeugen in der Gaststube. Ihr Mann war überhaupt eigentümlich, kam hereingefegt und war drei Minuten später schon wieder auf und davon. Kein Wort hat er davon verlauten lassen, daß er die Brieftasche etwa unterwegs verloren haben könnte, er sagte nur ganz verlegen, er habe vergessen, Geld beizustecken, so was sei ihm doch in seinem ganzen Leben nicht passiert – – und er lachte noch darüber, nicht einmal die paar Groschen zum Bezahlen seiner Zechschuld im Sack bei sich zu tragen.«

»Aber ich bitte Sie!« Die Lammwirtin tat ganz aufgebracht. »Es wird immer kurioser. Mein Mann hat doch im Hosensack an die fünfhundert Mark in Goldstücken bei sich getragen, ich hab' ihm doch heut' nachmittag selbst zugeschaut, wie er das Geld eingesteckt hat … das kann er doch nicht verloren haben … und die Geldscheine sind alle gezeichnet, da hat keiner einen Profit davon, wenn er sich auch daran bereichern möchte,« fuhr sie mit erhobener Stimme fort. Sie wendete sich direkt an den Amtsrat. »Ja, mein Mann pflegt jede Banknote zu zeichnen, um sie sofort wieder zu erkennen, er macht immer zwei winzige Tintenkreuze in den großen Schnörkel vom E –.«

»Nun, das können wir sofort feststellen, Ihr Mann wechselte mir gestern noch einen Tausender, ich trage die Banknoten alle bei mir.« Er zog die eigene Brieftasche und entnahm dieser eine Anzahl Hunderter. »Nun lassen Sie sehen, wo denn – hier im Anfangsbuchstaben von »Einhundert Reichsmark« – da im großen Schnörkel – ja, ich glaube wirklich etwas zu sehen. Doktor, Sie haben gewiß in Ihrem Besteck eine Lupe, bitte, her damit.« Er prüfte und verglich einen Schein um den andern. Kopfnickend wendete er sich an die Wirtin. »Sie haben recht, in jedem Schnörkel finden sich zwei Tintenkreuze, aber so winzig klein, daß man sie nur mit Mühe ohne Lupe zu finden vermag. Es ist dies eine unter Umständen rechts dankenswerte Vorsicht Ihres Mannes … aber sind Sie Ihrer Sache auch völlig sicher, Frau Bindewald?« setzte er kopfschüttelnd hinzu. »Ihr Mann hat dem Unwetter zum Trotz die beschwerliche Schlittenfahrt doch nur gemacht, um sein gegebenes Wort einzulösen und die Kaufsumme zu zahlen, und nun soll er womöglich das Geld in der Tasche behalten und sich der Vergeßlichkeit fälschlich beschuldigt haben? Das glaube ein anderer, aber ich nicht.«

»Herr Amtsrat, was da vorgegangen ist, weiß ich nicht, aber auf meines Mannes Wort kann man bauen,« entgegnete Frau Bindewald. »Verloren haben kann er das Geld unmöglich, denn er hat es in die Innentasche seines Rockes gesteckt und den schweren Wintermantel fest darüber geknöpft. Ich blieb bei ihm am Schlitten stehen bis er abfuhr.«

»Das ist aber merkwürdig,« wunderte sich Martini. »Und Sie sind Ihrer Sache ebenso sicher, Bürgermeister? wendete er sich diesem zu.

»Wenn Sie mir nicht glauben, so sitzt jetzt noch die ganze Gaststube voll Zeugen, die jedes Wort mir angehört haben – ein Donnerwetter auch, man ist doch kein Lügenbeutel!«

Der Amtsrat blieb bei seinem Kopfschütteln. »Wenn ihm vielleicht auch unterwegs der Handel leid geworden ist und er suchte sich durch eine Notlüge zu salvieren, so unwahrscheinlich mir dies auch bei der peinlichen Zuverlässigkeit unseres Mannes vorkommen will, so hatte er doch die Hosentaschen voll Geld. Der Mann nimmt in seiner eigenen Wirtschaft auch von den vertrautesten Gästen nicht einmal eine Zigarre an und nun sollte er die paar Zehrgroschen schuldig bleiben? Das will mir nicht einleuchten.«

»Aber, Herr Rat, Sie kennen doch meinen Mann zur Genüge!« rief die Lammwirtin vorwurfsvoll. »Da kann was nicht stimmen. Kein Wort soll er über den Verlust der Brieftasche verloren haben und dabei kehrt er das ganze Haus wegen eines vermißten Groschen um … und die Zeche soll er nicht bezahlt haben? Sagen Sie selbst, Bürgermeister, Sie kennen ihn doch auch, ob er nicht einen Mordslärm geschlagen haben würde, warum sollte er sich auch scheuen, so viel Geld verliert keiner gern, zumal mein Mann, der so genau ist – und Ihr hättet ihm gewiß gern mit Euren Leuten beim Suchen geholfen.«

»Aber selbstverständlich,« beeilte sich der Bürgermeister zu versichern. »Ich sagte vorhin schon, Ihr Mann fiel mir auf, er war ganz anders wie sonst, ich weiß nicht, wie – so wie dösig, gerade wie vor den Kopf geschlagen … und nicht rasch genug könnt' ich einschenken, das ging nur so … in zwei Minuten hatte er drei Wassergläser voll starken Kirschgeist 'runtergeputzt.«

»Mein Mann?« Die Wirtin war aufgesprungen und starrte ihn verdutzt an. »Daß ich nicht lach',« entfuhr es ihr, »nun frage ich die Herren sämtlich, so viel trinkt mein Mann nicht in einem Monat, der ist doch die Mäßigkeit selbst.«

»Darum berichte ich's. ja, weil es mir selbst so komisch vorgekommen ist,« verteidigte sich der Bürgermeister. Er hätte noch mehr hinzugefügt, wenn Martini, der sich inzwischen erhoben, nicht neben ihn getreten wäre, ihn vertraulich beim Arm gefaßt und abseits gezogen hatte.

»Ein Wort im Vertrauen, da stimmt etwas nicht, Bürgermeister,« flüsterte er. »Was halten Sie von der Sache? Sie haben Bindewald doch sozusagen zuletzt gesehen.«

Der Gefragte wippte nur mit den Schultern. »Da bin ich zu dumm dazu, Herr Amtsrat,« entfuhr es ihm dann. »Heute abend, so um acht herum, hat man gleich beim Dorf auch einen Schuß fallen hören, aber da war der Lammwirt ja schon stundenlang fort und Sie hatten bereits bei mir durch den Fernsprecher angefragt.«

»Einen Schuß will auch Mehlig gehört haben, aber das soll um volle vier Stunden früher gewesen sein.«

»Schon möglich, das will nicht viel heißen, hier herum knallt es öfter. Nur nicht gerade hart beim Dorf und auf der offenen Landstraße.«

»Ja, gerade dort soll man nach Mehligs Angaben während der Dämmerung geschossen haben und etwa zehn Minuten später ist der Braune mit Bindewalds Schlitten die Straße wie toll heruntergesaust gekommen. Ob dieser Schuß etwa dem Vermißten gegolten hatte?« Das letzte sagte er mit Rücksicht auf die Nähe der Lammwirtin ganz leise; aber er hätte kaum die Rücksicht walten zu lassen brauchen, denn bei der Frau machten eben die völlig erschöpften Nerven ihr Recht geltend. Sie saß in eine Sofaecke gekauert, hatte das Taschentuch vor die Augen gepreßt und schluchzte vor sich hin.

»Hm, hm!« Der Bürgermeister kratzte sich unschlüssig hinter dem Ohr. »Sie meinen, es möchte einer aus dem Dorf dem Lammwirt aufgelauert haben?«

»Erraten. Haben Sie zweifelhafte Gesellen, denen man eine derartige Tat zutrauen könnte?«

Wieder wippte der andere mit den Schultern. »Lumpengesindel haben wir so eigentlich keines im Ort, ich wüßt' keinen.«

»Aber Sie wissen doch wenigstens, wer gestern hier beim Kaufabschluß zugegen gewesen ist und also auch Bindewalds Versprechen, Ihnen heute die Kaufsumme selbst überbringen zu wollen, mit angehört hat?«

»Die Männer sitzen alle dort,« meinte der Gefragte gleichmütig. Er hatte etwa spaltbreit die Tür geöffnet und wies nun verstohlen nach den trotz der frühen Morgenstunde noch immer überfüllten Tischen. »Doch halt, einer von den gestrigen fehlt heute – Krämer Jungnickel, ist mir's recht, so war der heute überhaupt nicht in meiner Wirtschaft … nein, nein, das hat nichts auf sich,« unterbrach er sich lachend, als der Amtsrat interessiert aufblickte. »Ich spreche vom Jungnickel; Sie haben es ja selbst angeordnet, daß der Ortsbüttel sein Haus bewachen soll, damit 's nicht etwa weggetragen wird.« Er lachte wieder. »Nichts für ungut, Herr Amtsrat, aber da sind Sie auf einer grundfalschen Fährte. Jungnickel ist ein kreuzbraver Mensch« – er wies verstohlen mit dem Daumen rückwärts nach der schluchzenden Lammwirtin auf dem Sofa –, »er hat doch deren Tochter zur Frau. Na ja. Sie wissen wohl um die alte Geschichte.«

»Gerade diese alte Geschichte hat mich veranlaßt, die Ueberwachung des Grundstückes anzuordnen,« meinte Martini nickend. »Sanders ist seit zwei Tagen aus dem Irrenhause entsprungen und vermutlich auf dem Wege hierher.«

Betroffen trat der Bürgermeister einen Schritt zurück und ließ ein leises Pfeifen hören. »Ja, nun kapier ich! Der wird natürlich zu seiner Tochter wollen, denn die zwei schreiben einander immer, ich muß es wissen, ich hab' ja die Postagentur … nun weiß ich aber auch, was mit dem Bindewald los ist … wenn der dem Sanders in die Hände geraten ist, dann gute Nacht … der hat ihm den Tod zugeschworen. Ich war selbigesmal Geschworener und ich sehe ihn noch auf der Anklagebank herumtanzen und ein über das anderemal seine Unschuld herausschreien und den Bindewald bis in den Abgrund hinein verfluchen. War natürlich alles nur Komödiespiel, der Schuft war so schuldig wie der Satan … aber kriegt er den Bindewald unbeschrien zu fassen, so ist's für den gefehlt.«

Martini nickte zerstreut; ihn beschäftigte noch der vorige Gedankengang. »Um bei diesem Jungnickel zu bleiben – irre ich mich nicht, so hab ich schon amtlich mit ihm zu tun gehabt – ein großer, kräftiger Mann, vielleicht ein beginnender Dreißiger, steht mit seinem Vollbart wie ein Förster aus, trägt wenigstens immer eine grüne Joppe?«

»Stimmt. Sie mögen ihn schon leicht kennen, es geht bergab mit ihm, er ist in letzter Zeit häufig verklagt worden und in den nächsten Tagen soll er wohl gar ausgepfändet werden.«

»So, so!« Der Amtsrat blieb nachdenklich. »Aber das ist's nicht allein. Mir ist's, als sei der Mann schon einmal in Untersuchung gestanden.«

Der Bürgermeister lachte. »Das stimmt auch. Er soll dem Förster zuweilen ins Gehege kommen. Sie wissen ja, Herr Amtsrat, einen »Krummen« schießt fast jeder hier im Dorfe, wenn's unbeschrien geschehen kann, und der Jungnickel nun gar, der hat doch früher, wo's ihm noch besser ging, Jagdanteil gehabt. Da kann er's heut noch nicht lassen, das Wilddieben nämlich. Das heißt, so vermutet man, nachweisen hat ihm noch keiner was können, die Untersuchung selbigsmal hat ja auch eingestellt werden müssen.«

»Nun gut, wir werden ja sehen. Am besten werden Sie bei Tagesanbruch zunächst Umfrage halten, wer von den Einwohnern am verflossenen Nachmittag nicht zu Hause oder über Land gewesen ist. Das muß natürlich unauffällig geschehen und zwar so früh wie möglich.« Er gähnte. »Haben Sie ein Zimmer für mich? Die Rückfahrt lohnt ohnehin nicht mehr und ist auch nicht verlockend … und wie steht es mit Ihnen, Frau Bindewald?« wendete er sich an die inzwischen wieder gefaßter Gewordene, die vom Sofa aufgestanden war. »Ich denke, auf Ihren alten Franz können Sie sich verlassen, der paßt daheim schon gut auf. Zu einer Rückfahrt jetzt in der Nacht würde ich Ihnen nicht raten.«

»Nein, ich bleibe hier,« entgegnete die Gefragte hastig. »Ich kann's ohnehin kaum erwarten, bis es Tag wird, um mich mit dem Frühesten nach meinem Mann umzutun. Man muß doch Spuren im Schnee finden oder irgend sonst was.«

»Darauf rechne ich auch,« meinte Martini. »Aber wo steckt denn eigentlich unser Doktor?« unterbrach er sich. »Den habe ich ja schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr gesehen.«

»Der Herr Kreisarzt sitzt draußen und spielt mit dem Lehrer und dem Förster Skat,« berichtete schmunzelnd der Bürgermeister, der eben wieder durch die Tür geschaut hatte.

»So 'ne unverbesserliche Spielratte!« lachte der Amtsrat belustigt.

Wie er nun in das große Wirtszimmer eintrat, fand er dieses leer geworden, nur noch an einem Tische saßen drei eifrige Spieler. Der Kreisarzt nahm die Störung brummig genug auf.

»Was soll's denn schon wieder? Ach so, Sie sind's, Rätchen? Bitte, stören Sie mich nicht, denn ich habe ein Kreuzsolo, das wohl 'rumgehen wird.«

»Wir wollen's nicht hoffen, aber Gott geb's,« meinten die beiden Mitspieler wie aus einem Munde.

»Doktor, es ist bald zwei Uhr und um sechs müssen wir wieder aus den Federn,« meinte Martini, nachdem sich die Heiterkeit wieder gelegt hatte.

»Ei was, das verlohnt kein Ausziehen mehr,« widersprach der Arzt. »Da spielen wir einfach durch, was, ihr Herren? Auf diese Weise komme ich wenigstens noch zu meinem Samstagskat. Treten Sie als Strohmann mit ein, Rätchen?«

»Soll mich der Himmel behüten!« wehrte dieser und zog sich eilig zurück.

Ueber Nacht hatte grimmige Kälte eingesetzt. Als es um die siebente Morgenstunde endlich zu tagen begann, da spannte sich über die Landschaft ein wolkenloser Himmel, während die Schneedecke wie sprödes Glas unter jeden Schritte erklirrte.

Rat Martini hatte sich nur wenig Schlaf vergönnt. In aller Frühe hatte er sich bereits wieder erhoben und eine Depesche an das Amtsgericht abgesandt, um einen Hilfsbeamten sowie eine Anzahl Gendarmen herbeizubeordern.

Wie er gerade beim Morgenkaffee saß, kam der Bürgermeister, der ihn selbst bedient hatte, mit wichtiger Miene an seinen Tisch. »Eben ist der Ortsdiener gekommen,« berichtete er. »Er hat die ganze Nacht das Jungnickelsche Gehöft bewacht. Um drei Uhr ist der Krämer selbst heimgekommen, er muß schon seit gestern abend draußen gewesen sein, denn der Büttel hat ihn nicht fortgehen sehen.«

»Sonst hat der Mann keine Wahrnehmung gemacht … etwa Sanders gesehen … ich meine einen ihm Unbekannten?«

Ortsdiener Neppig, der von seinem Vorgesetzten inzwischen herbeigewinkt worden war, verneinte. »Ich hab wie ein Schießhund aufgepaßt, Herr Amtsrat,« versicherte er, »die Füß' sind mir in meiner Ecke beinahe abgefroren, so kalt ist's gewesen, aber sonst hab' ich nichts sehen können. Nur den Jungnickel hab' ich um drei Uhr heimkommen sehen, er wird wohl im Wald gewesen sein, es sah gerad' so aus, als trüge er einen Abgeschraubten unter dem Wams.«

»Er meint, der Krämer sei wohl wieder wildern gewesen,« klärte der Bürgermeister den ihn verständnislos anschauenden Amtsrat auf. »Unter einem Abgeschraubten versteht man hier ein zusammenlegbares Gewehr.«

Martini mußte lächeln. »Solche Abgeschraubte findet man hier wohl in manchem Haus?«

»In jedem, Herr Amtsrat, da mögen Sie Gift darauf nehmen.« Nun lachte der Bürgermeister aus vollem Halse, wie über einen guten Witz. »Man muß die Dinger freilich nicht an den Wänden suchen. Aber irgendwo versteckt findet sich ein solcher Schießprügel wohl in jedem Haus.«

»Nun, dann besuchen Sie in Begleitung Ihres Ortsdieners zunächst einmal die Behausungen aller Einwohner, welche im Geruche der Wilddieberei stehen, es soll mich wundern, finden wir bei dieser Gelegenheit nicht das Gewehr, aus welchem gestern abend auf der Landstraße geschossen worden ist.«

Der Bürgermeister kraute sich unter pfiffigem Lächeln hinter den Ohren. »Ujeh, da werden wir manche Knarre finden, die frisch nach Pulver stinkt,« meinte er. »Nächtlicherweile pflegt's hier in Höhenbronn häufig zu knallen, zumal wenn der Förster in die Herrgottsfrüh hinein bei den Karten sitzt.«

»Die Leute werden sich ausweisen müssen. Kommen uns bei dieser Gelegenheit auch ein paar Wilderer ins Garn, um so besser!«

Das Dorf bestand nur aus einer einzigen Straße, die zu beiden Seiten unregelmäßig mit Gehöften besetzt war. Auf Martinis Anordnung begann der Bürgermeister an einem Ende mit der Haussuchung, während der mittlerweile in Begleitung einiger Gendarmen aus Neustadt angelangte Assessor am entgegengesetzten Ende begann, um in gleicher Weise vorzugehen.

Mit dem Rest der Gendarmen fuhr der Amtsrat nach der Landstraße, um diese abzusuchen. Die Lammwirtin war auch bereits wach und kam mit ihrem eigenen Schlitten mit; auf dem Bock hockte auch des Löwenwirtes Knecht, der am Vorabend die Brieftasche des Vermißten gefunden hatte, um die Fundstelle genau zu bezeichnen.

Unweit vor dem Dorfe formten steile Hänge die Landstraße zu einem Hohlweg. In mehr als doppelter Manneshöhe ragten zu beiden Seiten mit verkrüppeltem Nadelholz bestandene Steinwände, die in senkrechtem Sturze zur Straßensohle herabfielen. Die Straße selbst war eng, in ihrer Mitte war vom Fuhrwerk in den fußhoch liegenden Schnee eine breite Doppelrinne gefahren, die sich unabsehbar weiterzog.

Ohne Schwierigkeit fand der Knecht die Fundstelle wieder; sie war gerade inmitten der Schlucht gelegen. An der einen Seite der Fahrrinne fanden sich zahlreiche Trittspuren, die von nachfallendem und inzwischen wieder festgefrorenem Schnee angefüllt worden waren. Die Fahrrinne selbst war hier zerwühlt. Zahlreiche Einschnitte zeigten sich, wie von Schlittenkufen herrührend; es sah so aus, als sei hier ein Schlitten vom vorgespannten Pferde gewaltsam hin und her geschleudert worden. Dicht daneben, inmitten der hin- und herführenden Spuren im Schnee, wies dieser dunkle Flächen auf, die durch einen dünnen Eisbezug schimmerten.

Martini stutzte und winkte den in seiner Begleitung befindlichen Kreisarzt heran. Er hatte sich zu einer der trüben Lachen niedergebeugt und die Schneekruste davon wegzukratzen versucht.

»Blut!« sagte Dr. Findler kurz, der seinem fragenden Blick begegnet war. »Hier hat übrigens auch ein schwerer Körper gelegen.« Er wies auf eine in den Schnee gedrückte Mulde, die ganz deutlich die Umrisse eines wie im Todeskampfe sich wälzenden Menschenkörpers aufwies.

Die Männer schauten sich ernst an, um die Sekunde darauf mit verdoppeltem Eifer ihre Nachforschungen fortzusetzen. Mit den Händen suchten sie die rötlich gefärbte Schneeschicht fortzukratzen. Dabei stieß Martini plötzlich auf einen sich hart anfühlenden Gegenstand. Es war der Knauf eines Revolvers, wie sich alsbald erwies. Nur mit Anstrengung vermochte Martini die Waffe vollends aus der gefrorenen Schneeschicht zu graben.

In schweigender Erregung hatte die Lammwirtin sein Tun verfolgt; nun kam ein heiserer Laut über ihre Lippen und sie nahm dem Amtsrat die Waffe aus der Hand. »Das ist meines Mannes Revolver!«

»Vorsichtig, das Ding scheint geladen zu sein!« bedeutete Martini. Er hatte sich erhoben und sich rasch der Waffe wieder versichert. »Ganz recht,« fuhr er fort, »es stecken noch fünf Patronen in der Trommel, ein Schuß ist daraus abgefeuert worden, wie mir scheinen will, erst ganz kürzlich.« Fragend blickte er die Frau an. »Sie irren sich nicht, es ist Ihres Mannes Revolver?«

»Ich werde doch seine Waffe kennen,« entgegnete die Gefragte zuversichtlich. »Er trug sie immer, wenn er über Land mußte. Sehen Sie nur nach, am Knauf muß eine Silberplatte sein, und darin ist sein voller Name eingraviert.«

Ein Blick überzeugte den Amtsrat von der Richtigkeit ihrer Behauptung. »Das schließt allerdings jeden Zweifel aus. Ein unerwartet wichtiger Fund,« äußerte er. »Aber welche Veranlassung mag Ihr Mann zum Schießen gehabt haben?«

Die Lammwirtin war vor Erregung dem Zusammenbruch nahe. »Er wird sich zur Wehr gesetzt haben,« war alles, was sie hervorbringen konnte. »O mein Himmel, gewiß hat man ihm aufgelauert … hier lag er im Schnee« – sie brach jäh ab.

»Es sieht ganz darnach aus,« pflichtete Martini düster bei. »Aber wenn hier ein Körper lag, wo ist er geblieben?«

»Herr Amtsrat, hier am Rande der Straße, dicht vor der Felswand, finden Sie einzelne Spuren im Schnee,« meldete eben einer der Gendarmen.

Durch den nachgefallenen Schnee wiederum fast verdeckt zeigten sich zweifellos von Menschenfüßen herrührende, besonders tiefe Eindrücke in der weißen Decke.

In angestrengter Tätigkeit suchten die Beamten Stapfen um Stapfen von der angefrorenen Schneehülle zu befreien, um irgend ein charakteristisches Sondermal des ursprünglichen Fußabdruckes freizulegen. Doch all ihr Bemühen erwies sich als umsonst, der Schneefall war zu gewaltig gewesen, wohl hatte der unter der Wucht menschlicher Schritte zusammengepreßte Schnee Wasser gezogen, aber gerade dieses hatte sich mit den nachfolgenden Flocken zu einer festen Masse verschmolzen, welche die später einsetzende Kälte unlösbar gemacht hatte.

»Dieser verwünschte Schnee!« rief Martini; dicke Schweißtropfen perlten dabei infolge der ungewohnten Anstrengung trotz der grimmigen Kälte von seiner Stirne. »Da hätte man vielleicht mit einem Schlage den Schlüssel zu der Lösung des Geheimnisses, die auf den Täter weisende Spur – und nun ist es damit Essig!«

Wieder folgten lange Minuten angestrengten Spürens. Immer klarer wurde es dem Beamten, daß quer über die Landstraße nach der einen Felswand zu ein schwerer Körper geschleift worden war; nun nahm man auch zwischen den Lücken der regellos aufeinandergetürmten Felsquadern Spuren wahr, welche von den Eindrücken eines derben Stiefels, der nur mit der Vordersohle einen festen Stützpunkt gefunden, herrührte. Zweifellos hatte jemand an dieser Stelle an der steilen Felsböschung emporzuklettern unternommen.

Einer der Gendarmen machte das Kletterkunststück erfolgreich nach. Als er oben angelangt war und sich verschnaufen wollte, rief er schon: »Herr Amtsrat, hier oben ist auch eine ganze Masse Spuren. Der Schnee liegt nicht so dick, man kann sie ganz deutlich unterscheiden!«

Einladend wies Dr. Findler auf die von Glatteis überzogenen Felsstücke, von denen lange Eiszapfen niederhingen. »Na zu, Rätchen, zeigen Sie mal Ihre Turnkunst, denn 'rauf müssen Sie, dort ruft der Beruf.«

»Den Deubel werde ich!« brauste Martini auf. »Machen Sie mir die Chose erst 'mal mit Ihrem Bierbauch vor, Sie – Massenmörder!«

Der Kreisarzt lachte. »Ich bin nicht neugierig, mich lassen Ihre Spuren völlig kalt … aber ich denke, wenn wir die Straße bis zu dem Punkte zurückschreiten, wo die Böschung wieder eben wird, können wir uns abwechselnd frei nach Fra Diavolo »auf steiler Höh' als Mann von edler Bildung« auch ohne Halsbrecherei stehen sehen.«

Es kostete geraume Zeit, bis sie auf dem Umwege den Felshang erklettert hatten und sich dem sie erwartenden Gendarmen wieder näherten. »Vorsicht!« befahl dann plötzlich der voranschreitende Amtsrat. Er deutete auf den felsigen Boden, der zur Sommerszeit von weicher Moosnarbe überzogen war, die unter des Rauhfrosts hartem Banne sich nun zu einer spiegelglatten Eisfläche gewandelt hatte. Nur an Stellen, wo zwischen gesprungenem Gestein der Erdboden hervorlugte oder eine Wurzel sich spannte, hatten sich kappenartige Schneewulste angesetzt; in diesen nahm der Rat Trittspuren wahr, welche mit der Fußspitze übereinstimmend nach dem Dorfe zu wiesen. »Vorsicht!« mahnte er nochmals. »Von diesen Stapfen heißt es Maße abnehmen!«

Keuchend kam der Kreisarzt hinter ihm her. »Das ist auch was Rechtes!« spottete er. »Ein derb genagelter Männerschuh mit Hufeisen an den Absätzen, den trägt vermutlich jeder Bauer … und darum muß ich wie 'ne Prima Ballerina hier auf diesem Eisgletscher einen pas de deux unter steter Lebensgefahr mit Ihnen ausführen, Sie oller Fährtensucher. Brechen Sie wenigstens gefällig ein Bein, damit ich auf meine Kurkosten komme!«

Aber Martini war eben nicht zum Scherzen aufgelegt. Unablässig betrachtete er, auf dem Bauche ausgestreckt liegend, zwei dicht neben einander befindliche Abdrücke. »Hier haben wir beide Füße!« rief er dann eifrig. »Sehen Sie, an der linken Stiefelsohle fehlt gerade vorn in der Mitte einer der vierkantigen Nägel.«

Er erhob sich und ging einige Schritte weiter. Wieder hielt er inne. »Da ist derselbe Abdruck wieder. Es handelt sich um ganz frische Spuren und da immer nur die beiden nämlichen Abdrücke wiederkehren, so läßt sich ohne weiteres daraus folgern, daß nur ein einzelner Mann diesen geradezu lebensgefährlich glatten Pfad in der Richtung nach dem Dorfe verfolgt hat.«

Bis zu dem Orte, wo der Gendarm den Aufstieg gewagt, ließ sich die nämliche Doppelspur genau verfolgen; dann erschien der Schnee ringsum verwischt und, wie unten in der Schlucht, gewann es auch hier den Anschein, als ob ein schwerer Körper sich auf dem Boden gewälzt habe. Einzelne Blutstropfen hoben sich von der Schneekruste unheimlich ab.

»Es sieht ganz so aus, als ob hier jemand Nasenbluten gehabt hat,« meinte der Doktor wieder.

Martini fuhr herum. »Aber Doktor, ich muß doch bitten … wo wir vielleicht dicht vor der Lösung eines düsteren Rätsels stehen –«

»– finden Sie meine Heiterkeit verwerflich,« fiel Findler ein. »Rätchen, zum Gefühlsmenschen bin ich nun einmal verdorben, und was die paar Blutspritzer da und dort im Schnee vorzustellen wünschen, ist mir vorläufig noch nicht recht klar.«

Achselzuckend wendete sich der Amtsrat von ihm dem Gendarmen zu, der ein großes Seilende vom Boden aufgerafft hatte. »Was haben Sie denn da?«

»Das fand ich hier am Boden,« berichtete der Mann. »Es ist ein ganz neues Seil, wie man es wohl bei einer Schlittenfahrt mit sich führt, um beim Zerreißen der Pferdestränge oder dem Zerbrechen von Deichsel oder Kufe den Schaden gleich an Ort und Stelle ausbessern zu können.«

»Das lag hier auf dem Boden?« Martini nahm das Seil zur Hand. »Da klebt ja Blut daran,« rief er gleich darauf.

Interessiert betrachtete auch der Kreisarzt das etwa zehn Meter lange Seil, das an einem Ende zu einer umfangreichen Schlinge zusammengeknotet war, die wiederum ein scharfer Messerschnitt getrennt hatte. »Hm!« meinte er in ernsterem Tone, »das Ding wollen wir gut aufheben, da kleben auch einige graumelierte Haare.« Er entnahm seinem Besteck eine kleine Schere und schnitt das von ihm bezeichnete Stückchen Seil sorgfältig heraus. »So, das wollen wir für alle Fälle einmal mikroskopisch untersuchen. Wo sich Haare befinden, pflegt auch der nicht weit zu sein, der sie lassen mußte.« Sorglich wickelte er den Seilabschnitt ein und steckte ihn zu sich. »Scheinen Barthaare zu sein!« bemerkte er noch.

»Aus des Lammwirts Vollbart vermutlich, der ist ja stark graumeliert,« warf der Amtsrat ein.

»Schließlich können es auch stark entwickelte Kopfhaare sein. Das ergibt erst die Untersuchung. Aber nun will mir's beinahe auch einleuchten, daß etwas im Staate faul ist.«

»Ich fürchte, der arme Bindewald weilt nicht mehr unter den Lebenden.« Martini atmete gepreßt auf. »Aber wenn er das Opfer eines Verbrechens wurde, wohin ist sein Körper geschafft worden? Allem Anscheine nach ist das Verbrechen unten auf der Straße verübt worden. Im Schlitten kann sich der Lammwirt nicht befunden haben, folglich muß er Veranlassung zum Aussteigen gehabt, mit anderen Worten, er muß seinen Mörder persönlich gekannt haben, denn auf den Anruf einer fremden Person würde Bindewald wohl kaum angehalten und den Schlitten verlassen haben. Ein Kampf fand schwerlich statt, der Täter schoß sein Opfer nieder –«

»Sie vergessen des Vermißten Revolver, aus welchem auch geschossen worden ist.«

»Wahrscheinlicher noch ist Bindewald durch einen Schädelhieb tot zu Boden gestreckt worden. In diesem Falle hatte der Mörder gemächlich Zeit, sein Opfer auszurauben. Das Auffinden der geleerten Brieftasche scheint mir hiefür zu sprechen. Den Revolverschuß kann auch der Verbrecher abgegeben haben, denn die Waffe kann bei der Durchsuchung der Taschen in seine Hände geraten sein und er bediente sich dieses Mittels, um das mit dem Schlitten harrende Pferd zu verscheuchen.«

»Na, das will mir doch recht gesucht vorkommen –«

»Warum?« widersprach Martini. »Der Täter hat vielleicht zuerst den Eindruck eines Unglücksfalles, etwa herbeigeführt durch Sturz aus dem Schlitten, bei welchem Bindewald seinen Tod gefunden, hervorrufen wollen. Dazu gehört natürlich auch ein Durchgehen des Schlittenpferdes.«

»Dann hätten wir aber den Körper unten in der Schlucht finden müssen.«

»Sehr richtig, und darum wird der Täter wahrscheinlich seine Absicht geändert und den Körper beseitigt haben. Vermutlich hat er ihn mit großer Kraftanstrengung von der Straße hier heraufgezogen und sich dazu des Seiles dort bedient.«

»Das leuchtet mir schon eher ein,« meinte Doktor Findler, setzte jedoch in zweifelndem Tone gleich darauf hinzu: »Aber wozu eine solche Kraftvergeudung? Ob unten oder hier oben, gefunden muß der Körper auf alle Fälle werden.«

Martini schüttelte den Kopf. »Der die Tat begangen hat, kennt die hiesige Gegend ungleich besser als Sie, lieber Doktor, und gerade der Umstand, daß der Mörder sein Opfer mühsam hier herauf gezogen, deutet immer bestimmter auf einen Höhenbronner als den Täter. Dicht hinter uns erstreckt sich nämlich das sogenannte Steinerne Meer« – er deutete auf das in ihrem Rücken sich wüst türmende Felsgeröll – »es ist dies eine Felswüstenei von offenbar vulkanischem Ursprung, das sich über eine Meile hinzieht mit Wassergüssen, Abgründen, verschütteten Hängen und einem unheimlichen Sumpf, kaum zehn Wegminuten von dieser Stelle hier. Die Volkssage nennt ihn unergründlich, jedenfalls verlor unser Stadtpfarrer vor vielleicht zehn Jahren den einzigen Sohn in eben diesem Steinernen Meer. Der Kleine muß beim Beerensuchen in die Nähe des Sumpfes geraten und abgestürzt sein, er kam niemals wieder zum Tageslicht!«

»Sie kennen den Weg zu diesem Sumpf?« Und als der Amtsrat nickend bejahte, äußerte der in Eifer geratene Doktor Findler den Wunsch, sich sofort dorthin zu begeben. »Ist Ihre Annahme richtig, so müssen wir auf dem Wege dorthin doch ebensogut Fußspuren entdecken.«

»Das nicht,« widersprach Martini. »Ueberzeugen Sie sich selbst.« Sie kletterten auf einen der Felsblöcke; dann stutzte der Amtsrat. »Da ist allerdings die Spur wieder, und zwar mit der Fußspitze in der Richtung des Sumpfes … und da wieder – auch hier.« Eifrig war er vorangeschritten, gefolgt von Findler. »Nun aber hat es ein Ende, sehen Sie selbst, in solchem Felsschutt haftet weder Schnee noch Spur.«

In zahllosen Krümmungen und Furchen dehnte sich der Boden bergan, bedeckt mit klein zerhackten Felsbrocken, die wie von einer Riesenfaust gestreut lagen, sich dicht nebeneinander zu lauter steilen Hügelspitzen gruppierten, an denen kein Schnee hasten geblieben war und von deren eisüberzogener Oberfläche die Füße der mühselig genug Voranwandernden ein über das anderemal abglitten.

»Ich passe,« schrie schon nach wenigen Minuten der dicke Kreisarzt und stand schweißgebadet, um zu verschnaufen. »Eine solche Tierquälerei hat doch keinen Zweck, eine Spur entdecken wir auf diese Weise doch nicht.«

Sie kehrten um, nachdem Martini sich davon überzeugt hatte, daß ein weiteres Vordringen in diesem Augenblick doch nur unnütze Kraftvergeudung und Zeitverschwendung bedeuten würde.

»Wissen Sie auch, Rätchen, daß der Lammwirt reichlich zweihundert Pfund wiegt und ein wahrer Athlet ist?« fragte der Kreisarzt, als sie sich dem Standort des Gendarmen wieder näherten. »Den Mann, der mit einer solchen Last auf dem Rücken einen derartig halsbrecherischen Weg zurückzulegen vermag, möchte ich kennen lernen, er könnte sich für Geld sehen lasten und würde gute Geschäfte machen.« Der Amtsrat kam nicht zu einer Antwort, denn der Gendarm näherte sich ihm mit der Meldung, daß dieselben Fußspuren, wie bereits gesichtet, sich auch bis zum anderen Ende der Böschung zögen oder vielmehr von dort zu kommen schienen, da die Fußspitzen übereinstimmend nach der Dorfrichtung wiesen.

»Das stimmt schlecht mit Ihrer Theorie,« neckte Findler, als sie bis zum Ende der Böschung zurückgeschritten waren und es sich herausstellte, daß die Spur die Fahrstraße durchquerte, um dann an deren anderer Seite sich wieder fortzusetzen. »Den Fußweg kenne ich übrigens, er nimmt gleich oberhalb Neustadt seinen Anfang und führt in schnurgerader Linie voran, die Straße dabei mindestens ein dutzendmal kreuzend. Ich wußte nur nicht, daß er noch über die Felsböschung weiterführt; die hielt ich bisher für ungangbar.«

»Der Pfad führt ganz ums Dorf herum, er wird im Sommer von den Höhenbronnern viel benützt,« berichtete der Gendarm.

Martini verhielt sich schweigsam; aufmerksam studierte er die Spuren im Schnee und folgte ihnen. Immer mehr erhellte sich sein Gesicht. »Ich habe doch recht, Doktor,« wendete er sich endlich an diesen. »Hier auf dieser Wegseite haben wir es sogar mit Zwei verschiedenen Doppelspuren zu tun, die aber anscheinend von demselben Manne herrühren, wenigstens stimmen sie auffallend in den Maßen überein, außerdem ist bei der anderen Spur der mittlere Vordernagel am linken Stiefel vorhanden, auch kann diese Spur erst nach eingetretener Kälte bewirkt worden sein, denn sie hat sich nur ganz oberflächlich in den Schnee eingedrückt. Die andere Spur aber, mit der wir uns die ganze Zeit über beschäftigten und die während des Schneefalles in den gestrigen Nachmittagsstunden sich abdrückte, zeigt nur eine kurze Weile in den Wald und kehrt dann wieder nach der Fahrstraße zurück.«

»Und was schließen Sie daraus?«

»Der Täter hat sein Opfer zunächst am Seil die Böschung hinaufziehen wollen. Als dies seine Kräfte überstieg, lud er den Körper auf die Schulter und schleppte ihn über die Böschung zum Steinernen Meer. Festgestellt ist jedenfalls, daß die uns beschäftigende Spur nicht etwa von einem Fußgänger herrührt, der vielleicht schon von Neustadt aus den Weg benutzt hat, wie dies bei der frischeren Spur entschieden der Fall ist.«

Sie begaben sich durch den Hohlweg, tapfer durch den kaum ihren Tritten weichenden Schnee stapfend, nach dem Schlittenhalteplatz zurück, wo sie die ihrer harrende Lammwirtin auch schon in großer Erregung empfing.

»Mein Mann ist tot, ich weiß es,« ächzte sie. »Sehen Sie selbst, was ich vorhin dort in jener Schneemulde gefunden habe.« Sie deutete auf eine Schneewehe, die sich hart an der linken Felswand, wie vom Sturm zusammengefegt, angestaut hatte und von suchenden Händen durchwühlt war. Zugleich zog sie unter dem Mantel eine Pelzmütze aus Otterfell hervor. »Das ist meines Mannes Pelzkappe, ich habe sie ihm erst letzte Weihnachten geschenkt und er hat sie gestern angehabt, als er mit dem Schlitten fortfuhr.«

»Lassen Sie sehen!« Prüfend betrachtete Martini das Fundstück. Im Futter stand der Name des städtischen Kürschnermeisters vermerkt, von dem die Mütze gekauft worden war. Wie er die Mütze prüfend umwendete, nahm er ein in den Pelz gebranntes Loch wahr. »Das rührt von einem Schuß her, der aus unmittelbarer Nähe abgegeben worden sein muß,« rief er überrascht, »das Pelzwerk ist ganz verbrannt und auch der Futterstoff versengt. Die Kugel ist hier am oberen Rande eingedrungen, sie muß dem Träger den Schädel zerschmettert haben.«

Suchend wendete er die Mütze wieder und drehte dabei das Futter nach außen. »Sonderbar, keinem Spur von Blut,« bemerkte er dann.

Der Kreisarzt betrachtete die Mütze gleichfalls. »Kurios,« meinte auch er. »Hätte der Mann die Mütze aufgehabt, so müßte sie Blutspuren aufweisen – oder er hat sie so lose sitzen gehabt, daß sie durch den Schuß vom Kopf gefegt wurde.«

Ein Zuruf des Gendarmen unterbrach ihn; dieser fingerte eben aus der Schneemulde ein Taschenmesser hervor, dessen große Klinge offen stand.

Rasch griff der Amtsrat darnach. »Ein neues wichtiges Beweisstück,« meinte er. »Gehört das Messer Ihrem Mann?«

Die Lammwirtin verneinte. Nachdenklich betrachtete sie das Messer; es war billige Dutzendware mit einem imitierten Horngriff, wie man es in jedem Laden zu kaufen bekommt. »Solche Messer habe ich schon oft gesehen, aber meinem Manne gehört es nicht. Dessen Messer hat echte Perlmutterschalen, er hat's gestern übrigens beim Umkleiden auf dem Nachttisch im Schlafzimmer liegen lassen, dort habe ich es gefunden.«

»Gewiß gehört es dem Täter,« wendete Martini sich an den Kreisarzt. »Er mag es zum Durchschneiden des Seiles gebraucht haben, als er dieses um den Körper seines Opfers schlang.«

Der Knecht vom Löwenwirt stand dicht dabei; er Hatte sich schon wiederholt durch Räuspern vernehmlich zu machen gesucht, nun zupfte er den Amtsrat sachte beim Mantel. »Nun, was soll's?« fuhr dieser herum.

»Das Seil dort habe ich dem Lammwirt gestern am Abend gegeben,« wußte er zu berichten.

»Wie, das Seil hier?« fragte der Amtsrat interessiert. »Wie kam das?«

»Ich war gerade noch dabei, den Braunen vom Schlitten abzuschirren« Hub der Knecht an, »der Lammwirt konnte kaum warm in der Gaststub' drinnen geworden sein, da kam er auch schon wieder heraus und meinte, ich sollte den Gaul nur im Geschirr lasten, er habe es eilig und führe sofort wieder zurück. Die Minute darauf saß er richtig wieder im Schlitten und ich hatte ihm das Spritzleder hochgeknöpft, da fragte er mich plötzlich, ob ich nicht ein Stück Seil zur Hand hätte, er könnte es vielleicht unterwegs gebrauchen, der Braune habe seinen muckigen Tag und die Kufen schienen auch wackelig. Weil wir nun erst tags zuvor neue Stricke gekriegt hatten, ging ich in die Geschirrkammer und holte »einen heraus – eben den dort. Wie ich es wissen kann, daß es gerade das nämliche Seil ist? Weil da noch rotes Garn herumgewunden ist. Vom Seiler hab ich die sechs Seilstränge selbst geholt, die waren mit rotem Garn zusammengebunden – und weil es der Lammwirt eilig hatte, so schnitt ich ein Seil hurtig los und machte nicht erst das rote Garn ab.«

»Und Ihr gabt dieses Seil dem Lammwirt in den Schlitten?«

»Ganz gewiß; ich schob's ihm unter den Fußsack, damit's ja nicht herausfallen konnte.«

»Dann müßte Bindewald also den Strick selbst aus dem Schlitten geholt haben,« schlußfolgerte Martini. »Das ist kurios.«

»Wie überhaupt der ganze Handel,« fiel Dr. Findler trocken ein. Er nahm den Rat zur Seite. »Mir kommt die ganze Geschichte wie bestellte Arbeit vor, als ob der Ueberfall überhaupt nur fingiert worden sei.«

Betroffen schaute ihn Martini an. »Nur Bindewald selbst könnte alsdann in Frage kommen – und das ist bei einem Manne von solch hohem Ansehen und solcher Lauterkeit des Charakters völlig ausgeschlossen.«

»Ich bitte Sie, lassen Sie 'mal die Reputation ganz beiseite und halten Sie sich an die nackten Tatsachen, so weit wir sie bis jetzt ermittelt haben,« fuhr der Kreisarzt ungeduldig fort. »Wir stoßen fortwährend auf widerspruchsvolle Unmöglichkeiten. Da ist einmal die leere Brieftasche. Auf dem Wege nach Höhenbronn kann Bindewald nicht überfallen worden sein, denn da hatte er Lärm geschlagen, zudem zeigte er sich im »Goldenen Löwen« auch in greifbarer Körperlichkeit. Folglich hatte er das Geld in der Tasche bei sich und schwindelte, als er das Gegenteil behauptete.«

»Aber aus welchem Grunde?«

»Was weiß ich? Ich stelle nur Tatsachen fest. Nun soll er auf der Rückfahrt hier an diesem Ort beraubt und ermordet worden sein – oder vielmehr sucht er diesen Eindruck zu erwecken … ja, ja, lieber Rat, es ist so, der Logik der Tatsachen haben wir uns zu fügen,« setzte er eifriger hinzu, als der andere den Kopf schüttelte. »Alle zur Ausführung dieses famosen Mordes notwendigen Requisiten hat der so hochachtbare Lammwirt selbst geliefert, er hat sogar den Strick gepumpt, mit dem nachher sein Körper in die Höhe gezogen werden sollte. Ich will ganz von der Unmöglichkeit absehen, daß ein so schwerer Mann wie unser Freund von einem anderen, noch dazu bei einem derartigen Unwetter, über steiniges, abschüssiges und spiegelglattes Felsgeröll über eine Viertelstunde weit geschleppt werden kann, ohne Spuren zu hinterlassen – wirkliche Spuren meine ich,« betonte er einem erneuten Einwand des Amtsrats gegenüber, »nicht diese von uns wahrgenommenen und erst künstlich zurechtgemachten Spuren, die einfach irreleiten sollen. Ich habe meine Augen auch im Kopfe. Einen solch schweren Körper kann man nicht tragen, sondern höchstens schleifen, das zöge aber eine starke Blutspur nach sich, und an dieser fehlt es.«

»Aber wir haben doch Blutspuren entdeckt,« wendete der Amtsrat ein, »Sie selbst haben einen Seilabschnitt mit Blut und Haaren daran zu sich gesteckt.«

»Davon wollte ich gerade anfangen. Die paar von uns gesicherten Blutspritzer können von Hautabschürfungen herrühren, wie sie etwa der alte Mehlig erlitten hat. Wissen Sie auch, daß mir die merkwürdige Geschichte dieses alten Saufaus gar nicht einleuchten will?«

»Und was klingt denn unwahrscheinlich?«

»Hätte der Mann wirklich durch Stunden bewußtlos im Schnee gelegen, so wäre er einfach erfroren. Keinesfalls hätte er sich aus eigenem Zutun wieder aufrappeln und im Schlitten nach Hause fahren können. Lassen Sie uns rasch einmal den Berg hinunterfahren, wo Mehlig das Abenteuer erlebt haben will. Ich möchte mir den Platz gern einmal bei Tageslicht ansehen.«

Martini willigte ein; er kutschierte selbst und in rascher Fahrt näherten sie sich der Stelle, welche schon von weitem zerstampft erschien. Wie sie ausstiegen, begann der Kreisarzt zu schelten. »Na ja, da haben wir die Bescherung. Wir selbst haben heute nacht wie die Vandalen hier gehaust und alles zertrampelt. Da ist freilich nichts mehr auszuspüren.«

So verhielt es sich in der Tat und es blieb beiden Männern nichts übrig als wieder zurückzufahren. Am Tatorte wieder angelangt, führte der Kreisarzt seinen Begleiter etwas unterhalb der Schneewehe, in welcher vorhin Mütze und Messer gefunden worden waren, hart an die eine Straßenseite. »Sehen Sie vielleicht hier diese tiefen Längsschnitte?« fragte er. »Für was halten Sie dieselben?«

»Hier scheint ein Schlitten gehalten zu haben –«

»Richtig! Und außerdem hat ein Pferd gestallt, nicht wahr, das sehen Sie doch auch? Ja, es scheint sogar sich dieser notwendigen Beschäftigung einige Male hingegeben zu haben, denn dort an die zwei Fuß weiter befinden sich ebenfalls untrügliche Spuren, um bei Ihrem Lieblingsausdruck zu bleiben. Ist dies richtig, so hat der Schlitten durch Stunden hier gehalten. Als Bindewald vom »Goldenen Löwen« fortfuhr, dämmerte es schon; als er hierher kam, war es wohl schon Nacht. Er brauchte nicht zu befürchten, gesehen zu werden, zumal er den Schlitten dicht an die Felswand herangefahren hatte. Wer sollte zudem auch bei solchem Hundewetter die ohnehin selten befahrene Straße passieren? Unser Freund hatte also hinreichend Zeit und Muße, die Komödie seiner eigenen Ermordung zu inszenieren – und wahrscheinlich geschah dies unter der geschätzten Mitwirkung des biederen Mehlig.«

»Nun aber halten Sie ein mit Ihren mehr als kühnen Schlußfolgerungen,« unterbrach ihn der Amtsrat. Er atmete tief auf und stand dann eine Weile schweigend mit krausgezogener Stirne. »Ich werde jedenfalls Mehlig gleich nach unserer Rückkehr eingehend vernehmen,« meinte er dann. »Aber Ihre Vermutungen sind ungeheuerlich. Was sollte Bindewald zu solch einer plumpen Komödie veranlassen? Es war ja sein Geld, das er bei sich trug … und dann, wie käme er überhaupt dazu, ein solch hoch, angesehener und wohlhabender Mann … und noch dazu soll er im Einverständnis mit dem alten Trunkenbold sein – nein, nein, lieber Doktor – ich gebe zu, der uns beschäftigende Fall ist reich an inneren Widersprüchen und ich tappe noch völlig im Dunkeln. Das mutmaßliche Opfer indessen zum Täter stempeln zu wollen« – er lachte nervös –, »wohin in aller Welt sollte sich der Lammwirt dann gewendet haben? Und mit ausgerechnet 2300 Mark, mehr trug er ja nicht bei sich – und aus welchem Grund diese ganze Komödie?«

»Da fragen Sie mich zu viel. Mir geht von der ganzen Geschichte schon das bekannte Mühlrad im Kopf herum, jedenfalls wissen Sie nun, wie ich über die Sache denke – und fangen Sie es richtig an, so erzählt Ihnen vielleicht der brave Mehlig noch eine unterhaltliche Geschichte.«

»Warten wir es ab. Vorläufig ist unsere Zeit zu kostbar, um sie an Trugschlüsse dranzugeben. Jetzt gilt es zunächst, die vorhin aufgebirschte Spur weiter zu verfolgen … sie dürfte uns aller Sophisterei zum Trotz auf die richtige Fährte bringen.«

Wollen's abwarten,« knurrte der Kreisarzt, indem er sich zur Seite Martinis nach dem Schlitten begab, um zum Dorfe zurückzufahren.

*

Sofort nach seiner Rückkehr suchte Martini den Bürgermeister wieder auf.

»Gut, daß Sie zurückkommen,« empfing ihn dieser. »Hier ist inzwischen was Merkwürdiges vorgekommen. Krämer Jungnickel war vor etwa einer Stunde hier und hat über 400 Mark an Postanweisungen einbezahlt. Ich meine, das ist auffällig, zumal es dem Mann schlecht geht – ich habe die vier Hunderter schon darauf angesehen, ob vielleicht von des Lammwirts Kreuzen darauf wären, aber ich habe keine finden können.«

Er reichte aus einer Schublade die Banknoten dem Amtsrat, der sie nach kurzen Prüfung ihm mit der Frage zurückgab: »So beargwöhnen Sie den Mann doch?«

Der Bürgermeister stand verlegen. »Wer mir so was gestern noch gesagt hätte, den würde ich ausgelacht haben. Aber woher nur das viele Geld … es ist an seine Gläubiger, und ausgerechnet vor der Auspfändung … und wo nun die Geschichte mit dem Bindewald passiert ist, und Jungnickel ist die ganze Nacht draußen gewesen – man möchte dem eigenen Bruder nicht mehr trauen, so verwirrt macht einen solch' eine Geschichte.«

»Nun, wir werden Jungnickel gemeinsam aufsuchen. Zunächst aber eine andere Frage: Wie viel Schuster haben Sie im Dorfe?«

»Nur einen und der barbiert zugleich, es ist aber auch darnach.«

Der Amtsrat schien erfreut. »Gut, so führen Sie mich zu ihm.«

»Er weiß auch einen billigen Hasen zu schätzen,« berichtete der Bürgermeister unterwegs. »Ich habe seine Knarre mit Beschlag belegt und in der Küche legte seine Frau gerade einen »Krummen« in die Essigbeize.«

Meister Pfriem war über den ihm zuteil werdenden abermaligen, obrigkeitlichen Besuch durchaus nicht entzückt; zuerst war er recht wortkarg und verdrossen und legte dabei ein jedes mühsam aus ihm herausgeholte Wort vorsichtig auf die Goldwage, wie in der steten Befürchtung, sich etwa selbst inkriminieren zu können. Allmählich aber, als er wahrnahm, daß der Amtsrat das Ergebnis der vorhin durch den Bürgermeister vorgenommenen Haussuchung völlig ignorierte, wurde, er gesprächiger.

»Natürlich mache ich die Stiefeln im Dorf,« bestätigte er. »Wer an den Absätzen Hufeisen trägt? Nun, ich zum Beispiel, und der Bürgermeister dort auch. Ich nagle nur Hufeisen, denn die halten, und das ist hier die Hauptsache.« Er wies auf einen Haufen flickbedürftiger Stiefeln, welche neben seinem Dreibein lagen, und nahm einige von ihnen auf. »Da sehen Sie selbst, Herr Amtsrat, überall Hufeisen, sogar die Frauensleut' würden mir aufs Dach steigen, wollt' ich sie anders bedienen … da sind hier dem Löwenwirt seine Arbeitsstiefel, die sperren vorn 's Maul auf und wollen gefüttert werden – und da dem Waldbauern seine langen Kanonen, er hat sie drunten in der Kreisstadt gekauft, aber flicken muß ich sie ihm, dazu bin ich dem Dickschädel gerade gut genug.«

In Eifer geratend, hob er eine ganze Anzahl Schuhe und Stiefeln hoch und wies sie dem Beamten vor.

Dieser ersah zu seinem Mißvergnügen, daß sie alle nach derselben Schablone gearbeitet waren, die Sohlen plump benagelt und zwar augenscheinlich mit derselben Sorte vierkantiger Zwecken, wie sie die Fußspur des Täters aufwies, und die Absätze mit nicht minder plumpen Hufeisen versehen.

Plötzlich stutzte der Amtsrat. Eben hielt ihm der Schuster gerade einen derben Stiefel vor, der stark beschmutzt erschien. Die Sohle war stark zerblättert und gerade an der Spitze fehlte der mittlere Nagel. Sofort zog Martini die von ihm im Walde wiederholt sorgfältig aufgenommene Spur hervor; sie stimmte in ihren Umrissen mit dem Stiefelpaar überein.

Kopfschüttelnd beobachtete ihn der Schuster. »Das sind Krämer Jungnickels Stiefel,« meinte er dann zögernd. »Wann ich sie in Arbeit bekommen habe? Gestern abend, so um acht herum. Die Frau brachte sie. Ihr Mann will sie heute mittag wieder haben, er muß nach der Kreisstadt hinunter, soviel ich weiß.«

»Vorläufig werden wir diese Stiefel an uns nehmen und dem Krämer unverzüglich einen Besuch abstatten,« entschied der Amtsrat, indem er das Paar einem der mitgekommenen Gendarmen einhändigte.

»Machen Sie doch keine Geschichten, Herr Amtsrat,« stotterte der überraschte Schuster. »Sie denken doch nicht etwa gar, Jungnickel könnte –« Er stockte als ob er Bedenken trüge, mehr zu jagen, dann aber setzte er treuherzig hinzu: »Der Krämer war's nicht, der ist eine ehrliche Haut, was Bürgermeister?«

Jedoch der Amtsrat gab ihm keine Antwort; er hatte sich bereits abgewendet und verließ mit seinen Begleitern das Haus.

Sie halten nur wenige Schritte weit bis zu dem Jungnickelschen Anwesen zu gehen. Es war ein niedriges Bauernhaus wie die anderen im Dorfe auch, nur daß im Erdgeschoß sich der Krämerladen befand. Auf der einen Seite stieß das Haus an ein Nachbargebäude, auf der anderen war es frei gelegen. Eine breite Einfahrt führte in den Hof und rückwärts an diesen schloß sich ein winterlich verschneiter Garten, der sich bis zum Dorfbach hinzog. Hinter diesem streckte sich steil bergan klimmender Bergwald.

Amtsrat Martini trat mit seinen Begleitern nicht direkt ins Haus, sondern schritt die Einfahrt entlang, durchmaß den Hof und trat durch ein nur angelehntes Gatter in den Garten. In diesem lag der Schnee knietief. Der mitten zwischen den Beeten nach dem Bachufer durchführende Weg war zerstampft, wie wenn Kinder darauf gespielt hätten, man mochte aber auch geflissentlich eine Spur zertreten und unkenntlich gemacht haben. Gegen den Bachlauf zu senkte sich der Garten.

Immer den Blick zu Boden geheftet, schritt der Amtsrat langsam voran. Der Bach war zugefroren und mit einer dicken Schneekruste überzogen. Immer weiter schritt der Amtsrat. Nun hatte er den Waldsaum erreicht. Da stutzte er. Unverkennbar deutliche Trittspuren wurden sichtbar. Ein flüchtiges Triumpheslächeln umspielte die geschlossenen Lippen des Richters. Er hatte gefunden, was er gesucht; dieselbe Fußspur wie am Tatort offenbarte sich seinen Blicken. Die Fußspitzen gingen in der Richtung nach dem Gehöft des Krämers, sie kamen vom Walde und ließen sich unschwer eine ganze Weile verfolgen.

Martini winkte den Bürgermeister zu sich heran; er wies auf die bergabwärts führenden Spuren. »Von dorther kam der Mörder. Er hat die Dorfstraße umgangen, vermutlich, um bei seiner Heimkehr nicht beobachtet werden zu können.«

Als Martini mit seinen Begleitern in rascher Gangart nach dem Gehöft zurückkehrte und eben den Hofraum durchschritt, erblickte er hinter einem Fenster des Oberstockes ein bleiches, jugendliches Frauenantlitz von hoher Schönheit, das wahrscheinlich schon seit längerer Zeit sein Tun beobachtet hatte, sich nun aber bei seiner Annäherung schnell hinter die Gardine zurückzog.

Der Bürgermeister war der Richtung seines Blickes gefolgt. »Das war Frau Jungnickel.« erklärte er.

Ein rasches Zucken ging durch das kluge Gesicht des Richters. Er sagte aber nichts, sondern trat durch den Hofeinlaß in das Gebäude ein. Fast unter der Tür traf er mit dem Krämer zusammen, der sein Kommen schon erwartet zu haben schien. Es war dies ein stattlicher Mann mit intelligenten Gesichtszügen und dem Aeußeren eines schneidigen Forstmannes; seine Erscheinung machte einen gewinnenden Eindruck.

»Sie sind der Krämer Jungnickel?« wendete sich der Amtsrat ohne weiteres an ihn, ihn scharf dabei ins Auge fassend.

»Zu dienen, Herr Amtsrat, Sie müssen mich überhaupt kennen, denn ich habe leider schon wiederholt als Beklagter vor Ihnen gestanden.«

»Allerdings, Sie sind Ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachgekommen und einige Male verurteilt worden. Vor etwa einem Jahre habe ich Sie auch einmal in einer Strafsache verantwortlich vernommen. Sie waren der Wilddieberei beschuldigt.«

»Das stimmt. Man hat aber die Untersuchung einstellen müssen.«

»Allerdings, man hat Ihnen nichts nachweisen können.« Des Amtsrats Blick haftete auf den derben Stiefeln, welche Jungnickel trug. »Heben Sie einmal den linken Fuß auf, damit ich die Stiefelsohle sehen kann,« gebot er.

Ueberrascht gehorchte Jungnickel. Ein flüchtiger Vergleich genügte zu der Feststellung, daß er zu der Trittspur passendes Schuhwerk trug. Der an der Spur vermißte Nagel war indessen vorhanden.

»Sie sind im Besitz von Gewehren?« setzte der Amtsrat das Verhör fort. »Nein? Sie fanden heute bei der Haussuchung keine Waffe?« fragte er den Bürgermeister. »Sie konnten trotz sorgsamer Umschau keinerlei Waffe entdecken? … Nun, wir werden ja sehen.«

Er faßte den Krämer wieder ins Auge. »Sie haben heute früh einen größeren Betrag auf Postanweisungen eingezahlt? Woher haben Sie die Mittel hiezu genommen? Es sind doch einige Vollstreckungen gegen Sie im Gange?«

Der stattliche Mann war bleich und rot geworden. »Herr Amtsrat, mit allem schuldigen Respekt, aber was gehen Sie meine Verhältnisse an?«

»Das werden Sie bald genug herausfinden. Beantworten Sie meine Frage nach der Herkunft der Summe.«

Die Röte auf den Wangen des Krämers verdunkelte sich; zornig blitzte es aus seinen nächtigen Augen über die schmächtige Gestalt des Beamten hin. »Herr Amtsrat, ich bin in meinem eigenen Haus und einen solchen Ton verbitte ich mir … und von dir, Bürgermeister, hätt' ich auch etwas Gescheiteres erwartet als solch' dummes Geschwätz. Was kümmern dich meine Verhältnisse, daß du sie den Gerichtsherren auf die Nase binden mußt?«

»Lassen Sie den Bürgermeister aus dem Spiel,« unterbrach ihn Martini schroff, der an seinem unbotmäßigen Wesen immer mehr Anstoß nahm. »Sie verweigern die Antwort also? Gut. Haben Sie jetzt noch Geld im Hause?«

»Aber wohin zielt das nur?« fragte Jungnickel voll unverkennbaren Erstaunens.

»Antworten Sie,« drängte der Amtsrat. »Haben Sie Geld im Hause?«

»Nicht mehr als was in der Ladenkasse sich befindet,« sagte der Gefragte darauf, wie es Martini schien, erst nach kaum wahrnehmbarem Zögern.

»Ich eröffne Ihnen hiemit, daß ich kraft Amtes zu einer unverzüglichen Haussuchung bei Ihnen schreiben werde,« versetzte der Amtsrat nun.

Jungnickel trat einen Schritt zurück; er hatte sich jäh verfärbt. »Aber mit welchem Rechte?« brachte er gepreßt hervor. »Ich bin ein ehrlicher Mann und mir keiner strafbaren Handlung bewußt.«

»So?« fragte der Amtsrat zurück, indem er sich dicht vor ihm aufpflanzte und ihn durchbohrend anschaute, »was haben Sie denn zum Beispiel die ganze Nacht draußen gemacht? Da legt sich doch jeder friedliche Bürger aufs Ohr.«

Der Krämer konnte seinen Blick nicht ertragen; er schaute zur Seite. »Ich verstehe Sie nicht,« brachte er verwirrt hervor, »wie meinen Sie das … ich war nicht aus dem Hause.«

»Lügen Sie nicht!« unterbrach ihn der Amtsrat scharf und verächtlich. »Nichts entwürdigt einen ehrliebenden Mann mehr, und für einen solchen wünschen Sie doch gehalten zu werden.« Dann, als der Krämer nun bis unter die Haarwurzeln erbleichte, aber mit gesenkten Augen schwieg, setzte er hinzu: »Ersinnen Sie keine Ausrede, das ist überflüssig. Es steht bereits fest, daß Sie sich vor acht Uhr abends entfernt haben und kurz nach drei Uhr früh zurückgekehrt sind. Das sind reichlich sieben Stunden. Was haben Sie in der Zwischenzeit getan?«

»Das kümmert niemand etwas, jedenfalls nichts Unrechtes,« sagte Jungnickel mit einem Anflug von Trotz.

»Und wo hielten Sie sich gestern nachmittag auf? Da verließen Sie auch nicht Ihr Haus?« Martini lächelte überlegen, als der Gefragte nur widerwillig mit dem Kopf schüttelte. »Nun, ich will Ihrem Gedächtnis nachhelfen. Sie machten die Neustadter Landstraße unsicher, hielten sich bei der ersten schroffen Bodensenkung auf, wo die Straße einen Hohlweg bildet. Dort lagen Sie auf der Lauer, waren bald auf der einen, bald auf der anderen Böschung, um zuletzt über die eine Felswand, hinter der das Steinerne Meer sich erstreckt, hierher zurückzukehren. Hiebei benützten Sie den Fußpfad, der ums Dorf führt, betraten auch dieses Grundstück hier von der Gartenseite.«

Zuerst hatte Jungnickel den Amtsrat voll maßlosen Erstaunens angeschaut, als begriffe er nicht, woher diesem solche Kenntnis kommen konnte; allmählich aber hatten sich seine Stirnfalten wieder geglättet und als Martini zu Ende war, umspielte seine Lippen ein Lächeln. »Herr Rat,« sagte er, »nichts für ungut, aber so dumm wie andere Leut' ausschauen, bin ich noch lange nicht … was soll ich draußen im Walde zu tun haben? Es war viel zu schlechtes Wetter gestern. Ich war schön daheim, vermut' ich.«

»Vermuten Sie?« spottete Martini gallig nach. »Woher wurde Ihr anderes Stiefelpaar dann so schmutzig?«

»Welche Stiefeln? Ich besitze nur dieses eine Paar,« versetzte Jungnickel und wies auf die blankgewichsten Stiefel an feinen Füßen. – »Bin überhaupt froh bei den schlechten Zeiten, ein Paar ganze Schuh' zu besitzen.«

»Nun lügen Sie schon wieder. Ich spreche von dem andern Paar, das Ihre Frau gestern abend noch zum Dorfschuster brachte.«

»Davon ist mir nichts bekannt.« Jungnickel wendete sich der blonden jungen Frau zu, welche eben zögernd die Treppe vom Oberstock herunterkam und mit einem zurückhaltenden Blicke voll tiefen Mißtrauens die Beamten musterte. »Lenchen, da komm' mal her. Hast du gestern abend Stiefel von mir zum Schuster getan?«

Die Gefragte nickte unmerklich. »Ja, die alten.«

»Ich sagte dir doch, du sollst sie wegstellen.«

»Sie waren noch gut, das meinte der Meister auch. Ich wollte« – sie trat rasch einen Schritt näher auf ihn zu – »ich sag' es dir nachher, was ich damit wollte,« flüsterte sie.

Stutzig schaute ihr Mann sie an. »Nun wird's Tag,« brummte er. »Ich habe doch kein überflüssiges Geld. Ich sagte dir's doch, daß die Stiefeln ohnehin zu eng waren, antun kann ich sie nimmermehr.«

»Ich denke, der Schuster soll sich sputen, weil Sie die Stiefel noch heute brauchen, um nach der Kreisstadt zu gehen?« fragte Martini dazwischen.

»Ich glaub', dem Pechhengst rappelts!« brummte Jungnickel unwirsch. »Aber was gehen Sie denn eigentlich meine Stiefeln an? Hat sich darum die hohe Obrigkeit zu kümmern?« Er lachte gereizt.

Martini wendete ihm, ohne ihn einer Antwort zu würdigen, den Rücken und trat in den Laden selbst ein. Der Bürgermeister war ihm schon vorangegangen und hatte etliche Neugierige, die unter dem Vorwande, Einkäufe besorgen zu wollen, eingetreten waren, barsch hinausgewiesen. Wie er eben die Ladentür von innen abschloß, wendete Martini sich an ihn. »Ich habe einige Gendarmen nach dem Oberstock geschickt, es wäre mir lieb, wenn Sie dort die Haussuchung leiteten, ich will inzwischen im Beisein der Eheleute Jungnickel mich hier im Laden etwas umschauen.«

Die Haussuchung begann. Der Krämer selbst stand mit verschränkten Armen, einen trotzig finsteren Ausdruck in den Mienen, untätig; er rührte sich nicht von der Stelle und beachtete kaum die in reger Geschäftstätigkeit das Warenlager durchstöbernden Gendarmen. Anders seine Frau; die war ganz Erregung und Unruhe. Wie ihre Füße rastlos im Räume auf und nieder irrten, so wanderten ihre Blicke über die in den Vorräten wühlenden Hände der Beamten. Immer größer wurde ihre Unrast, immer willkürlicher und zerfahrener ihre überhastigen Bewegungen, bis ihr der Amtsrat endlich im barschen Tone ein ruhigeres Verhalten anbefahl. Das aber wirkte nur auf kurze Zeit. Schon die Minute darauf brach die vorige quecksilberne Unruhe wieder durch, diese wuchs zur Verstörtheit und wiederholt zuckte die junge Frau angsterfüllt zusammen, riß ein Beamter eine Schublade besonders heftig auf oder ließ unversehens irgend einen Gegenstand unvorsichtig zu Boden poltern.

Auch Amtsrat Martini hatte sich an der Durchsuchung des Ladeninhalts persönlich beteiligt. Geraume Zeit war verstrichen und man hatte nichts Verdächtiges gefunden. Von ungefähr griff Martini nun auch nach einer auf der Theke stehenden großen Deckelvase aus undurchsichtigem Glas, die sich mit Zuckerkant gefüllt erwies. Schon wollte er den Deckel wieder aufsetzen, als ihm das heftige Zittern der jungen Frau, mehr noch der schreckverglaste Blick auffiel, mit welchem sie sein Tun verfolgte.

Stutzig geworden, nahm Martini die Vase in beide Hände und trug sie nach der Ladentür, um bester den Inhalt prüfen zu können. Wie er behutsam die Bonbons durchwühlte, hatte er die Empfindung, mit der Hand auf ein zusammengewickeltes Papier zu stoßen. Er faßte besser zu und zog gleich darauf ein kleines Papierbündel hervor.

Im selben Moment entrang sich den Lippen der jungen Frau auch schon ein heiserer Schrei. Sie schnellte auf den Amtsrat zu und suchte diesem mit einer kaum hinter ihrem noch mädchenhaft zarten Aeußeren gesuchten wilden Energie den Papierknäuel zu entreißen.

Mit Anstrengung wehrte Martini sie ab; es gelang Ihm, sie zurückzudrängen, noch ehe die Gendarmen zu seiner Unterstützung herbeigeeilt kamen. Aber die Vase war bei dem Gezerr zu Boden gefallen und in Splitter gegangen.

Kopfschüttelnd betrachtete Martini die sich wie von Sinnen Gebärdende und eben laut hinaus Schreiende. Was wollte sie nur? Was bezweckte ihr Gebaren? Ein Blick hatte ihn bereits belehrt, daß sie nur zusammengeknülltes Zeitungspapier in der Hand hielt, vermutlich nur in die Vase gestopft, um diese bester gefüllt erscheinen zu lassen. Dann glitt sein Blick suchend auf den Boden, wo zwischen den Glasscherben der süße Inhalt der Vase verstreut lag; dabei glaubte er ein anderes zusammengeknülltes Papierröllchen von der bläulichen Farbe der Reichsbanknoten wahrzunehmen.

Im selben Moment aber hatte Frau Lenchen, welche der Richtung seines Blickes gefolgt war, das Päckchen gleichfalls gesehen. Wie ein Stößer schnellte sie darauf los, haschte mit der Hand über die Diele und suchte das Päckchen zu greifen.

Aber Martini war wiederum schneller als sie. In hellem Unmut stieß er sie zurück und hob das Banknotenbündelchen auf, denn um ein solches handelte es sich wirklich, wie er zu seiner großen Ueberraschung jetzt entdeckte.

Zwei Gendarmen hielten die laut aufschluchzende Frau fest, die sich immer von neuem wieder unter leidenschaftlichen Ausbrüchen der Verzweiflung auf den Beamten stürzen und ihm den Fund entreißen wollte. Scharf beobachtend wanderten die Blicke des Amtsrats von einem Ehegatten zum andern. Im Gegensatz zu seiner Frau stand Jungnickel noch immer auf dem alten Fleck, das Gesicht finster und wie zornentstellt, aber kein Glied regte sich an ihm.

»Das haben Sie gut gemacht,« wendete Martini sich nun an die laut Schluchzende, »ohne Ihr mehr als verdächtiges Benehmen hätte ich den Vaseninhalt kaum näher untersucht, und nun mache ich eine derartige Entdeckung – das ist ja eine große Geldsumme.« Er zählte nach. »Was der Tausend, genau zehn Hundertmarkscheine. Woher haben Sie denn das viele Geld?« wendete er sich an den Ehemann. »Sie behaupteten doch erst vorhin noch, außer der Tageslosung überhaupt kein Geld im Hause zu haben?«

»Habe ich auch nicht.« Ganz gelassen schritt Jungnickel näher. Nichts in seinen Zügen kündete die schreckhafte Erregung, die zweifelsohne eben in seiner Seele wohnen mußte. Kopfschüttelnd betrachtete er die Kassenscheine in der Hand des Amtsrates. »Du lieber Himmel, das ist ja ein ganzes Vermögen, was soll denn das heißen?« Mit einem Blick voll Befremden wendete er sich dabei an seine Frau. »Lenchen, weißt du etwas von dem Geld da? Wie ist das denn unter die Bonbons gekommen?«

Die Gefragte gab keine Antwort; aber ihr Blick hing mit solch verzweifeltem, gequältem Ausdruck eben an des Gatten Angesicht, daß Martini immer stutziger wurde. »Es wird wohl am besten sein, wir lassen Frau Bindewald herbeirufen, entschied er nach kurzem Nachdenken.

In diesem Moment kam wieder Leben in die wie versteinerte Gestalt der jungen Frau; sie machte eine wilde Schreckgebärde. »Ich will die Frau nicht sehen – nein, nein! Sie soll nicht kommen!« ächzte sie, und als der Amtsrat, ohne auf ihre Einwendung zu achten, dem einen Gendarmen einen bezüglichen Auftrag erteilte, trat sie mit einer Miene unsagbarer Verstörung an ihn heran und hob flehend die gefalteten Hände auf. »Ersparen Sie mir eine solche Begegnung!« schrie sie. »Ich kann und will die Frau nicht sehen – Sie können nicht wissen, was Sie mir antun, bringen Sie sie hierher?«

Martini maß sie mit einem durchdringenden Blick. »So sehr fürchten Sie den Anblick Ihrer eigenen Mutter?« fragte er schneidend scharf.

Ein Wehlaut entrang sich den Lippen der jungen Frau. »Mutter!« kam es schrill von ihren Lippen. »Ich habe keine Mutter … aber Sie haben kein Recht, mich zu quälen!«

Der Amtsrat gab ihr keine Antwort; er hatte die Geldscheine wieder vorgenommen und sie aufmerksam durch die Lupe betrachtet; nun nickte er schwerwiegend mit dem Kopfe und wandte sich unvermittelt rasch wie zu dem Ehepaar. Dabei entging ihm nicht, wie die junge Frau eben unter einem vorwurfsvollen Blick ihres Mannes wie schuldbewußt den Kopf hängen ließ. »Genug des Versteckspielens!« sagte er scharf. »Diese Banknoten hier sind von dem Gastwirt Bindewald gezeichnet worden, er trug sie gestern mit anderen zusammen in einer Brieftasche. Diese Tasche ist leer auf der Landstraße unweit vom Dorfe hier aufgefunden und Bindewald selbst ist am gestrigen Spätnachmittag beraubt und offenbar ermordet worden.« Er schaute den Krämer scharf an. »Werden Sie mir nun gestehen, woher Sie diese Geldscheine erhalten haben – ja oder nein?«

Bei dieser Eröffnung war die Frau schreckhaft zusammengezuckt; anders der Mann. Dieser schaute den Amtsrat nur stutzig an, als begreife er dessen Gerede nicht. Dann lachte er kurz auf. »Nun treiben Sie wohl gar Scherz mit uns,« rief er. »Wer soll denn den Bindewald ermordet haben? Wohl gar ich? Nein, Herr Amtsanwalt, damit haben Sie kein Glück. Der Bindewald ist so lebendig wie wir beide auch – wenigstens heute nacht noch. Es schlug gerade eins vom Turm, da habe ich ihn selbst gesehen, wie er in sein Hausgrundstück drunten in Neustadt getreten ist.«

»So räumen Sie ein, heute nacht in Neustadt gewesen zu sein?« fragte Martini allsogleich.

Jungnickel nickte. »Warum soll ich's denn nicht sagen,« meinte er, wie entschuldigend dabei seine bleich gewordene Frau anblickend. »Jawohl, ich war in Neustadt, und dies nur in der Absicht, mit dem Lammwirt zusammenzukommen.«

»Und was wollten Sie zu solch ungewöhnlicher Zeit von dem Manne?«

»Was ich von ihm wollte?« fragte Jungnickel gedehnt zurück. Er kam nicht weiter, denn schluchzend warf sich ihm seine Frau an den Hals.

»Sag' es nicht, du weißt doch warum!« schrie sie auf.

»Aber Lenchen, wie kann ich schweigen, wo es doch um den Kragen geht,« wendete der Krämer betroffen ein.

»Nein, sag' es nicht … heute noch nicht – wenn du mich lieb hast, dann schweigst du!«

Der Amtsrat mischte sich ein. »Was soll das heißen?« zürnte er. »Warum gebieten Sie Ihrem Manne Schweigen?« Rauh stellte er sich zwischen die Eheleute und blieb ungerührt, als die Frau schluchzend nach dem nächsten Stuhl wankte und in diesen wie gebrochen niedersank, das Antlitz mit beiden Händen verhüllend.

Der Krämer hatte sich seinem Weibe wieder nähern wollen. Nun mußten ihn die Gendarmen gewaltsam zurückhalten. »Bin ich denn ein Verbrecher, daß man mich so behandeln darf?« rief er, zitternd vor Zorn und Empörung, und mit überlauter Stimme, fast schreiend, fetzte er hinzu: »Weine nicht, Lenchen, sei ganz ruhig – kein Wort sage ich mehr, wenn du es nicht willst!«

Dabei blieb er; allen Versuchen des Amtsrichters, ihn zum Sprechen zu veranlassen, setzte er trotziges Schweigen entgegen.

Gerade trat auch der Bürgermeister wieder in den Laden; er trug eine Doppelflinte in der Hand. »Diese fanden wir im Rauchfang,« berichtete er. »Sie war so raffiniert hinter dem Holzgestell verborgen, das zum Aufhängen der Räucherwaren dient, daß wir sie beinahe wieder übersehen hätten.«

Martini nahm die Waffe zur Hand und betrachtete sie. »Wieder solch eine Abschraubbüchse – sie ist augenscheinlich erst vor kurzem benutzt worden. Lauf und Schloß sind noch ganz verschleimt,« stellte er mit einem durchdringenden Blick auf den Krämer fest. »Nun, was sagen Sie zu diesem Funde?«

Der Gefragte schien durch nichts aus der Fassung zu bringen zu sein. »Nichts,« sagte er kaltblütig.

»Sie stellten doch vorhin erst den Besitz eines Gewehres entschieden in Abrede!«

Nun brauste der Amtsrat auf. »Mann, wie weit glauben Sie mit diesem kindischen Ableugnen zu kommen? Hier sind die geraubten Banknoten, weiter ist hier eine offenbar erst frisch abgeschossene Büchse, Bindewald ist aber zweifellos erschossen und sein Körper beiseite geschafft worden … übrigens kann das einem Manne von Ihrer Riesenstärke nicht übermäßig schwer gefallen sein. Schließlich haben wir Spuren am Tatort entdeckt, welche genau zu dem Stiefelpaar passen, das von Ihrer Frau gestern abend zum Schuster gebracht worden ist.«

Jungnickel fuhr fort, geringschätzig mit den Achseln zu zucken. »Gut denn,« räumte er dann unvermittelt ein. »Das dort ist meine Büchse. Ich wüßte nicht, seit wann es verboten ist, ein Gewehr zu besitzen.«

»Aber aus dem Gewehr ist geschossen worden.«

»Mag sein. Ich schieße oft auf Ratten im Keller und auf Raubzeug hinter dem Hause. Vielleicht habe ich auch gestern geschossen, was weiß ich!«

»Sie werden gut daran tun, Ihr Erinnerungsvermögen zu stärken. Vielleicht wissen Sie wenigstens zu erklären, was Sie gestern um die Dämmerung auf der Felsböschung beim Steinernen Meer zu schaffen gehabt haben – ja, Sie waren dort, leugnen Sie nicht!« setzte Martini, in Eifer geratend, hinzu, als der Gefragte von neuem die Schultern hoch schob. »Ihre Trittspuren sprechen so deutlich gegen Sie, daß jedes Schwurgericht Sie schon auf Grund dieser Indizien schuldig sprechen wird.«

»Das ist zu toll!« rief Jungnickel aufgebracht dagegen. »Wollen Sie mich durchaus zum Verbrecher machen? Mein Herz weiß von keiner schlimmen Tat. Ja denn, ich war gestern um die Dämmerung auf der Landstraße und bin auch über die Felsböschung nach Hause gegangen. Was ist denn da weiter dabei? Das werde ich doch tun dürfen?«

»Und was hatten Sie bei dem Unwetter gerade an jenem Orte zu schaffen, an dem zu derselben Zeit ein Verbrechen begangen worden ist?«

Der Krämer wollte sprechen, als ihm eine verzweifelte Handbewegung der jungen Frau erneut Schweigen gebot. »Sei nur ruhig, Lenchen, ich sage schon nichts,« beschwichtigte er. »Es ist ja zu lächerlich … nun soll ich den Bindewald wohl gar gestern nachmittag abgetan haben – ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß ich ihn in der Nacht unten in Neustadt gestellt und gesprochen habe.«

Geräusch von der zur Straße führenden Ladentür her ließ ihn verstummen. Der Assessor stand draußen und rüttelte an der Klinke. Neben ihm erschien die Gestalt der Lammwirtin, beide befanden sich augenscheinlich in hochgradiger Erregung.

Kaum hatte der Bürgermeister die Tür geöffnet, als sich der Assessor auch schon seinem Vorgesetzten zuwendete. »Herr Amtsrat,« rief er ganz außer Atem. »Soeben ist Telephonbotschaft vom Amtsgericht gekommen. Im »Goldenen Lamm« ist verwichene Nacht eingebrochen worden. Man hat den Kassenschrank ausgeraubt und den alten Hausdiener Franz hat man daneben mit eingeschlagenem Schädel tot in seinem Blute schwimmend aufgefunden.«

Unter dieser neuen Unheilskunde stand der Amtsrat sekundenlang wie betäubt. Nur mechanisch nahm er wahr, wie beim Eintritt der Lammwirtin die junge Krämersfrau, die bis dahin in stummer Verzweiflung im Sessel gekauert hatte, sich in die äußerste Ladenecke zurückzog und dort mit abgewendetem Gesicht verharrte, als vermöchte sie den bloßen Anblick der Matrone nicht zu ertragen. Frau Bindewald selbst beachtete ihr Gebaren nicht, ihr starrer Blick haftete auf Martinis Angesicht.« Mit wankenden Knien näherte sie sich ihm. »Was ist das wieder für ein neuer Schrecken!« kam es tonlos heiser aus ihrem Munde.

Der Amtsrat reichte ihr nur schweigend die Hand und geleitete sie zum nächsten Stuhl, in den sie erschöpft niedersank; er konnte eben nicht sprechen, dazu arbeitete sein Gehirn jetzt zu fieberhaft eifrig. Ohne weiteres war ihm klar, daß zwischen beiden Verbrechen ein enger Zusammenhang bestehen mußte; der Gedanke bemächtigte sich seiner, daß sie einen gemeinsamen Urheber haben mußten. Hatte Jungnickel nicht vorhin erst aus freien Stücken zugestanden, sich in der ersten Morgenstunde vor dem Gasthof »Zum goldenen Lamm« befunden zu haben? Da erstand auch schon riesenstarker Verdacht wider ihn in der Seele des kaltblütig wägenden Richters; hastig wendete sich dieser an den Krämer.

»Sie sind der Täter!« sagte er wuchtig. »Sie und kein anderer haben den Einbruch verübt und den Hausdiener erschlagen!«

Jungnickel war unter der Schwere der so plötzlich wider ihn erhobenen Anklage flüchtig zusammengezuckt; nun stand er aber auch schon wieder aufrecht und maß den Ankläger mit einem flammenden Blicke. »Das sollen Sie teuer bezahlen Herr Amtsrat … solch einen abscheulichen Verdacht … was soll ich denn sonst noch alles begangen haben?«

»Sie sind der Mörder!« beharrte Martini. »Gestanden Sie nicht ein, unten in Neustadt gewesen zu sein?«

»Das leugne ich nicht, aber ich wollte nur den Bindewald sehen –« Er stockte und fuhr zusammen. Dann schrie er plötzlich hinaus: »Wenn's einer war, dann war es der Bindewald – er und kein anderer! Gewiß, so war's,« fügte er hinzu, sich an seinen eigenen Worten erwärmend, als er nur ungläubigen Mienen begegnete. »Nun begreife ich auch, warum er so verdutzt war … Sie müssen nämlich wissen, Herr Amtsrat« – immer mehr in Eifer geratend, faßte er den Beamten beim Arme und wurde es kaum gewahr, wie er von diesem heftig, schier verächtlich abgeschüttelt wurde –, »ich war schon um zehn Uhr 'rum heut' nacht drunten … und eben den Franz, der jetzt erschlagen sein soll, fragte ich nach dem Lammwirt, und von ihm hörte ich's auch, daß sein Herr noch ausständig sei und die Herren in der Gaststube sorgten sich schon um sein Ausbleiben. Sprechen mußt' ich ihn, soviel stand fest, und im »Lamm« wollt' ich mich nicht sehen lassen, dazu hatte ich meine Gründe. Da wartete ich halt auf der Straße, so kalt es auch war. Ich sah Sie, Herr Amtsrat, und die Frau dort« – er wies auf die ihn eben mit verstörter Miene anstarrende Lammwirtin – »wie Sie in den beiden Schlitten fortfuhren. Bald darauf schloß der alte Franz das Wirtshaus und in dem Gebäude wurde es dunkel. Wie ich noch die Straße hin- und herlief, um mich warm zu machen, denn die Kälte ließ mir das Blut in den Adern schier erstarren, da war es mir, als hörte ich jemand das verschlossene Tor aufschließen. Wie ich mich umwende und durch die Finsternis starre, vermeine ich gerade noch den Lammwirt selbst ins Haus treten zu sehen. Nun laufe ich die Häuserreihe heran; als ich aber ans »Lamm« kam, war alles drinnen still und das Tor verschlossen. Wohl an die zehn Minuten oder länger stand ich vor dem Tor, unschlüssig, was ich tun sollte. Klingeln mochte ich nicht, denn ich konnte mich geirrt haben, und Grobheiten von dem alten Hausdiener einstecken wollte ich nicht … da auf einmal hörte ich einen Schrei, ganz grausig anzuhören, Herr Amtsrat … und dann war's gleich wieder still. Es huschte zugleich hinter den verschlossenen Fensterladen in der Gaststube wie Lichtschimmer hin und wieder. Da faßte ich mir ein Herz und läutete. Aber das mußte ich zehnmal tun oder wohl noch öfter – und dann wurde das Tor von innen aufgetan und vor mir stand der Lammwirt und schnauzte mich grob an, was ich im Haus, zu suchen hätte.«

»Das klingt sehr wahrscheinlich,« unterbrach ihn der Amtsrat, der seinem Bericht mit sarkastischem Lächeln gelauscht hatte. »Aber fahren Sie nur fort … vermutlich wollen Sie uns nun erzählen, daß der Lammwirt, wohl zur Belohnung für die späte Störung, in die Tasche gegriffen und Ihnen die Banknoten geschenkt habe, welche wir vorhin in der Zuckerkantvase gefunden haben – oder nicht?«

»Durchaus nicht,« entgegnete Jungnickel mit einem ruhigen Kopfschütteln, »so etwas kann ich Ihnen nicht erzählen, weil es gelogen wäre.«

»Und was Sie uns bis jetzt erzählt haben, ist natürlich die lautere Wahrheit?«

»Aber selbstverständlich, Herr Amtsrat, sonst wurde ich es doch nicht sagen.«

»Sehr richtig und überzeugend.« Martini lachte kurz und nervös. »Was wollten Sie denn den Lammwirt zu solch ungewöhnlicher Stunde Wichtiges fragen?«

Jungnickel zeigte ein verschlossenes Gesicht. »Das ist meine Sache. Herr Amtsrat, darüber will ich nicht sprechen.« Und wie zur Ermutigung nickte er in den Winkel, wo sein junges Weib stand und mit entgeistertem Gesicht zu ihm herüberstarrte.

»Und woher haben Sie das Geld, das Sie heute früh beim Bürgermeister gezahlt haben?« fragte der Amtsrat weiter.

Es hatte den Anschein, als ob Jungnickel rasch etwas erwidern wollte; aber ein neuer Blick in das blutleere Antlitz seiner Frau brachte ihn von einem solchen Entschluß ab; er atmete nur gepreßt auf. »Das kann ich Ihnen nicht sagen, Herr Amtsrat, und will es auch nicht.«

Martini richtete sich steif auf. »Nun, vielleicht legen Sie sich vor dem Schwurgericht weniger Reserve auf,« bemerkte er eisig. Er trat an den Krämer heran und berührte flüchtig dessen Schulter. »Ich verhafte Sie unter dem dringenden Verdacht, den Gastwirt Bindewald beraubt und ermordet, sowie in dessen Haus den nächtlichen Einbruch verübt zu haben. Wachtmeister,« wendete er sich an den hinzutretenden Beamten, »schließen Sie den Mann und schaffen Sie ihn unter sicherer Bedeckung nach dem Amtsgefängnis.«

Mit einem wilden, tiergleichen Schrei fuhr der Krämer zurück. Fast hatte es den Anschein, als wollte er sich gewaltsam widersetzen. Doch seine angestrafften Muskeln erschlafften wieder und der erhobene Arm sank herab, als in seinen Schrei sich der Wehruf seines jungen Weibes mischte. Mit verglasten Blicken, weit die beiden Arme ausgestreckt, wankte sie herbei, namenloses Entsetzen in dem schneeigen Gesichtsoval ausgeprägt. Ehe Martini es verhindern konnte, hatte sie sich vor ihm in den Staub geworfen und umklammerte mit jammernder Geberde seine Knie.

»Barmherzigkeit, mein Mann ist unschuldig … o nehmen Sie ihn mir nicht fort, ich kann nicht sein ohne ihn!« schrie sie wie von Sinnen.

Dann als der wider Willen Erschütterte sich mit bedauerndem Achselzucken von ihr wendete und durch einen Wink dem Wachtmeister bedeutete, feiner Pflicht nachzukommen, schnellte sie auf und umklammerte in wilder Leidenschaftlichkeit schirmend ihres Mannes Leib, so daß die Gendarmen an diesen nicht herankonnten, sie hätten denn die junge Frau zuvor gewaltsam von ihm loszerren müssen. »Nein, nein, sie dürfen dir nichts anhaben – sie dürfen nicht!« gellte sie hinaus.

Vergeblich suchte ihr Mann sie zu beschwichtigen. »Lenchen,« schmeichelte er sanft, »da ist kein Grund zur Aufregung. Laß die Herren sich irren, sie sollen es mir abbitten müssen, denn freilich bin ich unschuldig, das ist doch selbstverständlich!«

Sie schrie nur von neuem wie im Wahnwitz, als die Beamten sie nun so schonend wie möglich von ihrem Manne trennten. Einen Augenblick schwankte sie auf der Stelle, dann warf sie sich mit gerungenen Händen neuerlich vor den Amtsrat nieder. »Mag es um meinen armen Vater denn geschehen sein – und wenn sie ihn darum auch finden und ins Zuchthaus schleppen … aber das leide ich nicht. Ich will es sagen, was ich weiß – das Geld –«

»Aber Lenchen, so warte doch noch ein paar Tage damit,« mahnte ihr Mann, »was ist dabei, wenn sie mich heute auch fortführen, denk' an deinen armen Vater –«

»Nein, nein, ich kann nicht ohne dich sein,« schluchzte die Unglückliche, »mag Gott mir verzeihen, bringe ich ihn ins Unglück!« Schreiend sich zum Amtsrat wendend, setzte sie hinzu: »Das Geld ist von meinem Vater. Er kam vorigen Abend zu uns und wir verbargen ihn, weil er doch verfolgt wurde. Wie mein Mann die Kunde aus dem Löwenwirtshaus brachte, der Bindewald sei dagewesen und käme am nächsten Nachmittag wieder, um den Handel mit dem Bürgermeister abzuschließen, da wurde der alte Mann wie wild. Er ließ sich nicht zurückhalten, so sehr ich ihm die Gefahr auch vorstellte, er möchte erkannt und festgehalten werden. Er müsse Abrechnung mit dem Schuft halten, der ihn ins Unglück gebracht habe … er ginge nicht mehr ins Zuchthaus zurück, aber der Bindewald müsse hinein, sagte er … um den Mittag ist er gestern schon gegangen. Gerade wie es den Abend einläutete, kam ein Bote von ihm und brachte mir das Geld. Auf die Nacht wollte mein Vater wieder zurück sein, und wie er nicht wieder gekommen ist, da bekam ich es mit der Angst zu tun – und wie mein Mann heimkam, da ließ ich ihm keine Ruhe, weil ich den Gedanken nicht los wurde, der Bindewald möchte an dem alten Mann sich vergriffen haben. Hätte ich meinen Mann nur nicht fortgeschickt – nun hab' ich Unglück über ihn gebracht, und er ist doch so unschuldig an alledem wie das liebe Sonnenlicht?«

Mit ungläubiger Miene hatte der Amtsrat sie angehört. Als sie nun erschöpft verstummte und von neuem seine Knie umklammern wollte, wies er sie mit barscher Handbewegung zurück. »Wo war denn Ihr Mann am Nachmittag?« fragte er. »Vermutlich hat er Ihren Vater begleitet?«

Sie schüttelte nur mit dem Kopfe. »Nein, o nein,« sagte sie schwach. »Mein Mann war gar nicht gut auf den Vater zu sprechen, der würde uns nur in Ungelegenheiten bringen. Darum haderten wir schließlich noch miteinander – o Gott, es war der erste Streit zwischen uns – wir lebten immer so glücklich!«

Schluchzend wendete sie sich an den Gefesselten, der zwischen zwei Gendarmen stand. »O Hans, kannst du mir verzeihen?« ächzte sie. »Ich hätte dir folgen sollen – aber sieh, er blieb doch immer mein Vater, auch wenn sich das Unglück und schlechte Menschen wider ihn verschworen hatten … und er jammerte mich so!«

»Nun, die Abneigung gegen Ihren Vater hat Ihren Mann doch nicht davon abgehalten, das Geld anzunehmen und davon Schulden zu bezahlen!«

»Mein Mann wußte nichts davon. Mein Vater schickte mir's wohl auch nur zum Aufbewahren. Aber ich wußte doch, wie es um meinen Mann stand … morgen sollte er schon ausgepfändet werden. Da log ich ihn an, ich hätte die vierhundert Mark, deren er bedurfte, heimlich als Notpfennig verwahrt – o Gott, so glauben Sie mir doch,« schluchzte sie, als der Amtsrat nur verächtlich lächelte, »es ist die lautere Wahrheit – mein Mann wußte nichts von dem Geld, ich habe es doch in der Vase dort vor ihm versteckt gehabt … so sage den Leuten doch, daß es so ist, lieber Hans,« wendete sie sich an ihren Mann.

Martini wehrte ab. »Bemühen Sie sich lieber nicht, wir haben ohnehin keine Zeit mehr zu verlieren.« Dann trat er unvermittelt dicht an den Verhafteten heran. »Jungnickel,« sagte er mit großem Ernst, »Ihre Frau erdichtet aus Liebe zu Ihnen ein Märchen – aber sie lügt, die Lüge steht ihr auf der Stirn geschrieben. Es ist auch zu ungereimtes Zeug, was sie spricht … wollen Sie nicht Mannes genug sein, der Wahrheit die Ehre zu geben und eine Tat zu bekennen, deren Verschuldung Sie jetzt schon so gut wie überführt sind? Sollte ich auch zur Verhaftung Ihrer Frau schreiten müssen? Denn wie die Sache jetzt liegt, werde ich kaum anders handeln können.«

Ein Schauer schüttelte die starken Glieder des Krämers. Mit unnatürlich weit geöffneten Augen starrte er den Richter an. »Meine Frau verhaften – mein Lenchen?« lallte er; es hatte den Anschein, als wollte er gewaltsam seine Bande zerreißen, um sich schirmend vor die Bedrohte stellen zu können.

»Ruhig, Mann, hübsch vernünftig bleiben,« mahnte der Amtsrat, »Ihre Frau trifft der dringende Verdacht der Mitschuld, wenigstens der Mitwissenschaft, und ich muß zu deren Verhaftung schreiten, wenn Sie nicht Mannesmut genug haben, ein klares, unumwundenes Schuldbekenntnis zu geben.«

Die Wirkung seiner Worte auf den Krämer war augenscheinlich gewaltig. Wie dem Zusammenbruch nahe, stumpfsinnige Angst in den entstellten Zügen, starrte er den Amtsrat an. »Kann ich eine Untat eingestehen, von der mein Herz nichts weiß?« ächzte er dumpf. »Was ich sagen kann, das soll gern geschehen.«

»Wo waren Sie gestern nachmittag?«

»Ich sagte es schon. Ich wollte meinem Schwiegervater nach, um ein Unglück zu verhüten. Aber er hatte zu großen Vorsprung, ich fand ihn nicht. Dazu das Unwetter, man konnte ja keine Handbreit sehen. Da bin ich in den Wald gegangen, ja, ich will es gestehen, ich habe gewildert. Bei der Fichtenkanzel oben brachte ich einen Bock zur Strecke, man muß ihn noch unter dem Schnee vergraben finden.« Er atmete gepreßt, wie in gedemütigtem Stolz ließ er das Kinn auf die Brust sinken.

Die Fichtenkanzel war, wie der Bürgermeister erläuternd bemerkte, über eine Wegstunde vom Tatort entfernt und lag in entgegengesetzter Richtung.

»Und welche Stiefel trugen Sie da?« fragte Martini rasch.

»Eben die Stiefel, die meine Frau nachher zum Schuster getragen hat. Ich hatte nasse Füße gekriegt und sagte ihr, ich wollte sie nimmer tragen.«

»Ich wollte sie meinem Vater geben, der kam so abgerissen,« berichtete nun die junge Frau unter fortgesetztem Weinen. »Er hat nur Lumpen angehabt, die ihm mitleidige Bauern unterwegs geschenkt haben, in der Anstaltskleidung hat er doch nicht verbleiben können, da würde man ihn sofort aufgegriffen haben. Weil nun mein Mann nichts wissen wollte von meinem Vater, habe ich die Schuhe heimlich fortgetragen. Das ist die Wahrheit.«

»Und was ist aus Ihrem Vater geworden? Sie wissen doch, daß er steckbrieflich verfolgt wird?«

Da hob die junge Frau den Kopf. »Freilich weiß ich's,« rief sie leidenschaftlich, »und lebte mir der Glaube an unseren Herrgott nicht so tief im Herzen drinnen, darum könnt' ich ihn verlieren, denn mein armer Vater ist gerad' so ein Verbrecher wie Sie oder ich, Herr Amtsrat – und der Bindewald, an dem der Himmel all' das Herzeleid heimsuchen soll, das er über uns gebracht hat, der hat ihn sicher um die Ecke gebracht, denn sonst wäre mein Vater wiedergekommen! Wohin soll er denn auch, er hat ja nichts, nicht einmal einen warmen Rock gegen die Kalte, und so schwach und elend ist er, daß ein Kind ihn meistern kann.«

Die Lammwirtin hatte bisher regungslos dagesessen und mit versteinerten Zügen auf das rege Hin und Her vor ihren. Augen gestarrt; aber mit keiner Miene hatte sie kundgegeben, daß sie überhaupt begriff, was sich da vor ihr abspielte. Jetzt kam mit einem Male Leben in ihre niedergebeugte Gestalt, diese straffte sich und aus ihren bisher verschleiert anmutenden Augen brach düsteres Feuer. Sie wendete sich an Martini und als dieser ihr hilfreich die Hand bot, stützte sie sich fest auf seinen Arm. »Herr Amtsrat, was die junge Frau dort sagt, das ist erlogen, es muß erlogen sein,« stieß sie rasch hervor, »ich kenne meinen Mann und ich bürge für ihn – und Sie haben ihn ja auch durch viele Jahre gekannt, an dem ist kein Makel und kein Falsch. Er hat auch nichts zu fürchten, den Zuchthäusler am wenigsten« – hier lachte sie schrill und verächtlich auf – »und er braucht auch nicht zu verschwinden, denn er ist ein reicher Mann, das weiß ich am besten, als seine Frau. An meinem Mann ist ein Verbrechen geschehen, das ist erwiesen, denn sonst wäre er hier … und was jener Mann dort behauptet, er habe ihn heute nacht im »Lamm« selbst gesehen und gesprochen, das ist erlogen.« Feindselig maß sie den Kramer, der ihren Blick ruhig aushielt. »Ich will niemanden anklagen, das wird das Gericht schon besorgen. Aber wer meines Mannes Geld hat, der weiß auch, was aus meinem Mann geworden ist.« Plötzlich verließ sie die bis dahin mühsam aufrecht erhaltene Ruhe, und in leidenschaftlicher, rachsüchtiger Aufwallung fuhr sie fort: »Einem schändlichen Anschlag ist mein Mann zum Opfer gefallen, so viel weiß ich. Dahinter steckt der Zuchthäusler … und jene junge Person dort ist seine Tochter, die wird ihm mitsamt ihrem Manne brav beigestanden haben.«

Ein ächzender Aufschrei erfüllte den Raum. Ehe die Anwesenden es zu verhindern vermochten, hatte Frau Lenchen sich durchgedrängt und stand nun mit kreideweißem Gesicht vor der Lammwirtin, den erloschenen Blick auf diese gerichtet. »Ich bin des Zuchthäuslers Tochter nicht allein,« brachte sie matt hervor, und wie ein zerrissener Herzensschrei ging es dabei durch ihre Stimme. »Daß ich es überhaupt sein muß, ist nicht meine Schuld, denn ich habe mir die Eltern nicht aussuchen dürfen. Aber wenn mich die Frau, die mich unter dem Herzen getragen, auch verleugnet und verstoßen hat – sie mag es vor dem Herrgott einmal verantworten, daß sie mich so liebeleer und arm gemacht hat, wenn sie kann – aber sie bleibt doch die Mutter, und es ist schlecht von ihr, daß sie in der Stunde der Not den Stein aufhebt wider ihr eigenes Kind –«

Sie hätte noch mehr gesprochen, wenn sie die Lammwirtin mit einer ungestümen, drohenden Handbewegung nicht unterbrochen hätte. Ein leidenschaftlicher Haß durchflammte eben das entstellte Gesicht der Matrone, während ihr Blick voll Abneigung das trotz aller Verzweiflungsrunen madonnenschöne Antlitz der jungen Frau streifte. »Seine Züge – seine Augen – der nämliche Blick, wie er mich einmal umgarnt hat – so ohne Falsch, so offen und treu – und doch so verworfen, so höllengleich – fort von mir!« schrie sie in steigernder Erregung, »wir haben keinerlei Gemeinschaft! Dessen verruchte Hand mir den Mann erschlug, spricht zu mir aus diesem Weibe. Daß ich sein eigen gewesen, die Schmach wäscht kein Wasser von mir ab. Aber wie zu ihm, so starb auch zu seinem Fleisch und Blut alle Liebe in meinem Herzen … ich habe kein Kind, und die ich vor mir sehe, so sündenvoll wie ihrer Tage verruchter Urheber, kennt die Hand, die meinem Herzen zum andernmal die Todeswunde schlug … sie mag die Hand geführt, sie mag sie noch geliebkost haben, die verfluchte Hand, die meinem armen Manne an das Leben ging!«

Wie unter schmerzhaften Hieben war die junge Frau unter ihren grausamen Worten zusammengezuckt. Nun stand sie mit verhülltem Haupt. »Das sagt mir meine Mutter,« kam es klagend über ihre Lippen. Sie wollte sich still zur Seite wenden, dann aber zauderte ihr Fuß und sie hob den Blick wieder zu den steinernen Zügen der alten Frau. »Mag Gott dir nicht anrechnen, Mutter, daß du mir so wehe tust zu dieser schweren Stunde,« sagte sie leise. Wie betäubt wankte sie zu der Stelle, wo ihr Mann inmitten seiner Wächter stand.

Ein heiserer Schrei erfüllte den Raum – ein Schrei, so leidenschaftserfüllt, daß selbst der Atemzug der Männer ringsum stockte. Und mit elementarer Gewalt, als müßte sie sich vom Herzen reden, was sie durch überlange Jahre an Groll und Verzweiflung in diesem aufgespeichert, sagte die unversöhnliche Frau: »Der Herrgott soll mir's anrechnen, denn ich will's vor ihm verantworten! Da müßte es keine Gerechtigkeit mehr bei ihm geben, denn was ich habe dulden müssen, das war fürchterlich!«

»Und ich – und ich?« schluchzte das junge Weib fassungslos. »Was tat ich, dass mir keine Liebe wurde … was verschuldete ich, dass die eigene Mutter mich von sich abtat? Wenn einer im Himmel ist, der die Tränen zählt, so möge er Euch barmherzig sein, Mutter – trotz alledem meine Mutter!« Und wie sie keine Antwort bekam, sondern nur beklommenes Schweigen im Raume herrschte, faßte sie wie irre nach ihren Schläfen und raufte ihre Haar. Sie starrte auf ihren Mann, und als dieser im Uebermaß von Schmerz, Groll und ohnmächtiger Empörung dumpf aufstöhnte, da wankte sie auf ihn zu. »Und nun nehmen sie mir dich – den einzigen, der mich lieb hat – warum das nur? Es ist zu viel!« Sie schwankte und wäre zu Boden gefallen, hätten mitleidige Hände sie nicht gestützt.

In den bangenden Angstruf ihres Mannes hinein klang dumpfer Tumult von der Straße her. »Sie bringen ihn – sie bringen ihn angefahren!« schrie es draußen in wüstem Durcheinander.

Der Amtsrat hatte die Ladentür geöffnet und war vor dieser auf die oberste Treppenstufe getreten: ihm nach drängten die im Raum Befindlichen. Auf der Straße war es lebendig. Eine Menge erregter Menschen jeglichen Alters und Geschlechts umdrängte einen in langsamer Fahrt begriffenen Bauernschlitten, in welchem eine längliche, durch Kleidungsstücke und aufgelegtes Reisig verhüllte Last ausgestreckt lag. Der Kreisarzt saß neben dem Kutscher auf dem Bock. Wie er den Amtsrat erblickte, ließ er auch schon halten, sprang ab und kam in großer Erregung auf den Beamten zu.

»Wir haben die Leiche gefunden!« brachte er atemlos hervor.

Martini stutzte. »Welche Leiche? Doch nicht –«

»Den Lammwirt Bindewald – natürlich. Dort auf dem Schlitten liegt seine Leiche.« Und in großer Erregung berichtete er, wie er den Schlitten für die Heimfahrt gedungen habe. Unterwegs hatten ihn die Bauern angerufen, die vom Bürgermeister mit der Absuchung der Umgebung beauftragt worden waren. Sie hatten unweit des Steinernen Meeres in mäßiger Vertiefung, halb verdeckt von einer Schneewehe, den Leichnam gefunden und Dr. Findler war ihnen bei der Bergung behilflich gewesen. »Der Unglücklich ist fürchterlich zugerichtet, der ganze Hinterkopf wie zermalmt,« berichtete er. »Aber die Gesichtszüge sind deutlich erkennbar – und ausgeraubt ist der Mann auch. Nicht einen Pfennig haben wir bei ihm gefunden. Er muß schon lange tot sein, genau läßt sich das nicht feststellen, denn die Bärenkälte hat ihn wie zu einem Eiszapfen zusammengefroren … ich denke, wir bringen den Körper vorläufig nach dem Spritzenhause.«

Damit war der Amtsrat einverstanden. Mit finsterem Gesicht kehrte er in den Kramladen zurück und pflanzte sich dicht vor dem Verhafteten auf. »Sie haben es gehört, die Leiche Ihres Opfers ist gefunden. Haben Sie jetzt zum Weiterleugnen noch die Stirn – angesichts dieses Anblickes?« Und durch die offengebliebene Tür deutete er auf die Dorfstraße, wo sich eben ein ergreifender Auftritt abspielte.

Die Lammwirtin war schon bei den ersten Worten des Kreisarztes auf die Straße hinausgeeilt und hatte sich gewaltsam bis zum Schlitten Bahn gebrochen. Mit einem Ruck hatte sie die verhüllende Decke fortgerissen, und als sie unter dieser die todesstarren Züge ihres Lebensgefährten erblickt, da war sie in ein krampfhaftes, lautes Schluchzen ausgebrochen, das markerschütternd weithin gellte.

Krämer Jungnickel war totenbleich geworden, aber er schlug den Blick nicht nieder. »Ich bin unschuldig an dem Tode jenes Mannes,« sagte er so feierlich wie in Ablegung eines Gelübdes. »So wahr mir Gott helfe, ich weiß von keiner schlechten Tat … und mein armes Lenchen nun gar … o, Herr Amtsrat, verschonen Sie die Arme … sie … sie geht mit einem Kinde –« Er stockte wie von innerlichem Schluchzen überwältigt. »Bei allem, was mir heilig, ist … sie ist unschuldig wie ein Kind.«

Verächtlich wendete sich der Amtsrat von ihm ab. »Die Eheleute Jungnickel sind verhaftet und abzuführen!« Dabei blieb es.

Es half der jungen Frau nichts, daß sie sich verzweiflungsvoll an ihres Mannes Jägerwams anklammern wollte; so schonend wie möglich, aber doch mit unwiderstehlicher Gewalt machten die Gendarmen die zuckenden Finger los und drängten die haltlos Schluchzende selbst beiseite. »Ei was, so heulen Sie doch nicht so unvernünftig,« schmälte der Wachtmeister, der sie aufmuntern wollte, »so was kann jedem passieren, und sind Sie unschuldig, so wird man Sie schon nicht fressen und Ihren Mann auch nicht … und nun kommen Sie schön mit. Draußen wartet der Schlitten bereits.«

»Lenchen!« rief ihr Mann, und wie sie den Kopf zu ihm wendete, suchte er sie anzulächeln, ob ihm gleich die blanken Zornestränen in den Augen standen, »hab' keine Angst, sie müssen dich wieder loslassen und mich auch – ein leichter Bruder bin ich, aber ein schlechter Hund niemals … und du grein' nur nicht und behalt' mich lieb!«

»O mein Hans!« weinte seine Frau. »Kannst mir's denn verzeihen, daß ich dich in all das Elend bringe, denn um mich bist ja gegangen, alles wär' nicht so schrecklich gekommen, wär' ich nicht in dich gedrungen, nach meinem Vater auszuschauen.«

Da brach ein warmer Strahl aus ihres Mannes Schwarzaugen. »Sorg dich nicht um mich, mein Lenchen,« sagte er und er wußte seiner rauhen Stimme einen gar weichen, innigen Klang zu geben, der seinen Weg zu Herzen zu finden wußte, »was gäb' es, das ich nicht um dich tragen möchte – und wenn's gestorben sein müßte – ich hab' dich ja lieb!«

Sie konnte ihm keine Antwort mehr geben, denn auf einen Wink des Amtsrats drängten die Gendarmen nun die Eheleute gewaltsam über die Schwelle der Ausgangstür.

Draußen standen Kopf an Kopf gedrängt die Neugierigen zuhauf und konnten sich nicht sattsehen an den jetzt durch ihre Reihen hurtig zum Schlitten Geführten, als ob sie beide nicht im alltäglichen Verkehr seit langem schon gekannt hätten. Ein dumpfes Murmeln ging von Mund zu Mund, manche unter den Männern nickten dem Krämer wohl auch verstohlen aufmunternd zu; die Weiber dagegen verhielten sich skeptisch, sie hatten einander viel in die Ohren zu tuscheln und einige Schwertmäuler waren unter ihnen, die es schon lang zuvor gewußt haben wollten, daß es kein gutes Ende nehmen könnte mit solcher »Bagasch'«.

Noch immer hatten weder des Kreisarztes gutgemeinten Ueberredungsworte noch die Bemühungen der anderen die Lammwirtin dazu vermögen können, von ihres Mannes entstelltem Leichnam abzulassen. Als nun aber die Verhafteten in gesonderten Schlitten mit ihren Begleitmannschaften Platz nehmen mußten, da hob die trostlose Witwe den Kopf und mit verzweifeltem, wildem Blicke streifte sie die bleichen Gesichter des jungen Paares. Ihre Lippen bewegten sich, aber kein verständliches Wort kam über diese; nur die ausgestreckte Faust vermochte die Unglückliche dräuend wider die beiden zu schütteln, dann brach sie in herzzerschneidendem Jammer über der Leiche ihres Mannes bewußtlos zusammen.

Die beiden Dienstmägde, welche im »Goldenen Lamm« der Wirtin schon seit Jahren zur Hand zu gehen pflegten, hatten sich auch an diesem Morgen zur gewohnten Frühstunde aus ihrem Dachstübchen nach den unteren Räumlichkeiten begeben, um das tägliche Säuberungswerk vorzunehmen. Die Wirtschaftslokalitäten nahmen den überwiegenden Raum des Erdgeschosses ein, nach dem Hof zu und durch einen breiten Durchlaßkorridor von ihnen getrennt befand sich die Privatwohnung der Bindewaldschen Eheleute; es waren dies zwei aneinanderstoßende, gleich große Zimmer, davon eines als Wohnstube diente, während im anderen die Betten aufgeschlagen waren und in der einen Ecke der Kassenschrank sich befand. In ihm verwahrte der Lammwirt sein eigenes Gut sowie die ihm anvertrauten Vermögensbestände der verschiedenen Kassen.

Frau Bindewald war eine Frühaufsteherin und durch ihre unnachsichtige Strenge bei dem Gesinde nicht eben beliebt; sie gönnte sich selbst keinen guten Tag, war unermüdlich tätig und verlangte dieselbe Pflichttreue auch von ihren Mägden, sehr häufig zu deren Verdruß. Franz, der Hausfrau Faktotum und schon seit vielen Jahren in ihrem Dienst, beinahe ebenso lange wie der alte Mehlig, galt als ein richtiger Leisetreter und Hetzer; was an Verfehlungen die Herrin selbst übersehen mochte, entging sicherlich seinen Spüraugen nicht, und da er seine Wahrnehmungen stets noch warm weitergab, so war er womöglich noch unbeliebter und gefürchteter als die Lammwirtin selbst. Die Mägde wußten, daß er die verwichene Nacht auf der Wirtin Geheiß in deren Schlafzimmer genächtigt hatte; sie frohlockten ordentlich bei der Wahrnehmung, daß er an diesem Morgen nicht zum Vorschein kommen wollte. Mochte er verschlafen, der alte scheinheilige Schwätzer, am liebsten, bis die Lammwirtin aus Höhenbronn zurückkehrte, dann konnte sie zur Abwechslung auch ihm einmal ordentlich den Marsch blasen. Zurückgekehrt war die Frau noch nicht, das bestätigte der zweite Knecht, der hinten im Stall bei den Pferden schlief. Sonst war niemand in dem weitläufigen Hause, denn Fremde waren nicht abgestiegen und Mehlig, der im Hinterbau über den Stallungen mit seiner Tochter eine Wohnung inne hatte, zählte nicht mit; der hatte ohnehin mit der Bewirtschaftung des Gasthofes nichts zu tun.

Kichernd tauschten die Mägde während der Aufräumungsarbeiten in den Gastzimmern ihre schadenfrohen Bemerkungen aus; sie waren nicht übermäßig eifrig heute, sondern ließen sich bei ihren Hantierungen Zeit, der Herrin gestrenger Blick fehlte heute ohnedies, und zu tun gab es an diesem graulichen Novembermorgen wenig genug. Es war ja Sonntag, da stand man ohnehin später als sonst auf. Ab und zu öffnete wohl eine der Mägde die nach dem Verbindungsgang führende Hintertür und lauschte; aber in den Wohnräumlichkeiten regte sich nichts. Nicht einmal schnarchen hörte man den alten Franz; nun, der mochte sich sein Wächteramt versüßt und der Flaschengemeinde im Büfett wacker zugesprochen haben. Jetzt schlief er unbekümmert und pflichtvergessen in den Hellen Tag hinein; na, die Lammwirtin würde ihn bei ihrer Rückkehr schon wach bekommen.

Sorglos arbeiteten die Mägde weiter. Als sie mit dem Aufräumen fertig waren, schlürften sie nach der Küche, brauten sich den Morgentrunk und ließen sich gemächlich zu einem ausgiebigen Frühstück nieder, das die Habsucht der Herrin heute nicht ungebührlich an Butter und anderen guten Zutaten beschnitt. Dann kamen die Zünglein der Mägde ins Plaudern und darüber gingen die Stunden hin. Längste war es heller Tag geworden, es schlug acht Uhr, die Uhrzeiger rückten weiter und auf einmal hob das Schlagwerk der alten Standuhr aus und verkündete die neunte Stunde, während zugleich auch schon die Kirchenglocken in der Stadt zum Gottesdienst entboten.

Noch immer war es lautlos still hinten in Wohn- und Schlafzimmer. Nun kamen auch schon die ersten Frühgäste, sehr zum Bedauern der Mägde, die wohl oder übel jetzt daran denken mußten, Franz zu wecken, denn ans Kundenbedienen wagten sie sich doch nicht heran, da hätte die Lammwirtin bei ihrer Rückkehr übel genug aufmucken können.

Da nun wurde das Schreckliche entdeckt. Laut schreiend kam die eine Magd, die den alten Hausdiener hatte wecken wollen, in die Gaststube gelaufen und verkündete, hinten im Schlafzimmer der Eheleute liege Franz auf der Diele in seinem Blute ausgestreckt und sei augenscheinlich tot. Das war das Signal zu einem ungeheuerlichen Aufruhr. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde von dem Vorgefallenen in der Nachbarschaft und die Anwohner drängten in die Gastzimmer, um zu gaffen und sich durch eigenen Augenschein zu überzeugen. Ein besonnener Nachbar lief zur Polizei, bald darauf kamen einige Vertreter der heiligen Hermandad im Sturmschritt herbeigeeilt, säuberten das Haus von allen Unberufenen und beorderten, da der Kreisarzt über Land war, den nächstwohnenden Arzt herbei. Der konnte indessen nichts mehr helfen, die Magd hatte richtig gesehen, der alte Franz war augenscheinlich schon seit Stunden tot, offenbar mit einem stumpfen Instrument erschlagen.

Da dem Unglücklichen doch nicht mehr zu helfen war, ordnete de; mittlerweile am Tatort erschienene Polizeikommissär an, im Schlafzimmer bis zum Eintreffen des unverzüglich benachrichtigten Amtsgerichtes alles unberührt und auch den Toten in seiner ursprünglichen Lage zu belassen.

In vorläufiger Vertretung des durch den Fernsprecher von dem Vorgefallenen in Kenntnis gesetzten Amtsrates waltete bald darauf schon ein jüngerer Kollege seines Amtes. Die Ausbeute war nur gering, Indizien gab es fast keine zu sichern. Der Tote war stumm, der Ausdruck wilder Angst in seinen erstarrten Zügen konnte auch keinen weiteren Aufschluß geben, am wenigsten über die Person des Mörders. Das Zimmer selbst befand sich in wohlaufgeräumtem Zustand und wies keinerlei Spuren eines etwa zwischen Opfer und Mörder vorangegangenen Kampfes auf. Nur die Mordwaffe, ein schwerer Holzhammer, wurde auf der Diele neben dem Toten gefunden. Der Stallknecht erkannte ihn auf der Stelle: nach seinen Angaben war es der zum Aufschlagen der Bierfässer benützte Hammer. Diese Funktion hatte dem alten Franz obgelegen und in der Regel hatte sich der Hammer unten im Keller in einem kleinen Verschlag befunden, wo die Bierfässer standen und die Pressionsleitung nach dem Gastzimmer aufgestellt war. Die beiden Fenster im Schlafzimmer waren ordnungsmäßig geschlossen und verwahrt; auch die Eisenriemen davor befanden sich in gutem Zustande. Die Tür zum anstoßenden Wohnzimmer stand offen. In diesem brannte ein Gasarm, dessen Flamme ganz niedrig geschraubt war. Auf dem Sofa lag ein zerwühltes Kisten, daneben auf der Diele eine wollene Bettdecke. Augenscheinlich hatte Franz sich auf das Sofa zum Schlafen niedergelegt, die eine Gasflamme hatte er niedrig brennen lassen, um sofort im Bedarfsfalle Licht zur Hand zu haben. Er mochte durch ein Geräusch vom Schlafzimmer her wach geworden sein und sich erhoben haben, um nachzuschauen. Hart neben der Türschwelle war er von dem ihn augenscheinlich erwartenden Täter ohne weiteres niedergeschlagen worden. Weder das Hauspersonal noch die Bewohner der Nachbarhäuser hatten während der Nacht irgend ein außergewöhnliches Geräusch oder gar einen Hilferuf vernommen. Dem Pferdeknecht war es allerdings, als ob es in der Nacht wiederholt heftig vorn am Haustor geläutet habe. Da aber das Türöffnen zu Franzens Obliegenheiten gehörte, hatte er sich nicht weiter darum gekümmert, sondern sich aufs andere Ohr gelegt und weitergeschlafen. Die beiden Mägde dagegen hatten überhaupt nichts gehört.

Der Kassenschrank war verschlossen und äußerlich unbeschädigt. Der junge Amtsrichter hatte gerade nach einem Sachverständigen geschickt, um den Schrank öffnen zu lassen, als Amtsrat Martini in Begleitung des Kreisarztes eintraf und sich unverzüglich durch die vor dem Hause angestaute neugierige Menge nach dem Tatorte begab, sofort von seinem jüngeren Kollegen begrüßt und von den Ergebnissen der bisherigen Beweissicherung in Kenntnis gesetzt wurde. Er durchschritt die beiden Zimmer, lauschte aufmerksam und nickte wiederholt beistimmend. Dann ordnete er die Wegschaffung der Leiche an. »Frau Bindewald kann jeden Augenblick zurückkehren,« erläuterte er, »die Aermste hat in den letzten Stunden ohnehin so viel Schweres durchzumachen gehabt, daß ich ihr diesen neuerlichen traurigen Anblick gern ersparen möchte. Auch von einer Oeffnung des Kassenschrankes wollen wir bis nach Rückkehr der Wirtin Abstand nehmen, sie dürfte wohl den Tresorschlüssel in Verwahr haben.«

Einige Personen drängten sich eben gewaltsam ins Zimmer; es waren dem Amtsrat persönlich bekannte Honoratioren, darunter die Vorstände des Vorschußvereines und der sonstigen Verbände, als deren Kassierer Bindewald amtierte. »Beruhigen Sie sich, meine Herren,« wiederholte er auf die ungestümen Darlegungen der ersichtlich Beunruhigten, »die Sache eilt durchaus nicht so. Allem Anschein nach ist die Kasse überhaupt nicht berührt worden, man merkt ja auch von außen keinerlei Verletzung … im übrigen kann ich Ihnen sagen, daß wir den mutmaßlichen Täter bereits gefaßt haben. Eine bei ihm bewirkte Haussuchung hat indessen nur Banknoten im Werte von einigen Tausenden zutage gefördert, die allerdings unzweifelhaft dem armen Bindewald gehört haben, aber die von ihm geführten Kassen nicht berühren. Hier beim Kassenschrank dürfte es wohl nur beim Versuch geblieben sein, entweder ist der Täter von dem Hausdiener überrascht worden und hat sich dann gegen diesen gewendet oder – und das ist wohl noch wahrscheinlicher – hat ihm Franz selbst Einlaß gewährt. Darauf läßt ja auch das nächtliche starke Klingeln schließen. Der Mann mag dem Alten irgend einen glaubhaften Vorwand vorgeflunkert haben, was weiß ich; jedenfalls hat der Aermste seine Vertrauensseligkeit bitter büßen müssen. Nach vollbrachter Tat mag dem feigen Mordbuben der Mut gesunken sein, er wagte es nicht, den Kassenschrank zu erbrechen, sondern begab sich eilig auf die Flucht – übrigens,« wendete er sich fragend um, »wer öffnet das Haustor?«

Der Pferdeknecht trat vor. »Das hat immer Franz getan.«

»Nun, wie verhielt es sich heute morgen damit?«

»Da habe ich es aufgeschlossen, ich habe auch einen Schlüssel dazu. Der alte Mehlig hat übrigens auch einen.«

»Der wohnt hinten im Hofe? Suchen wir ihn einmal auf, vielleicht hat er etwas gehört.«

Der Knecht führte sie durch den Hof nach dem Hintergebäude. Unterwegs wendete der den Amtsrat begleitende Kreisarzt sich an den ersteren. »Verstand ich Sie richtig, so glauben Sie in dem Krämer den Täter gefaßt zu haben?« fragte er.

Ueberrascht schaute ihn Martini an. »Aber natürlich – oder zweifeln Sie etwa daran?«

»Hm, ich weiß nicht. Wie soll der Mann denn dazu kommen, aufs Geratewohl in ein gut verwahrtes Haus einzubrechen? Das ist doch eine riskante Sache. Vergessen Sie auch nicht, daß die Tat mit dem Bierhammer vollbracht wurde. Wie soll Jungnickel überhaupt in den Besitz des Mordinstrumentes gelangt sein?«

Martini schob die Achseln hoch. »Franz mag ihn als Schutzwaffe bei sich gehabt haben. Er hat jedenfalls keine verbrecherische Absicht bei dem andern vorausgesetzt. Ich sagte schon, der Bursche mag sich unter recht glaubhaft klingendem Vorwand eingeführt und dadurch das Mißtrauen des Alten beseitigt haben. Er kann ja vorgegeben haben, im Auftrag der Lammwirtin zu kommen, um irgend etwas aus dem Schlafzimmer zu holen. Das kann nicht weiter auffallen, ziehen Sie die ganze ungewöhnliche Sachlage in Betracht. Jungnickel wußte, daß Bindewald tot war, er hat ihn ja selbst beseitigt. Dessen Dazwischenkunft hatte er nicht zu fürchten. Ebenso hatte er seinem eigenen Eingeständnis zufolge unseren und Frau Bindewalds Aufbruch mit angeschaut, er wußte also, daß er im Hause, einmal unauffällig in dieses gelangt, leichtes Spiel haben würde.«

Dr. Findler schien nicht überzeugt. »Der Mann hat auf mich einen guten Eindruck gemacht, ich kann ihm kein Verbrechen zutrauen, am wenigsten ein derartig waghalsiges.«

»Was wollen Sie! Da haben Sie den alten Wahrspruch von der bösen Tat, die fortzeugend Böses gebären muß. Die bei Bindewald gefundene Summe war dem Mörder nicht hinreichend. Einmal zum Verbrecher geworden, scheute er auch eine weitere Untat nicht, um in den Besitz großer Mittel zu gelangen. Das Messer saß ihm ohnehin an der Kehle. Dazu kommt nun noch dieser Sanders, der ihn aufgehetzt haben mag. Daß Bindewald in seinem Hause immer große Summen aufbewahrte, ist stadtbekannt und die Kenntnis hievon ist auch dem Krämer ohne weiteres zuzutrauen – – nein, nein,« setzte er, sich ereifernd, hinzu, »der Fall ist zu durchsichtig, um etwaigen Zweifeln Raum geben zu können. Wir haben durch eine Verkettung günstiger Umstände den Täter, verlassen Sie sich darauf, Sie alter Skeptiker.«

Er wollte die zum Oberstock des Hinterhauses führende Treppe beschreiten, aber der Kreisarzt hielt ihn nochmals zurück. »Was wollen Sie denn noch, Doktor?«

»Haben Sie vergessen, daß Jungnickel behauptet, Bindewald habe ihm das Tor auf sein Läuten selbst geöffnet?«

»Ah was, gehen Sie!« Der Amtsrat lachte geringschätzig kurz auf. »Da haben Sie ja die Schlinge, in der sich dieser Bursche verfangen hat … Bindewald ist tot, von ihm ermordet … nein, nein, Doktor, wir halten uns mit solch akademischen Erörterungen nur nutzlos auf. Wir haben es mit einem sorgsam durchdachten Verbrechen zu tun, das wahrscheinlich mit verteilten Rollen durchgeführt worden ist. Jungnickel war im »Löwen«, als der Abschluß des Kaufgeschäftes erfolgte. Er brachte die Kunde davon, daß Bindewald am nächsten Nachmittag mit einer großen Geldsumme wieder nach Höhenbronn zu kommen gedachte, zur Kenntnis seines sauberen Schwiegervaters, und in dessen abgefeimten Spitzbubengehirn mag dann der ganze Anschlag gereift sein. Zuerst handelte es sich nur um die Summe, welche Bindewald bei sich trug, aber wie so oft schon kam auch hier der Appetit mit dem Essen.«

Sie hatten inzwischen die zum oberen Stock führende Stiege erklommen und standen nun auf einem Vorplatz, zu dem zwei Türen führten. Die eine davon war spaltbreit geöffnet und dahinter wurde die verwachsene Gestalt eines jungen Mädchens sichtbar, das mit seltsam gespanntem Ausdruck in den fahlen, sommersprossigen Zügen auf die Ankömmlinge starrte. Wie sie deren fragenden Blicken begegnete, senkten sich ihre grünlich schillernden, an den Rändern entzündeten Augen, sie trat unschlüssig von einem Fuß auf den andern und fuhr nervös mit der knochigen Hand über das brandrote, schlichtgescheitelte Haar. »Die Herren wollen zum Vater?« brachte sie undeutlich hervor. »Ich glaube, er schläft noch.«

»Sie sind die Tochter des Postboten Mehlig?« fragte der Amtsrat statt einer Antwort. Als das Mädchen nur unsicher nickte, setzte er hinzu: »Sie leben zusammen mit Ihrem Vater in dieser Wohnung?«

»Ja, Mutter ist schon lange tot, ich führe dem Vater die Wirtschaft.«

»Nun, wir müssen Ihren Vater sprechen, Sie werden ihn schon wecken müssen – übrigens noch eine Frage,« hielt Martini das Mädchen zurück. »Sie schliefen heute nacht hier in der Wohnung – ja? Sagen Sie, haben Sie Geräusch gehört, Lärmen oder Hilfeschreien?«

Das Mädchen schüttelte nur mit dem Kopfe, während es zwischen Tür und Angel stehen blieb, wie um die Beamten am Eintritt zu verhindern. Martini machte kurze Umstände; er schob sie zur Seite und trat an ihr vorüber in das ärmlich eingerichtete Zimmer. »Sie wollten wohl gerade fortgehen?« meinte er dann und deutete auf eine lederne Einkaufstasche, die das Mädchen in der Hand hatte.

Die Gefragte verneinte; unschlüssig setzte sie die Tasche auf den Tisch. »Nein, ich suchte nur etwas,« sagte sie, und wie in der Verwirrung nahm sie die Tasche wieder auf.

»Sie brauchen sich nicht zu ängstigen,« suchte der Amtsrat zu begütigen, dem ihr scheues Wesen nicht entging und der dieses auf erklärliche linkische Scheu im ungewohnten Verkehr mit Fremden zurückführen zu sollen glaubte. »Der Herr Kreisarzt hier will nach Ihrem Vater sehen, und zugleich will ich auch ihn fragen, ob er etwas gehört hat. Vater ist wohl recht angegriffen?«

Das Mädchen, schien seine Frage nicht zu verstehen; sie starrte ihn noch immer voll mißtrauischer Scheu an und hielt dabei krampfhaft die Handtasche fest. »Es ist wohl vorne etwas passiert?« meinte sie nach wiederholten vergeblichen Versuchen, zum Sprechen anzusetzen.

Martini beachtete die Frage nicht weiter, so ungeschickt sie ihm auch erschien, denn es war doch wohl anzunehmen, daß die Kunde von dem blutigen Geschehnis auch schon bei den Bewohnern des Hinterhauses bekannt geworden war. Auch die ganze Haltung und Miene der jungen Person verrieten es, daß sie um die Vorgänge wußte.

Dr. Findler war inzwischen schon an die zur Nebenstube führende Zwischentür getreten. Nun stand er unter dieser und winkte dem Amtsrat zu. »Da liegt der alte Schwede und schnarcht aus Leibeskräften,« meinte er rücksichtslos laut. Damit deutete er nach einer Bettstelle, auf deren buntgeblümtem Ueberzug der Postbote lang ausgestreckt lag, noch mit derselben verblichenen Montur angetan, wie er sie am Vorabend getragen hatte. Nicht einmal die Stiefel hatte er ausgezogen und deren aufrecht stehende Sohlen präsentierten sich gerade den Blicken der beiden jetzt Nähertretenden. Das Zimmer war überheizt und es roch in ihm stark nach Branntwein. Der Kreisarzt deutete auf einige Flaschen, die auf einem Tische neben dem Bettkopfende standen, und lachte dann kurz auf. »Na, Medizin ist wohl darin nicht gewesen.« Er roch prüfend an einer der Flaschen. »Dachte ich es mir doch … alle Wetter,« setzte er mit Kennermiene hinzu, »das riecht nach altem, teurem Kognak, wo den der alte Schluckspecht wohl wieder hergezaubert hat … aber eine Lust ist hier, rein nicht zum aushalten!«

Er ging hastig an eines der Fenster und riß es auf, begierig die voll hereinflutende eisige Winterluft einatmend. Dann kehrte er zu dem Schläfer zurück, packte ihn bei der Schulter und begann ihn unsanft zu rütteln. »Heda, Mehlig, aufgewacht, der Amtsrat ist da und will Sie was fragen – na, wird's bald, alter Freund?« Er rüttelte noch derber. »Und den Verband hat er auch nicht mehr, der alte Flunkerer,« meinte er ärgerlich auflachend. »Da überzeugen Sie sich selbst, Amtsrätchen« – er deutete auf die Stirn des Schläfers – »ganz oberflächliche Hautabschürfungen, nicht der Rede wert. Wie der Mann davon in Ohnmacht gefallen und durch Stunden bewußtlos im Schnee gelegen haben will – na, das ist schon mehr der höhere Aufschnitt!«

Er mochte den Schläfer indessen nach Kräften schütteln und rütteln, es blieb alles vergeblich, Mehlig ließ sich nicht ermuntern. Er grunzte einige Male unwillig, blinzelte verschlafen ein wenig mit den Augen, ohne diese zu öffnen und schnarchte im nächsten Moment nur noch um so kräftiger.

»Ich will Ihnen etwas sagen, Amtsrat,« meinte Findler, endlich von seinen nutzlosen Bemühungen lassend, »da ist in den nächsten Stunden nichts zu machen, unser Mann ist hier einfach sinnlos betrunken … kohortenmäßig voll, sage ich Ihnen, wie die holde Thusnelda nach dem Siegesmahl.«

Kopfschüttelnd betrachtete Martini den Schläfer. »Das scheint mir freilich ein aussichtsloser Fall,« meinte er ungehalten »Aber Sie müssen ihn ermuntern, Doktor, vielleicht durch schwarzen Kaffee – oder sonst ein Mittel.«

Der Kreisarzt beschäftigte sich schon wieder mit dem Schnarchenden. »Pfui Deubel, der Bursch' riecht wie ein ganzer Branntweinladen – kein Wunder übrigens, nach den Flaschen hier auf dem Tische zu urteilen, hat er mindestens anderthalb Liter vom allerstärksten Kognak inne.«

»Unglaublich!« Martini schlug die Hände zusammen. »Der Mensch war doch so abgespannt gestern abend.«

»Er gab sich wenigstens dafür aus – ich habe Ihnen ja meine Meinung darüber schon gesagt,« knurrte der Kreisarzt. »Uebrigens wäre dies kein Hinderungsgrund, denn was ein richtiger Schluckspecht ist, der trinkt und wenn er nicht mehr japsen kann, vorausgesetzt, daß er den nötigen Stoff hat – und an dem hat's nicht gefehlt.« Er nahm während des Sprechens eine der Flaschen zur Hand, in der sich noch ein kleiner Rest befand, beroch ihn, schüttete ihn in die hohle Hand und kostete. »Donnerwetter,« entfuhr es ihm, »ich will mich gleich hängen lassen, wenn das nicht von des Lammwirts Vierzigjährigem, ist – Sie kennen doch den Fünfgesternten, von dem der Fingerhut voll 'ne Reichsmark kostet?«

»Aber wie sollte Mehlig zu solch' teurem Tropfen kommen, ihn noch dazu gleich literweise trinken?«

»Ja, da müssen Sie ihn schon selbst darnach fragen, Verehrtester,« meinte Findler achselzuckend, »jedenfalls ist der Mann nicht vernehmungsfähig – wir können es ja mit schwarzem Kaffee versuchen, aber allem Anschein nach liegt er im ersten Säuferschlaf und aus dem gibt es so bald kein Erwachen.«

Martini wendete sich der Tochter zu, die unter der Zwischentür stehen geblieben war, immer die Handtasche krampfhaft im Arm, und jedes gesprochene Wort förmlich verschlang. »Seit wann befindet sich Ihr Vater in diesem Zustande?«

»Ich weiß nicht, Vater trinkt öfter, ich hab' gestern schon geschlafen, als sie ihn heraufbrachten. Ich mußte ja aufstehen, war aber müde und habe mich nicht weiter um ihn bekümmert, sondern mich gleich wieder hingelegt.« Das alles kam so gedrückt, zögernd und widerwillig hervor, daß es dem Amtsrat auffiel. Er betrachtete sie forschend.

»Hören Sie, der Herr Kreisarzt meint, es sei sündhaft teurer Kognak, den Ihr Vater da im Uebermaß getrunken hat, woher hat er ihn denn bekommen?«

»Was weiß ich? Da müssen Sie Vater schon selbst fragen, ich bekümmere mich nicht um seinen Schnaps,« meinte das Mädchen schnippisch.

»Na, da wollen wir ihm ein mal auf die Beine helfen,« entschied Dr. Findler, während der Amtsrat sich geärgert abwendete. »Allons, kochen Sie 'mal einen starken Kaffee – haben Sie mich nicht verstanden?« begehrte er auf, als das Mädchen sich nicht von der Stelle rührte, sondern fortfuhr, ihn dummdreist anzuglotzen. »Sie werden doch Kaffee kochen können? Na also – und ist kein Kaffee im Hause, so gehen Sie ins Vorderhaus und lassen sich welchen geben.«

Das half. Widerwillig, eine gekränkte Miene dabei aufsetzend, schickte sich das Mädchen an, seinem Gebot Folge zu leisten. Sie behielt die Handtasche dabei im Arm, obwohl sie ihr bei jeder Hantierung im Wege war. Richtig verschüttete sie Wasser aus dem Kessel und mit dem Anschüren des Feuers im Zimmerofen wollte sie in ihrem Ungeschick gar nicht zurecht kommen.

»Zum Donnerwetter, so tun Sie doch die einfältige Tasche aus der Hand!« begehrte der Kreisarzt auf. Damit nahm er sie ihr auch schon ungeachtet ihres Widerstrebens fort und setzte sie auf den Tisch. »Sie tun ja gerade, als ob Sie wunder was für Kostbarkeiten drinnen hätten. Haben Sie nur keine Besorgnis, wir sind nicht neugierig – oder soll ich einmal nachschauen?« setzte er in halbem Scherz hinzu.

Wie er Miene machte, am Verschluß der Tasche zu rühren, kam das Mädchen auch schon auf ihn zugestürzt und riß ihm die Tasche aus der Hand. »Das sind meine Sachen, das geht niemanden etwas an!« rief sie aufgeregt.

Angewidert von ihrem Benehmen war der Amtsrat zurückgetreten und um das Bett herumgegangen. Jetzt stand er wieder am Fußende und schaute mit gerunzelter Stirn auf die sich ihm gerade zukehrenden Stiefelsohlen des Schläfers. Plötzlich stutzte er, bückte sich und schaute näher zu.

Der Kreisarzt hatte sein Tun beobachtet. Er war eben dabei, selbst Kaffee zu kochen, da das Mädchen die Tasche wieder fest an sich gepreßt hielt und in mürrischem Schweigen untätig stand. »Nun, was haben Sie, Amtsrat, Sie zeigen ja eben Ihre allerdüsterste Amtsmiene?«

Statt jeder Antwort winkte ihn Martini nur herbei, und als der andere neben ihn trat, wies er auf die linke Stiefelsohle des Schlafenden. »Benagelte Sohlen – und der vordere Mittelnagel fehlt,« flüsterte er erläuternd.

Dr. Findler schaute hinzu und nickte dann nachdenklich. »Na, ich hab's ja gleich gesagt, die Sache stinkt,« meinte er dann in seiner drastischen Manier. »Der alte Bursche kam mir gestern schon nicht koscher vor – es kann übrigens auch ein Zufall sein,« setzte er hinzu. »Sohlennägel fallen leicht aus.«

Martini gab keine Antwort. Er hatte die von ihm im Walde aufgenommenen Maße hervorgezogen und verglich sie mit dem Stiefelpaar des Schläfers, unausgesetzt verfolgt von den unruhig wandernden Augen des Mädchens. »Merkwürdig,« sagte er dann, »das Maß stimmt, die Tapfen waren freilich nur roh und verwischt – aber das Maß stimmt.«

»Duplizität der Ereignisse,« bemerkte Dr. Findler. Ganz leise, nur für das Ohr des Amtsrates berechnet, setzte er hinzu: »Noch merkwürdiger übrigens, daß die Krämersfrau Sie ebenso hartnäckig an der Durchsuchung der Bonbonvase verhindern wollte, wie beispielsweise das Frauenzimmer dort angstvoll ihre Handtasche hütet.«

»Das wollen wir doch sehen.« Der Amtsrat ging auf das Mädchen zu. Dieses wich scheu vor ihm zurück, sah sich aber alsbald in eine Zimmerecke gedrängt und von dem Richter gestellt. »Was haben Sie da in der Tasche? Oeffnen Sie sie einmal.«

Keine Antwort. Das Mädchen blieb stumm, preßte die Tasche wie einen köstlichen Schatz nur noch fester an sich und maß ihn mit dem funkelnden Angstblick einer gestellten Wildkatze.

»Oeffnen Sie die Tasche!« gebot der Amtsrat und als sie keine Miene machte, seinem Befehl zu folgen, aber der Schweiß ihr in dicken Tropfen von der Stirn zu rinnen begann, sagte er in noch strengerem Tone: »Ich stehe hier von Amts wegen, in diesem Hause wurde ein Verbrechen begangen und ich bin zur Haussuchung berechtigt. Oeffnen Sie die Tasche!«

Das Mädchen fuhr nur fort, ihn in stumpfsinniger Verzweiflung anzustieren, ohne dabei ein Glied zu rühren. Aber als Martini Miene machte, die Hand nach der Tasche auszustrecken, schrie sie wie von Sinnen auf und stieß seine Hand zurück. Ein wütender Kampf um den Besitz der Tasche entspann sich, der indessen, zumal der Kreisarzt seinem Amtskollegen zu Hilfe kam, nur von kurzer Dauer sein konnte.

Als das Mädchen die Tasche loslassen mußte, kreischte sie wie rasend auf. Sie stürzte an das Bett und begann den Schläfe darin wild zu schütteln. »Vater, Vater,« gellte sie in widerlichen Lauten, »so wach doch auf – die Männer sind da« –. Mitten im Wort brach sie ab. Gewandt wie eine Katze schnellte sie zurück, kratzend und um sich beißend suchte sie wieder in den Besitz der Tasche zu gelangen. Rasch war der Kreisarzt ans offene Fenster herangetreten und hatte vom Hofe einige Beamte heraufgewinkt. Aber es bedurfte deren vereinigten Bemühungen, um die schwächliche Person zu überwältigen, die wie eine Löwin um ihr Eigentum kämpfte. Widerwärtig erfüllte ihr Gegell den Raum und drang in die klare Winterluft hinaus. Unberührt von den Vorgängen rings um ihn lag der Trunkenbold im Bett und schnarchte unvermindert heftig weiter.

Geschäftig war Martini eben dabei, den Inhalt der Tasche auf den Tisch zu legen. Plötzlich stutzte er. Eine ganze Handvoll Banknoten hatte er zu fassen bekommen; mehr noch, eine wertvolle Uhr mit schwer goldener Kette daran. Die Uhr ging noch, sie wies die richtige Stunde. Auch den Lippen des Kreisarztes entrang sich ein überraschter Ausruf. Uhr und Kette gehörten dem Lammwirt; da war ferner sein Siegelring, sein Schlüsselbund, seine sämtlichen Gebrauchsgegenstände, die sie als Stammgäste tagtäglich im Besitze des Toten wahrgenommen hatten.

In stummem, starrem Staunen betrachteten die Beamten die Sachen. Martini faßte sich zuerst wieder. Er gebot, das noch immer jammernde und von Gendarmen festgehaltene Mädchen an den Tisch zu führen. Mit strenger Geberde brachte er die Heulende zum Verstummen, bis sie endlich zitternd, nur noch verhalten schluchzend vor ihm stand. »Diese sämtlichen Wertsachen hier, vermutlich auch die Banknoten, gehören dem Lammwirt Bindewald, dem Brotgeber Ihres Vaters. Seine Leiche ist bereits gefunden worden. Wie kommen Sie zu diesen Sachen?«

»Ich weiß nicht,« heulte das Mädchen. »Ich fand sie heute früh im Hofe, in ein Bündel gebunden … und da hab' ich der Versuchung nicht widerstehen können, sie mir anzueignen.«

»Sie lügen,« unterbrach der Amtsrat scharf. »Glauben Sie ja nicht, daß Ausflüchte Ihnen helfen, ich verhafte Sie sofort, sagen Sie mir nicht die reine Wahrheit. Gestehen Sie – die Sachen hat Ihnen Ihr Vater gegeben.«

»Mein Vater? Ach du lieber Himmel, wann denn?« Fast war es, als ob das Mädchen seiner Verzweiflung zum Trotz höhnisch auflachte, »der hat sich doch auf die Nacht so angetrunken, wo soll der denn das Geld und die Uhr her haben?«

Der Amtsrat schaute sie durchdringend an. »Sie wollen mir das Märchen aufbinden. Sie hätten den gesamten Inhalt wirklich im Hofe gefunden?«

»Ja, ja,« heulte das Mädchen, »ich kann es doch nicht anders sagen, wie es ist. Es ist ja unrecht von mir, aber ich habe es gar nicht behalten wollen. Ich bin nur so erschrocken, wie die Herren plötzlich heraufgekommen sind … und da hab' ich halt den Kopf verloren.«

Es war nichts weiter aus ihr herauszubekommen, sie beharrte bei ihrer Angabe. Sie wollte wie gewöhnlich nach Milch gegangen sein und bei dieser Gelegenheit das Bündel gefunden haben. Sie hatte es oben in der Wohnung ausgepackt und dabei gleich die Uhr und Kette als Bindewalds Eigentum erkannt. Es blieb vorläufig nichts übrig, als sich bei ihrer Aussage und der wiederholt hinzugefügten Beteuerung, gewiß und wahrhaftig habe sie die Fundstücke an Frau Bindewald zurückgeben wollen, zu beruhigen, zumal es allen Bemühungen des Kreisarztes nicht gelingen wollte, Mehlig zu sich zu bringen. Er war nicht einmal so weit zu ermuntern, um ihm von dem fertiggebrauten starken Kaffee einflößen zu können.

»Wir müssen ruhig abwarten, bis er von selbst aufwacht,« bemerkte Dr. Findler, »sein unnatürlich tiefer Schlaf läßt übrigens mit Sicherheit darauf schließen, daß er sich den Riesenrausch erst vor kurzem, etwa um den werdenden Morgen, angetrunken haben kann; hätte er das bereits gestern abend besorgt, so müßte er jetzt schon zu ermuntern sein. Dafür spricht auch sein ganzer Habitus, der unregelmäßige Pulsschlag und das Aussehen der Pupillen.«

Amtsrat Martini beorderte einen Gendarmen, unausgesetzt in der Wohnung zu bleiben, sofort das Wachwerden des Trunkenboldes zu melden und jeden Verständigungsversuch zwischen diesem und seiner Tochter strengstens zu vereiteln. Dem Mädchen bedeutete er, daß es bis auf weitere Verfügung sich in der Wohnung aufzuhalten habe und diese nicht verlassen dürfte.

»Das ist alles, was ich vorläufig tun kann,« meinte er auf der Treppe zu dem Kreisarzt, der mit seinen Anordnungen nicht einverstanden war. »Verhaften soll ich die beiden? Mehlig nach der Gefangenabteilung des Krankenhauses schaffen lassen? Aber mit welchem Recht, mein Bester? Zugegeben, das ganze Gebaren der Tochter war so unsympathisch wie möglich, vielleicht sogar direkt verdächtig – aber ihre Erklärung ist ganz plausibel, sie klingt wenigstens so; bis wir ihr die Unwahrheit nicht nachweisen können, liegt nicht einmal Fundunterschlagung vor. Sie behauptet ja ausdrücklich, die Absicht zur Zurückgabe der Wertsachen gehabt zu haben. Können wir uns erst Mehlig vorknöpfen und ihn in Widerspruch zu seiner Tochter bringen, dann freilich –« Er pfiff leise vor sich hin. »Wie mag der Bursche übrigens zu dem alten Kognak gekommen sein? Den hütete der arme Bindewald doch immer eifersüchtig. Wir müssen den Rest in der Flasche an uns nehmen.«

»Habe ich bereits besorgt,« entgegnete der Kreisarzt, auf die Brusttasche deutend, aus der ein Flaschenhals hervorragte. »Ich werde Frau Bindewald sofort um den Bestand ihres Vierzigers befragen, mir ein Pröbchen ausbitten und dem Sonntag zum Trotz gemeinsam mit unserem Kreisapotheker eine gründliche Untersuchung vornehmen.«

Der Amtsrat nickte nur. Das letzte Erlebnis beschäftigte ihn noch sehr, er mußte den ganzen Inhalt erst geistig verdauen, wie es seine Gewohnheit war, ehe er sich weiter darüber auslassen konnte. Zudem regte sich sein juristisches Gewissen bereits; schon jetzt war er zu der Annahme geneigt, daß die Tochter des Postboten die Wahrheit gesprochen hatte. Verhielt es sich aber so, mit welcher Berechtigung hatte er dann gegen das schutzlose Mädchen so hart und unerbittlich auftreten dürfen?

Die Lammwirtin war zurückgekehrt, als die Beamten wieder das Erdgeschoß im Vorderhaus betraten. Sie fanden die Matrone im Schlafzimmer, wo noch immer die Polizei tätig war, zwar erschöpft und in einem Zustand tiefer seelischer Niedergeschlagenheit, aber doch gefaßter und aufrechter als sie zu hoffen gewagt hatten.

»Der Mensch muß viel aushalten können,« sagte sie auf eine dahinzielende Bemerkung, des Amtsrats; »halten Sie mich nicht für unchristlich, wenn ich Ihnen sage, daß das Bewußtsein, die schändlichen Uebeltäter bereits gefaßt zu wissen, viel zu meiner Stärke beiträgt – wenn man nun noch diesen Zuchthäusler erwischen könnte, so –« Sie brach mit einem rachsüchtigen Aufseufzen ab.

»Sie sprechen von Sanders?« Der Amtsrat nickte. »Nach ihm spielt schon der Telegraph in allen vier Himmelsrichtungen. Wenn er sich nicht unsichtbar zu machen weiß, werden wir ihn bald haben. Er hat sich gewiß nach der nahe gelegenen Schweizer Grenze gewendet – und daß ihm dort ein warmer Empfang zuteil wird, dafür ist schon gesorgt.«

Die Lammwirtin schlug plötzlich beide Hände vor das Angesicht; ein Stöhnen kam über ihre Lippen. »Ich meine fast, ich muß mich rechtfertigen vor Ihnen, meine Herren, weil ich gar so unchristlich hasse,« sagte sie mit zuckendem Munde. »Sehen Sie, heute vormittag in Höhenbronn – ich habe nicht anders handeln können. Man hat mir's viel verdacht, daß ich mein eigen Fleisch und Blut abgetan habe. Aber es ist über meine Menschenkraft gegangen, ich wäre wahnsinnig geworden, hätte ich das Kind länger um mich gehabt … ich hätte zur Verbrecherin an ihm werden können, und sie kann doch nichts dafür, daß sie das Kind von so einem ist – aber doch – doch,« setzte sie mit einem wilden Aufschluchzen hinzu, »sie hat mich immer mit seinen Augen angeschaut – es war sein Gesicht – und das war stärker als ich – der Haß nämlich gegen ihn. Er hat mir das Leben vergiftet, mehr noch, er hat mich tot gemacht, denn ich leb' ja gar nimmer, ich bin gar nimmer da … nur noch dem Leibe nach all die vielen Jahre – und ich hab' ihn einmal lieb gehabt!« rief sie mit abgewendetem Gesicht, immer willenloser überwältigt von der mächtig in ihr aufsteigenden Erinnerung. »Sein war ich mit Leib und Seele. Ich kannte keinen Vater, keinen Gott mehr, ich kannte nur ihn, anbeten hätt' ich ihn mögen, jeder Blick und jedes Wort von ihm war mir heilig, war wie ein Himmelsgeschenk … und ich hätt' dem ins Gesicht gelacht, der mir gesagt hätte, es gäb' ein ander Glück auf Erden, das an das meine heranreichen könnte – und bis zuletzt war ich ein demütiges Stück Vieh, das von seinem Herrn hinnimmt, was zu bieten ihm einfällt, Brot oder Schläge – und war er auch hart zu mir und ungerecht, ich wollt' es nicht sehen, ich war blind für seine Fehler, welch' liebend Weib wäre das nicht – und wenn er über meinen Vater loszog, ihn geizig schalt und drohte, er würde es ihm heimzahlen, ließe er ihn in der Verlegenheit sitzen, ich lachte nur darüber und küßte ihm die bösen Worte von den Lippen … ich war ja so klug, ich kannte ja meinen Mann so genau, der hatte das goldigste Herz von der Welt, konnte keiner Fliege was zu Leide tun … und wenn er mir das Messer an die Kehle gesetzt hätte, so hätte ich noch gelacht, denn ich hätt' ihm einfach keine Schlechtigkeit glauben können – bis ich ihn über meines Vaters Leiche sah,« setzte sie unter einem dumpfen Aufstöhnen hinzu, wieder das Angesicht mit beiden Händen verhüllend, »da hab' ich es freilich glauben müssen … aber von jener Stund' an bin ich tot, liege mit all meinem Glauben und Lieben im Grab.«

Immer mehr eine willenlose Beute der in ihr wühlenden Verzweiflung stand sie stumm durch lange Minuten; ohne es zu wissen, ergriff sie dann die ihr herzlich entgegengestreckte Hand des Amtsrates. »Ich kenne mich selbst nicht mehr, bin irre an mir geworden,« gestand sie mit zuckendem Munde. »Oft in stiller Nacht klagt es mich an, ich sei nicht besser wie der Zuchthäusler, weil ich in dem unschuldigen Kind allen Glauben und alles Vertrauen ebenso gemordet habe wie er meines Vaters Leben … und oft hab' ich mir dann schon geschworen gehabt, anders zu werden und meinem Kinde Liebe zu geben, so viel Liebe wie ein verschütteter Brunnen noch Wasser spenden kann. Wenn's dann aber wieder Tag geworden war, da war auch der Haß wieder da und ich konnte nicht gegen ihn an … und hatt' ich nicht recht mit meinem Haß?« schrie sie in jäher Leidenschaftlichkeit, starr den Blick geradeaus gerichtet, »lebt des Vaters Verruchtheit nicht in seines Kindes Herzen fort? … Ich hab' meinen zweiten Mann nicht lieb gehabt, darin habe ich ihm wohl schuldig bleiben müssen, lieben konnte ich eben nur einmal im Leben. Aber dankbar bin ich ihm gewesen, weil er so treu und gut zu mir war und mir Frieden an seiner Seite gegeben hat … und nicht einmal den hat mir der Unhold vergönnt. Zum andern Mal ist er mordend in mein Leben getreten, sein eigen Kind hat er mit in das Verderben gezogen, denn das ist so sicher wie der helle Tag, darauf will ich meine ewige Seligkeit wagen und verdammt sein, ist's nicht wahr, das junge Weib und ihr Mann, sie haben gleiche Schuld mit dem Zuchthäusler!«

In maßloser Erbitterung, während jede weiche Linie aus ihrem Angesicht wieder gewichen, wendete sie sich, die Hände über die Brust gefaltet, neuerlich an den Amtsrat. »Soll ich nun keinen Frieden mehr haben, so bitt' ich Sie, machen Sie die Diebe an meinem Glück auch friedlos … sie sollen nichts vor mir voraus haben, so elend sollen sie werden wie ich's durch ihre Schuld geworden bin!« Sie konnte nicht länger die ihre Augen verdunkelnden heißen Zähren verbergen, und um sie nicht vor den Beamten sehen zu lassen, wendete sie sich und verließ eilig das Zimmer.

Eine geraume Weile, nachdem sich die Tür hinter der Lammwirtin geschlossen, blieb es noch still im Raum. Betreten, den eigenen Empfindungen nachhängend, verharrten die Beamten wortkarg. Schließlich meinte der Kreisarzt mit einem ungeduldigen Achselzucken: »Die Frau ist mir unheimlich mit ihrem Haß. Ich will Ihnen etwas sagen, Amtsrat, das Nervenfieber steckt ihr noch im Gehirn, so lange es auch schon her ist, sie ist ausgesprochen schwermütig, und mich soll's nicht wundern, kommt es bei ihr zu einer Katastrophe.«

»Mag sein, jedenfalls ist sie tief unglücklich. Seit heute weiß ich, daß die Martern, die sie wahnbetört andern auferlegt, nichts im Hinblick auf die von ihr selbst erduldeten sind. Auch ich fürchte für sie, die von ihr zur Schau getragene starre Ruhe und Selbstbeherrschung ist trügerisch. Sie als ihr Hausarzt dürften gut tun, ein Augenmerk auf sie zu haben.«

Langsam traten sie durch den Verbindungsgang in die Gasträumlichkeiten. Außer einem wachhabenden Polizisten befand sich niemand in der weiten Zimmerflucht, da Unbefugten streng der Zutritt verwehrt geblieben war.

Martini hatte die Taschenuhr gezogen; wie er sie unwillkürlich mit dem Zifferblatt der über dem Büfett hängenden großen Wanduhr verglich, stutzte er. »Die Uhr dort muß stehen geblieben sein,« stellte er fest. »Ihre Zeiger zeigen auf neun Minuten über fünf Uhr, und wir haben knapp zwei.«

»Das wundert mich, sie geht doch vierzehn Tage und die Lammwirtin zog sie gestern abend gerade auf, als ich hereinkam – nicht wahr, Frau Bindewald?« wendete Dr. Findler sich an die eben wieder zur Tür Hereinkommende.

Diese schien nach außen hin wieder völlig gefaßt, ruhig, ja gleichgültig. Sie nickte nur und trat an das dreiteilige Büfett heran. Zu beiden Seiten befanden sich weitläufige Gläserbretter, im mittleren Glasschrank wären ganze Flaschenbatterien untergebracht; in dem darüber befindlichen, bis an die Zimmerdecke ragenden hölzernen Schmuckaufsatz war die große Uhr eingelassen.

Kopfschüttelnd näherte sich Frau Bindewald dem Büfett. »Das begreife ich nicht, natürlich zog ich die Uhr auf, sonst besorgt es immer mein Mann, aber weil er doch nicht da war –« Sie unterbrach sich noch stutziger. »Hier, der Flaschenschrank ist aufgebrochen worden,« sagte sie, griff in ihre Tasche und holte den Schlüsselbund hervor. »Sehen Sie, hier ist der Schlüssel dazu. Ich zog ihn gestern vor der Wegfahrt ab, weil ich Franz nicht in Versuchung führen wollte; so brav er auch war, konnte er nach Männerart einem guten Trunk doch nicht widerstehen.«

Die Männer traten hinzu. Ohne Schwierigkeiten ließ sich feststellen, daß die dünne Holzeinfassung der Glastür gewaltsam aufgesprengt worden war, vermutlich mittels eines starken Messers, das durch die Ritze gezwängt worden war; wenigstens lag ein solches noch neben dem Büfett, es stammte aus dem unter dem Glasschrank plazierten Messerkorb.

Amtsrat Martini stieg sofort auf einen Stuhl, um das Schrankinnere zu besichtigen; der Kreisarzt erkundigte sich dagegen nach dem Standort des »Vierziger«-Kognaks.

»Davon sind nur noch zwei ganze und eine halbe Flasche da. Sie müssen ganz oben dicht unter der Uhr stehen, gewöhnliche Literflaschen ohne Etikette – Vorsicht, Herr Rat,« unterbrach sie sich mahnend, »heben Sie den Arm nicht so hoch, oder Sie heben den Perpendikel aus.«

»Ist bereits geschehen,« stellte Martini fest. »Darum ist die Uhr auch stehen geblieben.«

»Folglich war genau neun Minuten nach fünf Uhr früh heute jemand hier am Flaschenschrank,« schaltete Dr. Findler trocken ein. »Franz kann es nicht gewesen sein, denn der war um diese Zeit längst tot.« – – –

»Ich kann nur eine einzige Flasche ohne Etikette finden,« sagte der Amtsrat.

»Doch, doch, sehen Sie nur genau zu, sie müssen dort sein. Mein Mann hat absichtlich die Etiketten abgekratzt, weil er von dem kleinen Vorrat nicht mehr verkaufen wollte, ich sollte ihn allein haben. Sie haben mir ja selbst gegen mein Magenleiden einen besonders guten Kognak verschrieben,« wendete sie sich an den Kreisarzt, und als dieser nickte, setzte sie hinzu: »Gestern waren noch zwei ganze Flaschen da und eine halbe, aus dieser schenkte ich mir ein Gläschen ein.«

»Hier ist nur eine Flasche,« wiederholte Martini.

»Sie ist noch verkorkt und gefüllt,« stellte Doktor Findler, der sie ihm abgenommen, fest. »Zwei Flaschen fanden wir oben bei dem würdigen Mehlig.« Er zog die in dessen Wohnung beschlagnahmte Flasche hervor. »So, nun entschuldigen mich die Herrschaften für kurze Zeit, ich will nur auf einen Sprung zum Kreisapotheker hinüber und gemeinschaftlich mit ihm den Inhalt beider Flaschen auf seine Uebereinstimmung hin prüfen.«

Martini war wieder vom Stuhl abgestiegen. »Na, da habe ich mir die Hände ziemlich staubig gemacht – schadet nichts, Frau Bindewald,« begütigte er, »etwas Wasser und Seife bringen die Sache wieder ins Lot.«

»Es ist doch kein Verlaß auf die Mägde!« ereiferte sich die Frau, »da ist man einen Tag aus der Wirtschaft und gleich geht alles verkehrt … es staubt freilich hier im Wirtszimmer sehr viel … aber trotzdem … da schauen Sie selbst, das soll aufgewischt sein!« Sie hob die Schürze und wollte einen Staubflecken wegwischen, der auf der dunkelgebeizten Büfettplatte gerade vor der Glastür des Mittelschrankes sichtbar wurde.

»Behüte,« fiel ihr Martini ins Wort und hielt ihre Hand fest. »Da hätten Sie beinahe was Schönes angerichtet … ach, lieber Doktor, kommen Sie doch noch einmal hierher!« rief er dem Kreisarzt nach, der schon an der Ausgangstür sich befand.

»Nun, Verehrtester, was soll es?«

Martini hatte die Lupe hervorgezogen und besichtigte angestrengt den Staubfleck. Dann reichte er das Vergrößerungsglas dem Arzt. »Schauen Sie selbst zu, entdecken Sie nichts?«

»Aber allemal.« gab Dr. Findler zurück. »Da hat sich ganz deutlich eine benagelte Stiefelsohle in den Staub abgedrückt … und natürlich fehlt der Mittelnagel … der Mann stand offenbar nur auf dem linken Fuß, während er mit dem andern in der Lust balancierte und sich nach oben reckte, um die Kognakflasche erreichen zu können … das paßt auf einen kurzen Burschen von knappem Mittelmaß … also etwa auf unseren Freund Mehlig … nun aber bin ich auf unsere Analyse doppelt begierig. Passen Sie auf, Amtsrätchen, ich bringe Ihnen eine Ueberraschung mit.« Hastig entfernte er sich, während Martini sich daran machte, so behutsam wie möglich und ohne Beschädigung der Spur diese aufzuzeichnen und mit seinen früher genommenen Maßen zu vergleichen.

Er war kaum damit fertig geworden, als sein jüngerer Kollege ihn ins Schlafzimmer entbieten ließ. Dort fand er eine Anzahl angesehener Neustadter Bürger, unter ihnen auch einen seiner Geschicklichkeit wegen gerühmten Schlossermeister; dieser hatte sich bisher vergeblich gemüht, den Kassenschrank zu öffnen.

»Ja so, darauf vergaß ich ganz,« meinte Martini, sich vor die Stirn schlagend, »hat Frau Bindewald denn nicht den Schlüssel?«

Diese war mit eingetreten; nun verneinte sie. Ihr Mann hatte ihn am Nachmittag zuvor mitgenommen, er war ja noch zuletzt mit dem Kassenschrank beschäftigt gewesen.

Martini ließ sich die vorhin in Mehligs Wohnung fortgenommene Tasche geben; er entsann sich, unter anderen Wertsachen auch den Schlüsselbund des Toten gesehen zu haben. Die Aufregung der Lammwirtin war eine große, als sie nun nacheinander Uhr und Kette, Ring und Taschenfeuerzeug sowie den immer von ihrem Mann getragenen Schlüsselring erblicken mußte. Kopfschüttelnd hörte sie an, was ihr der Amtsrat kurz über die Herkunft der Sachen berichtete. »Das begreife ein anderer … auf Mehlig hat mein Mann immer große Stücke gehalten, der war bereits seine rechte Hand, als ich Bindewald geheiratet habe; ich habe mir nicht viel aus ihm gemacht, mag sein, weil er so 'n unverbesserlicher Trunkenbold ist … aber an eine Schlechtigkeit glaube ich nicht. Da wird die Sanna, so heißt seine Tochter nämlich, das Bündel mit den Sachen hier schon im Hof gefunden haben, wie sie sagt – und das viele Geld!« unterbrach sie sich. »Das ist ja ein ganzes Vermögen!«

»Es sind mehr als Vierzigtausend Mark,« bestätigte der Amtsrat.

Die Lammwirtin hatte den Schlüsselring zur Hand genommen. »Das ist ja der Kassenschlüssel.« Sie ging selbst zum Schrank und öffnete ihn ohne jegliche Mühe.

In lebhafter Erregung umdrängten die Anwesenden den Amtsrat, als dieser nun sich daran machte, den Geldschrankinhalt zu sichten. Von einem solchen konnte indessen kaum die Rede sein. Im Tresor lagen einige Umschläge, von der Hand des Lammwirtes beschrieben und als Eigentum verschiedener Kassen ausdrücklich bezeichnet; aber die Kuverte waren leer, nur wertlose Notizen fanden sich in ihnen.

Zuerst war die Aufregung eine große; die anwesenden Bürger, zumeist Aufsichtsratsmitglieder der von Bindewald verwalteten Kassen, ergingen sich über diesen in mehr oder weniger anzüglichen Redensarten, als der Amtsrat all dem unerquicklichen Durcheinander durch die Frage ein Ende machte, ob denn ein doppeltes Nummernverzeichnis der Banknoten geführt worden sei, wie man dies bei den Vermögensbeständen gemeinnütziger Institutionen doch immer zu tun pflege.

Dies war der Fall; die um das Vermögen ihrer Vereine stark beunruhigten Vorstandsmitglieder hatten diese Verzeichnisse sogar schon mitgebracht und die Freude war groß, als sich herausstellte, daß die in der Hauptsache aufgefundenen Banknoten bis auf einige tausend Mark die verschiedenen Vermögensbestände darstellten.

»Fehlen immer noch viertausend Mark,« meinte der Rendant des Vorschußvereins.

»Zweitausend Manko ist's auch bei uns,« ließ sich der Vorstand der Kriegersterbekasse vernehmen. »Hab' ich es nicht immer gesagt, man soll einem einzelnen Mann nicht so viel Geld anvertrauen?«

Die Lammwirtin war bis unter die Haarwurzeln erbleicht; nun wendete sie sich mit sprühendem Blicke an die Männer. »Soll damit etwas gegen meinen Mann gesagt sein?« rief sie heiser. Und als nur undeutliche Antworten kamen, keiner recht mit der Sprache heraus wollte, aber ebensowenig eine runde Verneinung erfolgte, geriet die leidenschaftliche Frau in helle Raserei. Sie überhäufte die Betreffenden mit einer Flut bitterer Vorwürfe. »Meines Mannes Ehr' ist die meinige, und ich lasse nichts aus ihn kommen!« sprudelte sie schließlich hervor. »Traurig genug, daß man nicht einmal das Unglück verschont … und gerade die, denen mein Mann am besten gesinnt war, schmähen ihn nun. Aber was ich nach euch Gesindel frage, wer ihn im Tod beschmutzt, hat's mit mir zu tun. Und ebenso stehe ich auch ein für alles, was etwa fehlen sollte, das ist selbstverständlich. Aber es fehlt nichts, möchte nur ein jeglicher unter den Herren so gut nach seinem Tod bestehen können wie mein Mann, denn der war ein Ehrenmann, so untadelig wie kein besserer in der ganzen Stadt zu finden ist … und ich bin stolz darauf, seine Frau gewesen zu sein – so, nun wissen die Herren Bescheid und mögen sich darnach einrichten. Und wem's nicht paßt, der braucht ja nicht wiederkommen!« Und flammend vor Zorn und Entrüstung wendete sie sich spornstreichs und ließ die Männer wie begossene Pudel stehen.

Der Amtsrat nickte nur. »Recht hat sie, meine Herren,« meinte er mißbilligend, als sich die Tür hinter ihr geschlossen. »Sie hätten besser getan, auch nicht mit einem Hauch das Andenken eines Mannes zu trüben, der noch gestern unser bester Bürger war und auf dessen Freundschaft ich stolz gewesen … und nun, wenns beliebt, gehen Sie ein Haus weiter. Das Geld ist da, und findet sich der Rest nicht, so steht Frau Bindewald dafür ein. Damit Gott befohlen!«

Verärgert komplimentierte er die kleinlaut Gewordenen zur Tür hinaus. Seine Verstimmung war noch nicht gewichen, als bald darauf Dr. Findler wieder zurückkehrte. »Dachte ich mir's doch,« begann er schon von zweitem. »Der brave Mehlig hat den teuren Kognak geschlückert, es ist dieselbe Sorte. Vorsichtshalber habe ich mir auch noch die andere Pulle aus seiner Wohnung holen lassen, ihre wenigen Tropfen reichten hin, um auch hier die Uebereinstimmung klarzulegen. Zweieinhalb Flaschen waren noch da, anderthalb hat der biedere Mehlig intus und zwar ausgerechnet um fünf Uhr morgens, alles in allem eine gediegene Leistung, die mir seinen Murmeltierschlaf nun ohne weiteres begreiflich macht.«

Martini strich sich nur nervös über die Stirn. »Doktor, mit Ihrer Voreingenommenheit gegen diesen Mehlig kommen wir um keinen Schritt weiter,« eiferte er. »Zugestanden, dieser Süffel ist denkbar widerwärtig, er mag auch den teuren Kognak stiebitzt haben, was Sie als trinkbarer Mann ihm nicht so hoch anschlagen sollten« – nun lachte er ein wenig – »die Sache liegt klar, je länger ich sie überdenke. Mehlig wußte, daß sich nur Franz im Hause befand, die Mägde zählen ja nicht mit. Nun, da hat er der Versuchung nicht widerstehen können, hat sich in's Gastzimmer geschlichen und den Flaschenschrank aufgebrochen. Daß er nun in seinem dunklen Drange einen besonders glücklichen Griff getan und den Vierzigerkognak erwischt hat –«

»Und der fehlende Sohlennagel bei ihm?«

Martini lachte nervös. »Zufall, lieber Freund. Ich gebe zu, die Spur weist ebenso gut auf ihn wie auf diesen Jungnickel. Aber das will doch nur besagen, daß beide zufällig denselben Fuß besitzen und wahrscheinlich auch denselben Schuster … außerdem haben wir noch positive Beweise für die Unmöglichkeit einer Täterschaft des Mehlig in der Hand, während alle Schuldindizien direkt auf den Krämer deuten … und kann die Staubspur am Büfett nicht ebensogut von diesem herrühren? Sie sprachen vorhin von einer Duplizität der Ereignisse – kann nicht auch Jungnickel das Bedürfnis nach einer Stärkung gespürt und den Flaschenschrank ebenfalls konsultiert haben?«

»Recht wenig wahrscheinlich. Zugegeben, er hatte Franz schon um die Ecke gebracht, wie soll er dann so glatt den Kassenschrank haben öffnen können?«

Martini schritt in steigender Nervosität auf und nieder. »Wie soll dies alsdann Mehlig möglich geworden sein?« fragte er zurück. »Der Schrank ist mit dem richtigen Schlüssel geöffnet worden, diesen aber trug Bindewald in der Tasche, ebenso wie die gezeichneten Banknoten, die wir bei dem Krämer beschlagnahmten. Damit ist der Beweis erbracht, daß nur dieser die Leiche Bindewalds ausgeplündert haben kann. Es ist ein intelligenter Mann, dem das Oeffnen eines Kassenschranks mit dem richtigen Schlüssel nicht schwer fallen kann. Wahrscheinlich hat ihn das Auffinden dieses Schlüssels überhaupt erst auf die Idee gebracht, sich hierher zu begeben und den Kassenschrank zu öffnen. Die Ermordung des Hausdieners war natürlich nicht geplant, diese qualifiziert sich als eine bei Begehung eines Einbruchs zur eigenen Sicherung begangene Tötung im Affekt.«

»Und Uhr nebst Kette, Siegelring – was damit?«

»Sie meinen, wie diese in den Hof dieses Grundstückes gekommen sind, falls die junge Mehlig mit ihrer Fundgeschichte uns wahr berichtet hat? Sehr einfach: Jungnickel hat sich überlegt, daß diese Gegenstände nicht bei ihm gefunden werden dürften. Was ist natürlicher, als daß er sich ihrer zu entledigen trachtete, und die Verschlagenheit, mit der er sie ausgerechnet im Hofraum des eigenen Opfers niederlegte, ist recht bezeichnend für ihn.«

»Aber warum brach er in den Kassenschrank ein und tötete den ihn dabei überraschenden Hausdiener? Doch vermutlich nur, um in den Besitz der Banknoten zu gelangen. Nun will das Frauenzimmer alle diese Banknoten zusammengebündelt und mit anderen Wertsachen gefunden haben.«

Martini hielt mit seiner Wanderung durchs Zimmer stutzig inne und dachte nach. »Je nun,« meinte er schließlich, »da läßt sich manche Theorie aufstellen. Vielleicht durch irgend ein Geräusch bewogen, hat der Verbrecher die bereits ergatterte Beute noch im letzten Augenblick im Stich gelassen –«

»Zugebündelt, Rätchen,« hob Dr. Findler hervor. »An Ihrer Stelle würde ich« nicht verfehlen, mir von der rothaarigen Person das Tuch zeigen zu lassen, in welchem sie die Schätze gefunden haben will … ihr braver Vater hat jetzt wieder einige Stunden zum Ausschlafen gehabt, ich denke, es wird mir jetzt gelingen, ihn aufzuwecken.«

Martini war einverstanden und begab sich in seiner Begleitung nach der Wohnung im Hinterhause zurück. Dort trafen sie alles unverändert vor. Der Trunkenbold schnarchte noch immer, die Tochter dagegen hockte im Nebenzimmer und weinte unaufhörlich in die vorgehaltene Schürze; sie hatte sich, wie der mit der Ueberwachung beauftragte Gendarm rapportierte, seither kaum einmal vom Stuhl gerührt. Augenscheinlich spielte sie sich auf die Gekränkte hinaus, denn als der Amtsrat vor sie hintrat und sie bedeutete, zu ihm aufzusehen, da schaute sie ihn mit einem bitterbösen Blick an und wollte von neuem mit Schluchzen loslegen.

Martini jedoch machte kurze Umstände mit ihr. »Zeigen Sie mir hier vom Fenster aus, wo Sie das Bündel aufgefunden haben wollen.«

Trotzig erhob sich das Mädchen und schlürfte berechnet langsam nach dem Fenster. Geringschätzig deutete sie dann nach dem Vorderhause hin. »Dort, gleich neben der Einfahrt, lag es im tiefen Schnee.«

»Ein Bündel also?«

Das Mädchen nickte nachlässig.

»Wie sah es denn aus? Hell oder dunkel?«

»Wie 'ne Serviette, ich hab mir's nicht weiter angesehen.«

»Dann will ich dies besorgen. Geben Sie mir einmal die Serviette oder mit was sonst das Bündel gerichtet war, her.«

Sanna Mehlig glotzte ihn an; dann wurde sie plötzlich glühend rot im Gesicht und schlug die Augen nieder. »Ich hab' das Tuch nimmer, ich hab's fortgeworfen,« stotterte sie.

»Wohin denn? Heraus mit der Sprache,« drängte der Rat, als sie verstockt schwieg, »da helfen keine Ausflüchte, und wenn wir das ganze Grundstück darum zu oberst kehren müßten, das Tuch muß gefunden werden.«

Sanna antwortete nicht; sie stand geduckt und schielte unter den gesenkten Lidern mit schwer enträtselbarem Ausdruck nach dem auf sie Einredenden. »Ich glaube … ich meine …« druckste sie. »Ja, jetzt weiß ich's wieder. Wie ich zum Bäcker gelaufen bin, da hab' ich den Fetzen weggeworfen; war ja schon so schmutzig, man hat sich schier ekeln müssen, es anzugreifen.«

Auch den Rat überkam ein Gefühl des Ekels; unmutig wendete er sich von der dreisten Person ab, deren niedriger Stirn der Lüge Kainszeichen unverkennbar aufgedrückt war. Mit umwölkter Miene, die Arme über die Brust gekreuzt, verfolgte er schweigend die Bemühungen des Kreisarztes, den Trunkenen seinem an Lethargie streifenden Schlaf zu entreißen.

Nach und nach kam der Postbote wieder zu sich. Er gähnte, öffnete blinzelnd die Augen, um sie sofort schlaftrunken wieder zu schließen. Mechanisch schluckte er den ihm gewaltsam eingeflößten Kaffee, der schien ihm nicht zu munden, denn er zog eine Grimasse, schüttelte sich und versuchte, die Tasse von seinen Lippen zu stoßen. So oft der Kreisarzt ihn auch aufrichten mochte, immer wieder strebte sein schwerer Kopf nach dem Kissen zurück. Unempfindlich blieb er gegen alles Schütteln, so oft ihm auch sein Name ins Ohr geschrien werden mochte, immer wieder ließ er nur ein unverständliches Grunzen laut werden. –

Es dämmerte schon, als es den unausgesetzten Bemühungen des Arztes endlich gelungen war, ihn so weit zu sich zu bringen, daß er auf dem Bett saß und aus verschwommenen Augen blöde die Anwesenden anstarrte. Aber selbst des rasch dahinschwindenden Tages ungewisses Zwitterlicht schien ihm noch wehe zu tun. denn immer wieder machte er Anstalten, die Augen zu schließen und aufs Bett zurückzusinken. Die an ihn gerichteten Fragen schien er kaum zu hören, geschweige deren Sinn erfassen zu können. Er schüttelte nur immer von neuem mit dem Kopfe und heischte unter derben Flüchen, unbehelligt gelassen zu werden.

Auffällig war das Benehmen der Tochter. Immer drängte diese sich zu ihres Vaters Seite, sie schien begierig auf eine Gelegenheit zu warten, ihm ein warnendes Wort oder dergleichen zuflüstern zu können. Es bedurfte der ganzen Autorität des Amtsrates, sie zurückzuhalten, und erst als dieser ihr unverblümt androhte, sie aus dem Zimmer zu weisen, hielt er sie von der Lagerstatt zurück. Aber er konnte sie an dem Gebrauch ihrer Stimme nicht hindern.

»Nein, ich will nicht still sein,« rief sie. »Mein Vater weiß gar nichts davon, was ich in der Tasche hatte, ich sagte Ihnen doch schon, ich habe dem Bindewald seine Uhr und das Geld unten im Hofe gefunden – heut' morgen, wo ich Milch holte.

Nun drängte Martini die Schreiende freilich gewaltsam aus dem Zimmer; aber es war zu spät; wenn sie ihren Vater zu warnen beabsichtigte, so war ihr dies zweifellos gelungen. Der Postbote verharrte zwar in seinem stumpfsinnigen Hinbrüten, aber er stellte sich noch halsstarriger als zuvor an, es war nun erst recht keine Antwort aus ihm herauszubekommen.

»Na, da haben wir ja die Pastete,« knurrte der Kreisarzt verdrießlich, indem er fortfuhr, kalte Umschläge auf die Stirn des Alten zu legen. »Amtsrat, ich begreife Sie nicht, ein Kind muß doch den Braten riechen. Sie hätten den Burschen gleich einsperren sollen – da hören Sie nur, wie das Frauenzimmer nebenan brüllt,« unterbrach er sich. »Sie schreit dem lieben Papa ja die ganze Marschrichtung vor, das ist rein zum Auswachsen!«

Die Geduld des Amtsrates war erschöpft. Auch ihm erschien das Gebaren der Ungebärdigen mehr als verdächtig. Er stellte sich dicht vor Mehlig auf. »Hören Sie, Mann, Sie kennen mich, nicht wahr?« fragte er erzürnt. »Ja, ganz richtig, ich bin der Amtsrat Martini, und ich erkläre Ihnen, daß ich Sie sofort verhaften werde, lassen Sie nicht sofort jedes faule Spiel beiseite.«

»Herr Amtsrat, ich bin ein ehrlicher Mann,« lallte Mehlig, das aufgedunsene Gesicht weinerlich verziehend, »ich weiß von nichts – rein gar nichts.«

»Was wissen Sie nicht? Heraus mit der Sprache!«

Mehlig starrte ihn nur mißtrauisch blinzelnd an. »Ich bin ein ehrlicher Mann.« beteuerte er wiederum.

»Wir wollen das dahingestellt sein lassen. Jedenfalls haben Sie dem Likörschrank im Gastzimmer unten heute morgen um fünf einen unbefugten Besuch abgestattet – ja, verwundern Sie sich nur! Da hilft kein Protest, Mann, wir haben's schon heraus, Sie haben zwei Flaschen vom besten Kognak geholt, der Herr Kreisarzt hat die Reste in den Flaschen schon untersucht.«

Der Postbote starrte ihn schwerfällig an und verzog seine Lippen zu einem unverständlichen Gemurmel.

»Durst haben Sie gehabt?« fragte Martini, der eifrig seine Worte auffing, »das ist doch keine Entschuldigung. Aber das ist schließlich Frau Bindewalds Sache – jetzt hören Sie einmal zu und strengen Sie sich an. Sie sind gar nicht so benommen wie Sie mich glauben machen wollen.«

»Herr Amtsrat, ich bin ein ehrlicher Mann, fragen Sie nur den – den Herrn Bindewald,« wimmerte der Unglücksmann wieder.

»Sie wissen ganz gut, daß der arme Bindewald tot ist, verstellen Sie sich nur nicht. Seine Leiche ist bereits gefunden.«

Wieder ein blödes Augenblinzeln, ein unverständliches Lallen. Der Mann schwankte auf dem Bettrand hin und her, aber es wäre schwer zu sagen gewesen, ob dies aus einem Gefühl plötzlichen Schreckens heraus oder nur bedingt durch seine hinfällige Körperverfassung geschehen war. Er schüttelte eine Weile pagodenhaft mit dem Kopfe und beteuerte weinerlich wieder, von nichts zu wissen …

Es blieb fruchtlos, daß der Amtsrat nun auf Umwegen auf den von Sanna Mehlig angeblich gemachten Fund zu sprechen kam: war der Postbote entweder durch das Gezeter seiner Tochter gewarnt oder wußte er wirklich nichts, er fuhr wenigstens fort, immer wieder dieses letzte zu beteuern und zu versichern, er sei ein grundehrlicher Mann.

»Wann ist Bindewald heute nacht nach Hause gekommen?« fragte der Kreisarzt plötzlich dazwischen.

Mehlig stutzte. »Wann?« lallte er mit schwerer Zunge, »ja, wann war's doch gleich?«

»Besinnen Sie sich nur,« schmiedete der andere das Eisen unentwegt weiter. »Es war so um Mitternacht herum, nicht wahr?«

Nun schien in Mehlig der tiefere Sinn der Frage aufzudämmern; er hob den Kopf ein wenig. »Ja, ist er denn nach Hause gekommen, der Herr?« Er vermied es, während der Frage einen der Männer anzusehen.

»Sie gaben es doch eben erst zu,« drängte ihn nun auch der Amtsrat. »Man hat Bindewald ins Haus gehen sehen … na und –«

Statt einer Antwort, griff Mehlig mit beiden Händen nach den Schläfen. »O, mein armer Kopf,« wimmerte er. »Herr Amtsrat, quälen Sie mich doch nicht so, ich weiß rein gar nichts … ich will's ja gestehen. weil mir gar so hundsschlecht von gestern gewesen ist, da habe ich mich verleiten lassen und hab' aus dem Flaschenschrank etwas zum Trinken stiebitzt. Ich will's ja gern ersetzen, darum werden Sie aber doch einen armen, ehrlichen Kerl nicht unglücklich machen –« er setzte schier zum Weinen an.

»Wer spricht davon,« unterbrach ihn Martini ungeduldig. »Wir unterhalten uns jetzt über Ihren Brotherrn. Wann kam der heute nacht nach Hause?«

»Aber ich weiß es doch nicht.« wimmerte der Gefragte, unablässig seinen Kopf betastend. »Herr Amtsrat, lassen Sie mich endlich schlafen, ich kann nicht mehr – das verwünschte Saufen, ich will's aber ganz gewiß lassen«

»Sie haben also die ganze Nacht geschlafen?«

»Aber wie 'ne Ratze, Herr Amtsrat. Erst gegen den Morgen, da fühlte ich so trocken … und da hab ich mir Schnaps aus dem Schrank geholt, ich will's ja einräumen … und dann hab' ich getrunken, so viel nur hineinging … und dann hab' ich erst recht wieder weitergeschlafen.«

Eben pochte es an die Tür zum Nebenzimmer. Der Gendarm steckte den Kopf durch den Spalt. »Herr Amtsrat, das Mädchen will fortgehen, sie macht in einem fort Radau und will sich von mir nicht zurückhalten lasten.«

Unwillig begab sich Martini in die Nebenstube. Er fand dort Sanna vor dem Spiegel über der Kommode, angelegentlich damit beschäftigt einen schreiend bunten Hut aufzusetzen, der im Verein mit einem ebenso grellen Umschlagtuch um die eckigen Schultern ihrer verwachsenen Gestalt einen äußerst grotesken Ausdruck verlieh.

»Ich will zum Tanz, da habe ich mich schon die ganze Woche darauf gefreut,« lautete die schnippische Antwort des Mädchens auf die erstaunte Frage des Amtsrates. »Der Gendarm da will mich nicht gehen lassen. Da hat er doch kein Recht 'zu. Ich hab' doch nichts getan. Mein Bräutigam würde schön brummen, wenn ich ausbliebe.«

»Zum Tanz, wo Ihr Vater in solch einem Zustand ist und hier im Hause solch finsteres Schicksal waltet?«

Sanna stemmte die Arme in die Seiten. »Ja, was geht denn das mich an?« begehrte sie auf. »Ich habe mit Bindewalds nichts zu schaffen.«

Der Amtsrat wollte ebenfalls heftig werden, denn die ganz dreiste Art des Mädchens stieß ihn unsäglich ab. Doch ihm kam ein anderer Gedanke. »Nun gut, ich will Sie in Ihrem Vergnügen nicht behindern; wo soll's denn hingehen?«

»Geht Sie das auch was an?« Das Mädchen lachte höhnisch. »Es ist kein Geheimnis, in dem Nest hier ist ja doch immer nur ein Tanzvergnügen – also bei Walters.« Als sie sah, daß der Amtsrat keine Einwendung mehr machte, langte sie sich noch umständlich den Hausschlüssel vom Nagel, knixte spöttisch und verließ die Wohnung, die Tür unwirsch hinter sich zuschlagend.

»Hat das Mädchen etwa irgend etwas zu sich gesteckt?« wendete sich Martini an den Gendarmen.

Dieser verneinte. »Ein paarmal hat sie in der Kommode kramen wollen, aber ich habe ihr höllisch scharf auf die Finger gesehen, da hat sie's unterlassen.«

»Gut so. Ich will mich ohnehin hier in den Stuben ein wenig umschauen und da ist es vielleicht besser, das Mädchen ist gar nicht dabei … vorn im Hause ist übrigens Ihr Kollege Steffens. Er befindet sich in Zivil. Sagen Sie ihm, er soll dem Mädchen nachgehen und es unauffällig beobachten. Ich erwarte morgen Rapport.« Er ging ins Schlafzimmer zurück. Dort hockte Mehlig noch in der nämlichen trostlosen Verfassung auf dem Bettrand. Der Arzt hatte ihm inzwischen weiter mit Fragen zugesetzt, aber, wie er achselzuckend einräumen mußte, ohne jedes greifbare Resultat.

Er nahm Martini ans Fenster und sprach flüsternd auf ihn ein. »Ich traue dem Burschen nicht, er weiß mehr, als er zugeben will. So höllisch ihm auch der Schädel brummen mag, so ist er doch genügend bei Bewußtsein, um logisch denken und antworten zu können. Gerade darum ist er zurückhaltend. Erinnern Sie sich, sein Verhalten kam mir bereits gestern abend nicht recht sauber vor. Nun dieser Kognakraub. Ich meine, der Bursche hätte schwerlich gewagt, sich ins Wirtszimmer einzuschleichen und den Flaschenschrank zu erbrechen, hätte er nicht genau gewußt, daß für ihn die Gefahr, von Franz auf frischer Tat ertappt zu werden, nicht mehr existierte – mit anderen Worten: er wußte bereits um das Schicksal des Hausdieners und gerade darum glaubte er seinem Saufgelüste unbedenklich nachgehen zu können. Ich halte ihn für den Täter. Seine täglichen Botengänge durch Wind und Wetter haben ihn abgehärtet und seinen Körper gestählt, auf jeden Fall ist er an Kräften dem Hausdiener überlegen.«

»Sicherlich aber nicht dem Lammwirt, diesem Hünen an Erscheinung und Kraftfülle« fiel Martini trocken ein.

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Der Mörder des Lammwirts hat zweifellos auch den nächtlichen Einbruch verübt, das geht schon aus dem Inhalt des Bündels hervor, das die Tochter des Burschen dort gefunden haben will; die Früchte beider Verbrechen bildeten eben diesen Inhalt. Bindewald ist Ihrer Aussage nach durch einen furchtbaren Knüttelhieb, der ihm rücklings beigebracht worden sein mag, getötet worden. Sie wollen aber auch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen wissen, daß der Lammwirt vielleicht auf dem von ihm benutzten, glatteisbedeckten Fußpfad ausgeglitten und in den Abgrund gestürzt sei und seine tödlichen Verletzungen auch durch spitze Felsstücke auf durchaus natürliche Weise erlitten haben könne. Wir wollen vorläufig die Frage ganz unerörtert lassen, wie und warum der Lammwirt auf den steilen Fußpfad gelangt sein soll, bisher wiesen alle Indizien auf seine im Hohlweg erfolgte Ermordung und die spätere Fortschaffung seiner Leiche durch den Täter, etwa in der Richtung des Steinernen Meeres hin.«

»Schienen hinzuweisen,« unterbrach ihn der Kreisarzt mit starker Betonung. »Mir kamen diese Spuren von Anfang an recht verdächtig, um nicht zu sagen nur zum Zwecke der Irreführung absichtlich hervorgebracht vor. Vergessen Sie hübsch auch nicht, daß Krämer Jungnickel den Lammwirt noch in der ersten Morgenstunde vor dem Tor des Gasthauses hier angetroffen haben will.«

»Sehen wir davon ganz ab, hatten wir uns an Tatsachen,« mahnte der Amtsrat. »Sie verdächtigen Mehlig. Nun hatten Sie ihn gestern abend um zehn Uhr in völlig erschöpftem Zustande selbst unter den Fingern, mag sein, er hat übertrieben, aber körperlich aufgebraucht war er und sicherlich unfähig, noch in derselben Nacht bis Höhenbronn und wieder zurück zu marschieren, dort in aller Geschwindigkeit einen bärenstarken Mann um die Ecke zu bringen und seinen Körper bis zu einer Felsspalte zu schleppen, in die er ihn werfen konnte –«

»Bitte, wer behauptet das?« warf Dr. Findler kühl ein. »Nach dem Zustand der Leiche des Lammwirtes, deren Autopsie ich heute abend noch vornehmen werde, kann der Tod sehr leicht schon am gestrigen Frühabend eingetreten sein.«

»Merkwürdig! Vorhin schienen Sie der Jungnickelschen Behauptung, Bindewald noch um die ersten Morgenstunden hier vor dem Lammwirtshaus gesehen und gesprochen zu haben, zuzuneigen.«

»Ich sage auch nicht, daß der Tod notwendig schon gestern abend erfolgt sein muß. Bei einer derartig im Freien aufgefundenen und unter dem Einfluß von Kälte und Eis gestandenen Leiche ist eine sichere Bestimmung der Todesstunde überhaupt ausgeschlossen. Jedenfalls halte ich dafür, daß Bindewald seinen Tod nicht an jenem Orte und zu jener Zeit gefunden hat, wie man uns hat glauben machen wollen. Bis zu der Auffindung seiner Leiche war ich der Ueberzeugung, daß er und kein anderer der Urheber dieser frivolen Irreführung sei, und zwar aus Gründen, die sich meiner Kenntnis entziehen. Ich glaube auch noch jetzt, daß der brave Mehlig dort bei der Bereitung dieser Spuren wacker mitgeholfen hat, also gewissermaßen der Komplize des Lammwirts gewesen ist. Was nun allerdings des letzteren Tod anbetrifft – und tot ist er, gewaltsam durch Unglücksfall oder fremde Hand gestorben – so lassen mich meine Vermutungen im Stich, da sind unlösbare Widersprüche, nicht nur die verschiedenen Aussagen, sondern die Tatsachen selbst widersprechen einander. Daß Mehlig seinen vielleicht nur verunglückten Herrn ausgeplündert und dann dessen Körper bis zu einer Felsschlucht geschleppt und hineingeworfen hat, erscheint mir wahrscheinlich; dann ist auch der Stundenverlauf erklärt, währenddessen der Gute bewußtlos im Schnee gelegen haben will. Es nahm ihm eben Zeit, den schweren Körper fortzuschleppen. In solchem Fall kann Mehlig, in den Besitz des ihm offenbar von Ansehen bekannten Bindewaldschen Kassenschrankschlüssels gelangt, der Versuchung erlegen sein, sich an dem Vermögen seines bisherigen Brotherrn zu vergreifen. Die Gelegenheit war die günstigste. Frau Bindewald war fort, und deren Mann kehrte auch nicht zurück, das wußte Mehlig am besten. Als ihn dann bei Ausführung der Tat der alte Franz doch wider Erwarten überraschte, schlug er diesen einfach tot, und um seine Nerven zu besänftigen, nahm er dann aus dem Flaschenschrank einige Püllchen mit. Seine Tochter mag mit im Einverständnis gewesen sein, jedenfalls macht sie die Zähigkeit verdächtig, mit der sie den Besitz ihrer Handtasche zu behaupten versuchte.«

Martini war nachdenklich geworden; des Kreisarztes Darlegungen hatten ihren Eindruck auf ihn nicht verfehlt. »Die Sohlenspur, die den Krämer so verdächtigt, kann ebensogut von Mehlig herrühren,« räumte er ein. »Aber wie kamen dann die Bindewaldschen Hundertmarkscheine in den Besitz des Krämerpaares? Das sind doch unlösbare Widersprüche. Bliebe nur die Annahme, daß es sich um ein gemeinsam geplantes und ausgeführtes Verbrechen handelt – freilich, das ist eine Folgerung, des näheren Eingehens darauf wert,« setzte er eifriger hinzu. »Angenommen, Mehlig und Jungnickel haben sich verbunden, dann haben sie den Lammwirt zweifellos erst auf der Rückfahrt überfallen. Dann erklärt sich manches. Dem Mehlig dort mag es leicht geworden sein, seinen Brotherrn durch irgend einen Vorwand zum Aussteigen zu veranlassen.

Jungnickel mag sich von hinterrücks her angebirscht haben, ein Knüttelhieb, der Lammwirt stürzt nieder, mit letzter Kraftanstrengung riß er seinen Revolver hervor, aber seine schon totgebannte Hand schnellte zurück, die Kugel durchbohrt die eigne Pelzmütze und riß diese dadurch vom Kopf.«

»Recht anschaulich ausgedacht. Bliebe nur zu erklären übrig, warum der Lammwirt dem Höhenbronner Bürgermeister die Kaufsumme nicht ausbezahlt hat, zu deren Erlegung er doch die weite Fahrt durch das greuliche Unwetter nicht gescheut hatte. Warum benahm er sich so auffällig, trank gegen seine Gewohnheit stark und borgte sich auch noch einen neuen Wagenstrick aus? Widerspruch über Widerspruch! Jedenfalls bleibe ich bei meiner Behauptung, wonach der brave Mehlig von der ganzen Geschichte mehr weiß, als er zu sagen für gut findet; wollte er sprechen, so möchte Ihnen manches Kopfzerbrechen erspart bleiben, Rätchen. Der Patron wird sich freilich hüten, denn es geht um seinen eigenen Hals« – er stieß den Rat verstohlen an und bewog ihn dadurch, nach dem Bett zu schauen – »da sehen Sie 'mal den alten Sünder, wie er die Ohren spitzt und gar zu gern etwas von unserer Unterredung erschnappen möchte. Der Kerl simuliert und stellt sich dumm, in Wahrheit aber hat er's faustdick hinter den Ohren!«

Amtsrat Martini war immer nachdenklicher geworden. »Es ist Ihre wissenschaftliche Ueberzeugung, daß der Mann uns mit seiner Behauptung, durch Stunden bewußtlos im Schnee gelegen zu haben, belogen hat?« fragte er.

Dr. Findler nickte eifrig. »Der Kerl hat geflunkert. Zu einem Eiszapfen wäre er zusammengefroren, hatte er auch nur eine einzige Stunde, noch dazu geschwächt durch einen so starken Blutverlust, wie er ihn lügnerischerweise ebenfalls gehabt haben will, bewußtlos im Schnee gelegen.«

Ohne weitere Entgegnung wandte sich der Amtsrat kurz nach Mehlig um, der immer noch seinen Kopf mit beiden Händen gepackt hielt und vor sich hinstöhnte, während seine Augen unruhig in ihren Höhlen wanderten und keinen Blick von den beiden Beamten üblichen.

»Lassen Sie jetzt die Faxen,« sagte der Amtsrat streng, »Ihr Zustand ist lange nicht so bedenklich, wie Sie uns glauben machen wollen. Zum letzten Mal: Wollen Sie meine Fragen ohne Umschweife und wahrheitsgetreu beantworten oder soll ich zu Ihrer Verhaftung schreiten?«

Mehlig riß Mund und Nase vor Verwunderung auf und stierte ihn kläglich an. »Aber, Herr Amtsrat, warum wollen Sie mich denn verhaften? Ich bin doch ein anständiger Kerl … und wenn meine Finger auch seit gestern nicht gewaschen sind, davon sind sie höchstens schmutzig, aber ein Verbrechen klebt nicht daran, auch nicht die Spur.« Er hatte immer weinerlicher gesprochen und wäre sicherlich in helles Schluchzen ausgebrochen, hätte Martini ihm nicht energisch abgewinkt.

»Sie haben uns gestern belogen,« fuhr er unerbittlich fort, »der Braune ist mit dem Schlitten nicht durchgegangen und Sie haben ihn darum auch nicht aufhalten müssen. Ebensowenig lagen Sie bewußtlos im Schnee. Sie haben Herrn Bindewald ganz oben auf der Landstraße, unmittelbar vor Höhenbronn, getroffen, ihn zum Halten und Aussteigen veranlaßt. Räumen Sie das ein?«

Mehlig schien seine Frage gar nicht gehört zu haben; er war plötzlich wieder in den vorigen Zustand verfallen und wimmerte und stöhnte zum Erbarmen.

»Gut denn, Sie wollen nicht antworten, weil Sie die Tragweite Ihrer Antworten fürchten,« versetzte der Amtsrat entschieden. »Ich werde Ihnen Zeit geben, an sicherem Orte vollends nüchtern zu werden. Sie sind verhaftet. Nehmen Sie den Mann fest!« wendete er sich an den Gendarmen, ohne auf das klägliche Geflenn und Gnadengewinsel des Trunkenboldes einzugehen, der nicht übel Lust hatte, auf die Knie zu fallen, »und liefern Sie ihn in der Untersuchungsabteilung des Amtsgefängnisses ab.«

Er kehrte sich nicht an die Proteste Mehligs, der nun grob aufzubegehren begann, als er gewahr wurde, daß sein verzweifeltes Flehen tauben Ohren begegnete. Unsanft genug fühlte sich der Postbote von der derben Faust des Gendarmen emporgerüttelt und die Sekunde darauf aus dem Zimmer gezerrt; es blieb ihm nur übrig, schimpfend in sein Schicksal sich zu finden und im unerwünschten Geleit des Gebetswächters, eskortiert von einer brüllenden und johlenden Kinderrotte, nach dem Gefängnis zu wandern.

»Was geschieht mit der Tochter?« fragte der Kreisarzt, als die Tür sich hinter dem Festgenommenen geschlossen hatte. »Wollen Sie deren Verhaftung ebenfalls verfügen?«

»Warum nicht gar!« empörte der Amtsrat sich ordentlich. »Ich gestehe offen, ganz geheuer ist mir bei dieser Verhaftung ohnehin nicht, ich werde die Empfindung nicht los, einem Schuldlosen unrecht getan zu haben.«

»Nun, diese Empfindung werde ich schon seit heute früh nicht los,« gestand der Kreisarzt. »Jungnickels Verhaftung mag berechtigt sein, obwohl ich den Mann für unschuldig halte – aber Hand aufs Herz, Rätchen, wenn gewisse vergangene Geschichten nicht just zur Unzeit lebendig geworden wären. Sie würden nicht an eine Mitverhaftung der jungen Frau gedacht haben … frei heraus, in Ermangelung des Vaters wurde die Tochter gepackt.«

Martini wurde erregt. »Na, da stellen Sie mir ja ein nettes Zeugnis aus … nicht in dem Ton weiter, Doktor, wir sind gewiß gute Freunde und hänseln uns gegenseitig … aber vergessen Sie nicht, ich habe einen Amtseid geschworen … und eine ungerechtfertigte Verhaftung bedeutet eine Beugung des Rechtes …«

»Na, na, Alterchen,« begütigte Dr. Findler, ihm scherzend auf die Schulter klopfend, »nur friedlich. Sie wissen doch, der sich Ereifernde hat allemal unrecht. Die Sachlage hat sich seit heute früh ja auch entschieden stark verschoben.«

»Das gebe ich zu,« räumte Martini, ersichtlich immer noch empfindlich berührt, ein. »Jedenfalls besteht der Schuldverdacht wider die zur Haft gebrachten Eheleute in unverminderter Stärke weiter … und nun wollen wir uns hier in der Wohnung noch ein wenig umschauen,« brach er ab.

Unter Zuziehung der noch im Vorderhause weilenden Gerichtsbeamten nahm der Amtsrat eine eingehende Durchsuchung der Wohnungsbestände vor. Sie schien indessen nach keiner Richtung hin irgendwelch belastendes Material zutage fördern zu wollen, so sorgsam man die ärmlichen Sachen auch umkehrte und wendete. Nur ganz zuletzt, als der Rat schon den Befehl zur Einstellung erteilen wollte, fiel ihm eine in der Küchendecke eingelassene Falltür auf. Wie sich alsbald ergab, führte diese zum Boden und war durch eine augenscheinlich zu diesem Zwecke in einer Ecke stehende Anlegeleiter erreichbar.

In dem nach beiden Seiten abgeschrägten Dachboden fand man allerlei wertlosen Plunder: daneben waren einige Wäschestücke zum Trocknen aufgehängt. Man leuchtete die verstaubten Ecken und Winkel ab. Endlich nahm der Amtsrat in der Giebelmauer einen lose sitzenden Backstein wahr, der seinen Verdacht erregte. Als er ihn mit leichter Mühe lockerte und hervorzog, glaubte er dahinter im Loche ein Päckchen zu entdecken. Er griff zu. Richtig! Es war ein sich moderig feucht anfühlendes Leinenpäckchen, klein genug, um von einer Männerfaust umschlossen werden zu können. Nach seinem staubigen, verrotteten Aussehen mochte es schon durch lange. Jahre unberührt in dem Versteck gelegen haben. Durch die Hülle hindurch war ganz deutlich ein fester, dünner Gegenstand zu spüren.

Sorglich wickelte der Amtsrat das vielfach um die Leinwand geschlungene Garn ab und öffnete diese. Er stieg auf ein etwa fußlanges Bruchstück einer goldenen Halskette, an dessen einem Ende eine flache Goldkapsel befestigt war. Als Martini die Kapsel öffnete, erblickte er ein von Alter und Feuchtigkeit unansehnlich gewordenes Miniaturbild; soweit sich noch erkennen ließ, stellte es eine Frau in mittleren Jahren vor.

Kopfschüttelnd betrachtete der Amtsrat das an so ungewohntem Orte aufgespürte Fundstück. »Wer weiß, wie es hierher gekommen ist und was es damit für eine Bewandtnis hat,« meinte er endlich. »Es scheint von einer großen Kette gewaltsam losgerissen zu sein.«

»Mehlig wird uns wohl Auskunft darüber geben können,« schaltete der Kreisarzt ein.

»Wer weiß! Allem Anschein nach lag das Geschmeide schon durch lange Jahre an seinem Versteckorte. Mehlig hat von seinem Vorhandensein wohl gar keine Ahnung, er dürfte sonst wohl den erfolgreichen Versuch gemacht haben, es zu verkaufen, denn die Goldkapsel ist ziemlich schwer und wertvoll. Nun, wir werden ja sehen. Jedenfalls nehmen wir den Fund an uns.«

»Vielleicht weiß uns Frau Bindewald Auskunft zu geben,« meinte Doktor Findler. »Sagten Sie nicht, das Haus habe früher ihrem Vater gehört? Das Schmuckstück gehört entschieden einer längst vergangenen Epoche an. Ich erinnere mich, daß meine Großmutter eine ähnliche Kette besaß, sie hatte daran eine ganze Anzahl kleiner Emailbilder befestigt, darunter auch das Porträt meiner Mutter.«

»Das Stallgebäude hier gehörte immer zum Bindewaldschen Anwesen,« entgegnete der Amtsrat. Sie hatten sich inzwischen wieder nach der Wohnung hinunterbegeben. Er trat ans Fenster und wies auf den Seitenflügel des Vorderhauses. »Das dort war früher ihr Elternhaus … dort die beiden Fenster im Oberstock gehörten zu der Wohnungsflucht ihres Vaters. Dort ist auch die Tat geschehen, die Sanders ins Zuchthaus führte … aber Sie haben recht, man kann Frau Bindewald immerhin einmal fragen.«

Da ihre Tätigkeit in der Mehligschen Wohnung ohnehin beendigt war, entschloß sich der Amtsrat, die Lammwirtin sofort aufzusuchen, und Dr. Findler schloß sich ihm an. Sie trafen die Frau in der vereinsamten Gaststube. Sie saß, nach außen hin ruhig und gefaßt, im Bereich einer der entzündeten Hängelampen und hatte augenscheinlich beim Eintritt der Beamten in der Hauspostille gelesen.

Mit der an ihr gewohnten kühlen Zurückhaltung hörte sie den Amtsrat an. Dann schüttelte sie unmerklich mit dem Kopfe. »Ich werde Ihnen kaum dienen können, denn Mehlig befand sich schon seit Jahren im Dienste meines seligen Mannes, als ich diesen heiratete, und ebenso war Mehlig damals schon seit Jahr und Tag in der heute noch von ihm benützten Wohnung. Was immer er auch verborgen haben mag, ich kenne es schwerlich … übrigens, wenn ich auch das blinde Vertrauen niemals teilen konnte, das mein Mann immer für Mehlig übrig hatte, eigentlich unehrlich habe ich ihn nie gefunden, höchstens tat er 'mal einen kecken Griff in den Weinkeller oder in den Likörschrank dort, wenn gerade der Schlüssel steckte oder sonst die Gelegenheit patzte.«

»So, das haben Sie also auch schon bemerkt?« fragte Martini, der inzwischen das Geschmeidebruchstück seiner Aktentasche entnommen hatte und es nun der Lammwirtin überreichte.

Diese nickte nur. »Ein Trunkenbold ist Mehlig schon immer gewesen. Ich habe meinen Mann nie begreifen können, daß er ihm so viel nachsah, ihm wohl gar noch teure Schnäpse flaschenweise schenkte. Damit war dem unverbesserlichen Menschen doch kaum gedient. Konnte er unter der Hand was Trinkbares mitgehen heißen, so geschah es sicherlich … dort den Flaschenschrank hat er wohl ein dutzendmal unbefugt aufgebrochen. Aber so unerbittlich mein armer Mann sonst auch war, dem Mehlig gegenüber drückte er beide Augen zu und ließ fünf gerade sein, obwohl er doch wußte, wie unausstehlich mir der Mensch von jeher gewesen ist – – hilf Gott!« unterbrach sie sich plötzlich mit gänzlich veränderter, schreckentstellter Stimme. »Woher, sagen Sie, Herr Amtsrat, stammt dies?«

Sie war vom Stuhl emporgeschnellt. Nun stand sie, weit nach hinten übergebeugt, und streckte, ein wildes Entsetzen in den schneeweißen Zügen, das Geschmeide weit von sich, dennoch aber den grauenerfüllten Blick nicht davon ablassend.

Beunruhigt und überrascht durch ihr Gebaren traten die beiden Beamten näher.

»Was ist Ihnen, was ergreift Sie, Frau Bindewald?« fragte der Amtsrat. »Kennen Sie die Herkunft des Bildes?«

Ein nervöses Aufschluchzen kam über die Lippen der Frau, deren Erregung sich immer noch steigerte und ins Uferlose wuchs. »Ob ich das Bild kenne?« schrie sie dann. »Warten Sie, meine Herren,« unterbrach sie sich, »ehe ich antworte, will ich Ihnen etwas zeigen, die eigentliche Kette nämlich, von der diese Glieder samt der Bildkapsel in grauenvoller Stunde abgerissen worden sind.«

Damit eilte sie auch schon in fliegender Hast aus dem Zimmer unter dem Kopfschütteln der Beamten, die nicht recht wußten, was sie von ihren dunklen Andeutungen und ihrem ganzen plötzlich so veränderten Wesen halten sollten.

Mit bleiernem Fluge verstrichen endlos währende Minuten, bis die Lammwirtin endlich wieder eintrat. Sie trug einen altmodisch geformten Schmuckkasten in der Hand, den sie sorgsam auf den Tisch setzte. Ohne ein Wort zu sprechen, öffnete sie ihn, und mit ungeduldigen Fingern durchwühlte sie seine Bestände, bis sie endlich das Gesuchte gefunden. Sie zog eine zerrissene Goldkette hervor, an der eine flache Goldkapsel, ähnlich wie die vom Amtsrat aufgefundene, befestigt war. »Sehen Sie, meine Herren,« stieß sie nun in atemloser Hast hervor, während sie zugleich das Geschmeide öffnete. »In dieser Kapsel befindet sich mein eigenes Bild. Sie werden es freilich kaum mehr erkennen, denn es stellt mich als junges Mädchen vor und seitdem ist das Leben über mich hinweggeschritten: ich war früher eine andere und man sagte mir Schönheit nach.« Sie sprach ruhig und sachlich, als handle es sich um eine fremde Person; keine Spur von Empfindlichkeit oder Trauer sprach aus ihrem Stimmklang.

Ein schönes Mädchenangesicht mit weichen schwärmerischen Zügen, aus denen die dunklen Augen rote verträumt blickten, bot sich den Beschauenden dar, die Farben schon verblaßt und undeutlich geworden. Man mußte schon scharf zuschauen, um von dem Bilde auf die gealterte Frau schließen zu können, denn eine Welt von Gegensätzen lag trennend zwischen beiden. Der Amtsrat war kein weicher Mann, aber her schreiende Kontrast zwischen einst und jetzt legte sich ihm beengend auf die Seele; er konnte nicht anders, sondern mußte die Hand der Matrone fassen und sie drücken.

Diese nickte nur unter einem dumpfen Seufzer. »Damals, als der Vater dies Bild von Künstlerhand malen ließ, lebte in mir noch Glauben und Vertrauen. Das Schicksal hat's nicht gut mit mir gemeint, ich wäre sonst wohl anders geworden … aber nichts mehr davon!« brach sie ungeduldig ab und die vorige tiefe Erregung übermannte sie wiederum. »Das andere Bild, das Sie bei Mehlig gefunden haben, stellt meine Mutter vor. Mein Vater hatte uns so lieb, er wollt' uns immer bei sich tragen, wenigstens im Bild … und als die Mutter heimging, ließ er die Bilder malen und von Stund' an trug er sie an dieser Goldkette auf dem Herzen … auch in jener Nacht, wo er sein Leben lassen mußte … aber nun kommt das Unfaßliche!« fuhr sie fort. »Wie wir ihn damals aufhoben – er war nur im Hemd, denn er war ja aus dem Bett gesprungen, als er das Geräusch gehört hatte – da war die Kette zerrissen, ein Stück von ihr und meiner Mutter Bild fehlte … und ich hab' es allem Suchen zum Trotz nicht mehr finden können bis zu dieser Stunde … bis heute!« schrie sie auf, wie von Sinnen aufspringend und sich das Haar raufend. »Wo hat es Mehlig herbekommen? Mein Mann hat's ihm nicht geben können … ich spreche von Sanders,« verbesserte sie sich mit gramumdüsterter Stimme, »denn der ist ja schon in Haft genommen worden, ehe wir meinen sterbenden Vater vom Boden aufgehoben haben … und … und nur der Mörder, der ihn gewürgt, konnte die Kette zerreißen, das ist doch klar!«

Gepeinigt von verzehrender Unruhe begann sie das Zimmer zu durchwandern, während die Beamten bestürzt am Tische stehen geblieben und die Kettenstücke zusammenpaßten.

»Was das zu bedeuten hat, vermag ich nicht zu ermessen,« meinte der Amtsrat nach einer Weile bekümmert. »Wer dieses Schmuckstück die langen Jahre über verborgen hat, muß seine triftigen Gründe hierzu gehabt haben. Dies kann aber nur Mehlig gewesen sein, denn er hatte seine heutige Wohnung schon damals inne. Er wird und muß uns befriedigenden Aufschluß geben.«

Die Lammwirtin gab ihm keine Antwort, sie hatte auf seine Worte nicht einmal geachtet, so sehr war sie mit dem Sturm in ihrer eigenen Seele beschäftigt; der steigerte sich mit jeder neuen Sekunde. Dann hielt sie plötzlich mitten im Schritt inne, schlug die Hände zusammen und stöhnte wiederum dumpf.

»Wie ist mir denn,« kam es gebrochen von ihren Lippen, »was quält mich nur so, daß ich schreien muß –« Sie wankte auf Martini zu und umklammerte dessen Hand. »O Herr Amtsrat, nur der Mörder kann mit seiner verruchten Hand das Kettenstück abgerissen haben – nur er! Dann muß er geflohen sein, das Kettenstück noch immer in der Faust – aber dann – dann – dann hat mein Mann, der Sanders, doch recht – dann war's der andere, den er noch gesehen haben will, wie er zum Fenster hinaus geflohen ist – dann war's mein zweiter Mann, der Bindewald!« schrie sie grell heraus.

Sie zerwühlte ihr Haar mit beiden Händen und schluchzte wild auf. »Herrgott im Himmel, nur das nicht – das nicht!« flüsterten ihre aschfarbigen Lippen. »Das triebe mich in den Wahnsinn – es kann nicht sein – es wäre so schrecklich … und doch – und doch –« Ihre Stimme verlor sich von neuem in einem schreienden, unverständlichen Schluchzen.

Vergebens versuchten die beiden Männer, selbst in großer Gemütsbewegung, sie zu beruhigen. Sie hörte auf keine Einrede, der gewaltige Aufruhr in ihr mußte sich austoben. Nach langen, bangen Minuten wurde sie endlich ruhiger. Gefügsam wie ein Kind ließ sie sich vom Kreisarzt zu einem Stuhl geleiten. Wie gebrochen sank sie in ihm nieder und verhüllte das Angesicht.

»Es ist doch schon so lange Jahre her, können Sie sich da nicht irren?« sprach der Amtsrat auf sie ein. »Wissen Sie genau, daß Ihr Vater in jener schrecklichen Stunde die Goldkette anhatte? Er mag sie vor dem Schlafengehen ausgezogen und auf den Nachttisch gelegt haben. Im Durcheinander jener schrecklichen Stunde kann dann leicht ein Dieb sich eingeschlichen haben oder sonst etwas –«

»Nein, nein!« widersprach die Matrone unter starrem Kopfschütteln. »Würde ich tausend Jahre alt, ich könnte auch nicht das Geringste aus meinem Gedächtnis merzen, was ich damals habe erschauen und durchleiden müssen. Die zerrissene Kette ist damals von Ihrem Vorgänger von meines Vaters Leiche genommen und zu den Gerichtsakten getan worden. Ich habe sie erst später wieder auf mein vieles Bitten zurückbekommen, da war Sanders schon lange im Zuchthaus und ich war von meiner Krankheit wieder erstanden – o, daß ich damals doch gestorben wäre!« schrie sie auf. »Bin ich nur aufgespart worden, um zweifach Schreckliches jetzt erdulden zu müssen?«

Sie haschte nach den Händen der vor ihr Stehenden, und den beiden abwechselnd voll verhüllten Grauens in das Gesicht schauend, fuhr sie fort: »Wie ich das Schreien hörte und ins Zimmer kam, da lag Sanders auf meinem Vater – es kann nicht anders sein, er lag auf ihm, wenn er später auch sagte, er habe dicht über ihn gebeugt neben ihm gekniet und ihm helfen wollen. Aber kann da ein Irrtum möglich sein … er hatte die Geldscheine doch in der Hand und mit seinem letzten Atemzuge nannte mein Vater ihn noch beim Namen … und mit einem Ausdruck, das war allein schon die schrecklichste Anklage … und dann hatten doch Mehlig und mein zweiter Mann ihn vom Hof aus beobachtet, wie er ans Fenster getreten war, noch ehe es zum Kampf mit meinem Vater kam. Herrgott im Himmel?« unterbrach sie sich mit einem wilden Aufschrei, »wenn sie gelogen hätten, die beiden, wenn's doch wahr wäre, was mein Mann damals hinausgeschrien hat, als sie ihn schuldig sprachen … wenn er doch unschuldig gewesen und nur der Schein wider ihn gesprochen … ich trüge es nicht … was wäre ich dann … schlimmer wie eine Mörderin, schrecklicher wie alle Grausamkeit auf Erden … verflucht müßte ich sein in alle Ewigkeit … und wessen Weib wäre ich dann geworden … sagen Sie, ich beschwöre Sie,« wendete sie sich im Übermaß der Ekstase an den Amtsrat, »geben Sie mir Trost, ich werde sonst noch wahnsinnig … gelt, es ist nicht möglich … mein Mann, der Bindewald, kann kein falsches Zeugnis abgelegt haben. Dann hätt' ich den Sanders auf dem Gewissen, ich hätte ihn schuldig sprechen lassen … ich ihn elend gemacht, ihn und sein Kind … o du barmherzige Güte, wie verworfen stände ich dann da … und ich habe doch so handeln müssen, ich habe ja nicht anders können, es war doch mein Vater, den ich rächen mußte … der Vater, den ich lieber hatte als Mann und Kind.«

»Ruhig und besonnen, Frau Bindewald,« unterbrach sie mahnend der Kreisarzt, indem er verstohlen besorgt ihren Puls prüfte. »Sie dürfen nicht sinnlos gegen sich selbst wüten. Ich bin kein Jurist und vermag die Wichtigkeit des heutigen Fundstückes nicht zu ermessen, das ist Sache des Amtsrates hier. Aber ich meine, es ist Ihre Pflicht, den Kopf gerade jetzt oben zu behalten, wo die längst vergessen gewähnte Vergangenheit wieder lebendig wird und vernehmlich zu uns spricht.«

»Sie gehen entschieden zu weit, Frau Bindewald,« ließ sich nun auch Martini vernehmen, »ich gestehe offen, Ihre mehr als kühnen Schlußfolgerungen erschrecken mich nicht nur, sie setzen mich geradezu in Erstaunen. Zugegeben, das Auffinden dieses Kettenstückes ist seltsam, es bedarf der Nachprüfung, aber was beweist es im Grunde, um solche Schlüsse zu rechtfertigen.«

Die Lammwirtin schüttelte nur matt mit dem Kopfe. »Was soll ich euch sagen, Ihr Herren,« antwortete sie dumpf, »ich verstehe mich selbst nicht. Aber ich habe all die langen Jahre über in der lähmenden Angst vor irgend etwas Schrecklichem dahingelebt … tausendmal habe ich mich dabei ertappt, wie ich irre an mir und meinem guten Rechte wurde. Je mehr die Jahre gingen, desto stärker kamen die Zweifel. Tage gab es, an denen ich so irre wurde an meinem zweiten Mann, wie ich es früher am ersten geworden bin … und dazu immer die Angst, ich mochte in der Lüge leben und die Wahrheit müßte doch einmal an den Tag kommen und mich so elend werden lassen, wie ich ihn gemacht habe, dem ich als meines Vaters Mörder fluchte … daß ich nicht wahnsinnig geworden bin, ich begreife es selbst kaum!«

Erschüttert hatten die Beamten ihren Worten gelauscht, aus denen der Notschrei eines reuegefolterten Herzens nur zu vernehmlich sprach. Ehe sie indessen recht dazu kamen, ihr gutgemeinten Trost zu bieten, hatte sich die Lammwirtin bereits wieder gefaßt und ihre Mienen nahmen rasch den starren Alltagsausdruck wieder an. »Mag sein, ich sehe Gespenster, wo keine sind« sagte sie. Es ist seit gestern auch zu viel Hartes wider mich angestürmt und ich muß mich erst wieder in Ruhe fassen lernen … nehmen Sie die Kette nur an sich, Herr Rat,« wendete sie sich an diesen. »Sie können Sie wohl brauchen … und noch eins,« sagte sie, zum Kreisarzt gewendet. »Mein Mann ist nach dem Spital geschafft worden?«

Dr. Findler bejahte. »Ich kann Ihnen die Autopsie der Leiche nicht ersparen, Frau Bindewald,« sagte er. »Ich nehme sie noch heute abend vor, und ich denke, der Herr Amtsrat hat nichts dawider, wenn Sie das Begräbnis hier vom Hause aus veranstalten wollen.«

Da unterbrach ihn aber auch die Lammwirtin schon mit entschiedener Handbewegung. »Nein, warum den Toten erst wieder ins Haus schaffen!« sagte sie. »Hier ist ohnehin ein Wirtshaus, darauf muß man Rücksicht nehmen … und für des armen Franz Begräbnis komme ich auf,« fügte sie noch hinzu, nachdem sie eine Weile in Gedanken versunken dagestanden hatte, »er hat niemand mehr auf der Welt gehabt; ich denke, wir begraben beide zu derselben Stunde.«

Ruhig, fast geschäftsmäßig hatte sie gesprochen, und als sie nun den Beamten die Hand zum Abschied reichte, ließ nichts in ihrem Aeußeren mehr auf den verzehrenden Gefühlssturm schließen, der eben noch ihrer Seele Tiefen erschüttert hatte.

Wie es die Witwe bestimmt hatte, fand das Begräbnis der beiden Opfer gemeinschaftlich statt. Fast die ganze Stadt beteiligte sich, die Vereine mit umflorten Fahnen, ein Musikkorps schritt an der Spitze und ließ dumpfe Trauerwirbel hören, trotz der ungünstigen Jahreszeit waren ganze Berge von kostbaren Blumenspenden geschickt worden, die nun in einem Sonderwagen den beiden Särgen vorausfuhren. Am Grabe hielt der Geistliche eine tief empfundene Rede, bei der kein Auge trocken blieb – mit alleiniger Ausnahme von der Witwe selbst etwa. Es war ihr jedoch anzusehen, wie sehr sie litt; die wenigen Tage hatten tiefe Runen in ihre bleichen Züge gegraben und die kühle Unnahbarkeit in ihrer Haltung war geschwunden. Sie machte den Eindruck einer dem völligen Niederbruch nahen Person.

Auch Amtsrat Martini hatte sich unter den Leidtragenden befunden. Die Einladung der Witwe zum üblichen Leichenschmaus hatte er indessen so höflich wie bestimmt abgelehnt, sich vielmehr direkt vom Kirchhof wieder nach seinem Amtszimmer im Gerichtsgebäude begeben.

Der Amtsrat trug eine besorgte, umwölkte Miene zur Schau. Der gar schleppende Fortgang, den die Untersuchung entgegen aller Voraussetzung zu nehmen drohte, verstimmte ihn merklich. All seiner unermüdlichen, aufreibenden Tätigkeit ungeachtet, waren die Ergebnisse des ersten Tages um nichts gefördert worden.

Da hatte ihm zunächst einmal Mehlig eine große Enttäuschung bereitet; gerade von dessen Verhör hatte er sich eine ausgiebige Ausbeute versprochen, aber das gerade Gegenteil war eingetroffen. Als er sich den mittlerweile wieder nüchtern Gewordenen am nächsten Tage hatte vorführen lassen, war aus ihm weder im guten noch im schlimmen irgend etwas herauszubringen gewesen. Mehlig hatte vielmehr den Ton eines gekränkten Biedermannes angeschlagen und war nicht müde geworden, energisch gegen seine ungerechtfertigte Verhaftung zu protestieren. Wenn dies der ganze Dank dafür sei, daß er bei Aufhaltung des flüchtigen Schlittenpferdes sein eigenes Leben riskiert, so werde er sich einfach das nächstemal schön hüten, ein gleiches zu tun. Auf das bestimmteste behauptete er, von den Vorgängen in der Nacht nichts wahrgenommen zu haben. Er hatte bis gegen 5 Uhr morgens geschlafen und sich dann, von einem ungeheuren Trinkverlangen gequält, in die Wirtsstube geschlichen. Das hatte er durch die Hintertür bewirkt; er gab an, daß das Schloß schadhaft sei und man es, wenn man die Tür an der Klinke hochhebe, auch im verschlossenen Zustande ohne Schlüssel öffnen könnte. Diese Behauptung entsprach der Wahrheit, wie der Amtsrat durch ein eigenes Experiment an Ort und Stelle feststellte. Die Dazwischenkunft des Hausdieners Franz habe er nicht gefürchtet, zumal er auf Strümpfen herangebirscht und völlig geräuschlos zu Werke gegangen sei. Die Wegnahme der beiden Kognakflaschen räumte der Verhaftete ohne weiteres ein; da es sich hier lediglich um Mundraub handelte und die Lammwirtin keinen Strafantrag stellen wollte, Mehlig überdies auch noch behauptete, daß er sich einen solchen Uebergriff bei seinem anerkannt vortrefflichen Verhältnis mit dem Lammwirt ohne weiteres hatte herausnehmen dürfen, ohne üble Folgen daraus fürchten zu brauchen, schied diese Verfehlung ohne weiteres aus.

Von dem Funde seiner Tochter wollte Mehlig ebensowenig etwas wissen; umsonst blieb es, daß der Amtsrat seinen ganzen Scharfsinn daran setzte, den augenscheinlich sehr Verschlagenen durch Stellung kniffliger Fragen in einen greifbaren Widerspruch zu verwickeln. Mehlig blieb bei der Behauptung, daß er seine Tochter in jener Nacht überhaupt nicht zu Gesicht bekommen habe.

Auf die während des in seiner Wohnung mit ihm angestellten ersten Verhörs getanen verfänglichen Aeußerungen wollte er sich gar nicht einlassen; was er in seiner Trunkenheit geschwatzt habe, sei wertlos, da wäre er imstande, sich aller möglichen Schandtaten zu bezichtigen, so ein Kerl sei er nun einmal.

Absichtlich hatte Martini sich die Vorzeigung des Geschmeidebruchstückes als letzten Verhörpunkt ausgespart; so unvermittelt wie möglich hatte er die Kette und das von dieser gewaltsam gerissene Glied dem Verhafteten vor Augen gehalten, indem er ihm zugleich mit erhobener Stimme gesagt, wo er das Versteck aufgespürt habe. Aber auch in diesem Falle war die erhoffte Wirkung völlig ausgeblieben. So scharf Martini auch den Postboten beobachtete, außer einem flüchtigen Blinzeln hatte er in dessen verwittertem Gesicht nichts wahrzunehmen vermocht, weder Erschrecken noch selbst den durch irgend ein willkürliches Muskelzucken sich kundgebenden Ausdruck eines bösen Gewissens. Der Verhaftete hatte seine Miene völlig in der Gewalt gehabt und mit dem Ausdruck völligster Gemütsruhe sogar noch treuherzig gesagt, das sei aber jammerschade, daß er von dem goldenen Ding nichts gewußt habe, das hatte er sonst schleunigst verwertet.

»Aber als dies Kettenstück versteckt wurde, waren Sie schon im Besitz Ihrer jetzigen Wohnung,« hatte der Amtsrat, sich ereifernd, ihm zugerufen. »Wem wollen Sie weiß machen, daß ohne Ihr Vorwissen irgend ein Dritter den Versteckort gewählt haben kann?«

»Aber Herr Amtsrat, ich werde mich hüten. Ihnen etwas weißmachen zu wollen, das wäre ja gegen allen schuldigen Respekt,« hatte Mehlig darauf frisch und unbefangen zur Antwort gegeben, »und mit Verlaub, einen wüßte ich doch, der immer Zutritt in meiner Wohnung hatte, und bei dem ich immer den Schlüssel abgab, wenn ich auf Botentour unterwegs war und meine Tochter war in der Schule oder bei ihrer Tante außerhalb zu Besuch –«

»Nun, wer ist das?«

»Der arme Herr Bindewald natürlich,« gab Mehlig zur Antwort. »Der war oft genug auch allein in meiner Wohnung, das kann ich beschwören.«

Diese Antwort gab Martini zu denken. Er hatte es absichtlich vermieden, des Lammwirts Namen zu erwähnen, er hatte auch nicht gesagt, welch unheilvolle Rolle vor langen Jahren das Schmuckstück einmal vor dem Schwurgericht gespielt gehabt. Damals hatte Sanders seinen ehemaligen Nebenbuhler als den Mörder bezeichnet; gerade Mehlig aber war es gewesen, der Bindewalds Alibibeweis nicht nur geführt, sondern durch seine Aussage noch wesentlich zur Verurteilung Sanders beigetragen hatte. Hatte Sanders damals die Wahrheit gesprochen? Dann mochte der wirkliche Täter bei seiner überstürzten Flucht durch das Fenster, als er in rasendem Schreck vom Halse seines Opfers abgelassen, in der Hand noch das abgerissene Kettenende gehabt haben … und an diese Mutmaßung schloß sich eine Gedankenfolge, so entsetzlich und verhängnisschwer, daß Martini Grauen davor empfand, sie zu verfolgen.

Vergeblich blieben seine Versuche, wenigstens in dieser Richtung etwas aus Mehlig herauszukommen.

»Herr Amtsrat,« sagte dieser, »das ist alles schon so lange her, daß es beinah' nicht mehr wahr ist. Ich weiß nicht mehr, was ich damals ausgesagt habe. Jedenfalls aber die Wahrheit, denn mit dieser hab' ich es mein Lebtag gehalten – und das goldene Ding dort auf dem Tisch habe ich heute zum ersten Male gesehen, da können Sie Gift darauf nehmen, und wie es in meinen Speicher gekommen ist, das weiß ich nicht; wäre der arme Bindewald mir nicht immer so'n lieber Herr gewesen, ich würde sagen, nur er könnte es getan haben, denn wer soll sonst in meine Wohnung gekommen sein?«

Dabei blieb er. Der Versuch, ihn seiner Tochter gegenüberzustellen und Leide in Widersprüche zu verwickeln, mißlang ebenfalls auf das kläglichste.

Die in aller Heimlichkeit angestellten Ermittelungen nach dem Vorleben des Mädchens waren gleichfalls im Sande verlaufen. Sie hatte immer bei ihrem Vater gelebt, nur einige Jahre hatte sie bei einer Tante in Konstanz zugebracht, auch bei Verwandten in Achern hatte sie ein Jahr verlebt; es ist dies die kleine Amtsstadt, in deren Umgebung sich die Landesirrenanstalt Illenau befindet. Dort mochte sie mit ihrem Bräutigam bekannt geworden fein; es war dies ein ehemaliger Irrenwärter, der wegen allerlei Durchstechereien und häufiger Trunkenheit auf dem Disziplinarwege entlasten worden war. Schaible, so hieß der Mann, war gelernter Schlosser, hatte als Unteroffizier gedient und auf Grund des Zivilversorgungsscheines den Wärterposten erhalten. In Neustadt war er erst seit Wochen ansässig, er arbeitete in der einzigen kleinen Maschinenfabrik, gegen seine Aufführung war weiter nichts einzuwenden, als daß er ziemlich roh veranlagt schien und sich häufig betrank. Gleichwohl hatte sich der Amtsrat um Auskunft an die Illenauer Anstaltsdirektion gewendet und umgehend Bescheid dahin erhalten, daß Schaible bei den Kranken beliebt gewesen sei und auch bei der Abteilung irrsinniger Verbrecher zuweilen Dienst getan habe. In dieser Eigenschaft war er auch mit dem flüchtigen Sanders in Berührung gekommen.

Das mit dem Mann angestellte Verhör, zu dessen Vorladung sich der Amtsrat entschlossen, war so unergiebig wie möglich. Er war seiner Aussage gemäß nach Neustadt gekommen, um seine Heirat mit Sanna Mehlig zu betreiben und weil er passende Stellung gefunden. In der Mehligschen Wohnung hatte er sich kaum einmal sehen lassen und wußte natürlich nichts über die Vorgänge in der kritischen Nacht. Von dieser hatte Sanna ihm erzählt, als sie am Sonntagabend beim Tanze zusammengetroffen waren; sie hatte sich über das Vorgehen der Beamten entrüstet und auch ihres Fundes am Morgen desselben Tages Erwähnung getan.

Ohne Erfolg war auch bisher die Streife nach dem entsprungenen Zuchthäusler geblieben; Sanders war wie vom Erdboden verschwunden, und auch die Schweizer Behörden hatten ungeachtet aller eifrigen Nachforschungen nichts über seinen Verbleib in Erfahrung bringen können. Schaible hatte sich seinen Angaben zufolge für Sanders aus dem Grunde interessiert, weil dieser aus dem Heimatsorte seiner Verlobten stammte; er hatte ihm einige Male freundlich zugeredet, aber im ganzen sich zu dem Gefangenen nicht hingezogen gefühlt.

Auch die Schuldbeweise gegen das Krämer Jungnickelsche Ehepaar wollten sich nicht mehren; im Gegenteil hatte sich die Angabe des Verhafteten, am kritischen Nachmittag in ganz entgegengesetzter Gegend gewildert zu haben, bewahrheitet; es war wenigstens bei der einsamen Fichte ein erlegtes Reh aufgefunden worden, und die in ihm noch vorgefundene Kugel paßte zum Abschraubstutzen Jungnickels. Das wollte nicht viel besagen, zumal fast alle beschlagnahmten Büchsen das nämliche Kaliber aufwiesen und die verwendeten Patronen im Krämerladen selbst getauft worden waren.

An dem Tage nach der Beerdigung der Opfer traf ein vom zuständigen Konstanzer Landgericht entsendeter Untersuchungsrichter in Neustadt ein, um den Amtsrat in der Wetterführung der Untersuchung abzulösen. Der in noch jugendlichem Alter stehende Landgerichtsrat machte sich unter Führung Martinis mit den in Frage kommenden Oertlichkeiten eingehend vertraut, obwohl es nicht mehr viel zu sehen gab, da ein inzwischen überraschend schnell eingetretenes Tauwetter die letzten Spuren endgültig beseitigt hatte. Zeigte sich der Untersuchungsrichter im allgemeinen auch mit den vom Amtsrat getroffenen Maßnahmen einverstanden, so glaubte er doch die Verhaftung Mehligs nicht aufrecht erhalten zu können; dieser wurde noch am Tage seiner Ankunft wieder in Freiheit gesetzt. Auch die Freilassung Frau Lenchens wurde vom Untersuchungsrichter angeordnet; dagegen schenkte er den flehentlichen Bitten der jungen Frau um Freilassung des Gatten kein Gehör, er ordnete vielmehr die Ueberführung des Verhafteten nach dem Untersuchungsgefängnis in Konstanz an und verwehrte selbst eine Verabschiedung der Eheleute.

Die von dem Landgerichtsrat eingeleiteten Nachforschungen, ob in der kritischen Nacht irgend wer die Anwesenheit des Lammwirts in der Stadt beobachtet habe, erwiesen sich als Fehlschlag; die gegensätzliche Behauptung des Krämers wurde deshalb auch von ihm mit Unglauben aufgenommen, ja sie diente nur dazu, diesen noch mehr der Tat zu verdächtigen. Da Jungnickel selbst eingeräumt hatte, zur kritischen Nachtstunde direkt vor dem »Goldenen Lamm« sich aufgehalten und an der Hausglocke wiederholt heftig geläutet zu haben, wurde die Untersuchung gegen ihn auch wegen Einbruchs in idealer Konkurrenz mit vorsätzlicher Tötung angeordnet.

Vor ihrer Haftentlassung war Frau Lenchen von dem Untersuchungsrichter nochmals eingehend verhört worden. Ihre Aussagen stimmten mit den von ihr früher gemachten völlig überein und auch in dem mit großem Geschick und erbarmungsloser Schärfe geführten Kreuzverhör ließ sie sich zu keinem Widerspruch verleiten. Sie blieb dabei, die gezeichneten Banknoten zwischen Licht und Dunkel von einem halbflüggen Burschen überbracht erhalten zu haben. Er hatte an der Tür gepocht, ihr ein Päckchen in die Hand gedrückt und undeutlich etwas vor sich hingemurmelt, etwa, der Vater sende ihr dies, sie solle nicht Angst haben wegen seines Ausbleibens. Ehe sie in ihrer Ueberraschung sich zu einer Antwort habe aufschwingen können, war der Bursche schon wieder fortgelaufen, sie aber habe in dem in eine Zeitung gehüllten Päckchen vierzehn Hundertmarkscheine gefunden. Sie habe sich zuerst gedacht, der Vater sei im Walde richtig mit dem Lammwirt zusammengetroffen und dieser habe ihm Schweigegeld angeboten; auf den Abend aber seien ihr quälende Zweifel gekommen, sie habe sich um den Vater gebangt und deshalb ihren Mann gebeten, im »Goldenen Lamm« Bindewald aufzusuchen und diesen direkt nach des Vaters Verbleib zu fragen. Gegen den Morgen sei ihr Mann von seiner beschwerlichen Wanderung wieder heimgekehrt, habe aber wenig tröstlichen Bescheid mitgebracht. Er hatte von dem auffälligen Verschwinden Bindewalds erzählt und wie er dann diesen in seiner Ueberraschung plötzlich behutsam das Tor habe aufschließen und den Gasthof betreten sehen. Lange habe er klingeln müssen, als ihm endlich geöffnet worden sei, habe er vor Bindewald gestanden. Der habe ihn grob angefahren und gemeint, er solle sich zum Kuckuck scheren, was ihm denn eigentlich einfalle, im »Lamm« nach dem alten Zuchthäusler zu fragen, er unterhalte keine Gemeinschaft mit solchen.

Der weiteren Aussage der Frau zufolge waren sie dann ins Sprechen gekommen, ihr Mann hatte ihr wieder einmal seine Not geklagt, wie er nun mit seinem Witz zu Ende sei und diesmal der angedrohten Pfändung ganz sicherlich nicht entgehen könne. Da sei sie in dem Drange, ihrem Manne zu helfen, der Versuchung erlegen und habe von den Geldscheinen vier genommen und sie ihrem Manne gegeben. Der habe vor Freuden kaum gewußt, was anfangen, habe sie geherzt und geküßt und willig ihrer Versicherung Glauben geschenkt, es handle sich um ihre Spargroschen aus früheren besseren Zeiten. Gegen acht Uhr sei er gleich gegangen, um beim Bürgermeister die Postanweisungen einzuzahlen, die gerade vierhundert Mark gemacht hätten.

Jungnickels Aussagen stimmten damit völlig überein.

»Woher kennen Sie den Lammwirt persönlich?« fragte der Untersuchungsrichter. »Bei den unerquicklichen Familienverhältnissen dürfte doch kaum irgend welch' näherer Verkehr bestanden haben.«

»Gott bewahre,« meinte Jungnickel. »Ich habe mit dem Mann in jener Nacht überhaupt zum erstenmal in meinem Leben gesprochen – – aber vom Ansehen habe ich ihn schon gekannt, man ist doch bekannt in der Gegend, kommt zuweilen auch nach Neustadt, und der Lammwirt ist dort eine angesehene Person.«

»Sie sind Ihrer Sache absolut sicher; eine Personenverwechslung ist durchaus ausgeschlossen?« warf der Untersuchungsrichter ein.

Jungnickel stutzte. »Es war wohl Nacht, aber der Mond hat geschienen, der Lammwirt hat freilich den Hut tief in die Stirn gedrückt gehabt, aber ich habe ihn doch erkannt, ich habe seinen zotteligen Bart gesehen, überhaupt seine ganze Gestalt, er war ja ein Riese, solche gibt's in Neustadt wenig, er hat doch auch das Haustor aufgeschlossen, und wie ich nachher geklingelt habe, ist er's doch wieder gewesen, der geöffnet hat.«

Der Untersuchungsrichter schenkte dieser Behauptung nach wie vor keinen Glauben; um so eifriger prüfte er die Behauptungen der jungen Krämersfrau nach. Vor allem versuchte er den halbflüggen Burschen zu ermitteln, der die in Zeitungspapier gehüllten Geldscheine an dem kritischen Nachmittag zwischen Licht und Dunkel nach dem Kramladen gebracht haben sollte. Martini hatte, da er von der Unwahrheit der Aussagen Frau Lenchens durchdrungen gewesen, in dieser Hinsicht gar keine Nachforschungen anstellen lassen; anders der Untersuchungsrichter, und es gelang ihm schließlich auch, den Burschen ausfindig zu machen. Es war ein sechzehnjähriger, geistig ziemlich zurückgebliebener elternloser Junge, der als Knecht gleich im ersten Gehöft an der Dorfstraße, wenn man von Neustadt heraufkam, arbeitete. Er hatte sich nicht gemeldet, weil er mit dem Gericht nichts zu tun haben wollte, die Sache aber seiner Dienstherrin erzählt und diese hatte den Gendarmen Anzeige gemacht.

Seine Aussagen klangen ziemlich wirr; er war von der Bäuerin in den Wald geschickt worden, wie es sich herausstellte, um von den schon zugerichteten und aufgebauten Klaftern Gemeindeholz, das um Weihnachten frei an die Bürger verteilt wurde, einige derbe Scheite zu stehlen, ein Vorhaben, zu dem das trostlose Wetter gut gepaßt hatte. Wie er nun die Landstraße gleich unterhalb des Dorfes gekreuzt habe, sei er von einem Manne angerufen worden. Wer es gewesen sei, wisse er nicht, denn er habe ihn nicht gekannt; er wußte nicht einmal in seiner Beschränktheit anzugeben, ob der Mann groß oder klein, hager oder dick gewesen sei; er entsann sich nur darauf, daß er ganz in einen dicken Mantel eingehüllt gewesen sei. Dieser Mann nun habe ihn gefragt, ob er sich schnell eine Mark verdienen wolle, was er natürlich mit Freuden bejaht habe. Da habe ihm der Mann nun ein Päckchen in die Hand gedrückt und ihn zur Krämerin damit geschickt; der sollte er das Päckchen geben und ihr einen Gruß vom Vater sagen, er schicke ihr das einstweilen und sie brauche sich um sein Ausbleiben nicht zu beunruhigen. Der Mann habe ihm noch streng anbefohlen, ja nicht auf Antwort zu warten, sondern spornstreichs zu ihm zurückzukehren und die Mark Botenlohn in Empfang zu nehmen. Das habe er treulich befolgt, er habe dem Mann erzählen müssen, wie er seinen Auftrag erledigt, dann habe er die Mark bekommen und sich nach Hause getrollt, wo ihn die Bäuerin schon mit Schelten und Püffen empfangen habe.

Der Untersuchungsrichter hielt den Zeugen für wichtig genug, um ihn mit allen in Betracht kommenden Personen zu konfrontieren; aber hiebei trat die Beschränktheit des Burschen hindernd in Erscheinung. Weder in Jungnickel noch in Mehlig wollte er zuerst den Mann wiedererkennen; als sie aber auf Geheiß des Untersuchungsrichters dicke Mäntel anziehen und vermummt das Zimmer wieder betreten mußten, wollte der Bursche der Reihe nach in jedem von ihnen den Auftraggeber wieder erkennen; als dann die beiden Männer in ihrer Vermummung sich nebeneinander stellen mußten, starrte sie der Zeuge verblüfft an, um dann plötzlich auf Mehlig zu deuten. »Der war's!« sagte er, und gefragt, wie er nun gerade auf den Postboten komme, meinte er im Brustton der Ueberzeugung: »Weil er eine Kapp' aufhat.«

Aber auch diese Bekundung erwies sich als wertlos, denn als auf Geheiß des Untersuchungsrichters zwei Gerichtsbeamte von grundverschiedener Körpergestalt, angetan mit dicken Mänteln und Pelzkappen über die Ohren herabgezogen, sich dem Zeugen präsentierten, wollte dieser in jedem von ihnen seinen Auftraggeber wiedererkennen.

Somit war mit dem Zeugen wenig Staat zu machen. Immerhin neigte der Untersuchungsrichter der Ueberzeugung zu, daß es sich um ein wirkliches Erlebnis handelte und der geistig schwache Zeuge, soweit er hierzu imstande war, die Wahrheit sprach; aber es schien ihm zugleich auch höchst wahrscheinlich, daß der Krämer selbst der Auftraggeber gewesen war, um auf solche Weise die bona fide-Herkunft der Banknoten glaubhaft zu machen. Nach Ansicht des Beamten hatte er sich auch sonst sein Alibi in musterhafter Weise zu sichern gesucht, indem er sich des Wilderns beschuldigte und an dem von ihm bezeichneten Orte auch ein Reh auffinden ließ. Aber dieser Alibibeweis war nach Ansicht des Untersuchungsrichters schon aus dem Grunde mißlungen, weil das Tier nach der sachverständigen Aussage des Försters ebenso gut in der Nacht zuvor geschossen worden sein konnte. Die Kälte der so überaus strengen Novembernacht hatte den Rehkadaver ebenso zu Stein zusammenfrieren lassen wie den Körper des Lammwirtes.

Zwei Tage nach seiner Freilassung wurde Postbote Mehlig ganz plötzlich auf Anordnung des Untersuchungsrichters wieder verhaftet. Dr. Findler hatte in aller Ruhe die graumelierten Haare untersucht, die an dem von ihm verwahrten Seilende, untermischt mit Blut, geklebt hatten; er hatte sie mit Kopf- und Barthaaren verglichen, die er unbemerkt Mehlig während seines trunkenen Zustandes ausgerissen hatte. Seine eigene mikroskopische Untersuchung hatte die völlige Uebereinstimmung der Haare und damit zur Evidenz ergeben, daß Mehlig entgegen seiner Versicherung sich zur kritischen Stunde am Tatorte befunden und an dem blutigen Geschehnis in irgend welcher Weise aktiven Anteil genommen haben mußte. Um ganz sicher zu gehen, war der Kreisarzt nach Freiburg gefahren und hatte von einem der berühmtesten Gerichtschemiker, der an der dortigen Universität einen Lehrstuhl inne hatte, die Untersuchung der Haarproben ebenfalls vornehmen lassen; der autoritative Gelehrte war genau zu demselben Ereignis gekommen. Auf Grund seiner analytischen Begründung und der sachverständigen Aussage des Kreisarztes ordnete der Untersuchungsrichter unverzüglich die Wiederverhaftung Mehligs an.

Diese traf den alten Postboten gleich einem Donnerschlag. Er hatte gerade mit seiner Tochter und dem künftigen Eidam zusammen in der Wohnstube gesessen und dem Bierkrug wacker zugesprochen, als die Beamten eingedrungen und ihn ohne viel Förmlichkeit wieder verhaftet hatten. Noch in derselben Stunde verhörte ihn der Untersuchungsrichter.

Wohl entfärbte sich Mehlig, als der Beamte ihm auf den Kopf zusagte, daß er bei der Ermordung des Lammwirts zugegen gewesen sein und tätigen Anteil an ihr gehabt haben mußte; Sekunden hindurch schien es, als ob den alten Postboten die bisher zur Schau getragene eiserne Dreistigkeit verlassen und er unter der Wucht der plötzlichen Anklage zusammenbrechen wollte.

»Gestehen Sie, was Sie auf dem Herzen haben, denn Leugnen hilft nichts mehr, sondern kann höchstens Ihre Lage noch verschlimmern – haben Sie darum den Mut zur Wahrheit,« mahnte der Untersuchungsrichter. »Die an dem Seilende gefundenen Haare rühren von Ihnen her, das steht fest. Das Seilende wurde aber von dem Stricke abgeschnitten, der zur Fortschleppung der Leiche des unglücklichen Bindewald benützt worden ist.«

Aber als er schwieg, begegnete er dem wie früher in ehrbare Falten gezogenen treuherzigen Gesichtsausdruck, der in seiner biederen Gesalbtheit gar keinen Verdacht aufkommen ließ. »Herr Untersuchungsrichter, die Sache mit den Haaren mag stimmen; das kann ich nicht unternehmen, nein zu sagen, wo solch grundgelehrte Herren anderer Meinung sind,« brachte er hervor. »Alles, was ich sagen kann, ist: ich habe die Wahrheit gesagt und weiß von nichts.«

»Damit werden Sie vor den Geschworenen nicht durchdringen, man wird Sie nur um so härter anfassen in der gerechten Voraussetzung, daß Sie durch Ihr unsinniges Ableugnen bereits feststehender oder erwiesener Tatsachen nur die Vorbringung und Diskutierung weiterer Verdachtsmomente wider Sie hintanhalten wollen –« und als der Verhaftete ihn mit nur noch breiterem Biedermannslächeln betrachtete, fuhr der Untersuchungsrichter mit scharfer Betonung fort: »Geben Sie sich nur keinen Illusionen hin, mein Lieber. Daß die von Ihnen berichtete Geschichte über die Aufhaltung des durchgegangenen Schlittengespannes und Ihrer dadurch hervorgerufenen, durch Stunden andauernden Bewußtlosigkeit auf Schwindel beruht, stand von Anfang an fest, geglaubt hat Ihnen die Räubergeschichte kein Mensch. Hat Sie somit schon die lügenhafte Verdrehung von Tatsachen stark verdächtigt, so klagt Sie die Feststellung des Haarbefundes direkt an. Es handelt sich bei Ihnen nicht mehr um die Schuldfrage, diese ist in einem für Sie ungünstigen Sinne bereits entschieden, sondern nur um die einfache Feststellung, ob Sie als der alleinige Urheber des Verbrechens anzusehen sind oder Mitschuldige haben.«

 

Geraume Zeit verstrich, ohne daß Mehlig sich zu einer Antwort aufzuraffen vermochte. Er stand mit gesenktem Kinn, unruhig wanderten die Augäpfel in ihren Höhlen und die verwitterten Züge durchzuckte nervöses Unbehagen. Wiederholt schielte er nach dem Beamten, wie um sich zu vergewissern, was für eine Miene dieser zur Schau trage und ob es sich nicht am Ende doch nur um eine ihm gestellte Falle handle; gerade die von dem Richter an den Tag gelegte kühle, geschäftsmäßige Ruhe beunruhigte ihn immer stärker. Aber er konnte sich nicht entschließen, er blieb zaudernd, den suchenden Blick zur Diele gekehrt.

Der Untersuchungsrichter hatte in den Akten geblättert; nun erhob er sich in studierter Nachlässigkeit, trat unter die zur anstoßenden Kanzlei führende Tür und erteilte Anweisungen, die in gar keinem Zusammenhange mit dem ihn beschäftigenden Verhör standen. Endlich wendete er sich, trat an den Kleiderhalter und schien nach Mantel und Hut greifen zu wollen. »Lassen Sie sich nur Zeit, wir können uns ja in Konstanz gelegentlich weiter unterhalten,« bemerkte er leichthin, »es bedarf auch Ihrer Worte kaum mehr, diese würden wohl doch nur neue Lügen enthalten. Ich habe Material genug gegen Sie in der Hand, um Sie vor die Geschworenen unter der Anklage des an Lammwirt Bindewald verübten Raubmordes zu bringen und Ihre Verurteilung durchzusetzen. Natürlich werden sich die Geschworenen auch mit der Frage zu befassen haben, wie die Banknoten aus dem Bindewaldschen Kastenschrank in die Handtasche Ihrer Tochter gekommen sind. Daß man Uhr und Kette sowie anderes persönliches Eigentum des Ermordeten gleichfalls in dieser Tasche aufgefunden, kann nicht weiter überraschen, es ist dies nur ein weiterer vernichtender Schuldbeweis wider Sie, denn natürlich haben Sie den von Ihnen ermordeten Lammwirt ausgeplündert. Mit dem bei ihm vorgefundenen Kassenschrankschlüssel haben Sie den Schrank geöffnet, ausgeräubert und den unglücklichen Franz, der durch das von Ihnen hiebei verursachte Geräusch herbeikam, haben Sie mit dem Bierhammer niedergeschlagen. Wie gesagt, die ganze Geschichte ist so durchsichtig klar, daß es kaum noch einer Ergänzung der Beweiskette bedarf, um zu Ihrer Ueberführung zu kommen. Ich werde mich jedenfalls nicht länger mit Ihnen aufhalten, sondern Ihre sofortige Ueberführung nach Konstanz anordnen.«

Jedes seiner in ihrer Wirkung wohlberechnete Wort traf den Verhafteten gleich wuchtigen Schlägen; das Kinn sank ihm immer tiefer auf die Brust und in seine Züge trat jene Erschlaffung, die dem völligen Zusammenbruch voranzugehen pflegt.

»Ich will sagen, was ich weiß,« sagte er dann plötzlich dumpf und entschlossen. »Ich bin es müde, für einen andern den Kopf in die Schlinge zu stecken. Ja, es ist ein Mord geschehen und ich bin auch dazu gekommen, aber meine Hände sind rein von Blut, ich hab' mit der Tat nichts zu schaffen.«

»Und wer ist der Mörder?« fragte der Untersuchungsrichter mit ungläubigem Lächeln. Er hatte sich inzwischen wieder an den Tisch verfügt und mit dem gerade zur Tür hereinkommenden Amtsrat Martini einen Händedruck gewechselt. Nun ließen sich die beiden Beamten nebeneinander hinter dem Tische nieder. »Nun, wer soll auf einmal den Lammwirt ermordet haben?«

»Wer spricht davon?« unterbrach Mehlig ihn geringschätzig, während die Adern aus seiner Stirn anschwollen und eine wilde Erregung aus seinen verwitterten Zügen sprach. »Gemordet hat nur der Lammwirt, und sein Opfer ist der Zuchthäusler gewesen, eben jener Sanders.«

Martini schlug erregt mit der flachen Hand auf die Tischfläche. »Das ist doch unerhört, wie dürfen Sie es wagen, einen Toten zu verdächtigen, der –«

Er kam nicht weiter, denn mit einem höhnischen Lachen unterbrach ihn Mehlig, dessen Wesen zusehends immer brutaler und herausfordernder wurde. »Nur gemach, Herr Amtsrat, wenn ich was sage, kann ich's auch beweisen.«

»Was Ihnen bei dieser ungeheuerlichen Behauptung sicherlich schwer fallen dürfte,« schaltete der Untersuchungsrichter trocken ein.

»So!« höhnte der Gefangene. »Es geht doch nichts über die grundgescheiten Herren; da studieren sie, bis sie überschnappen und wissen am Ende doch nichts Rechtes. Ja, gucken Sie nur so entrüstet, Herr Amtsrat,« wendete er sich gegen Martini, »das zielt gerade auf Sie, und ich werde Ihnen noch ganz andere Sachen beweisen. Was liegt mir an dem Bindewald, die ganze Welt soll's wissen, was für einer er war. Jetzt, wo mir's an den Kragen gehen soll, weil ich so dumm gewesen bin und hab' das Maul gehalten, damit er nicht ins Kittchen kommen soll oder sonstwohin. Also, der Bindewald hat selbigesmal der Lammwirtin Vater umgebracht und der Sanders kam unschuldig ins Loch … und nun hat auch der Sanders dran glauben müssen, weil er den Bindewald bedroht hat … der Tropf hat nämlich geglaubt, des Lammwirts Schuld offenbar machen zu können, darum ist er ausgerissen und hat den Lammwirt gestellt.«

In großer Erregung war der Amtsrat vom Stuhl aufgesprungen und hatte den Raum einmal durchmessen. Als er sich jetzt wieder niederließ, nahm er die Leitung des Verhörs stillschweigend an sich, während der Untersuchungsrichter sich mit der Rolle des aufmerksamen Beobachters begnügte.

»Sie sprachen soeben von Beweisen, durch die Sie Ihre ungeheuerlichen Behauptungen zu stützen vermögen,« begann er mit erzwungener Ruhe, »wo sind sie?«

»Nun, einmal das Kettenanhängsel. In jener Nacht war ich im Pferdestall, ich war ein junger Postillion, kaum erst verheiratet, aber die spitze Zunge meiner Kathrin machte mir schon damals viel zu schaffen und so war ich es ganz zufrieden, einen kranken Gaul abzuwarten, der sich überfressen hatte. Licht brannte ich keines im Stall, draußen schien ohnehin der Mond. Ich stand unter der Stalltür, den Gebäudeschatten vor mir, so daß mich keine Menschenseele erblicken konnte. Gegen zwei Uhr mochte es sein. Da sah ich plötzlich den jungen Lammwirt, so wurde er damals genannt, behutsam vom Hause herkommen. Obwohl es verboten war, hatte ich aus Langeweile im Stalle geraucht; nun wollte ich mich nicht anplautzen lassen, so hielt ich also die Hand über den Pfeifenkopf und blieb still und unbeweglich. Der Bindewald lauschte, er hörte nichts, mich sah er nicht. So nahm er eine Leiter und setzte sie gerade auf die niedrige Mauer gegen das Nachbarhaus. Ich will es kurz machen. Ich guckte wie versteinert, sah meinen eigenen Herrn durchs Fenster einbrechen in des Rendanten Kassenzimmer, drinnen machte er Licht, ich sah seinen Schatten deutlich und ebenso konnt' ich es beobachten, wie er sich am Schrank zu tun machte … dann plötzlich ein Schrei, ein Würgen und Toben, ganz deutlich konnte ich es von meinem Platze aus sehen, wie zwei miteinander kämpften, dann wieder ein Schrei … und der Lammwirt rutschte aus dem Fenster. Die Leiter herunterklimmen, sie von der Mauer reißen und mitsamt der Leiter auf das Stallgebäude, wo ich stand, zueilen, war in einem Augenblick geschehen. Da, wie's im Zimmer droben schon Mordio schreit, kriege ich ihn zu fassen, er will sich zur Wehr setzen, aber ich hatt' ihn im Stall drinnen, da half nun kein Widerstreben … und beim Zerren kriegt ich das Kettenende zu fassen, das hatte er seinem Opfer samt dem Bild daran beim Ringen losgerissen. Das steckt' ich ein, ohne daß er's merkte, es hat mir später, wenn er aufmucken wollte, oft genug gute Dienste geleistet. Die Minute darauf waren wir handelseinig. Ich wußte auch, worum es sich drehte. Bindewald war ein heimlicher Spieler und in Schulden gekommen. In seiner Verzweiflung wußt' er keinen anderen Ausweg als des Nachbarn Kassenschrank zu berauben. Es war alles fein berechnet und wäre ihm sicherlich geglückt, hätte der Alte nicht solch einen spinnfeinen Schlaf gehabt … Das Schlimmste war, wie er auf der Flucht sich durchs Fenster schwang, hatte ihn Sanders noch gesehen, der war gerade ins Zimmer gestürzt gekommen. Da kehrten wir den Spieß um, beschworen einfach, wir hätten zusammen den Sanders wahrgenommen wie ich in Wirklichkeit den Bindewald … und wie noch obendrein des Alten Tochter, geblendet durch einen falschen Augenschein, wider den eigenen Mann wütet und wider ihn zur schlimmsten Anklägerin wird, da war unser Spiel gewonnen und der Bindewald war hinterher noch frech genug, die Frau zu heiraten und so des Alten Geld doch noch einzusacken.«

Unter dem tiefen Schweigen der Beamten hatte Mehlig gefühlsroh seinen oft von zynischem Auflachen unterbrochenen Bericht beendigt. Nun saß der Amtsrat mit aufgestütztem Kopf und vor seinem geistigen Blick erschien die Leidensgestalt der Lammwirtin – arme, wahnverirrte Frau, wie würde sie diese schauerliche Offenbarung tragen! Sie mußte den Todesstoß von ihr empfangen! Durch eine Handbewegung bat er den Untersuchungsrichter, im Verhör fortzufahren; er selbst war eben zu erschüttert, um sachlich denken und sprechen zu können – und in das tiefe Mitleid für die arme Frau mengte sich jetzt schon grollende Empörung gegen den frechen Betrüger, der mit gräßlicher Blutschuld auf der Seele durch lange Jahre die Biedermaske eines vollkommenen Ehrenmannes hatte tragen können und den er selbst Freund genannt hatte.

»Die Vergangenheit berührt uns hier weniger, wenn Ihr Bericht – vorausgesetzt, daß es sich nicht um neue Flunkereien handelt – auch geeignet sein dürfte, das Charakterbild des Lammwirts wesentlich zu dessen Ungunsten zu verschieben. Aber welchen Beweis haben Sie uns dafür anzubieten, daß Bindewald Ihrer Aussage gemäß wirklich den aus der Irrenanstalt entsprungenen Sanders ermordet hat?«

»Welchen Beweis?« fragte Mehlig höhnisch zurück, dessen ganzes Gebaren sich zusehends immer mehr in das gerade Gegenteil der durch so lange Jahre von ihm geflissentlich zur Schau getragenen demütigen Unterwürfigkeit zu kehren begann. »Hoho, ist es dem gelehrten Herrn vielleicht Beweis genug, führe ich ihn an den Ort im Steinernen Meer, wo der Lammwirt sein Opfer in einen Felsspalt hinuntergeworfen hat?«

»Das vermöchten Sie zu tun?« fragten beide Beamte wie aus einem Munde.

Mehlig nickte. »Jeden Augenblick!« versetzte er.

»Gut, ich nehme Sie beim Wort,« entschied der Untersuchungsrichter. »Ich werde sofort Befehl zum Anspannen geben.«

»Jetzt in der Nacht?« Mehlig lachte. »Warten Sie nur bis morgen früh, dann zeige ich Ihnen die Stelle.«

»Abgemacht – aber woher kennen Sie denn den Ort so genau?« Durchbohrend ruhte der Blick des Richters auf dem gefurchten Antlitz des Alten.

»Woher? Ja, das ist eine Geschichte für sich, die ich Ihnen nicht vorenthalten will. Nachdem ich einmal A gesagt habe, muß ich auch B sagen.« Mehlig lachte wie zu einem guten Scherz. »Ich war also unterwegs mit den Postsachen und stiefelte gerade den letzten Abhang hinauf. Es war ein Schneesturm, daß man kaum die Hand vor den Augen sehen konnte. Um zu verschnaufen, war ich gerade hinter einen dicken Baumstamm getreten, hatte die Branntweinflasche hervorgeholt und nahm einen Schluck, da hörte ich Schlittengeklingel. Wie ich nach der Landstraße schaue, saust auch schon der Lammwirt in seinem Schlitten an mir vorüber und gegen Höhenbronn. Von dorther pfiff der Wind; darum hatte ich das Schellengeläut auch zuvor nicht hören können. Erst wollte ich ihm nachrufen, anzuhalten und mich mitzunehmen. Aber einmal war er schon vorüber und dann fürchtete ich auch, von ihm angefahren zu werden, weil ich mich ohnehin schon verspätet hatte.«

»Weiter,« drängte der Untersuchungsrichter, »halten Sie sich nicht bei Unwesentlichem auf.«

»Kommt schon,« lachte Mehlig wieder. »Ich ging also wieder auf die Straße zurück und Schritt um Schritt durch den tiefen Schnee. Da höre ich auf einmal vor mir laute Stimmen, ich höre deutlich den Lammwirt mit seinem rauhen Baß und dann fällt plötzlich ein Schuß. Nun riß ich die Augen doppelt auf, einige Schritte weiter sehe ich den Schlitten vor mir, der hält mitten auf der Straße, gerade im Hohlweg. Mir ahnt nichts Gutes und ich werfe mich platt in den Schnee, damit der Lammwirt mich nicht sehen soll. Nun seh' ich ihn aus dem Schlitten steigen, er bückt sich, nimmt aus dem Schnee den schlaffen Körper eines andern auf und schleppt diesen bis zum Wegrand links, wo an den Felsen sich eine Schneemulde gebildet hat. In diese gräbt er den Körper ein, häuft wieder Schnee darüber, setzt sich wieder in den Schlitten und fährt in der Richtung nach Höhenbronn davon. Ich bleibe mäuschenstill liegen, bis ich den Schlitten nimmer sehen noch hören kann. Dann rapple ich mich auf und gehe an die Schneewehe heran. Wie ich von dieser den Schnee kratze, da kommt richtig ein Menschenkörper zum Vorschein, ein Mann war's, noch blutwarm, aber wie ich ihm ins Gesicht schaute, da wußte ich auch schon Bescheid. Maustot war er und von der einen Schläfe rieselte aus einem kleinen runden Loch sparsam das Blut und färbte den Schnee.«

»Was taten Sie nun?« fragte der Untersuchungsrichter dazwischen. »Ihre Christenpflicht wäre es jedenfalls gewesen, ins Dorf zu laufen und Lärm zu schlagen.«

»Schön gehütet habe ich mich. Da wußte ich Besseres zu tun, auf die Christenpflicht pfiff ich. Ich schaufelte den Schnee wieder über der Leiche zusammen, hockte mich daneben und wartete auf des Lammwirts Rückkunft. Ich hatte mich in der Annahme nicht geirrt, er würde den Körper nicht an der Landstraße liegen lassen, wo er gefunden werden mußte. Richtig – es mochte kaum eine halbe Stunde verflossen sein – kam er wieder des Weges zurück. Na, er erschrak nicht schlecht, als er mich erblickte und hätte am liebsten auch mich kalt gemacht, aber er wagte es nicht. Er wußte, daß ich daheim etwas verwahrte, was ihn höllisch in die Tinte hätte reiten können. Nun er sah, daß er mich kaufen mußte, wollte er nicht das Spiel verlieren, kamen wir rasch zu einer Verständigung. Wie er mir sagte, war ihm zuvor Sanders in den Weg gesprungen, hatte das Pferd beim Zügel gefaßt und hatte mit ihm abrechnen wollen. Der Narr, er hätte den Lammwirt besser kennen sollen! Wenn den die Wut packt, war er wie ein Vieh. Ehe der Sanders es gewahr wurde, hatte er den Revolver gezogen und ihn niedergeknallt. Nun war er ins Dorf gefahren und hatte sich einen Strick besorgt. Sein Plan war schon fertig, er wollte den Körper nach dem Steinernen Meer hinaufschleppen und ihn dort in eine Felsspalte versenken. So ist's auch geschehen und ich habe ihm dabei geholfen, das ist mein Verschulden, wenn es überhaupt eines ist.«

»Was Sie da vorbringen, klingt alles sehr wenig wahrscheinlich,« unterbrach ihn der Untersuchungsrichter. »Wie fand denn nachher der Lammwirt ebenfalls seinen Tod?«

»Weiß ich's?« gab Mehlig frech zurück. »Ich kann doch nur berichten, wie sich's zugetragen hat und ich's mit meinen beiden Augen hier gesehen habe. Also der Lammwirt war rein wie von Sinnen. Er begriff, daß es ihm an den Kragen gehen mußte, fand man den Toten. Er mochte wohl auch sonst noch triftige Gründe genug haben, die ihm ein Verschwinden nahe legten. So setzte er mir seinen Plan auseinander und versprach mir goldene Berge, wenn ich ihm behilflich sein wollte. Es sollte den Anschein haben, als sei man ihm selbst ans Leben gegangen. Daraufhin zielte auch die Komödie mit dem durchgegangenen Pferd, die ich dann aufführen mußte. Das ist die ganze Wahrheit, wie ich sie weiß,« schloß er. »Bis der Lammwirt den Toten in den Felsspalt geworfen, waren ohnehin schon Stunden verflossen, ich wartete dann noch weiter und fuhr schließlich nach der Stadt zurück. Sie wissen ja, wie ich ankam und was weiter geschah,« wendete er sich an den Amtsrat. »Den Lammwirt aber habe ich nicht mehr gesehen, nachdem er mich im Hohlweg verlassen hatte; ich trieb rasch den Gaul an, um nur fortzukommen, denn ich fürchtete mich vor ihm, das ist alles.«

Martini war dicht an ihn herangetreten. »Was Sie uns sagten, ist zu viel, um nur erlogen sein zu können, und zu wenig, um als Wahrheit zu gelten,« begann er. »Wie erklären Sie die Auffindung der leeren Brieftasche des Lammwirts auf der Landstraße, während dessen Geldscheine durch einen Boten bei der Jungnickelschen Ehefrau abgegeben wurden?«

Mehlig war um eine Antwort nicht verlegen. »Gerade das hatte. Bindewald fein ausgetüftelt,« erklärte er, »es sollte doch der Anschein erweckt werden, als sei er selbst ermordet worden. Da mußte doch ein Täter aufgefunden werden. Nun hatte ihm Sanders doch gesagt, daß er bei seinem Schwiegersohn untergeschlüpft sei. Gab der nun die gezeichneten Banknoten aus, so mußte er deren Herkunft erweisen. Für Bindewald waren sie wertlos, sie hätten schließlich noch auf seine Spur geführt. So rief er einen Bauernjungen an, der gerade mit einer Holzlast angekeucht kam, dem gab er die Scheine, die er in ein Zeitungspapier geschlagen hatte, und schärfte ihm ein, was er tun sollte.«

»Muten Sie uns wirklich zu, an ein solch' abenteuerliches und im höchsten Grade unwahrscheinliches Märchen zu glauben?« fragte Martini scharf zurück, während der Untersuchungsrichter mit skeptischem Lächeln im Sessel zurückgelehnt saß und schweigend den Verhafteten beobachtete.

»Es ist die Wahrheit,« sagte er trotzig.

»Worin bestand denn die Belohnung, die Ihrer Angabe nach Ihnen von Bindewald für Ihre Beihilfe versprochen worden war?« ließ sich der Untersuchungsrichter plötzlich vernehmen.

Mehlig starrte ihn verblüfft an. »Die Belohnung?« fragte er zögernd, wie um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. »Ja, darauf hatte ich in all' dem Schrecken vergessen – so ein Schuft. Natürlich hat er mich darum geprellt; hätte ich mich nur nicht mit ihm eingelassen!« setzte er unter einem Wortschwall hinzu, »das habe ich nun davon, selbst komme ich in Ungelegenheiten!«

»Die dürften Ihnen nicht erspart bleiben,« bestätigte der Untersuchungsrichter jetzt. »Ich denke wohl, da der Lammwirt ohnehin fliehen wollte, händigte er Ihnen Uhr und Kette sowie den Schlüsselbund und seine sonstigen Habseligkeiten aus, damit Sie sich Ihre Belohnung selbst aus dem Kassenschrank holen konnten – oder nicht?«

Mehlig schielte mißtrauisch nach ihm; der von dem Richter angeschlagene Ton beunruhigte ihn offenbar sehr. »Ich weiß nichts von den Sachen,« sagte er grämlich. Plötzlich legte er den Finger an die Nasenspitze und meinte pfiffig: »Aber da fällt mir was ein. Der Bindewald hat doch Geld gebraucht, da ist er wahrscheinlich in der Nacht ins »Goldene Lamm« zurückgekehrt, und wie ihn der Franz dabei erwischt hat, da hat er auch den niedergeschlagen, nur um Ruh' zu haben.«

»Sehr wahrscheinlich,« pflichtete der Untersuchungsrichter ironisch bei. »Nun wissen wir auch, warum Krämer Jungnickel den Lammwirt in der Nacht gesehen haben will.«

»Sehen Sie!« rief Mehlig allsogleich triumphierend, »es ist die reine Wahrheit – vielleicht ist der Jungnickel dann dem Lammwirt auf der Spur geblieben und unterwegs hat er ihn überfallen.«

»Ganz sicherlich hat er ihn überfallen und ermordet, das ist ja sonnenklar,« schaltete der Untersuchungsrichter im vorigen Tone ein, »ein schlechter Kerl, dieser Jungnickel: die dem Ermordeten abgenommenen Sachen hat er expreß noch in der Nacht in das Lammwirtshaus zurückgetragen und dort auf dem Hofe hingelegt, ausgerechnet in der Absicht, die Sachen von der braven Tochter unseres nicht minder vortrefflichen Mehlig hier auffinden zu lassen und das wackere Paar dadurch in Schwulitäten zu bringen.«

Mehlig stand da wie ein geprellter Fuchs; er zwinkerte wieder und verkniff das Gesicht zu zahllosen Furchen. »Ich kann nur sagen, was wahr ist,« beteuerte er dann. Als es still um ihn blieb, meinte er nach einer Weile:

»Kann ich nun wieder nach Hause gehen?«

Der Beamten verschleiertes Lächeln verdroß ihn: mißtrauisch schielte er den Amtsrat an, als dieser dicht vor ihn trat.

»Zuvor nur noch eine Frage. Wie kam es denn, daß des Lammwirts Pelzmütze von einer Kugel durchbohrt wurde? Das Taschenmesser hier, das wir am Tatort gleichfalls gefunden haben, gehört Ihnen, nicht wahr?« Er hatte zuvor in einer Schublade gekramt und hielt nun dem Postboten das Fundstück vor Augen.

Mehlig wußte offenbar nicht recht, was er antworten sollte. »Hm ja,« meinte er dann verdrießlich. »Das Messer gehört mir, wir haben's zum Abschneiden des Strickes gebraucht, ich habe es dem Lammwirt geben müssen.«

»Und dessen Pelzmütze?« forschte Martini. »Besinnen Sie sich nicht lange, wie verhält es sich mit der?«

Noch immer stockte Mehlig. »Nun ja,« platzte er heraus, »die Sache ist einfach genug. Der Lammwirt wollte doch den Verdacht erwecken, als sei er selbst ermordet worden, darum schoß er durch die Pelzmütze, das hat er selbst getan und seinen Revolver hat er dann weggeworfen.«

»Nun haben Sie aber doch hoffentlich uns genug angelogen, mein Bester,« begehrte Martini jetzt auf. »All das, was Sie uns von der Schuld oder Mitverschuldung Bindewalds aufbinden wollen, ist unwahr und muß es sein, denn der Lammwirt ist selbst ermordet und ausgeraubt aufgefunden worden, ja, es steht so ziemlich fest, daß er gerade in jener Spätnachmittagsstunde von Mörderhand fiel, wo er den entsprungenen Sanders heimtückisch erschossenen haben soll.«

»Na, dann habe ich den Lammwirt wohl selbst hingemacht,« platzte Mehlig heraus.

Martini blieb gelassen. »Das nehme ich an; Sie sind sein Mörder!«

Der Postbote lachte gezwungen. »Wie schlau!« giftete er. »Ich bin gerade der Mann dazu, einen Riesen wie den Lammwirt abzumurksen und seinen zentnerschweren Körper übers Glatteis nach dem Steinernen Meer zu schleppen. Lassen Sie sich doch nicht auslachen!«

»Wer sagt, Sie hätten die Tat allein vollbracht?« entgegnete der Amtsrat unempfindlich. »Sie mögen einen Mitschuldigen gehabt haben, das ist sogar recht wahrscheinlich. Ich rate Ihnen dringend, den Namen dieses Mitschuldigen zu nennen, sonst dürfte es Ihnen an Kopf und Kragen gehen.«

Mehlig lachte frech auf. »Das wollen wir abwarten.«

»Ganz meine Meinung. Nun will ich aber doch noch eine andere Frage an Sie stellen, um derentwillen ich eigentlich hierhergekommen bin.« Erläuternd wandte er sich an den Untersuchungsrichter. »Als Sie mich heute gegen Abend von Ihrem Entschluß unterrichteten, den braven Mehlig hier wieder verhaften zu lassen, begab ich mich ins »Goldene Lamm« und wurde so Zeuge von der Festnahme des Mannes. Natürlich konnte das Vorkommnis nicht unbemerkt bleiben, es hatte vielmehr einen beträchtlichen Menschenauflauf zur Folge, und die bei dieser Gelegenheit laut gewordenen Redensarten enthielten wenig Schmeichelhaftes für den Verhafteten hier.«

»Darauf pfeife ich, das ist mir ganz egal!« rief Mehlig unter einem rohen Auflachen dazwischen.

»Hören Sie nur weiter, das Pfeifen dürfte Ihnen schon noch vergehen,« lautete die gelassene Erwiderung des Amtsrates. »Da ich durch meinen langjährigen Aufenthalt hier im Städtchen jedermann bekannt bin, konnte es nicht wundernehmen, daß meine Gegenwart alsbald bemerkt und ich mit Bitten um Auskunft bestürmt wurde. Unter den Anwesenden befand sich nun auch ein Milchfuhrmann, der sein Anwesen in der erst neuerdings bebauten Ludwigstraße hat.« Er hielt inne, prüfend den Blick auf Mehlig gerichtet, schien dessen flüchtiges Zusammenzucken aber nicht zu bemerken, sondern fuhr fort: »Zufällig wohnt in einem unweit davon entfernten Miethaus auch der Fabrikschlosser Schaible, der zukünftige Schwiegersohn unseres Mehlig – nun, warum verfärben Sie sich denn so?« wandte er sich unvermittelt an diesen.

»Ich – nicht daß ich wüßte –« stotterte Mehlig.

»Der Milchmann setzte mich nun von einer Wahrnehmung in Kenntnis, die er in der kritischen Samstagnacht gemacht haben will. Da soll nämlich Stunden bei dem Miethaus ein bespannter Schlitten gehalten haben. Mein Gewährsmann will ihn schon bemerkt haben, als er sich etwa um 7 Uhr zum Abendschoppen in die Nachbarschaft begab, und als er um halb 10 Uhr wieder nach Hause ging, stand der Schlitten immer noch dort. Der Mann dachte sich nichts Böses dabei, trat nur von ungefähr an das vor Kälte zitternde Tier heran, um es zu streicheln, schimpfte auch über die Pflichtvergessenheit des Kutschers – und nahm dabei wahr, daß das vorgespannte Tier ein Brauner war, auch den Schlitten beschaute er sich.«

»Am Ende will er gar des Lammwirts Schlitten erkannt haben?« höhnte Mehlig.

»Das will er allerdings, er hat sich vorhin auf meine Veranlassung hin den Schlitten in der Remise genau angesehen, und der kommt ihm nun recht bekannt vor. Mit anderen Worten also, Mehlig, Sie haben sich an jenem Samstag abend einige Stunden bei Ihrem Schwiegersohn aufgehalten und sind von diesem zum »Goldenen Lamm« gefahren, um uns die Komödie vorzuspielen. Räumen Sie das ein?«

Der Verhaftete schwieg; er warf dem Amtsrat nur einen bösen Blick zu.

»Wir werden wohl noch heute abend Aufschluß erhalten,« fuhr Martini fort, »einer meiner zuverlässigsten Leute hat sich in meinem Auftrag nach dem Miethause begeben, um sich zu erkundigen. Zugleich habe ich auch einige Polizisten in Zivil beauftragt, sowohl Mehligs Tochter als auch deren Bräutigam auf Schritt und Tritt zu beobachten. Sofort nach Mehligs Verhaftung haben sich in unmittelbarer Aufeinanderfolge der Bräutigam und das Mädchen aus der Wohnung entfernt.«

Ein Klopfen an der Tür unterbrach ihn. Auf sein Herein trat der Kriminalschutzmann Steffens in das Zimmer.

»Nun, da werden wir, wohl unverhofft schnell Aufschluß erhalten,« rief der Amtsrat interessiert. »Was bringen Sie?«

»In Ihrem Auftrag, Herr Amtsrat, folgte ich der Sanna Mehlig, sie begab sich in rascher Gangart nach der Ludwigstraße und trat dort in das von ihrem Verlobten bewohnte Miethaus ein. An der Tür traf ich mit dem Kollegen Müller zusammen, der dem Schlosser Schaible nachgegangen war. Dieser hatte das Haus erst wenige Minuten zuvor betreten. Wir stellten uns versteckt auf. Er dauerte nicht lange, so kam die Mehlig wieder zum Vorschein. In augenscheinlich großer Erregung ging sie so schnell wie möglich nach dem Bahnhof. Dort warf sie einen Brief in den auf dem Bahnsteig angebrachten Kasten. Ich wußte mich ihr nahe genug zu halten, um erkennen zu können, daß es sich um ein gewöhnliches Briefkuvert handelte, dessen Adresse mit Bleistift geschrieben war. Außerdem war keine Marke aufgeklebt. Ich beauftragte den am Bahnhof diensttuenden Kollegen Wimmer mit der weiteren Beobachtung der Person und setzte mich mit dem Bahnvorstand in Verbindung. Da er mich persönlich kennt und ich ihm auch sagte, daß ich in Ihrem Auftrag handelte, kam er meinem Wunsche entgegen und leerte den Briefkasten. Es waren nur wenige Briefe darin, darunter nur ein unfrankierter und mit Bleistift adressierter. Dieser musste es also sein. Die Adresse lautet hauptpostlagernd Konstanz Wilhelm Schaible. Den Brief selbst konnte er mir natürlich nicht ausliefern, da dies gegen seine Instruktion ist. Er versprach jedoch, seine Beförderung zu verzögern, der nächste Zug in der Richtung nach Konstanz geht ohnehin erst in zwei Stunden, so dass eine gerichtliche Beschlagnahme noch rechtzeitig erfolgen könnte.«

»Ich werde sie sofort verfügen,« entschied der Untersuchungsrichter. »Nehmen Sie die Beobachtung der Mehlig persönlich wieder auf,« befahl er dem Schutzmann. »Sie schreiten zu deren Festnahme, sollte sie die Stadt verlassen wollen.«

Keiner vom ihnen hatte während des ganzen Vorganges auch nur einen Moment den Verhafteten außer acht gelassen; dieser hatte dem Bericht des Schutzmannes gierig gelauscht und machte nun der Wut, die augenscheinlich in ihm wühlte, durch höhnende, beschimpfende Worte Luft. Aber der Untersuchungsrichter schnitt ihm kurz das Wort ab und verfügte seine Zurückführung in das Gefängnis. »Wir besprechen uns morgen weiter, bis dahin werden Sie sich wohl auch auf manche Einzelheiten besonnen haben, die jetzt Ihrem Gedächtnis abhanden gekommen sind,« meinte er sarkastisch. »Für jetzt haben wir uns mit Wichtigerem als mit Ihnen zu beschäftigen.«

Die Proteste des immer mehr in einen Zustand von heller Raserei verfallenden Gefangenen verhallten ungehört; er fühlte sich von kräftigen Fäusten gepackt und mußte wohl oder übel den ihn abführenden Beamten folgen.

Im »Goldenen Lamm« hatte sich inzwischen das durch die düsteren Begebnisse vorübergehend unterbrochene Alltagsgetriebe wieder ins alte Geleise zurückgefunden. Schon vor dem Doppelbegräbnis war der Wirtschaftsbetrieb im vollen Umfange wieder aufgenommen worden. Besonders in den Abendstunden waren die Gasträume von Neugierigen gefüllt, die gekommen waren, sich das Haus selbst anzusehen, zu gaffen und zu fragen. Die Lammwirtin hatte einen harten Stand, all den neugierigen Fragern auszuweichen. Aber sie wußte mit ihnen fertig zu werden, sie gab sich zurückhaltend ruhig und nach außen verschlossen wie immer, hatte dabei aber eine Art, die auch den Zudringlichsten abschreckte. Zudem hatte sie so ungemein viel zu tun, da jetzt die Sorgen der Haushaltführung ganz allein auf ihren Schultern ruhten, daß sie sich immer nur auf Augenblicke in den Gaststuben sehen lassen konnte. Sie war unermüdlich in ihrer Tätigkeit; wo man sie am wenigsten vermutete, tauchte sie in ihrer stumpfen Witwengewandung auf, sehr zum Schrecken des Gesindes, das sich nun doppelt scharf kontrolliert wußte.

Aber es war nicht eigentlicher Arbeitsdrang, der sie so rastlos vorantrieb, sondern sie fürchtete sich vor dem Alleinsein. Denken zu müssen, war ihr eine Qual, und in unermüdlicher Tätigkeit fand sie wenigstens Vergessen; mit krankhafter Begierde beschritt sie deshalb diesen sich ihr bietenden Ausweg. Blieben doch immer noch zu ihrer Seelenmarter die Nachtstunden, in denen sie rettungslos zur Beute der nimmermüden quälenden Gedanken wurde, denn schlafen konnte sie nicht; selbst die ihr vom Kreisarzt verschriebenen Mittel versagten gegenüber der folternden Unrast in ihrer Seele. Des Zweifels schleichende Krankheit hatte sich indessen schon seit Jahren in ihr eingenistet; sie war ihn nicht mehr los geworden und ihr, die sich des Allmächtigen Strafgewalt angemaßt, wurde immer häufiger vor ihrer Gottähnlichkeit bange. Dazu trat der Jammer ihres verfehlten Lebens immer schärfer vor ihre Seele. Längst hatte sie den wahren Charakter ihres zweiten Mannes klar durchschaut, ihn in seiner ganzen Hohlheit als eigennützig und herzensroh erkannt, immer mehr herausgefühlt, daß er ein schrankenloser Egoist war, der nötigenfalls über Leichen dahinschritt, vermochte er dadurch dem eigenen Vorteil zu nützen; sie war auch der Tatsache immer mehr inne geworden, daß Bindewald sie nur aus Berechnung geheiratet hatte, weil sein Herz eines so erhabenen Gefühls, wie die Liebe ist, nicht fähig war; aber sie hatte doch bei ihm ausgehalten, kein Mensch, vielleicht nicht einmal ihr zweiter Gatte selbst, hatte etwas von der Tragödie ihrer Seele geahnt. Sie hatte an seiner Seite weitergelebt und ihre ungeheuere Enttäuschung in ihres Herzens tiefsten Schrein gezwungen; sie hatte sich ihm ja freiwillig gegeben und auch nicht aus Liebe, sondern weil sie in ihm ein Werkzeug sah, das sie zu ihrem Racheverlangen brauchte – nun waren sie quitt: er gab ihr einfach das nicht, was sie ihm selbst nicht hatte geben können.

Aber noch schlimmerer Zweifel war gekommen. Immer häufiger war es geschehen, daß sie dem ersten Mann die Untat kaum mehr zuzutrauen vermocht, ja sich beinahe versucht gefühlt hatte, an seine leidenschaftlichen Unschuldsbeteuerungen zu glauben, die gleichzeitig eine furchtbare Anklage gegen ihren nachmaligen Mann enthielten. Einmal hatte sie es nicht lassen können, sie hatte sogar ihm gegenüber von all dem gesprochen, was ihr Herz bedrückte.

Mit offenem Mund und verglastem Blick hatte Bindewald ihren Worten gelauscht. »So hältst du wohl gar mich für den Mörder?« hatte er sie angeschrien. »Noch ein solches Wort, Weib, und ich sorge dafür, daß sie dich in das Narrenhaus sperren, wohin du so schon längst gehörst!«

»Daß du schuldig bist, sage ich nicht,« hatte sie damals ihm furchtlos erwidert. »Ich sage nur, daß ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen würde, wüßte ich auch nur einen leisen Hoffnungsschimmer für seine Unschuld – großer Gott, ich würde keinen schonen, denn das Unrecht wäre zu groß, das ich dann auf mich geladen!«

Da war der Lammwirt mit einem wüsten Fluch aus dem Zimmer gegangen. Seitdem war dies gefährliche Thema niemals wieder zwischen ihnen berührt worden, ihrem grüblerischen Sinn aber hatte sich ein neuer Zweifel angefügt. Sie war den Gedanken nimmer los geworden, daß ihr Mann, fühlte er sich wirklich schuldlos, nicht gewütet und gedroht hätte; ein Gefühl der Trauer hätte ihn darüber erfüllen müssen, daß sein eigenes Weib auch nur einen solchen Gedanken hatte ausdenken können. Da hatten sie immer häufiger Entsetzensqualen bei der widerlichen Vorstellung geschüttelt, sie möchte des eigentlichen Mörders Weib geworden und duldend ihm angehört haben, während der durch ihre Anklage unschuldig Verurteilte sich in machtloser Raserei auf seinem harten Zellenlager wand und an Gott und der Welt verzweifelnd sie verfluchte.

Zuweilen war es der Lammwirtin auch, als öffnete sich die Tür und herein kam ein liebreizend Mägdelein im weißen Konfirmandenkleid, ein Blumenkränzlein im seidigen Blondhaar, das wie Sonnenstrahlen um die zarten Schultern spielte, und schaute sie liebeflehend aus großen blauen Augen an … und sie hatte dieses Kind von sich gestoßen um des Hasses willen … und dieses Kind war groß, war selbst Gattin geworden, und der Augenblick war nahe, wo sie auch Mutter werden sollte, und in all ihrem Leben hatte sie nicht gekannt, was dem ärmsten Kinde höchstes, an des Himmels Seligkeit streifendes Glück ist: die Mutterliebe!

Da schrie die Lammwirtin auf. Sie nahm ihren armen schmerzenden Kopf in beide Hände und rannte wie von Sinnen im Zimmer umher, bis sie vor Mattigkeit sich nicht länger auf den Füßen halten konnte. Ihr irrer Blick suchte nach einem Ruhepunkt und ein wildes Schluchzen drang über ihre Lippen, als sie die nach frommem Brauch in der einen Zimmerecke aufgestellte Statue der Gottesmutter mit dem Weihwasserkessel darunter erblickte.

Da wankte sie auf die Statue zu und vor der Schmerzensmutter sank sie schreiend in die Knie, hob die gefalteten Hände zu ihr auf und flehte um Erbarmen – sie, die so viel Schmerz erlitten, sie mußte sie begreifen und ihr Frieden sagen können. Aber wie von Furien gejagt, erhob sich die Lammwirtin wieder und wankte in den äußersten Winkel zurück. Was die Gottesmutter gelitten, das hatte die Liebe ihr auferlegt, die Liebe, die alles glaubt, alles trägt, nichts für sich begehrt und alles duldet – sie aber hatte ihre Schmerzen aus finsterem Haß, aus wütendem Racheverlangen heraus geboren, sie hatte grausam gegen sich und ihr eigen Blut gewütet, nur dem dumpfen Zerstörungsdrange in ihr nachgebend … sie duldete verdient!

Und doch – und doch, es trieb sie in die Knie zurück und in fassungslosem Gebet fand sie Linderung, wenn auch nur für Augenblicke, aber doch Balsam für ihr armes, verirrtes Herz, und die Tränen kamen ihr, die sie so lange vermißt, und nicht anders war es ihr, als tauten sie in ihrer Seele etwas auf, das darin schon so lange tot und begraben gelegen hatte.

In solcher Stimmung wurde sie durch Läuten an der Hausglocke erschreckt. Sie ging selbst, um aufzumachen, denn die Mägde waren schon lange zu Bett und die Uhr wies schon auf die Mitternachtsstunde.

Wie sie öffnete, stand der Amtsrat draußen und heischte Einlaß.

»Nun, hoffentlich habe ich Sie nicht aus dem Bett geklingelt?« begann Martini, kaum daß die Lammwirtin ihn schweigend nach dem Gastzimmer geführt und Licht entzündet hatte.

Nun schüttelte sie mit dem Kopfe. »Ich dachte nicht ans Einschlafen, der Schlaf ist nur für glückliche Menschen da. Aber Sie kommen gewiß in wichtiger Angelegenheit. Hat sich wieder etwas herausgestellt, Herr Amtsrat?«

Dieser hatte sich an seinem gewohnten Stammtischplatze niedergelassen. »Wir haben bis jetzt durchgearbeitet,« meinte er mit einem Blick auf die Büfettuhr. »Gab's viel Lärm im Hause?«

»Ja, der Mehlig ist wohl verhaftet worden, und auf die Nacht haben sie auch seine Tochter geholt. Das Mädchen schrie das ganze Haus zusammen, ich schämte mich vor den Gästen, aber ich habe es Mehlig schon heute früh gesagt, daß er ausziehen muß. Nun mein Mann tot ist, kommt die Post ohnehin aus dem Hause.«

»Der Bursche wird sich schwerlich hier in Neustadt nach einem andern Logis umschauen,« brummte Martini, indem er mit Kennermiene an dem ihm mittlerweile von der Wirtin kredenzten Kognak roch und dann behaglich schlürfte. »Wunderbare Blume, alle Achtung. Aber schließlich kam ich nicht hierher, um Ihren alten Kognak wegzutrinken. Es ging mir durch den Kopf, Sie möchten am Ende noch auf sein, um Ihnen wichtige Neuigkeiten zu melden. Machen Sie sich auf Ueberraschungen gefaßt – vielleicht sogar auf recht schmerzliche, denn ich weiß nicht, wie Sie es aufnehmen werden.« Er hielt zögernd inne und hielt der Lammwirtin, die sich inzwischen ihm gegenüber in der Sofaecke niedergelassen hatte, herzlich die Hand hin. »Wir kennen uns nun schon so lange Jahre und Sie sind mir altem verknöcherten Junggesellen im Laufe der Zeit eine liebe, unentbehrliche Freundin geworden, darum tut mir's so leid, daß neues Ungemach Sie bestürmen soll, Sie haben ohnehin schon so furchtbar viel durchzumachen gehabt.«

»Das geht in einem hin, es gibt nicht viel Schlimmes mehr, das an mich herantreten könnte,« entgegnete die Lammwirtin mit einem schwermütigen Seufzer. »Was Sie mir zu sagen haben, hängt mit Mehligs Verhaftung zusammen?«

Mit unbeweglichem Gesicht lauschte sie nun den Eröffnungen des Amtsrats; nur als dieser auf jenen Teil der Mehligschen Aussagen zu sprechen kam, der sich auf die Vergangenheit bezog und neues Licht über das in ihrem Schoß längst vergessen gewähnte Verbrechen zu verbreiten geeignet war, erhob sie sich und in merkwürdig zerfahrener Hast begann sie rastlos die Stube zu durchschreiten. Was in ihr vorging und welchen Eindruck die Enthüllungen auf sie machten, konnte der Berichtende ihrem Mienenspiel lange nicht entnehmen, denn geflissentlich hielt sie das Gesicht im Dunkeln. Sie sagte auch kein Wort, sondern ließ den Amtsrat ruhig aussprechen, nur zuweilen war es, als zitterte von ihren Lippen ein dumpfer Seufzer oder ein mühsam verhaltenes Schluchzen, wie nur tiefste Seelennot es erpreßt. Als sie dann wieder in den Lichtbereich der Hängelampe über dem Stammtisch trat, erschrak Martini über die herbe Pein, die aus ihren verstörten Mienen sprach.

»Ich habe es schon lange geahnt, aber ich habe mich gezwungen, nicht daran zu glauben,« sagte sie tonlos. »Nun weiß ich es, mein armer Mann war unschuldig und ich selbst habe ihn so elend gemacht, daß keine Reue es wieder gut machen kann … der wirkliche Mörder meines Vaters ist Bindewald«

Und dann folgte unvermittelt ein Gefühlsausbruch, vor dessen aufwühlender Tiefe und leidenschaftlicher Wucht der wohlerfahrene Menschenkenner abermals sich entsetzte; er konnte der Unglücklichen die Ueberfülle des Jammers und der Reuepein nachfühlen, die eben ihr Herz zerfleischten und sie zum Schreien und zum Toben zwangen. Er wartete ruhig ab, bis dieser vulkanische Ausbruch einer aufs äußerste mißhandelten und niedergetretenen Natur, die um ihr köstlichstes Gut betrogen worden war, sich einigermaßen erschöpft hatte. Dann erst unternahm er es, an die Schluchzende mit guten Trostesworten heranzutreten.

Aber die Lammwirtin nahm sich kaum die Mühe, auf seine Worte zu horchen, sie hob nur abwehrend die Hände und ließ sie gleich darauf mit müder, verzweifelter Gebärde wieder in den Schoß sinken. »Entschuldigen Sie nur, daß ich mich habe gehen lassen,« brachte sie angestrengt hervor, »aber es ist zuviel auch für mich geworden und es riß mich fort, ich konnt' nicht länger dagegen ankämpfen … aber nun ist's schon wieder vorbei und ich kann alles hören,« setzte sie im alten, entschiedenen Ton hinzu, während sie sich wieder straff aufrichtete und den Amtsrat erwartungsvoll anschaute. »Es ist so gut von Ihnen, daß Sie gekommen sind – – und ich weiß auch, der Mehlig hat diesmal die Wahrheit gesprochen, so verlogen und unglaubwürdig er sonst auch sein mag. Jetzt weiß ich auch, warum mein Mann – ich meine den Bindewald – gar so attachiert an ihn war, er hat's halt müssen, der Mehlig hielt ihn fest. Ausgenützt hat er ihn, das weiß Gott, ich konnte mich nicht genug wundern, wie der Bindewald, der doch so genau war, beim Mehlig alles gerade sein ließ. Er hat ihm viel Geld zugesteckt und frech hat er sich von dem Menschen kommen lassen, daß ich darüber oft heimlich die Hände zusammengeschlagen habe. Nun weiß ich wohl warum.«

»Sie sind mir ein Rätsel, Frau Bindewald,« meinte der Amtsrat unter einem beklommenen Atemzuge, »ich gestehe offen, ich kann an die Schuld des Lammwirts noch immer nicht recht glauben, mir erscheint das alles gar zu ungeheuerlich. Welch' ein Abgrund von Schlechtigkeit, einen Schuldlosen an seiner Statt im Zuchthaus zu wissen, dessen Weib ehelichen, zugleich die Tochter seines Opfers – und dann durch lange Jahre mit solcher Blutschuld im Herzen sich auf den wohlehrbaren Bürger herauszuspielen, den verruchten Druck der Mörderhand im trauten Verkehr anderen aufzudrängen, an demselben Tisch mit ihnen zu sitzen – bei Gott, man braucht nicht Pharisäer zu sein, um sich ob solcher Verworfenheit zu schütteln!«

Die Lammwirtin nickte nur mit einem geisterhaften Lächeln, sie ging aber nicht auf ihn ein. »Warum wurde die Sanna verhaftet, darf ich's wissen?« fragte sie.

»Gewiß, das wollte ich Ihnen noch mitteilen. Ich hatte die Person beobachten lassen, ohne daß sie's wußte. Ein Kriminalschutzmann folgte ihr auch heute und sah, wie sie unter verdächtigen Umständen ihren Bräutigam aufsuchte, mit dem sie doch eben erst hier im Hause zusammengesessen war, und dann nach der Bahnpost sich begab, um dort einen Brief in den Bahnsteigkasten zu werfen. Dieser Brief ist durch richterlichen Befehl beschlagnahmt worden. Die mit Bleistift geschriebene Adresse lautete: Wilhelm Schaible, hauptpostlagernd Konstanz. Es ist dies der Name ihres Bräutigams. Beim Oeffnen des Briefes stellte sich heraus, daß dessen Inhalt aus Banknoten im Gesamtwerte von rund neuntausend Mark besteht, darunter fanden sich vier von Ihrem Mann gezeichnete Hunderter. Achtzehn solche Scheine hat er nach Höhenbronn mitgenommen, vierzehn davon wurden beim Krämer Jungnickel beschlagnahmt, nun haben wir auch die vier noch ausstehenden.«

Die Lammwirtin verstand ihn nicht recht, sie war nicht bei der Sache. »Jungnickel ist nicht schuldig, nicht wahr? Nein, er kann es ja gar nicht sein.«

Martini schob die Achseln hoch. »Darüber läßt sich jetzt noch gar nichts sagen,« wich er aus. »Bedenken Sie, das sogenannte Geständnis des Mehlig besteht aus lauter handgreiflichen Lügen, die er erfunden haben mag, um aus der Klemme zu kommen. Ich selbst halte es jedenfalls nicht für unwahrscheinlich, daß die Unschuld Jungnickels sich herausstellen wird.«

»Gott sei Dank!« entrang es sich unwillkürlich den Lippen der Lammwirtin. Der Amtsrat schaute sie stutzig an, wie um sich zu vergewissern, ob er auch recht gehört habe.

»Nun passen Sie einmal hübsch auf, Frau Bindewald,« fuhr er bedeutsam fort. »Das Auffangen dieses Briefes ist von noch kaum abzusehender Wichtigkeit. Sie müssen nämlich wissen, die ganzen übrigen Banknoten stammen gleichfalls aus dem Kassenschranke Ihres Mannes, sie sind von dem Verbrecher geraubt worden, welcher den alten Franz niederschlug. Sie staunen, wie wir das so rasch herausbekommen haben können?« Er lachte wie belustigt, wurde aber die Sekunde darauf wieder ernst. »Die Geschichte ist einfach genug. Bankier Doll ist Aufsichtsrat des Vorschußvereins, dessen Kasse Ihr Mann verwaltete. Er mag diesem nun nicht recht getraut haben, kurzum, er unterhielt ein genaues Nummernverzeichnis der in den Kassenbeständen vorhandenen Banknoten: das konnte er mit Leichtigkeit, da er ja der einzige Bankier in Neustadt ist und auch ohne diesen Umstand Ihr Mann gezwungen war, alle Geldgeschäfte durch seine Hand gehen zu lassen. Doll gab mir sein Nummernverzeichnis noch am Sonntag vormittag, unmittelbar nachdem ich von Höhenbronn zurückgekehrt war. Wir, schickten es ungesäumt an alle Polizeibehörden des In- und Auslandes, hätten uns aber, wie wir jetzt wissen, diese Mühe ersparen können, denn der Rest der aus dem Kassenschranke Ihrer Mannes entwendeten Kassenbestände bildete den Inhalt des von uns beschlagnahmten Briefes. Den gröberen Teil der Summe hatten wir bereits in der Handtasche vorgefunden, welche ich selbst der Sanna Mehlig abgenommen. Die anderen Banknoten hatte Fabrikschlosser Schaible in Verwahrung. Wie ist er in deren Besitz gelangt? Nachträglich kann er sie nicht bekommen haben, denn in der Mehligschen Behausung waren sie zur Zeit der Haussuchung nicht. Es fiel dem Mädchen auch gar nicht ein, die Summen zu verstecken, sonst würde sie vor allen Dingen die Tasche verborgen haben. Als wir bei Mehlig eintraten, stand die Person augenscheinlich im Begriffe, das Haus mit der Tasche zu verlassen. Ich irre mich gewiß nicht in der Annahme, daß sie die Tasche samt Inhalt zu ihrem Verlobten hat bringen wollen. Folglich kann sie nicht vorher bei diesem gewesen und ihm die nun im Briefe beschlagnahmten Banknoten gebracht haben; wir wissen übrigens auch, daß an jenem Sonntagmorgen das Mädchen das Haus nur einiger kleiner Einkäufe in der Nachbarschaft wegen verlassen hat. Somit muß Schaible schon in der Mordnacht im Besitz der Geldscheine gewesen sein – und daraus resultiert mit zwingender Notwendigkeit die weitere Folgerung, daß der Schlosser im »Goldenen Lamm« gewesen ist, mit anderen Worten, an dem Verbrechen sich beteiligt hat. Natürlich ist auch seine Verhaftung bereits erfolgt, und es spricht äußerst gegen ihn, daß er erst nach hartnäckigem, verzweifeltem Widerstand überwältigt und gefesselt werden konnte. Er ist ein wahrer Goliath an Körperstärke, mit dem volle acht Mann sich haben herumschlagen müssen«

»Schrecklich,« versetzte die Lammwirtin, die in starrem Staunen dagesessen, »aber man kann zu gar keinem anderen Schluß kommen. So haben sich also die Mehligs mit dem Schlosser verabredet, bei uns einzubrechen?«

»Zweifellos. Schaible ist gelernter Kunstschlosser, und ihm konnte es nicht schwer fallen, den Kassenschrank mit dem richtigen Schlüssel zu öffnen. Den Schlüssel hatten sie ja nebst den übrigen Wertsachen aus den Taschen Ihres Mannes genommen. Damit ist auch zugleich der Beweis geführt, daß die Einbrecher hier im Hause zuvor schon Ihren Mann ermordet haben müssen.«

»Gewiß lauerten sie ihm auf: Mehlig wußte ganz genau, daß mein Mann nach Höhenbronn wollte,« rief die Lammwirtin eifrig. »Um die Mittagsstunde war mein Mann beim Bankier Doll gewesen und hatte Geld erhoben, um den Löwenwirt auszahlen zu können. Er saß gerade am Tisch und malte die Kreuze in die Scheine, wie es seine Gewohnheit war, als Mehlig mit der Posttasche eintrat. Ich erinnere mich genau, mein Mann wunderte sich, weil Mehlig so gar frühzeitig aufbrach, aber der redete sich mit dem schlechten Wetter heraus und schlug die Aufforderung meines Mannes, in ein paar Stunden mit ihm im Schlitten nach Höhenbronn zu fahren, rundweg ab. Ich sagte ihm damals noch, er möge das Geld doch dem Mehlig mitgeben, aber das wollte er nicht, sondern blieb dabei, selbst zu fahren.«

»Nun, das erklärt manches.« Der Amtsrat nickte nachdenklich. »Mehlig war nicht nur über die Fahrt Ihres Mannes genau unterrichtet, sondern er wußte auch, daß dieser gezeichnete Banknoten mit sich führen würde. Vier von diesen sind jetzt im Besitz Schaibles gefunden worden. Das läßt darauf schließen, daß dieser an der Ermordung des Lammwirts sich beteiligt hat, was ohnehin schon seiner Körperkraft wegen wahrscheinlich erscheint, denn er war ein ebenbürtiger Gegner des Lammwirts, während Mehlig sich schwerlich an ihn herangewagt hätte.«

Er unterbrach sich und trommelte nervös auf der Tischplatte. »Eins will mir nicht in den Kopf. Mehlig wußte doch genau, daß Ihr Mann in Höhenbronn den Löwenwirt auszahlen wollte. Warum überfielen sie ihn dann erst auf der Rückfahrt, wo sie von ihrem Opfer doch annehmen mußten, daß es keine Gelder mehr bei sich führte – und zum andern, warum leistete Ihr Mann, der doch nur zu diesem Zwecke nach Höhenbronn durch Schnee und Unwetter gefahren war, dem Löwenwirt keine Zahlung, erschien auffällig verstört, trank ganz gegen seine Gewohnheit hastig mehrere große Gläser Branntwein und brach gleich darauf wieder auf, nachdem er sich zuvor vom Hausknecht noch ein Wagenseil ausgeborgt hatte? Es will mir nur schwer in den Kopf,« fuhr er in halbem Selbstgespräch fort, »aber sollte an dem Geständnis dieses Mehlig doch etwas sein?«

Er wandte sich in raschem Entschlusse der Lammwirtin zu. »Ich kann es Ihnen ja ruhig sagen. Mehlig behauptet, Ihren Mann dabei überrascht zu haben, wie er den unglücklichen Sanders über den Haufen schoß und dessen Körper alsdann in einer Schneewehe vergrub, um ihm später nach dem Steinernen Meer zu schleppen und ihn dort in eine Felsspalte zu versenken, er will uns sogar morgen früh den Ort zeigen, wo dies geschehen sein soll … aber was ist Ihnen?« unterbrach er sich erschrocken, als er die Lammwirtin mit schneeweißem Gesicht, die Hand gegen das Herz gedrückt, sitzen sah.

Sie brach, ehe er nur an sie herantreten konnte, wieder in das krampfhafte Schluchzen aus. »O, nur das nicht,« stöhnte sie auf. »Wenn mir der letzte Ausweg abgeschnitten wäre und ich ihm nicht meine Schuld mehr abbitten dürfte – o Herrgott im Himmel,« schrie sie voll wilder Leidenschaft auf, »laß es nicht zu, daß er vor Dich getreten ist, laß mich bereuen und büßen – nur das nicht – das nicht –«

In haltloser Flucht rann ihre Tränenflut dahin. Sie, die all die langen Jahre ihrem Hasse überreichen Spielraum gelassen, zitterte nun vor der Möglichkeit, daß ihr die karge Minute zur Reue genommen sein könnte.

Wie sie wieder ruhiger geworden war, griff der Amtsrat nach Hut und Mantel. »Es geht schon auf 2 Uhr,« brummte er, »höchste Zeit zum Aufbruch, will ich noch ein paar Stunden Schlaf erwischen, denn morgen um 7 Uhr früh geht es schon nach Höhenbronn zu, da soll sich's herausstellen, ob der durchtriebene Patron uns nur genasführt oder ausnahmsweise einmal die Wahrheit eingestanden hat … aber ich fürchte, er hat's diesmal getan, denn man müßte von Sanders sonst eine Spur aufgetrieben haben. Bis in die Schweiz hinein ist die Gegend abgesucht worden, aber alles blieb umsonst, der Unglückliche ist wie vom Erdboden verschwunden.«

Die Lammwirtin schien seinen Aufbruch kaum gewahr zu werden, sie wehrte nur ungeduldig ab, als er ihr noch gutgemeinte Worte sagen wollte. Mechanisch begab sie sich mit ihm ans Haustor, schloß für ihn auf und hinter ihm wieder zu und kehrte ebenso automatenhaft ins Gastzimmer zurück, verlöschte dort das Licht und suchte ihr Schlafzimmer wieder auf.

Dort ließ sie sich fröstelnd im Armstuhl nieder und starrte wie irre in das hell im Ofen lodernde Feuer. Ihr Gesicht erschien eben wie totenstarr, der letzte Glanz war aus ihren Augen entwichen. Es war, als ob sie den härtesten Schlag erlitten, von dem es für sie keine Rettung mehr gab.

So saß sie durch lange Stunden unbeweglich da. immer gewaltiger vom Frost durchschüttelt. Dann schien sie zu einem Entschluß gekommen zu sein. Sie erhob sich, trat zum Kleiderschrank, öffnete ihn und begann sich zum Ausgehen umzukleiden. Sie machte wenig Umstände, zog einen dicken Mantel an und um Kopf und Hals legte sie ein Wolltuch. Dann verließ sie das Zimmer und begab sich durch den Hof nach dem Stallgebäude, wie in der Absicht, den Knecht zu wecken und ihn anspannen zu lassen. Sie kam jedoch von diesem Vorsatz wieder ab, wendete sich, verließ das Haus und schlug durch die nachtstillen Straßen die Richtung nach Höhenbronn ein. Der Witterungsumschlag, der der ersten starren Winterkälte gefolgt war, hielt noch immer an. Es regnete sacht vom wolkenumdüsterten Himmel und verdrossen fegte ein lauer Wind.

Es war ein gar beschwerliches Wandern durch die aufgeweichte und schlüpfrige Straße; so dunkel war es, daß die Einsame kaum die Wegrichtung verfolgen konnte, dabei fauchte ihr der Wind ins Gesicht und Regenschauer klatschten gegen dieses. Aber in dem hinfälligen Weibe wohnte ein eiserner Wille, und mächtiger noch als dieser war der Drang, der sie gewaltsam vorantrieb, dem fernen Ziele zu, das sie sich für diese Nacht gesetzt. Was wollte zudem diese Wanderung aus einsamer Straße durch Nacht und Dunkel gegen die lichtlose Irre besagen, durch die sie wahnbetört ihr Leben geschritten war, getrieben von einem grausamen Haß, den die matt gewordene Wanderin jetzt nicht einmal begriff! Was verschlug dieser stundenlange Weg durch den nächtlichen Bergwald angesichts der hoffnungslosen Höllenstraße, die sie einen andern hatte durchwandern lassen – einen, der sie lieb gehabt und dem auch ihr Herz angehört, bis sie in blindwütendem Racheverlangen alles daran gegeben hatte, was ihrem Herzen einmal teuer gewesen war. Wohin eigentlich sie es jetzt trieb, sie wußte es kaum. Da lebte ein Drang in ihr, ebenso schicksalsgewaltig wie die unheilvollen Kräfte, deren Spielball sie durch alle die langen Jahre gewesen war … ein mütterlicher Drang, der sie antrieb, alle Selbstsucht von sich zu streifen und beschwert mit ihres Grames Kreuzeslast voranzugehen, bis sie zwei Augen wiederfand, die sie einst von sich gejagt, einem Wesen gegenüberstand, dem sie das reinste Glück einst grausam geraubt, am Mutterherzen ruhen zu dürfen.

War's denn nur möglich, konnten wenige Tage solch' eine Wandlung zeitigen? Noch war keine Woche ganz verflossen, seit jenem Sonntag, an dem sie der jungen Frau gegenüber gestanden und im Erschauen ihrer Züge noch einmal zur Beute ihres wilden Hasses geworden war – und nun, wie zerschmettert von des Himmels flammendem Strafgericht, war der Haß in ihr tot und sie begriff sich selbst nicht länger, sie empfand nur noch gräßliche Angst, sie möchte das Herz des Kindes durch diesen letzten Ausbruch finsteren Hasses endgültig verloren haben.

Was dann, wenn ihr Kind sie richtete, wenn dieses ihr die Liebe nimmer geben konnte, die sie ihr so demütig angeboten, weil sie selbst die gute Saat zertreten – wenn es wirklich nur noch die fremde Krämersfrau war, die jetzt in dem ärmlichen Häuschen dort droben auf dem Berge weilte – wenn sie sich mit einem verständnislosen Achselzucken von ihr wenden und mit höhnendem Munde ihr vielleicht sagen würde, daß sie's ihr nachgemacht und es gelernt habe, auf Mutterliebe zu vergessen? Oder wenn die junge Frau sie nach dem Vater fragte – diese Frage, die sie selbst sich in den letzten schlaflosen Nächten so oft gestellt und die wie der Posaunenruf des jüngsten Gerichts ihr in den Ohren gellte:

Weib, was hat mein Vater dir getan, daß du ihn mitleidlos verdammtest? Und war die ganze Welt wider ihn im Bunde, war dein Platz nicht an seiner Seite? … Und du, die Weggenossin, hobst zuerst den Stein wider ihn, und du glaubtest ihm nicht, sondern zeugtest gegen ihn, und dein Zeugnis war es, das ihn verdammte!!

Mit doppelter Kraftanstrengung schritt die Lammwirtin voran, wie um den eigenen Gedanken zu entfliehen. Aber diese hielten gleichen Schritt mit ihr, und am Wege schienen Gespenster zu hocken, die tauchten irrwischgleich aus der Finsternis und nickten sie höhnend an: Weißt du es noch … und du hättest das Glück halten können, und es wäre dir treu geblieben, aber du liebtest nicht, sonst hättest du nicht gezweifelt; was in dir lebte, war staubgeborene Leidenschaft, und diese zog dich wieder zu der Erde Niedrigkeit und knechtete dich, und wurdest du auch elend, so machte deine Schuld noch elender die Herzen, die dich liebten und denen du das gleiche köstliche Gut schuldest – und nun, wo du einerntest, was du sätest, nun willst du betteln gehen … Närrin du – Närrin!

Dann, wie sie sah, daß sie der schlimmen Gedanken sich nicht erwehren konnte, fing sie laut zu beten an, während sie durch die Nacht weiter schritt; sie schrie ihr brünstig Flehen zum Himmel, und ihrer Stimme verzweifelter Klang mengte sich in des Windes Orgelton.

Noch war es Nacht, als die Lammwirtin die ersten Häuser des Höhendorfes endlich erreichte. Ihr war es, als sei sie durch die Ewigkeit geschritten und die Wanderung dünkte sie schier so endlos lang wie ihr ganzes früheres Leben. Aber drohten auch die Knie unter ihr niederzubrechen, sie zwang sich Schritt um Schritt weiter, bis sie endlich vor dem kleinen Hause stand, in dem das junge Weib wohnte, dem sie nicht Mutter hatte sein wollen.

Da verließ sie ihre Kraft. Sie sank erschöpft auf der zum Laden führenden Steintreppe nieder und blieb regnungslos hocken.

Noch immer regnete es, heftiger wie im Walde rauschte der Wind durch die breite Dorfstraße, rüttelte an den geschlossenen Fensterladen des Hauses, ließ die Wetterfahne am nahen Kirchturm kreischen und schlug zuweilen prasselnd wider die völlig Gebrochene, gleich einem übermütigen Feind, der aus sicherer Stellung heraus den Gegner mit unaufhörlichem Gewehrfeuer bestreicht.

Wiederholt mußte die Lammwirtin ansetzen, ehe sie sich wieder zu erheben vermochte. Als ob im Walde giftiger Schwaden gelagert, mutete sie es an; durch ihn war sie gegangen, und er hatte ihr die Glieder verdorrt, sie war zur alten Frau geworden, greisenhaft hinfällig; selbst ihr sonst so ungestüm pochendes Herz schlug langsam und ihr heißes Blut schlich träge durch den fröstelnden Leib.

Das Haus lag in tiefer Nacht. Aber um seine Giebel wogte es in flatternden Schleiern und über die Dachfirste der Nachbargehöfte kam es wie ein erstes Erwachen des werdenden Tages. Von naheher ein Hahnenschrei, der rasch wieder erstarb. Dann krochen die schwarzen Nachtschatten wieder hoch und es wurde dunkel wie zuvor.

Unschlüssig, nicht wissend, was sie tun sollte, verharrte die Lammwirtin noch immer vor dem Hause und starrte zu ihm empor. Es kostete sie unsägliche Ueberwindung, die Treppenstufen zur Ladentür emporzuschleichen und an der Klinke zu rütteln. Die gab ihrem Drucke nicht nach, und die Harrende wagte nicht, laut zu pochen. Heiß schoß ihr's durch das Gehirn, daß sie wie eine Bettlerin stand, die ein Almosen nicht zu erflehen wagt, weil sie rauh abgewiesen zu werden fürchtet. Aber für ihren stolzen Sinn hatte diese Empfindung eben nichts Demütigendes, sie nahm sie als etwas Selbstverständliches hin. Sie war eine Bettlerin, nur klopfte sie nicht an mitleidiger Fremder Tür, die in dem Hause wohnte, war ihre Gläubigerin – und wohl eine harte, erbarmungslose dazu!

Die Lammwirtin schlich die Stufen wieder hinunter. Mit müden Schritten umwankte sie das Haus bis an die Toreinfahrt heran, die war geschlossen. Aber nun glaubte sie durch die vorgelegten Läden eines Seitenfensters im Oberstock einen schwachen Lichtschimmer zu erspähen. Sie schaute schärfer zu und war sicher, daß sie sich nicht täuschte. Im Zimmer brannte eine Lampe, in ihm weilte also wohl die junge Frau. Ob sie schlief oder auch schlaflos auf ihrem Lager sich wälzte? Wohl das letztere, über ihrem Haupte schwebte auch der dunkle Engel der Heimsuchung mit nächtigem Fittig.

Da hielt es die Harrende nicht länger, sie konnte die Ungewißheit nimmermehr ertragen. Zuerst schwach und verzagt, dann aber, als ihr keine Antwort wurde, lauter und immer lauter rief sie der Tochter Namen. Zuletzt schrie sie ihn in Verzweiflung hinaus und erschauernd brach sie ab, so ungewohnt hatte der Name ihrem Ohr geklungen. Mit neuem Frostgefühl durchbebte sie der Gedanke, um wie viel ungewohnter noch die Tochter der Ruf anmuten mußte, sie hatte ihn ja nie von Mutterlippen nennen hören, den eigenen Namen, sie war ja noch ein Säugling gewesen, als sie von der Mutter verstoßen worden war.

Im Zimmer oben regte es sich. Die Lammwirtin konnte ganz deutlich hinter den verdeckten Blenden des Fensterladens die Umrisse einer Gestalt erkennen, die lauschend stand.

Da nahm sie allen Mut zusammen und rief zum andern Male der Tochter Namen. Oben trat die Gestalt zurück. Tiefe Hoffnungslosigkeit erfüllte das Herz der Harrenden. Sie kam sich wie gerichtet vor.

Dann kam leises Geräusch von einem Fenster im Unterstock her. Noch verstrichen Sekunden, dann wurde der Laden aufgestoßen und die dunklen Umrisse eines Kopfes hoben sich von der zitternden Frühdämmerung, die nun mit den Nachtschatten kämpfte.

»Hat mich jemand gerufen? Wer ist es?« klang es zagend.

»Lenchen, ich bin es, deine Mutter, willst du mir öffnen?« Die Sprechende entsetzte sich vor dem eigenen Stimmklang, so hölzern und fremd mutete dieser sie an. Keine Antwort kam, die Gestalt am Fenster hatte nicht verstanden oder wollte nicht hören. Doch nach endlosen Sekunden zitterte es zurück: »Wer ist da – wer?«

»Deine Mutter, Kind. Ich bin durch die Nacht gewandert, dich zu sehen, weil mir's nicht Ruh' und Frieden mehr gelassen hat. Darf ich zu dir kommen?«

Ein leiser, weher Schrei wurde laut. Der Kopf verschwand vom Fenster, aber dieses blieb offen. Wieder wurde es so still, daß die Lammwirtin des eigenen Herzens fieberischen Schlag vernehmen konnte. Dann hörte sie einen Schlüssel sich im Schlosse wenden, behutsam wurde eine Tür geöffnet, über den Hof her kamen leise Schritte. Nun fiel der Innenriegel am Torbogen, und in den Angeln knarrend tat dieser sich auf. Mutter und Tochter standen einander gegenüber. Noch war es so dunkel, daß sie sich kaum sehen konnten, sie mußten ihre Gegenwart mehr erraten, als daß sie sich erkennen konnten.

Eine Minute verstrich, sie standen beide regungslos und keine von ihnen sprach ein Wort. Dann überkam die Lammwirtin ein wilder Jammer, im Dunkeln haschte sie nach ihrer Tochter Hand, sie fühlte sich kalt, wie leblos an, aber sie zitterte heftig in ihrer Rechten.

»Lenchen, du sollst dich nicht fürchten vor mir,« kam es tonlos von den zuckenden Lippen der Frau. »Ich bin durch die Nacht gegangen – nicht nur jetzt, nein, all die langen Jahre über, wie tot war ich, und in mir lebte ein schlimmer Geist – aber nun hat mich die Sehnsucht getrieben, sie ist wach in mir geworden und läßt mich nimmer los … warum zitterst du so? Ich bin nicht so böse wie du meinst – oder ich bin es nicht mehr. Sage mir nur ein Wort … ich bin am Ende meiner Kraft, es ist so viel geschehen und hat mich wirr gemacht – und in mir lebt nur noch ein Drang, wieder gut zu machen, wenn's noch möglich ist.«

Ihre Tochter stand noch immer wie versteinert und konnte nicht sprechen. Aber plötzlich kam wieder Leben in sie. Mit sanfter Gewalt fühlte die Lammwirtin sich durch den Torbogen gezogen, sie hörte den Riegel klirrend zurückfallen und dann ging sie an der Hand ihres Kindes ins Haus.

Kein Wort wurde gesprochen. Nur ihre Schritte, so behutsam sie auch auftraten, schienen durch den Hausgang zu dröhnen. Dann fühlte sie sich losgelassen, dicht neben ihr flammte ein Zündholz auf, es sprühte und erlosch unter der zitternden Hand, ein zweites erhellte gespenstig den Raum, in dem sie standen. Nun sah die Lammwirtin ihre Tochter, wie diese sich mühte, eine Lampe anzuzünden, aber erst nach wiederholten Versuchen damit zustande kommen konnte.

Nun wurde es hell um sie. Sie standen in der Küche. Eine Uhr tickte, die Katze erhob sich von der Herdplatte, auf der sie geschlafen, machte einen krummen Buckel und sprang auf die Diele. Mit erdfahlem Gesicht, niedergedrückt von Schuldbewußtsein, stand die Lammwirtin, kaum wagte sie zu atmen, nur ihre Augen starrten mit verzehrender Sehnsucht auf das zitternde junge Weib vor ihr. Das schaute gar abgehärmt und verweint, mit scheuem Kinderblick streifte es wie furchtsam ihr Gesicht, in dem sich unfaßbares Staunen prägte, das stille, große Angst verdrängen wollte.

»Sie sind – du bist es wirklich, Mutter?« Sie zitterte unter einem jeden Wort immer stärker, nur mit Anstrengung vermochte sie zu sprechen. Dann hob sie plötzlich beschwörend die Hände, bang streifte ihr Blick zur Tür, als fürchte sie, hinter der erschlafft Stehenden möchten andere ungebetene Gäste ins Haus zu dringen versuchten. Erstickt quoll es von ihrem Munde: »Und du kommst gut, Mutter – nichts Schlimmes führt dich her – es sind nicht die Herren vom Gericht, die dich schicken?«

Nicht die Frage selbst war es, an sich unter den obwaltenden Umständen so berechtigt, sondern der Quellborn, aus dem sie geschöpft war, welcher der Matrone Herzschlag stocken machte; mit ihr im Gefolge schritt nicht die Liebe, diese hatte sie ja dem Kinde nie gelehrt, sondern die Angst vor dem Unheil, das ihr Kommen mit sich bringen mußte; was das zur Frau herangereifte Kind für sie empfand, war Furcht, vielleicht auch Abscheu, jedenfalls aber mißtraute sie ihr. Aber diese Erkenntnis, weit davon entfernt, ihr sonst so stolzes Herz in Aufwallung zu bringen und ihr starkes Selbstgefühl zu verletzen, mehrte nur die Angst in ihr, sie möchte vergeblich gekommen sein und an eine Pforte anzuklopfen unternommen haben, die sich ihr nimmermehr eröffnen konnte.

Wie beteuernd legte sie darum die Hand aufs Herz. »Nein, Lenchen, du brauchst die Gerichtsherren nicht zu fürchten, ich bin allein gekommen und sie wissen auch nicht um mein Tun. Ich sagte dir schon, was mich hierher trieb. Auf mir lag ein Bann und in einem schlimmen Traume lebte ich all die Jahre dahin. Ich meinte im Recht zu sein, gar zu ungeheuerlich erschien mir, was mir der Mann angetan, an den ich mein Herz gehängt hatte … und ich entäußerte mich jeglichen menschlichen Gefühls, ich wurde hart und gefühllos wie ein Stein. Das traf auch dich, Kind, und mein unverständlich Wüten brachte dich um die Mutter. Heute weiß ich, daß ich mich selbst um unwiederbringlich köstlich Gut beraubte, um meines Kindes Liebe – und schlimmer noch, daß ich um einen Wahn, einen schnöden Betrug mich selbst freiwillig von allem abgesperrt habe, was das Leben schön und wert macht. Heute weiß ich, daß ich blind gewütet und mit meinem Hasse Schuldlose getroffen habe … wenn ein Verräter an heiligem Gefühl ist, so bin ich's … und ich kann nichts zu meiner Entschuldigung sagen als: ich glaubte recht zu tun, und hab' ich dich und deinen armen Vater um alles gebracht, so bin ich dadurch nicht minder elend geworden. O wie arm bin ich dadurch geworden, daß man mir damals erlaubt hat, so leicht die zweite Ehe zu schließen! Wie anders wäre alles gekommen, wenn ich's damals nicht hätte tun dürfen! Meine Reue kann kein Trost für dich sein, ich weiß es wohl. Wenn aber in deinem Herzen noch ein Funken Sehnsucht nach der Mutter lebt, so nimm meine Hand – o Kind,« schrie sie dann, überwältigt vom Drange ihres Jammers, »wenn ich mein ganzes Leben daran geben könnte, dir nur einmal Mutter sein zu dürfen, ich würfe es mit Freuden von mir!«

Sie kam nicht weiter, denn bebende Lippen schlossen ihr den Mund, sie fühlte sich umschlungen von weichen Armen und zum erstenmal in ihrem friedlosen Dasein spürte sie ihr Kind an ihrem Halse hängen und bitterlich weinen.

»Mutter, meine liebe Mutter!« Das war alles, was die junge Frau rufen konnte, aber es lag Himmelsklang für die Unglückliche in diesen Worten. Unter leidenschaftlichem Schluchzen umschlang auch sie ihr Kind und preßte es an sich, als ob sie es nimmer wieder von sich lassen wollte. Ein Hochgefühl, berauschte sie, wie sie es nie zuvor gekannt; als ob reinigender Segen in dem warmen Hauch war, der von ihres Kindes Lippen über ihr Angesicht strich, mutete sie es an. All die so lange gewaltsam in ihrem Herzen verschlossen gehaltene Liebe brach mit des Lenzes Werbedrang durch und nicht müde wurde sie, ihres Kindes Namen immer von neuem wieder zu stammeln und neue Seligkeit in seinem Klang zu finden.

Dann saßen sie Hand in Hand nebeneinander und schauten wie selbstvergessen einander an, das junge Weib erfüllt von zagendem Glück, das noch immer das Unfaßliche nicht zu glauben wagte, die Mutter immer wieder von neuen Ausbrüchen wilder, nie zuvor gekannter Zärtlichkeit überwältigt.

Dann schmiegte sich Frau Lenchen noch inniger an sie. »Bist du auch zum Vater gekommen?« fragte sie leise. »Weißt du es schon, daß er hier ist?«

Die Lammwirtin starrte sie mit weitgeöffneten Augen an. »Wen meinst du, Kind?« Sie preßte beide Hände gegen die Schläfen. »Du sagst, dein Vater – Allbarmherziger, er soll erschlagen worden sein –« und als ihre Tochter nur sanft mit dem Kopfe schüttelte, ächzte sie: »Dein Vater – er lebt – er ist hier – bei dir?«

Wie ihre Tochter nur nickte, da konnte sie nur einen matten Seufzer von sich geben, und besinnungslos fiel sie zurück.

Als die Lammwirtin die Augen wieder aufschlug, blickten sie in das tränenüberströmte Antlitz ihrer Tochter, die sich zärtlich um sie mühte. Schwach richtete sie sich an deren Hand auf, aber es bedurfte Minuten, ehe sie sich zu sammeln und zu begreifen vermochte, welche Kunde ihr geworden war. »Dein Vater lebt – er ist hier?« brachte sie angestrengt hervor.

»Ich bin in großer Sorge um ihn, er ist sehr krank,« berichtete Frau Lenchen nun, sie zärtlich wieder umfassend. »Ach, es mutet mich selbst ja wie ein Wunder an. Heimlich hat er sich durch ein Kellerfenster ins Haus geschlichen. Das war am Abend jenes Unglückstages, wo mein Mann und ich verhaftet wurden. Dann lag er unten im Keller durch lange Tage hilflos, ohne Nahrung und Pflege, Fiebernot in den erschöpften Gliedern. Wie ich gestern wiederkam und mir vom Bürgermeister die Schlüssel geholt hatte, kam mich ein Grausen an, als ich drunten im Keller ein mattes Stöhnen hörte. Wie ich endlich den Mut fand und nachschauen ging, traf ich ihn im Keller an, er lag auf einer elenden Strohschütte und war dem Verschmachten nahe. So schwach war er, daß ich ihn kaum hinaufschleppen konnte. Nun liegt er oben, ich tat alles, was ich konnte, aber das war so wenig … ich durfte ja nicht einmal um Beistand gehen oder den Arzt holen, er ist ja vogelfrei wie ein wildes Getier im Wald … nun ist er wieder zu sich gekommen, aber mir ist so bange um das Herz, er hat gar zu viel auszustehen gehabt.« Sie schluchzte wieder leise vor sich hin.

Die Lammwirtin war schnell aufgestanden; bittend umspannte sie ihrer Tochter Hand. »Führ' mich zu ihm – o Gott, ich soll ihn sehen, ihm sagen dürfen –« Sie brach jäh ab, aber was in ihrer Seele vorging, kündeten deutlich ihre ungestüm arbeitenden Mienen.

Wortlos wendeten sie sich Hand in Hand nach der Tür und stiegen die Treppe zum Oberstock empor. Vor einer angelehnten Türe, aus der ein Lichtstreif in das Dunkel des Ganges fiel, machten sie Halt.

»Ich will zuerst hineingehen, ihn vorbereiten,« hauchte die Tochter zagend.

Aber ihre Mutter hörte sie nicht. Sanft stieß sie die Türe auf, dann trat sie angehaltenem Atem, die Hände über der wogenden Brust zusammengefaltet, über die Schwelle. Mattes Licht erhellte den Raum. Im Bett lag eine abgezehrte Mannesgestalt, das Gesicht so weiß wie das schneeige Linnen. Er suchte den Kopf nach den Eintretenden zu wenden und auf diese aus fieberglänzenden Augen einen Blick zu werfen; aber die Kraft versagte ihm, und nur die Finger vermochten sich zitternd über die Bettdecke zu regen.

»Wen – bringst du – da, Lenchen?« kam es hohl von seinen Lippen.

Lautlos stand die Lammwirtin. Der dort kraftlos ausgestreckt lag, war ihr ein fremder Mann; all ihre Einbildungskraft reichte nicht aus, um in ihm den blühenden Mann von ehedem wieder erkennen zu lassen, an dem trotz alledem die Erinnerung noch immer machtvoll in ihr lebte. Wie ein zweischneidig Schwert bohrte sein Anblick sich ihr in ihre Seele. Mit zitternden Knien trat sie an das Bett heran. Dann nicht länger fähig, den schreckhaft auf ihr ruhenden Blick zu ertragen, der von allem Irdischen schon abgelöst erschien, brach sie mit einem dumpfen Wehelaut nieder und haschte nach der abgemergelten Hand des Kranken.

»Karl,« kam es schluchzend von ihrer Lippen, »dein Weib ist es – dein verirrtes Weib, das dich schuldig sprach – o Gott, nun weiß ich ja, daß du schuldlos hast leiden müssen!«

Die zuerst wie von starrem Schreck gebannten Züge des Kranken wurden freier und friedlicher. »Annemarie … du, mein Weib … trotz allem noch mein Weib.« Er hauchte es nur, aber seine zitternde Hand tastete nach dem Scheitel der auf den Knien bitterlich Schluchzenden und blieb auf diesem liegen. Dann, als sie nur nicken konnte und mit bangem, flehendem Blicke ihn streifte, leuchteten Freudensonnen in seinen eingefallenen Augen auf und überirdische Seligkeit sprach aus seinen durchsichtigen Mienen.

»Annemarie, du kommst zu mir … du bringst mir Vergebung?« hauchte er mit erlöschender Stimme. Vergeblich versuchte er, sich aufzurichten; erst als seine weinend herbei eilende Tochter ihn stützte, vermochte er den Arm um den Nacken der neben dem Bette Knienden zu schlingen. »Ich wußte es, du würdest kommen … es konnte ja nicht möglich sein, daß all mein Beten nicht Erhörung finden sollte … und nun kam es doch vor Schlafengehen … mit meinem Weibe kam es zurück zu mir … das Glück …«

In übergroßem Jammer schluchzte die Lammwirtin auf. »Du mußt mir fluchen, Karl … ich hätte zu dir stehen müssen, und ich war die erste, die dich verdammte … verwirrt und verloren im bösen Wahn!«

Der Kranke schüttelte nur unmerklich mit dem Kopf. »Sprich nicht davon, Annemarie.« flüsterte er angestrengt, »es war alles gegen mich … o Gott, wie oft zweifelte ich selbst an mir und meinte, ich müßte schuldig sein, weil alle Welt mich dafür hielt … und doch war ich es nicht … und der Glaube ließ mich all das Schreckliche ertragen, daß die Stunde kommen müßte, da das Verborgene offenbar und du wieder an mich glauben würdest.« Sanft suchte er ihren Scheitel zu streicheln. »Nein, Annemarie, ich konnte dir nicht fluchen, ich hab' dich ja immer lieb gehabt … immer, bis zu diesem Tag … und nun du wieder bei mir bist, ist's wie ein süßer Traum … sag' nichts dagegen,« bat er leise, »laß mich ihn weiterträumen; was das Leben auch gebracht, es war nicht länger als diese Stunde des Glücks … und du glaubst mir,« fuhr er bange fort, »du weißt nun, daß ich es nicht war … der Fluch wird von mir genommen, ich soll ehrlich sterben dürfen?«

»Nicht sterben!« schrie das schluchzende Weib wild heraus, »du sollst leben, Karl, und all mein Mühen soll sein, dich vergessen zu machen, was ich mit der Welt an dir gefehlt!«

Der Kranke antwortete nicht, aber um seine Lippen spielte ein mattes, wissendes Lächeln. Sein Leidensgang hatte ihn wegmüde werden lassen, und er wünschte nichts anderes mehr, als im Vollbesitz eines letzten sühnenden Glückes heimgehen zu dürfen. Doch als die reuegefolterte Frau sich zu ihm an den Bettrand setzte und in nicht sich erschöpfenwollender Zärtlichkeit ihn umschlang und liebkoste, da ließ er sie still gewähren, und seine Lippen riefen nur immer wieder ihren Namen – nicht in wilder, herzverdorrter Qual wie vor langen Jahren, als die Enge seiner Kerkerzelle und die Schwere seines unverschuldeten Geschicks ihn in des Wahnsinns Arme getrieben, sondern sonnig heiter, wie ein heimgefunden Kind.

Just zu derselben Stunde fand man Mehlig in der Zelle tot auf; er hatte sich an seinen Hosenträgern erhängt. In der Stille der Nacht mochte er zusammengebrochen und an der Möglichkeit verzweifelt sein, durch weitere Schliche dem Netze der Gerechtigkeit zu entgehen.

Sein freiwilliger Tod vermochte seine Mitschuldigen, die eigene Tochter und deren Verlobten, indessen nicht von ihrem wohlverdienten Schicksal zu erretten, mochten sie nun auch in feigem Selbsterhaltungstrieb alles Verschulden von sich ab auf den Selbstgerichteten wälzen. In dem unglücklichen Sanders war ihnen ein Belastungszeuge entstanden, dessen niederschmetterndes Zeugnis sie nicht von sich abschütteln konnten.

An jenem Samstag nachmittag war Sanders wirklich in der Absicht aus dem Hause seiner Tochter, wo er einen Zufluchtsort gefunden, gegangen, den Lammwirt unterwegs zu stellen und zur Rechenschaft zu ziehen. Von Jungnickel hatte er von der Absicht Bindewalds, die Kaufsumme am Nachmittag selbst nach Höhenbronn zu bringen, erfahren und alles Gegenreden seiner besorgten Tochter war vergeblich geblieben. Jungnickel selbst war nicht zu Hause gewesen, um ihn zurückzuhalten; er hatte der Versuchung nicht widerstehen können, einen Rehbock zu schießen, dessen Wechsel er aufgespürt. Ganz von dem Drange beherrscht, den ruchlosen Vernichter seines Lebensglücks zu stellen, war Sanders durch den Schneesturm die Landstraße hinunter geschritten. Unterwegs, viel weiter unten, als an der Stelle, wo die Straße einen Hohlweg bildete, war ihm Bindewalds Schlitten entgegengekommen und er hatte sich diesem in den Weg geworfen. Zuerst hatte Bindewald den Störenfried mit der Peitsche bedienen wollen; dann, als er in diesem den früheren Jugendfreund erkannt, war er kreidebleich geworden, und hatte es ruhig geduldet, daß Sanders dicht an den Schlitten herangetreten war. Warum sein Erscheinen so lähmend auf den starken Mann eingewirkt, konnte niemals mehr offenbart werden, da der Tod die Lippen des Lammwirts geschlossen hatte. Aus verschiedenen Gründen kam das Gericht zu der Mutmaßung, daß Mehlig seinem Brotgeber, wahrscheinlich um leichter von ihm Geld erpressen zu können, schon wiederholt gedroht hatte, das Geheimnis jener Mordnacht an Sanders zu verraten; vielleicht hatte er ihm auch angedeutet, daß er durch Vermittlung seines künftigen Eidams, des Irrenhausaufsehers Schaible, schon mit dem unschuldig im Zuchthaus Schmachtenden sich in Verbindung gesetzt habe; eines Verrats von Mehlig hatte der Lammwirt sich jedenfalls immer versehen, stellte es sich doch auch heraus, daß der Postbote sich häufiger Geldunterschlagungen schuldig gemacht und wahrscheinlich aus diesem Grunde hatte der Lammwirt ihm auch nicht die Besorgung des Kaufgeldes anvertrauen wollen und war selbst trotz des Unwetters nach Höhenbronn gefahren. Wie sich dies alles auch verhalten haben mochte, tatsächlich hatte das plötzliche Auftauchen des für Lebenszeit im Zuchthaus begraben Geglaubten auf den Lammwirt einen geradezu lähmenden Eindruck gemacht. Dieser war augenscheinlich gar nicht einmal auf den Gedanken gekommen, es mit einem Ausbrecher zu tun zu haben, den er mit starker Faust nur fassen und beim Bürgermeister in Höhenbronn abzuliefern brauchte, um ihn zum andernmal unschädlich zu machen; sein böses Gewissen ließ ihn sich von Mehlig bereits verraten und den Verurteilten vorläufig wieder in Freiheit gesetzt sehen. Mit heiserer Stimme fragte Sanders, ohne mit diesem sich weiter einzulassen, ob er ihm Gelegenheit zur Aussprache geben wollte. Hier auf der Landstraße sei dies unmöglich; aber wenn dieser, der ja in der Umgegend von früher her gut bekannt sei, in einer Stunde am Eingang des Steinernen Meeres sein wolle, so würde er sicher mit ihm zusammentreffen. Warum der Lammwirt sein früheres Opfer an diesen Platz bestellt, was er mit ihm vorgehabt, das hatte er als ungelöstes Geheimnis ebenfalls mit sich ins Grab genommen. Wahrscheinlich aber hatte er die Beseitigung des Unglücklichen geplant und ihn deshalb an einen Ort bestellt, wo er seinen Körper leicht spurlos verschwinden lassen konnte. Wohl um Sanders ganz sicher zu machen, hatte er diesem noch angedeutet, daß der gegen ihn gerichtete Verdacht falsch, er, der Lammwirt aber gewillt sei, nunmehr den Namen des wirklichen Mörders zu nennen, um des früheren Jugendfreundes Begnadigung zu erzielen. Er hätte den Unglücklichen noch mit plumperen Vorspiegelungen in die Falle locken können, denn in diesem brannte nur noch eine Sehnsucht: den Makel von sich genommen zu wissen; zudem hatte die geistige Erkrankung tiefe Spuren zurückgelassen und sein Gemütszustand glich dem eines unerfahrenen, gläubigen Kindes. Kaum hatte der Lammwirt das Versprechen seines Opfers, mit ihm auf der Höhe des Steinernen Meeres zusammenzutreffen, da hatte er dem Braunen auch schon mit wütendem Streiche die Peitsche zu kosten gegeben und war in sausender Flucht bergan gewirbelt. Die Beweggründe, welche ihn bei seinem seltsamen Verhalten in Höhenbronn geleitet, ließen sich gleichfalls nur vermuten; er mochte mit finsterem Gedanken umgegangen sein, darauf ließ das rasche, reichliche Trinken des sonst so Mäßigen und das Entleihen des Wagenseiles schließen; auch die Nichtzahlung der Kaufsumme und die unwahre Vorgabe, er habe seine Brieftasche daheim vergessen, rechtfertigten eine solche Annahme. Ihm hatten wohl auch Fluchtgedanken im Kopf gespukt; ohnehin hatte er im voraus nicht beurteilen können, wie seine Zusammenkunft mit dem ehemaligen Jugendfreunde endigen würde. Darum hatte er das Kaufgeld in der Tasche behalten und nicht einmal die geringfügige Zeche gezahlt. So rasch wie möglich war er wieder aufgebrochen, um mit Sanders zusammenzutreffen, und der ihn beherrschende dunkle Drang hatte ihn geradewegs seinem Verhängnis in die weit offenen Arme getrieben.

Nach der Behauptung des Kunstschlossers Schaible hatte dieser seinem Schwiegervater das Weggeleit nach Höhenbronn gegeben, weil der schon gebrechliche Mann sich nicht getraut, angesichts des tobenden Unwetters allein den Aufstieg nach Höhenbronn zu wagen. Sie waren im wirbelnden, die Augen blendenden Schneetreiben gerade bis an die Stelle gekommen, wo nach Höhenbronn zu sich die den Straßenlauf einengenden Felswände wieder zu senken begannen. Da hatten sie des Lammwirts Schlitten halten sehen; Bindewald hatte sich gerade zum Aussteigen gerüstet und war im Begriffe, das Spritzleder zuzuknöpfen. Des Schneesturmes wegen hatte er die Herankommenden nicht sehen und natürlich der weichen Schneedecke wegen deren Annäherung auch nicht hören können. Unwillkürlich war Schaible seiner Schilderung nach zurückgeblieben, ganz zufällig, wie er auf den zweifelnden Einwand des Untersuchungsrichter versicherte, es habe ihn irgend ein gleichgültiger Grund zurückgehalten, so daß sein zukünftiger Schwiegervater vielleicht fünfzig Schritte Vorsprung gehabt habe und des Schneesturms halber ihm kaum mehr sichtbar gewesen war. Wie Schaible sich nun aufmachte, den Alten einzuholen, hörte er diesen schon kläglich um, Hilfe schreien. Wie er an den Schlitten herankam, da sah er Mehlig im Schnee ausgestreckt liegen und der Lammwirt lag über ihm und schlug aus Leibeskräften auf ihn ein. Vermutlich habe der plötzliche Anblick seines vermeintlich verräterischen Mitschuldigen wutreizend auf ihn gewirkt, so daß er in rohem Zorne den ihm innewohnenden Ingrimm an dem gebrechlichen Alten ausgelassen habe.

Bei solchem Anblick nun habe der Schlosser die ruhige Ueberlegung gleichfalls verloren. Ohne zu wissen, was er eigentlich tat, sei er mit erhobenem Knotenstock auf den vor Raserei blinden und tauben Lammwirt zugesprungen und habe so lange den wuchtigen Knüttel auf dessen Schädel tanzen lassen, bis der andere starr und steif gelegen und kein Glied mehr gerührt habe. Da erst sei ihm recht zur Erkenntnis gekommen, was er in blindem Zorn getan, seine und Mehligs Bestürzung hätten keine Grenzen mehr gekannt, als sie gesehen, daß der Lammwirt tot war. Nun hätten sie sofort alles Mögliche getan, um den Verdacht von sich abzulenken. Sie waren übereingekommen, einen Raubanfall zu fingieren, hatten des Toten Taschen geplündert, ihm die Banknoten aus der Brieftasche genommen und diese leer in den Schnee geworfen. Schaible hatte mit des Lammwirts Revolver dessen Pelzkappe durchschossen, um den Verdacht eines Raubmordes aufkommen zu lassen; schließlich hatten sie aber doch für sicherer gehalten, den Leichnam zu beseitigen. Das war bei der Körperschwere des Lammwirts ein hartes Stück Arbeit. Sie hatten das Seil, das der Lammwirt merkwürdigerweise um den Arm geschlungen gehabt, um seinen Körper in der Absicht geschlungen, diesen die Felswand hinaufzuziehen. Zu diesem Behufs war Schaible den Abhang hinaufgeklettert, aber das Unterfangen war über seine Kräfte gegangen und sie hatten sich dazu entschließen müssen, den Toten hinaufzutragen. Das hatten sie unter vieler Mühe auch bewerkstelligt.

Das halsstarrige Schweigen, in das Schaible sich hüllte, nachdem er sich in solcher Ausdehnung zu einem Geständnis herbeigelassen, half ihm wenig, denn die nun folgenden Vorgänge wurden durch des unglücklichen Sanders Zeugenaussagen völlig geklärt. Sanders hatte sich gemäß seiner Zusage an den Lammwirt nach dem Steinernen Meer begeben und dort ungeduldig auf sein Erscheinen gewartet. Von der Höhe der Felsböschung herab war er zum Augenzeugen der schrecklichen Tat geworden, welche sich auch nach seiner Schilderung ziemlich so abgespielt hatte, wie von dem Schlosser behauptet worden war. Nur ob die beiden Kumpane dem Lammwirt aufgelauert oder lediglich der Zufall sie mit ihm zusammengebracht, wußte er nicht anzugeben; die Geschworenen nahmen später ersteres an und verurteilten Schaible wegen Raubmordes zum Tode. Der Anblick des sich unheimlich rasch abspielenden Dramas hatte Sanders geradezu gelähmt. Er hatte begreiflicherweise nicht den leisesten Laut von sich zu geben gewagt und sein Entsetzen hatte sich noch vermehrt, als er wahrgenommen, wie der herkulisch gebaute Schaible damit begonnen hatte, die Felsböschung zu erklettern. Nicht anders hatte er vermeint, als die Kumpane hätten seine Gegenwart bemerkt und trachteten nun auch ihm nach dem Leben. Da war er in sinnloser Angst, so schnell ihn seine Füße nur tragen wollten, in der Richtung des Steinernen Meeres davongerannt, hatte die spitzen Felsblöcke überklettert und nicht eher geruht, bis er hinter einem besonders umfangreichen Stein notdürftig Deckung gefunden. Dort war er wie ohnmächtig liegen geblieben und erst wieder zu sich gekommen, als von nahebei rauhes Aechzen wie von schwer schleppenden Männern, untermischt mit rohem Fluchen, zu seinen Ohren gedrungen war. Wie er auftaumelte, um den Fuß zu neuer Flucht vor seinen augenscheinlichen Verfolgern zu wenden, da waren diese auch schon vor ihm aufgetaucht und ihr wilder Schreckensruf hatte ihm verraten, daß er auch von ihnen bemerkt worden war. Sofort hatten sie auch schon den schweren Körper, mit dem sie herangekeucht gekommen waren, niedergeworfen und hatten sich an seine Verfolgung gemacht.

Mit Aufgebot seiner letzten Kraft hatte Sanders den Unholden zu entkommen getrachtet. Mit der Ausdauer der Verzweiflung war er über abschüssiges Felsgeröll hinweggeklettert, immer die einander anfeuernden Verfolger auf den Fersen. Auf einmal war er fehlgetreten und mit einem dumpfen Aufschrei in eine gähnende Felsspalte abgestürzt. Er war tief gefallen, wohl an die zwanzig Fuß, unten auf dem Grunde aber war die Wucht seines Sturzes durch den angesammelten Schnee gemildert worden und sein Körper war darin fast völlig versunken. Dieser Umstand, sowie das nächtliche Dunkel in seinem Felsenkerker hatten ihn den spähenden Blicken seiner Verfolger entzogen, die sich oben am Rande der Felsspalte platt auf den Bauch geworfen hatten. Keiner von ihnen hatte es gewagt, ihm nachzusteigen, was auch angesichts der kaminartig sich senkenden Felswände ausgeschlossen war. Schreckliche Minuten waren ihm in Todesangst vergangen, während deren er sich in unwillkürlichem Selbsterhaltungstrieb natürlich laut- und regungslos verhielt. Dann hatte er oben die beiden beratschlagen hören; unter rohem Auflachen hatte einer von ihnen gemeint, er sei sicher tot und habe auf der Stelle das Genick gebrochen. Der andere hatte gesagt, das sei schließlich einerlei, sei er noch nicht hin, so würden Kälte und Hunger dafür schon sorgen, aus dem Loche könnte doch keiner mehr zurückkommen. Weiter hatte Sanders nichts zu vernehmen vermocht, da tiefe Ohnmacht seine Sinne gefangen genommen.

Wie lange er in seinem Versteck gelegen, ehe ihm die Sinne wiederkehrten, wußte er nicht anzugeben. Ein halbes Wunder war es, daß ihn die Kälte nicht getötet hatte; aber diese hatte in den engen Felsspalt nicht genügend eindringen können, um die ihr zugedachte Henkersarbeit verrichten zu können. Unter unsäglichen Anstrengungen, oft an seiner Errettung verzweifelnd und doch nicht um Hilfe zu rufen wagend, war es ihm endlich geglückt, auf Händen und Füßen durch einen seitlichen Spalt vorankriechend und häufig genug dabei in Todesmattigkeit versinkend, wieder zur Erdoberfläche zurück zu gelangen. Als er diese wieder erreichte, war es Nacht, die bittere Kälte hatte sich gelegt und es regnete. Er hatte also mindestens volle zwei Tage in seinem schrecklichen Versteck zugebracht. Noch eben hatte seine Kraft ausgereicht, um bis zum Hause seiner Tochter sich zu schleppen. Dieses hatte er verschlossen gefunden; auf all sein Klopfen und behutsames Rufen war ihm keine Antwort geworden. Endlich hatte er Gelegenheit gefunden, sich durch ein Kellerfenster zu zwängen und in den Keller zu kriechen. Dort war er, ohnehin von körperlicher und seelischer Not übermannt, nach weiteren zwei Tagen schrecklichen Verlaufs von seiner heimgekehrten Tochter im Zustande völliger, hilfloser Erschöpfung aufgefunden worden.

Wohl war nun alles Erdenkliche zu seiner Pflege geschehen; aber der Kreisarzt vermochte keine Rettung in Aussicht zu stellen, gleich einer Lampe, deren Brennstoff erschöpft, glimmte in dem gebrechlichen Körper der Lebensfunke nur noch matt und der Augenblick war nahe, wo er völlig verlöschen mußte.

Angesichts der Aussagen des sterbenden Mannes wagte Schaible nicht länger mehr bei seinem Leugnen zu verharren. Dazu kam der seelische Niederbruch Sannas. Mit hartnäckiger Verschlagenheit hatte sie starrsinnig geleugnet und jegliches Wissen in Abrede gestellt; selbst der Anblick der entstellten Leiche ihres Vaters hatte sie nicht beirren können. Angesichts der wider sie einstürmenden Schuldbeweise aber brach sie plötzlich zusammen und um sich selbst zu retten, gab sie den Geliebten, als sie diesem gegenübergestellt wurde, preis. Dies ließ sich nun wiederum Schaible nicht bieten; es kam vor dem Untersuchungsrichter zu einem widerlichen Auftritt zwischen den beiden, wobei sie sich wechselseitig immer erbarmungsloser beschuldigten, bis sie einsahen, daß es nichts mehr zu verbergen gab und nur ein rückhaltloses Geständnis ihnen noch Hoffnung auf menschliche Gnade zuweisen konnte.

Viel trug hiezu auch die persönliche Konfrontierung Jungnickels, der nach Neustadt zurückgebracht worden war, mit dem Fabrikschlosser bei. Kaum hatte er diesen gesehen und sprechen hören, als er auch schon unter allen Anzeichen der Erregung ausrief, er müsse sich geirrt haben, nicht der Lammwirt, sondern Schaible sei es gewesen, der ihm in jener Unglücksnacht auf sein Pochen das Haustor des Lammwirtshauses geöffnet habe.

So verhielt es sich in der Tat, wie der Schlosser nun rückhaltlos eingestand. Das unvermutete Auftauchen des unglücklichen Sanders, in dem sie einen Augenzeugen ihrer verbrecherischen Tat mit Recht vermutet, hatte sie auf das äußerste bestürzt, um so mehr, als Mehlig sein früheres Opfer mit dem Instinkt des bösen Gewissens augenblicklich wieder erkannt hatte. Wohl hatten sie sich halb und halb bei dem Gedanken beruhigt, der von ihnen Verfolgte müsse bei dem Absturz in den gähnend tiefen Felsabgrund seinen sofortigen Tod gefunden haben; aber des bösen Schuldbewußtseins Unrast haftete ihnen an, und noch in derselben Stunde beschlossen sie, sich hinreichende Mittel zu verschaffen, um so bald als möglich aus Neustadt verschwinden zu können. Natürlich kam nur des Lammwirtes Kassenschrank in Frage, in dem Mehlig reichliche Schätze vermutete. Schaible hatte an des Ermordeten Schlüsselring sofort den Kassenschlüssel entdeckt, und da es ihm als Schlosser nur leichte Mühe machte, damit den Schrank zu öffnen, so unterbreitete er sofort seinem verbrecherischen Kumpan die Absicht, noch in der schon herabgedämmerten Nacht die Kasse auszurauben.

Sorgfältig verabredeten sie alle Einzelheiten ihres Planes, der dahin ging, jeden Verdacht einer Täterschaft von sich abzuwälzen. Es war ihnen klar, wie das Verschwinden des Lammwirts sofort ruchbar werden und man alsbald entdecken würde, daß er einem Verbrechen zum Opfer gefallen war. Da hieß es nun vorbauen und den Verdacht womöglich auf eine andere Spur lenken.

Dem erfinderischen Gehirn des alten Postboten, der in dieser Eigenschaft mit den Verhältnissen der Einwohner von Höhenbronn bekannt war, gelang dies in nur zu geschickter Weise. Er war es, der auf den Ausweg kam, die dem Lammwirt abgenommenen Banknoten durch einen Boten an die junge Krämersfrau unter der Vorgabe zu senden, ihr Vater schicke ihr das Geld und sie solle um seinen Verbleib ganz unbesorgt sein. Die Geldscheine hatten für ihn selbst keinen Wert; er war ja dabei gestanden, wie der Lammwirt sie selbst gezeichnet hatte, und mußte sich ohne weiteres sagen, daß ihre Verwertung am ehesten den Verdacht der Täterschaft hervorrufen würde. Er kannte die überschuldeten Vermögensverhältnisse des Krämers genau und nahm an, dieser würde sich nicht lange bedenken, das Geld zur Begleichung seiner Verbindlichkeiten zu verwenden.

Natürlich war es Mehlig genau bekannt, daß die junge Krämersfrau die Tochter des unglücklichen Sanders war. Dessen plötzliches Auftauchen ließ ohne weiteres den Schluß zu, er habe bei seiner Tochter Zuflucht gefunden. Daß Sanders des Lammwirts Todfeind war, das wußte die ganze Gegend. Fand man seine Leiche unweit derjenigen Bindewalds, um so besser, dann nahm man sicher an, daß beide in wechselseitigem Kampfe den Tod gefunden. Mochte man Jungnickel, weil man doch bei ihm die gezeichneten Banknoten früher oder später beschlagnahmen würde, auch der Mittäterschaft beschuldigen und ihn verurteilen, das verschlug dem nur auf Sicherung der eigenen Haut bedachten Verbrecher wenig. Da Schaible in Höhenbronn wenig oder gar nicht bekannt war, übernahm er es, die in Zeitungspapier eingeschlagenen Banknoten einem Zwischenmann zu übergeben, der sie an die junge Krämersfrau weiter besorgen sollte. Er machte sich auf den Weg und traf auch richtig den schwachsinnigen Jungknecht, der sich die angebotene Mark gerne verdiente. Zuvor aber hatte Schaible dem habgierigen Verlangen nicht widerstehen können, einige der wertvollen Scheine zu sich zu stecken, wie er auch trotz des wütenden Protestes seines Kumpans die in den Taschen des Lammwirts vorgefundenen Goldfüchse eingeheimst hatte. Die von ihm genommenen Banknoten, vier an der Zahl, wollte er dann mit den im Kassenschrank geraubten Geldscheinen an seine eigene Adresse hauptpostlagernd Konstanz schicken; ihr Vorhandensein trug am meisten zu seinem schließlichen Verderben bei.

Den Einbruch im »Goldenen Lamm« und die bei dieser Gelegenheit erfolgte Tötung des alten Franz schob er Mehlig in die Schuhe; er wollte lediglich Schmiere gestanden haben, was Sanna leidenschaftlich bestritt; haßerfüllt bezichtigte sie ihn der alleinigen Ausführung auch dieses Verbrechens. Da ihr selbst keine direkte Mitschuld nachzuweisen war, kam sie wegen überwiesener Hehlerei mit verhältnismäßig glimpflicher Gefängnisstrafe davon, während ihr ehemaliger Verlobter vom Schwurgerichte zum Tode verurteilt wurde.

Natürlich wurde Jungnickel augenblicklich entlassen und durfte in die Arme seiner ihn sehnsüchtig erwartenden Gattin zurückkehren; eine wegen des zugestandenen Wilddiebstahls kurz darauf wider ihn erkannte geringfügige Haftstrafe blieb unvollstreckt, weil ihm deren Verbüßung durch einen landesherrlichen Gnadenakt in Anbetracht der von ihm unschuldig erlittenen Untersuchungshaft erlassen wurde.

»Na, lieber Findler,« sagte der Amtsrat fein lächelnd zu dem Kreisarzt beim nächsten Tarokabend, »habe ich damals im Winter nicht recht gehabt, wie ich Ihnen die Geschichte der Ehe der Wirtin vom »Goldenen Lamm« erzählte, darüber spintisierte, daß die Unauflöslichkeit der katholischen Ehe viel Uebel verhindere? Wie viel wäre diesen Menschen erspart geblieben, hätte die Wirtin damals nicht ihrer Leidenschaft des Hasses, die sie in die zweite Ehe trieb, folgen können!«

*

An ihres Mannes Sterbelager wurde die Lammwirtin über Nacht zur alten Frau. All ihre inbrünstigen Gebete und reuevollen Verzweiflungsausbrüche konnten die zur Neige gehende Lebensflamme nicht wieder neu anfachen. Es blieb ihr nur ein Trost, daß ihr einstmaliger Lebensgefährte friedlich und mit einem Glückslächeln um die Lippen für immer einschlief. Sein letzter Blick hatte ihr gegolten und mit ihrem undeutlich gestammelten Namen ging er wunschlos hinüber.

Die trostlose Frau litt es nicht länger in den beengenden Verhältnissen der kleinen Stadt, wo ihr hartes Geschick in aller Munde war und man, wie sie meinte, mit den Fingern auf sie wies. Sie verkaufte ihren liegenden Besitz, um mit dem bescheidenen Vermögen an weit entferntem Orte sich wieder anzukaufen. Die wiedergefundene Tochter begleitete sie mit ihrem Mann und dem Töchterchen, das noch geboren wurde, bevor die Familie den Wanderstab ins Weite setzte.

Die alte, mürb gewordene Frau zog sich in ihr Altenteil zurück. Sie lebte noch manches Jahr, um am Glück ihrer Kinder sich erfreuen zu dürfen. Ihr Schwiegersohn erwies sich als ein tüchtiger und umsichtiger Mann, der mit Nutzen durch die harte Leidensschule gegangen war; sie durfte um die Zukunft des jungen Paares ohne Sorge sein.

Zu einem echten, herzlichen Verhältnis zwischen Mutter und Tochter kam es auch in der Folge nicht, es lag zu viel zwischen ihnen, was unausgesprochen bleiben mußte, und beider Herzen bargen Wunden, die auch die Zeit nicht völlig ausheilen konnte. Aber Frau Lenchen begegnete der greisen Mutter mit aufrichtiger Ehrfurcht und nimmermüder, zarter Pflege. Sie ließ es auch nachsichtig geschehen, daß die alte Frau die kleine Annemarie unglaublich verwöhnte und die süße, kleine Menschenknospe dafür mit noch innigerer Liebe an ihr hing, wie an den eigenen Eltern. Sie fühlte es wohl, daß der so lange vertrocknet gelegene Liebesborn im Herzen ihrer Mutter, nun er wieder erweckt worden war, sich ausgeben mußte und die Liebe zu ihrem holden Enkelkind wie ein verklärender Abendsonnenstrahl in das umdüsterte Leben der durch fremdes und eigenes Verfehlen hartgeprüften Frau fiel.

.


 << zurück