Paul Heyse
Am Tiberufer
Paul Heyse

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Es war tief im Januar. Der erste Schnee hing am Gebirge, und die Sonne, die hinter dem Nebel stand, hatte nur einen geringen Streif am Fuß der Höhen weggeschmolzen. Aber die Oede der Campagne grünte wie Frühling. Nur die gelichteten Zweige der Oelbäume, die hie und da in Reihen die gelinden Senkungen der Ebene hinab stehen oder eine einsame Capanne umgeben, und das niedere Gestrüpp, das bereift an den Straßen wuchert, empfanden den Winter. Um diese Zeit sind die zerstreuten Heerden in die Hürden nahe bei der Hütte des Campagnuolen gesammelt, die gewöhnlich, im Schutz eines Hügels errichtet, mit Stroh bis auf den Boden dürftig genug vor dem Wetter verwahrt ist, und wer von den Hirten zu singen oder Flöte und Sackpfeife zu spielen versteht, hat sich aufgemacht, in Rom nachzügelnd als Pifferaro, den Malern zum Modell zu dienen, oder mit anderm Erwerb das arme, frierende Leben zu fristen. Herren der Campagne sind nun die Hunde, die in großen Rudeln die verlassene Weite durchstreifen, vom Hunger verwildert, von den Hirten nicht mehr streng bewacht, deren Armuth sie nur zur Last fallen.

Gegen den Abend, als der Wind stärker wurde, schritt ein Mann durch die Porta Pia und wanderte den Fahrweg zwischen den Landhäusern hin. Der Mantel hing ihm nachlässig um die starken Schultern und der breite graue Hut saß tief im Nacken. Er sah nach den Bergen hinüber, bis der Weg tiefer ward und nur ein geringes Stück der Ferne zwischen den Gartenmauern durchblickte. Die Enge schien ihn zu beklemmen. Er verlor sich wieder unmutig in seine Gedanken, denen zu entrinnen er das Freie gesucht hatte. Eine stattliche Eminenz trippelte mit ihrem Gefolge an ihm vorbei, ohne daß er sie gewahrte und grüßte. Erst der nachfolgende Cardinalswagen erinnerte ihn an seinen Verstoß. Von Tivoli her rollten Carossen und leichtere Fuhrwerke voll Fremder, die es gelüstet hatte, die Berge und Cascaden im Schnee zu sehen. Er warf keinen Blick auf die zierlichen Gesichter der jungen Engländerinnen, mit deren blauen Schleiern die Tramontane spielte. Hastig bog er von der Straße ab, links in einen Feldweg hinein, der erst Mühlen und Schenken vorüber lief und dann mitten in die Wildniß der Campagne hinaus führte.

Nun stand er einen Augenblick, tief atmend, und genoß die Freiheit des weiten winterlichen Himmels. Die gedämpfte Sonne schien röthlich herüber, hauchte die Trümmer der Wasserleitung an und färbte den Schnee am Sabinergebirge. Hinter ihm lag die Stadt. Aber nicht fern von ihm begann eine Glocke zu läuten, nur leise durch den widrigen Wind. Das machte ihn unruhig. Als wolle er dem letzten Laut des Lebens verwehren, zu ihm zu dringen, ging er vorwärts. Er verließ bald den schmalen Pfad, die Wellen der Ebene auf und ab kreuzend, schwang sich über die Stangen, die im Sommer die weidenden Rinder eingehegt hatten, und vertiefte sich mehr und mehr in die einsame Dunkelheit.

Es war eine tiefe Stille dort, wie mitten auf dem ruhigen Meer. Fast hörte man den Flügelschlag der Krähen, die über den Boden hin hüpften. Keine Grille sang, kein Ritornell eines heimwandernden Weibes drang von der fernen Straße bis zu ihm. Da ward ihm wohl. Er stieß den Stock mehrere Male hart gegen den Boden und freute sich an dem Ton, der ihm antwortete. – Sie spricht nicht viel, sagte er vor sich hin im Dialekt des gemeinen römischen Volks, aber sie meint es ehrlich und sorgt im Stillen für ihre plappernden Kinder, die sie mit Füßen treten. Daß ich sie nie wieder zu hören brauchte, diese windigen Schufte! Meine Ohren sind wund von ihren glatten Phrasen. Als wär' ich nichts, als wüßt' ich es nicht besser, woran diese Dinge hängen, von denen sie zu schwatzen wissen, während ich nichts verstehe, als sie zu schaffe. Und doch leb' ich von ihnen und muß eine gute Miene machen, wenn die Fratzen mein Werk beschnüffeln! Accidenti! fluchte er in den Bart. – Ein Echo kam zurück. Er sah betroffen umher. Keine Hütte, kein Hügel war auf eine halbe Stunde im Umkreis zu sehn, noch konnte er einen Menschen nahe glauben. Er ging endlich weiter und dachte, ein Windstoß äffe ihn. Da klang es plötzlich wieder, näher und lauter. Er stand und horchte scharf. Bin ich einer Capanne nah, oder einem Schuppen, aus dem die Rinder brüllen? Es kann nicht sein – es klang anders – es klingt anders – und jetzt, jetzt – und ein Schauder schüttelte ihn – es sind die Hunde! sagte er dumpf.

Das Geheul kam näher, heiser wie von Wölfen, kein Bellen und Kläffen, sondern ein Gestöhn, rauh vorgestoßen, das die Stimme des Windes in Eine ununterbrochene furchtbare Melodie zusammenwehte. Eine lähmende Kraft schien in ihr zu liegen. Denn der Wanderer stand regungslos, den Mund und die Augen starr geöffnet, das Gesicht der Seite zugewendet, von der der Schlachtruf der wüthenden Thiere heranschwoll. Endlich richtete er sich gewaltsam in seinen Gliedern auf und sagte: Es ist zu spät, sie haben längst die Witterung, und bei dem falschen Zwielicht stürzt' ich nach dem zehnten Schritt, wenn ich laufen wollte. Nun denn, wie ein Hund gelebt und von meinesgleichen umgebracht – es ist doch Sinn darin. Hätt' ich ein Messer, macht ich's meinen Gästen leichter. So aber – und er prüfte die starke Eisenspitze seines Stockes – wenn es ihrer wenige sind – wer weiß, ob mein Hunger nicht den ihren überlebt?

Er schlug sich den Mantel um, daß der rechte Arm frei wurde, und der linke, vielfach umwunden, zur Abwehr gerüstet war, und faßte den Stock. Mit kaltblütiger Entschlossenheit untersuchte er den Boden, wo er stand. Er fand ihn von Gras entblößt, steinig und hart. Sie mögen kommen, sagte er, und stellte sich fest gegen die Erde. Er sah sie jetzt und zählte in der Dämmerung, Fünf! zählte er, und da ein sechster! Sie rasen heran, wie der höllische Feind, dürre, hochbeinige Bestien. Wart! – und er hob einen starken Stein – man muß doch den Krieg ankündigen, wie es Brauch ist.

Damit schleuderte er den Stein gegen den vordersten, auf fünfzig Schritt hinaus. Ein verdoppeltes Geheul antwortete. Das Rudel hielt einen Augenblick im Jagen inne. Einer von ihnen lag zuckend am Boden.

Waffenstillstand! sagte der Mann. Seine Lippe zitterte, das Herz schlug tobend gegen den linken Arm, der den Mantel krampfhaft festhielt. Aber die Wimper über dem scharfen Auge zuckte nicht. Er sah seine Feinde wieder losbrechen und ihre Augen glänzen durch die Schatten. Zu Paaren kamen sie, der größte voran. Ein zweiter Stein, der diesen anflog, sprang von der knochigen Brust ab, und das gereizte Thier stürzte heiser aufmurrend gegen die dunkle Gestalt. Ein Ruck, und er lag rücklings auf dem Gestein, und der im Wirbel geschwungene Stock fuhr ihm gewaltsam gegen den offenen Rachen. – –

Ein Reiter sprengte durch das Grau der Winternacht, einige hundert Schritt dem Kampfe fern, über die pfadlose Campagne. Er spähte nach der Stelle, von der das Geheul in kurzen Pausen zu ihm kam, und sah einen Mann stehn, wanken, zurückweichen, wieder festen Fuß fassen, während die Feinde sich ablösten im Angriff und von allen Seiten auf ihn einstürmten. Dem zu Pferde grauste. Er stieß seinem Thiere die Sporen in die Seite und flog heran. Der Hufschlag drang dem Kämpfenden zu Ohren; aber es war, als ob der jähe Schreck der Hoffnung ihm plötzlich die Kraft bräche. Sein Arm sank nieder, seine Sinne verwirrten sich, er fühlte sich von hinten niedergerissen und taumelte zu Boden. Noch hörte er durch den Nebel des Bewußtseins einige Schüsse fallen; dann verfiel er in Ohnmacht.

Als er sich wieder ermannte und die Augen zuerst aufschlug, sah er das Gesicht eines jungen Mannes über sich, an dessen Knie sein Haupt lehnte und dessen Hand ihm mit ausgerauftem nassen Gras die Schläfe rieb. Das Pferd stand dampfend neben ihnen; ihm zu Füßen wanden sich zwei Hunde, blutig, im letzten Todeszucken.

Seid Ihr verwundet? hörte er fragen.

Ich weiß nicht.

Ihr wohnt in Rom?

Beim Tritone.

Der Andere half ihm sich aufrichten. Er vermochte nicht zu stehen, der linke Fuß schmerzte ihn heftig. Er war barhaupt, der Mantel in Fetzen, der Rock am Arm aufgerissen und blutig, das Gesicht blaß und starr. Ohne zu sprechen, ließ er sich von seinem Retter stützen, der ihn die kurzen Schritte zu dem Pferde mehr trug als führte. Er saß endlich im Sattel, und der Andere faßte den Zügel des Pferdes und leitete es langsam nach der Stadt zu.

Bei der ersten Osterie außerhalb der Mauern hielten sie. Der junge Mann rief der Wirthin, daß sie Wein bringe. Als der Verwundete ein Glas geleert, belebten sich seine Züge, und er sprach:

Ihr habt mir einen Dienst geleistet, Herr. Vielleicht verwünsch' ich ihn noch einmal, statt ihn Euch zu danken. Fürs erste dank' ich aber. Man hängt nun einmal am Leben, wie an anderen schlechten Gewohnheiten. Man weiß, die Luft ist voll von Fieber und Fäulniß und nichtswürdigem Dunst der Menschen, und doch dünkt Jeden Athemholen eine gute Sache.

Ihr seid schlecht auf die Menschen zu sprechen.

Ich habe Keinen gefunden, der mich nicht für einen Dummkopf hielt, wenn ich gut von ihm sprach. Verzeiht, Ihr seid nicht aus Rom?

Ich bin ein Deutscher.

Gott segn' es Euch!

Sie erreichten schweigend das Thor und lenkten ein nach Piazza Barberini. Der Verwundete wies auf ein kleines Haus im Winkel des Platzes, baufällig und dunkel. Als das Pferd vor der niedrigen Thür hielt, ließ sein Reiter sich niedergleiten, ehe der Andere ihn stützen konnte, brach aber hülflos zusammen. Es ist ärger als ich dachte, sagte er. Thut noch das und helft mir hinein, und da ist der Schlüssel. – Der junge Mann unterstützte ihn schweigend, rief einem Knaben, das Pferd zu halten, und einem müßigen Burschen, das Haus zu öffnen. Drinnen war es dunkel, die feuchte Kälte schlug ihnen unheimlich entgegen. Sie trugen ihn durch den Flur, wie er's ihnen sagte, links in ein wüstes großes Gemach. Wo ist Euer Bett? fragte der Deutsche. – Wo Ihr wollt; aber legt mich lieber drüben an die Wand. Dort hinten ist die Mauer nicht zuverlässig. Dieser brave alte Palazzo, im Frühjahr wollen sie ihn niederreißen; ich glaube, er hat nicht die Geduld, es abzuwarten.

Und Ihr haltet es hier aus? –

Es ist die billigste Art, sich begraben zu lassen, sagte der Andere trocken. Ich spiele hier den Wirth für freies Quartier.

Indessen hatte der Bursch Feuer angeschlagen und die kleine Messinglampe angezündet, die am Fenster stand. Der junge Mann half dem Verwundeten auf eine Decke, über Stroh ausgebreitet, und deckte ihn mit dem zerrissenen Mantel notdürftig zu. Mit einem tiefen Athemzuge streckte sich die kräftige Gestalt aus und schloß die Augen. Der Deutsche gab dem Burschen Geld und trug ihm Verschiedenes auf; dann ging er ohne Abschied hinaus, warf sich aufs Pferd und ritt eilig davon.

Nach einer Viertelstunde betrat er wieder das Gemach und brachte den Arzt. Während dieser die Wunden an Bein und Arm untersuchte und verband, was der Kranke geschehen ließ, ohne einen Laut von sich zu geben, sah sich der junge Deutsche an den Wänden um. Sie waren kahl und der Bewurf in großen Stücken abgefallen. Die Balken am Dach standen nackt und geschwärzt heraus, das schlechte Fenster ließ die schneidende Luft ein, weniges Geräth stand herum. Indeß brachte der Bursch einen Arm voll Holz und machte ein Feuer im Kamin. Wie es nun roth aufprasselte, wurden im Winkel einige verstaubte Thonfiguren und Gipsabgüsse sichtbar, ein großer Delphin, der einen todten Knaben auf dem Rücken trug, eine Meduse in Relief, kolossal, die Haare noch nicht zu Schlangen belebt, wirr um die schmerzlichen Schläfen herabgeringelt – er entsann sich nicht, diese Züge an einer Antike gesehen zu haben. Abgüsse über dem Leben, Arme, Füße, die Brust eines jungen Mädchens, dazwischen flüchtige Skizzen in Thon standen und lagen wüst durch einander. Auf dem Tisch aber sah er mannigfaches Geräth, wie es ein Cameenschneider braucht, und einige Stöcke mit halbvollendeten Arbeiten, zum größten Theil Medusenköpfe, die jenem großen Relief glichen, aber von verschiedenem Grad und Charakter der Leidenschaft und Hoheit. Unbearbeitete Muschel-Stücke, Abdrücke geschnittener Steine und Pasten in Glas und Gips lagen in einem Kästchen daneben.

Ich denke, es hat keine Gefahr, sagte nun der Arzt. Laßt Eis holen und den Burschen die Nacht aufsitzen, den Verband unablässig zu kühlen. Sie haben Euch arg mitgespielt, Sor Carlo. Aber wer Teufel heißt Euch um diese Jahres- und Tageszeit in die Campagne rennen?

Diese eigensinnigen Schufte, die Kamine, sagte der Künstler; sie wollen ihre Schuldigkeit nicht thun, ohne daß man ihnen Scheiter in den Hals stopft. Ich hatte was gegen meinen guten alten Palazzo, Sor Dottore; ich hätt' ihm am liebsten einen Tritt gegeben, uns Beide zu erwärmen. Nun, da lief ich ihm davon, damit es nicht zu Thätlichkeiten zwischen uns komme.

Ihr seid hier übel verwahrt, erwiederte der gutmütige kleine Herr und wischte sich die Brillengläser, die beschlagen waren. Meine Frau soll Euch noch eine Decke schicken; und morgen seh' ich wieder nach. Der Schlaf wird kommen, und dieser Arzt steckt uns Alle in die Tasche. Gute Nacht!

Der junge Mann begleitete ihn hinaus, und sie sprachen im Flur eine Weile. Ich kenne ihn dem Namen nach, sagte der Arzt. Er geht so seine seltsamen, menschenscheuen Wege, verkehrt in den Kneipen mit dem letzten Facchin am liebsten, und was er hat, verthut er. Es ist aber Keiner in Rom, der's ihm gleich thäte in Cameen. Er hat's von seinem Vater, Giovanni Bianchi, der lange todt ist.

Sind die Wunden im Ernst ungefährlich?

Wenn er sie schont und mit dem Eis nichts versäumt wird. Er hat Glieder wie von Eisen, sonst hätt' er auch den Bestien nicht so lange Stand gehalten. Fünf, sagt ihr! der tollkühne Mann! Aber das ist so einer von seinen Streichen. Nun, nun, er wird schlafen; seid unbesorgt, Sor Teodoro!

Er schlief schon, als Theodor wieder zu ihm eintrat, obwohl er das Gesicht nach dem hellen Feuer gewendet hatte. Theodor betrachtete ihn lange. Er war völlig schön, nur die Nase ein wenig hager, das Haar war hie und da verblichen, der Bart ungepflegt; aus dem athmend halbgeöffneten Munde glänzten die weißen Zähne vor. Als Theodor den Mantel lüftete, um das Eis aufzulegen, sah er die ganze Kraft der Glieder.

Er schickte den Burschen fort, nachdem er ihn Vorrath von Holz und Eis hatte zutragen lassen und befahl ihm, in der Frühe wiederzukommen. Er selbst schob einen Rohrstuhl an den Kamin und ließ sich nieder, den Mantel umgeschlagen, und bereitete sich, zu wachen. Es war nun um die zehnte Stunde; draußen über dem öden Platz stand die klare Nacht, und der Strahl des Springbrunnens plätscherte leise in die Muschel des Tritonen. Aus einem nahen Hause hörte er eine Mädchenstimme singen:

Chi sa se mai
Ti soverrai di me!

den Refrain eines alten schmerzlichen Liedes. Bald schwieg auch das und summte wortlos in ihm nach.

Er sah sich wieder am Rande der Schlucht von Tivoli, auf dem Fußweg den Wassern gegenüber, die in winterlicher Dürftigkeit aus ihren vielen Mündungen niederstürzten. Sie gingen, ohne sich zu führen, neben einander, er, das schöne Mädchen und ihre bewegliche kleine Begleiterin, die unablässig über den mühevollen abschüssigen Weg eiferte. Wir hätten mit Euren Eltern zurückgehen sollen, Mary, sagte sie mehr als einmal auf Englisch; ja, wir sollten es noch. Da sind sie noch, Kind, droben über der Cascade, seht nur, Mary, und werden bald ganz comfortable am Kamin sitzen, in der Sibylle, und wir erfrieren uns die Nasen. Die Eure ist schon ganz roth, Mary; dear me, wie seht Ihr aus, Kind! Der Wind ist auch so scharf von dem Wasser herüber; Ihr sagtet es gleich, Sir, und warntet; aber unser Kind hat ihre Einfälle. Guter Gott! wir haben die Landschaft ja im Herbst gesehen und gar im Sommer und ritten damals sanft und bequem den Abhang nieder, den wir jetzt hinabstolpern und -gleiten müssen.

Es ist nicht mehr weit, liebe Miß Betsy, sagte das Mädchen lächelnd, dann wird die Straße gelinder. Unser Freund bot Euch ja seinen Arm; warum schlugt ihr ihn aus?

Die kleine Person näherte sich ihr und sagte leise: Mary! daß Ihr mich das fragt! Ihr kennt meine Grundsätze, daß es unschicklich ist, bergunter sich von einem unverheiratheten Manne führen zu lassen. Wenn wir gleiten, und uns an ihm halten, nimmt er jeden Druck für eine Zärtlichkeit. Ihr setzt mich in Verlegenheit, Kind.

Marie lächelte fast unmerklich. Sie ging dann ernsthaft ihres Weges; der Hut von schwarzem Sammet verbarg ihr Gesicht dem jungen Manne bis auf die vornickende braune Locke. – Es war kein bloßes Compliment, Sir, sagte sie dann und blickte ihn unbefangen an, als mein Vater Euch gestand, daß Ihr durch Eure Zurückhaltung ihm weh gethan. Wenn ich mich recht besinne, waret Ihr seit meines armen Bruders Tode nur viermal in unserm Hause.

Viermal! sagte er. Und Ihr habt gezählt? –

Wir mußten die Zahl oft vom Vater hören. Seit ich Edward verloren habe, sagt er, mag ich mit Niemand sprechen, der ihn nicht gekannt hat. Wie soll er mich noch kennen lernen? Dann kommt er immer auf Euch und lobt Euch und vermißt Euch.

Ich gestehe, sagte Theodor, die Liebe und Herzlichkeit, mit der mich Eure Eltern begrüßten, als wir uns hier begegneten, überraschte und rührte mich heftig. Auch ich bin in diesem Winter menschenbedürftiger als sonst. Im vorigen, der der erste war, durfte ich mich von nichts zurückziehen, was sich aufdrängte und Gewinn versprach. Ich sehe nun, daß ich nur verloren habe. Die Gesellschaft widerspricht dem Ort. Sie fühlt das, und weil sie doch gelten will, muß sie sich überheben. Das ist widerwärtig, und verbittert andächtigen Menschen, wie ich einer bin, die fruchtbare Stimmung. Darum leb' ich nun für mich, oder mit Einzelnen, denen es nicht besser gegangen als mir. Und doch bin ich von meiner Heimath her verwöhnt, auf die Länge nur in der Familie meines Lebens froh zu werden.

Ihr seid nun schon so lange von Euren Eltern getrennt –

Ich habe sie verloren, sagte er still. Sie starben beide in derselben Woche. Da ging ich über die Alpen, und Gott weiß, ob ich je zurückkehre.

Sie betraten die leichten Schatten der Olivenpflanzung. Der Weg war durchaus trocken; über ihnen in den Zweigen glänzte es von Sonne, die den flüchtigen Schnee auf den Blättern aufgethaut hatte, daß sie schimmerten wie nach feinem Frühlingsregen. Die kleine Ehrendame wurde der besten Laune und erzählte von ihren einsamen Wanderungen durch Rom. Man wollte wissen, daß sie an einem Buche über Rom arbeite. Wie es auch immer damit sein mochte, es stand fest, daß sie sogar ihren Grundsätzen Gewalt anthat und es sich nachsagen ließ, daß sie mit einem wildfremden jungen Italiener eine Stunde lang die Thermen des Caracalla nach allen Seiten durchforscht und seine Begleitung nach ihrer Wohnung nicht abgelehnt habe.

Glaubt Ihr wohl, Mary, rief sie jetzt, daß ich mich leicht entschließen könnte, mein altes England mit keinem Auge wiederzusehn? Ihr wißt, wie ich es Anfangs keinen Monat hier auszuhallen meinte. Denn ich bin von alter Familie, Sir, und mein erster Ahn fiel bei Hastings, nachdem er für sein Theil und für seine Kinder das Land mit erobert hatte. Darum gehört mir mein Stück England so gut, wie dem größten Grundbesitzer, und wer läßt gern das Seine im Stich! Und dennoch, wer weiß, ob ich hier nicht mein Leben beschlösse, wenn es nicht unedel wäre, seines Vaterlandes zu vergessen, so sehr es uns selbst und alte gute Dienste der Vorfahren vergessen haben mag.

Ich wüßte nicht, sagte Theodor lächelnd. Ihr erweist Alt-England nur einen Dienst, wenn Ihr an Euerm Theil Rom erobert und so in die Fußstapfen Eures Urahnen tretet.

Ihr seid ein Spötter, sagte sie und gab ihm einen leichten Schlag mit dem Fächer. Aber wenn ich auch noch in den Jahren stünde, wo Euer Spott artiger wäre, meint Ihr im Ernst – vorausgesetzt, Ihr hättet einigen Grund zu Eurer Aeußerung und es wäre Jemand um mich bemüht – meint Ihr, sag' ich, daß englischer und italienischer oder eigentlich römischer Charakter sich auf die Länge mit einander vertrügen?

Ihr wißt, theuerste Freundin, daß die Liebe Wunder thut, Abgründe ausfüllt und Schranken niederreißt. Für die Charaktere fürchte ich nicht. Fände sich die Bildung übereinstimmend, was sollte den Herzen nicht gelingen! Ich habe mehr Ehen an verschiedenem Geschmack, als an vermiedenen Leidenschaften zu Grunde gehen sehn. Aber welcher Römer würde z. B. Euren Geschmack an Rom nicht theilen?

Ihr habt Recht, sagte sie, im Grunde ist die Liebe Geschmackssache. – Sie zog den grünen Schleier übers Gesicht und schien in ernstlichen Betrachtungen ungestört bleiben zu wollen.

Die beiden jungen Leute gingen nun ein wenig voran, denn sie hörten Miß Betsy halblaut mit sich selbst reden, wie es ihr oft begegnete, und wollten ihre Träume nicht belauschen. Die Gute, sagte Marie mit ihrer sanften Stimme, die Reise hat sie ganz aus ihrer Fassung gebracht. Sie hatte auch sonst wohl einen abenteuerlichen Zug, den sie aber in England unschuldig an der Politik ausließ. Mit dem ersten Fuß auf das Festland ist dieser seltsame Hang, Erlebnisse zu machen, in ihr aufgewacht und hat uns auf der Reise schon manche Sorge um sie und freilich auch manchen Anlaß zum Lachen gegeben.

In jüngeren Jahren muß ihr dies phantastische Wesen allerliebst gestanden haben, sagte Theodor. Aeltere Leute wissen in der Regel, daß man schon vollauf zu thun hat, Schicksale, die kommen, zu nehmen, und daß es mißlich ist, sie aufzusuchen. Hoffentlich wird sie es mit ihrem höflichen römischen Freunde bald eben so wenig ernst nehmen, als er es mit ihr von Anfang an genommen hat.

Ich sah sie Beide nach Haus kommen. Er war um vieles jünger, ein ansehnlicher Mann mit etwas übermüthigen, aber feinen Zügen.

Was haltet Ihr von der Streitfrage, die Miß Betsy aufwarf? fragte Theodor nach einer Pause.

Von welcher?

Ob Menschen verschiedener Nation für einander taugen?

Mary schwieg eine Weile. Je mehr die Menschen von einander wollen, sagte sie dann, und je mehr sie einander zu geben wünschen, desto verwandter, dünkt mich, müßten sie sein. Und selbst dann – ich habe einen Engländer gekannt, der mit einer Creolin verheirathet war. Sie nahmen beide das Leben leicht und äußerlich; er freute sich, eine schöne Frau zu haben, und sie schien zufrieden, daß er sie mit Reichtum überschüttete. Und doch war etwas zwischen ihnen, etwas Klimatisches, wo sie nun auch leben mochten. Sie wurden nicht recht froh mit einander.

Sie waren aus verschiedenen Zonen. Aber wenn sie nordländisches Blut gehabt hätte –?

Es mag sein. Und doch – ich spüre es an mir selber. Ich bin im Gebirge aufgewachsen und habe mich langsam an die weichen römischen Lüfte gewöhnen müssen. Nun haben wir Winter. Droben liegt der schöne, klare Schnee. Wenn wir heut wieder bei den Eltern sind, am Kamine sitzen, das Wasser im Kessel singt, und ich alles um mich habe, was zu meinem Leben gehört, sollte ich billig ganz glücklich sein können. Doch gestehe ich, daß mir dann erst recht das Heimweh kommen könnte nach unserm Landhause, wo die alten Ahornbäume vor den Fenstern stehn und hinter dem Garten das verschneite Feld liegt, lange nicht so schön wie dort drüben die Campagna, und der Himmel darüber ganz in trüben Nebeln versunken, während dieser Horizont, der so rein ist, mich erquicken und erheitern könnte. Es ist dennoch die Fremde. Und so ein Fremdes mag wohl auch zwischen den Menschen bleiben.

Sie hatten das Gespräch bisher englisch geführt. Er fing plötzlich deutsch an, dessen sie völlig mächtig war bis auf einen geringen Accent. Erlauben Sie mir, sagte er, daß ich deutsch spreche. Sie haben mir von Ihrem Heimweh mitgetheilt. Als Sie von Ihrer winterlichen Stille erzählten, mußte ich an deutsche Winter denken, die nun hinter mir liegen und so nie wiederkommen werden. Ich hörte wieder den leisen Ton, wenn die Raben durch die kahlen Zweige strichen und die kleinen dürren Aeste brachen, daß ein feines Schneewölkchen am Fenster vorbei niederstäubte. Meine Mutter lag dort monatelang ans Ruhebett gefesselt; sie konnte und wollte nicht mehr in die unruhige Stadt. Der alte Landsitz hatte sonst nur sommerliche Bewohner gesehen, fröhliche Jagden, heitere Spaziergänger. Jetzt war er die Zuflucht im Winter, wo die Mutter sich von ihren beschwerlichen Badereisen erholte.

Sie waren dann bei ihr?

In den ersten Jahren nur immer auf Wochen. Den letzten Winter aber ließ sie mich nicht von sich. Ich saß die vollen Tage neben ihr, arbeitete und sprach dazwischen, oder spielte ihr ihre Lieblingsmelodieen vor, jene einfachen alten Lieder, die nun ganz aus der Mode sind. Der kleine Saal ging auf den Garten hinaus mit vielen hohen Fenstern. Ich sehe noch meinen Vater auf der Terrasse davor auf und nieder wandeln mit der Bärenmütze und kurzen Pfeife. Er konnte die Luft des geheizten Raumes nicht lange ertragen. Aber selten verließ er jenen Platz, und wer ein Geschäft mit ihm hatte, mußte ihn dort aufsuchen. Von Zeit zu Zeit kam er auf eine Viertelstunde zu uns herein. Ich werde den Blick nie vergessen, mit dem dann meine arme Mutter zu ihm aufsah. Sie hatte Schöne, verklärte blaue Augen.

Dann starb sie?

Im Frühling. Der Vater bald darauf. Er verunglückte auf einem Ritt. Seit die Mutter von uns gegangen war, hatte er nicht Ruhe, bestieg die wildesten Pferde und blieb oft halbe Tage lang aus, so sehr ich ihn beschwor, sich zu schonen. Ich kannte ihn, ich wurde die unheimlichste Angst nicht los – ich hatte nur zu sehr Recht. – –

Sie waren im Grunde angekommen und blieben stehn, ihre Begleiterin zu erwarten. Marie stand einige Schritte von ihm, so daß er, wie er sich wandte und die Gegend überschaute, ihr volles Bild vor sich hatte. Die schönen, klaren Züge waren wehmüthig überflort; unter den gesenkten Augenlidern schimmerte es feucht. Als sie sie aufschlug, sah er die blauen Augen groß und ernsthaft auf der Landschaft ruhen. Er kannte schon diesen Blick. Er hatte ihn früher vermieden, denn er wußte, welche Macht er hatte. Jetzt überließ er sich ihr zum ersten Mal. Marie! sagte er. Sie regte sich nicht und sah ihn nicht an. Da erreichte sie die kleine nachdenkliche Freundin. Das Gespräch ward wieder angeknüpft, während sie die Höhe von Tivoli erstiegen. Marie aber nahm nicht Theil daran.

Als sie gegen die erste Dämmerung von Tivoli aufbrachen, nun heiterer vom Wein, und Theodor die Damen eben in den Wagen gehoben hatte, sagte der alte Herr zutraulich zu ihm: Ich steige nicht eher ein, als bis ich weiß, wann wir Euch wiedersehn, theurer Sir. Ich habe noch eine kleine Angelegenheit, die mir und uns Allen sehr wichtig ist und die ich gern mit Euch berathen möchte. Sie betrifft unsern armen Edward. Ich weiß, Ihr kommt am ehesten, wenn Ihr wißt, daß man auf Euren Beistand rechnet.

Kommt heute Abend noch, bat die Mutter.

Er versprach es. Als man ihm sein Pferd brachte, sah er einen ängstlichen Zug auf Mariens Gesicht. Er saß bald im Bügel, und das muntere Thier leicht regierend, begleitete er eine Strecke weit den Wagen. Alsdann blieb er zurück, ritt langsamer und ließ den Tag an sich vorüberziehen. Die Nacht überholte ihn. Er spornte nun wieder das Pferd, und in der Meinung, einen Umweg abzuschneiden, ritt er quer über die Heidefläche. So war er in Bianchi's Nähe gekommen.

Er schüttelte sich jetzt, warf Holz noch in die Glut und starrte mit seinen schwarzen Augen ernsthaft hinein. Was werden sie denken, sagte er bei sich selbst, daß ich ausgeblieben bin! Was wird sie denken! Es ist nun zu spät, einen Boten zu schicken, und wen hätte ich auch? Sie wird zu Haus sitzen und nicht wissen, was dieser Tag bedeuten mag. Oder – chi sa, se mai! –

Dann wartete er wieder seines Dienstes bei dem Kranken, ging auf und ab und vertiefte sich in den Medusenkopf, den der Feuerschein warm anflog, der Farbe des schwindenden Lebens täuschend gleich, wo das widerwillige Blut mit dem Todesschrecken kämpft. Das ergriff ihn mit Gewalt. Er mußte endlich die Augen abwenden und entdeckte nun erst auf dem dunkeln Sims des Kamins einige freche Figürchen, theils nach verrufenen pompejanischen Bronzen, theils von neuer Hand, in die Wette mit jenen zügellos und lebendig. Daneben lag ein zerrissenes, verstaubtes Exemplar des Ariost. Danach griff er und las begierig. Es war das einzige Buch, daß er entdecken konnte.

So gingen die Stunden. Lange nach Mitternacht stöhnte der Schlafende heftig auf und schlug mit den Händen im Traum um sich. Als Theodor ihm das verschobene Lager wieder zurecht rückte und die Decken neu über ihn breitete, erwachte er vollends und fuhr auf. Wie zur Gegenwehr tastete er umher und rief mit entschlossener Stimme:

Wer seid Ihr?

Ein Freund; erkennt mich nur! erwiederte Theodor.

Das ist gelogen; ich habe keinen! schrie der Verwundete und strebte in die Höhe. Der Schmerz an den verbundenen Gliedern klärte ihn auf; er sank zurück und sammelte sich vollends. Eine Zeitlang lag er still. Dann sagte er sanfter:

Ihr seid's. Nun erkenn' ich Euch. Was thut Ihr hier zu dieser Zeit? Warum seid Ihr nicht nach Haus gegangen? Seid Ihr anders als andere Mutterkinder, die im Wachen rechtschaffen sind, nur um einen ruhigen Schlaf zu haben? Geht! Ihr habt Euren Schlaf verdient; warum bewacht Ihr meine Träume?

Der Arzt will, daß Eure Wunden über Nacht kühl gehalten werden. Ich könnt' es den fremden Menschen nicht anvertrauen.

Seid Ihr nicht auch ein fremder Mensch?

Nein, denn ich thue es nicht um ein paar Paul. Ich thu' es Euch zu Liebe.

Der Andere lag eine Weile stumm. Dann sagte er mit seltsamer Heftigkeit: Ihr thätet mir einen Gefallen, wenn Ihr ginget. Es ist mir wie eine Krankheit, wenn sich ein Mensch um mich bekümmert, und wenn ich danken soll, bin ich ungeschickter, als ein alter Mann, der einer Dirne aufwarten will.

Was geht mich Euer Dank an! Ich bleibe, weil Ihr mich braucht. Könnt Ihr mich entbehren, so sollt Ihr nicht zu klagen haben, daß ich Euch beschwerlich falle.

Ich kann nicht schlafen, wenn ich Euch da sitzen und frieren weiß.

Der Andere schürte das Feuer. Ich hoffe, Ihr spürt bis da drüben hin, daß mir warm sein muß.

Nach einer Pause, in der der Kranke mit geschlossenen Augen gelegen hatte, fragte er von neuem:

Ihr seid ein Lutheraner, Herr?

Ja.

Ich wußt' es, sagte Bianchi vor sich hin. Er will die Kirche um eine Seele betrügen. Darum thut er das Alles. Sie sind nicht besser, als wir.

Ihr redet im Fieber, sagte Theodor nachdrücklich. Redet was Ihr wollt.

Sie schwiegen jetzt eine lange Zeit. Theodor legte nach wie vor frisches Eis auf, und Bianchi lag indessen, das Gesicht nach der Wand gekehrt, regungslos, als ob er schliefe. Plötzlich, als Theodor wieder mit ihm beschäftigt war, warf er sich herum und stützte sich auf. Mit dem verwundeten Arm haschte er nach Theodors Hand und hielt sie mit seiner heißen und sagte leise und langsam: Ihr seid gut! Ihr seid gut! Ihr seid ein Mensch. – Die Schwäche übermannte ihn, er fiel aufs Stroh zurück und brach in ein krampfhaftes Weinen aus. Als die Thränen nachließen, schlief er von neuem.

*


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